Sobel, Dava Das Glas-Universum

PIPER

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In Liebe und Dankbarkeit den Frauen gewidmet, die mich unterstützen:

Diane Ackerman, Jane Allen, KC Cole, Mary Giaquinto, Sara James, Joanne Julian, Zoë Klein, Celia Michaels, Lois Morris, Chiara Peacock, Sarah Pillow, Rita Reiswig, Lydia Salant, Amanda Sobel, Margaret Thompson und Wendy Zomparelli.

Übersetzung aus dem Englischen von Thorsten Schmidt und Christiane Wagler

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Glass Universe. How the ladies of the Harvard Observatory took the measure of the stars bei Viking/Penguin Random House LLC, New York.

ISBN 978-3-8270-7951-0

© John Harrison and Daughter, Ltd. 2016

Für die deutsche Ausgabe

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2017

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Getty Images / Detlev Van Ravenswaay / Science Photo Library (Karte) /Archiv der Harvard-Universität (Foto)

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Vorwort

Ein kleines Stück Himmel. Als dergleichen konnte man die Glasplatte, die vor ihr auf dem Ständer lag, durchaus betrachten. Sie war etwas größer als ein 20 mal 25 Zentimeter großer Bilderrahmen und nicht dicker als eine Fensterscheibe. Auf einer Seite war sie mit einer dünnen, lichtempfindlichen Schicht überzogen, die nun die Position Tausender Sterne festhielt, wie winzige Insekten, die in einem Bernstein gefangen waren. Einer der Männer hatte die ganze Nacht in der Kälte gestanden und mit dem Teleskop dieses Bild und ein weiteres Dutzend Bilder aufgenommen, und als sie um neun Uhr morgens das Observatorium betrat, warteten diese neben einem ganzen Stapel anderer Glasplatten auf sie. Hier, an diesem warmen, geschützten Ort, bahnte sie sich jetzt den Weg durch die Sterne. Sie bestimmte ihre Position am Himmelszelt, schätzte ihre scheinbare Helligkeit, ergründete, ob sich ihr Licht im Laufe der Zeit veränderte, zog Rückschlüsse auf ihre chemische Zusammensetzung und machte gelegentlich eine Entdeckung, die veröffentlicht wurde. Um sie herum saßen zwanzig Frauen, die ebenso verfuhren.

Die einzigartigen Arbeitsmöglichkeiten, die das Harvard-College-Observatorium seit Ende des 19. Jahrhunderts Frauen bot, waren ungewöhnlich für eine wissenschaftliche Einrichtung und wahrscheinlich erst recht für eine Männerbastion wie die Harvard-Universität. Doch die Weitsicht des Direktors bei der Suche nach geeigneten Mitarbeitern sowie seine jahrzehntelangen Bemühungen, den Nachthimmel systematisch zu fotografieren, eröffneten Frauen dieses Arbeitsgebiet in einem gläsernen Universum. Seine Projekte wurden vorrangig von Anna Palmer Draper und Catherine Wolfe Bruce, zwei wohlhabenden Erbinnen mit einem anhaltenden Interesse an Astronomie, finanziert.

Die Vielzahl an Mitarbeiterinnen, die zuweilen abschätzig als Harem bezeichnet wurden, setzte sich aus Frauen jeden Alters zusammen. Sie waren gut in Mathematik oder passionierte Sternbeobachterinnen oder beides. Einige waren Absolventinnen der neu gegründeten Frauen-Colleges, andere brachten nur einen Highschool-Abschluss und ein angeborenes Talent mit. Noch bevor man Frauen das Wahlrecht zugestand, leisteten einige von ihnen einen solch bedeutenden Beitrag zu dieser Wissenschaft, dass ihr Name in die Annalen der Astronomie einging: Williamina Fleming, Antonia Maury, Henrietta Swan Leavitt, Annie Jump Cannon und Cecilia Payne. Dieses Buch erzählt ihre Geschichte.

Teil I

Die Farben des Sternenlichts

Ich suchte den Himmel etwa eine Stunde nach Kometen ab, und dann vertrieb ich mir die Zeit damit, die Vielfalt der Farben wahrzunehmen. Es wundert mich selbst, dass ich so lange unempfänglich für diesen Zauber des Himmels gewesen bin, die verschiedenen Sterne leuchten in so unendlich nuancenreichen Farbtönen … Wie schade, dass unsere Industriellen nicht in der Lage sind, den Sternen das Geheimnis der Farbstoffe zu entreißen.

Maria Mitchell (1818–1889),

Professorin für Astronomie, Vassar College

Die weißen Stuten des Mondes jagen über den Himmel/

schlagen mit ihren goldenen Hufen an den Gläsernen Himmel

Amy Lowell (1874–1925),

Gewinnerin des Pulitzer-Preises für Lyrik

Kapitel 1

Mrs Drapers Absicht

Die Stadtvilla der Drapers, die nördlich der Ecke Madison Avenue/40th Street lag, erstrahlte an diesem festlichen Abend des 15. November 1882 im neuen Glanz elektrischen Lichts. Die National Academy of Sciences tagte die Woche über in New York City, und Dr. und Mrs Henry Draper hatten einige ihrer rund vierzig Mitglieder zum Abendessen geladen. Während das vertraute Gaslicht die Fassade des Hauses beleuchtete, strahlten im Innern die neuartigen Glühlampen Edisons, von denen zur Belustigung der Tischgäste einige in Schüsseln schwammen.

Unter den Gästen war Thomas Edison höchstpersönlich. Er hatte die Drapers Jahre zuvor bei einem Campingausflug ins Wyoming-Territorium kennengelernt, wo sie die totale Sonnenfinsternis vom 29. Juli 1878 beobachten wollten. Während dieses denkwürdigen Zwischenspiels mittäglicher Dunkelheit saß Mrs Draper in einem Zelt, in das sie sich zurückgezogen hatte, damit der Anblick des Spektakels sie nicht aus der Fassung bringen und sie womöglich am Zählen hindern würde. Pflichtgemäß rief sie die Sekunden der totalen Finsternis (insgesamt 165) nach draußen, wo Mr Edison und Dr. Draper wie geplant ihre Beobachtungen durchführten.

Zufrieden betrachtete die rothaarige Mrs Draper, eine reiche Erbin und berühmte Gastgeberin, ihren elektrifizierten Salon. Nicht einmal Chester Arthur im Weißen Haus beleuchtete seine Abendgesellschaften mit Elektrizität. Und der Präsident hätte keine eindrucksvollere Versammlung von Koryphäen der Naturwissenschaft aufbieten können. Unter ihnen waren der bekannte Zoologe Alexander Agassiz, der aus Cambridge, Massachusetts, angereist war, und Spencer Baird von der Smithsonian Institution, der sich von Washington auf den Weg gemacht hatte. Mrs Draper machte Whitelaw Reid von der New York Tribune, einen Freund der Familie, mit Asaph Hall bekannt, der wegen seiner Entdeckung der beiden Marsmonde weltberühmt war, außerdem mit dem Sonnenexperten Samuel Langley sowie mit den Direktoren aller bedeutenden Observatorien an der Ostküste. Kein Astronom im Land konnte eine Einladung in das Haus von Henry Draper ausschlagen.

Tatsächlich war es ihr Haus – Anna Palmer Drapers Elternhaus, das ihr verstorbener Vater, der Eisenbahn- und Immobilienmagnat Cortlandt Palmer, erbaut hatte, lange bevor die Gegend hier in Mode gekommen war. Jetzt sorgte sie dafür, dass das Haus genauso perfekt zu Henry passte wie sie selbst; die gesamte dritte Etage war in eine Maschinenwerkstatt umgewandelt worden, und auf dem Dachboden oberhalb des Pferdestalls war nun sein Chemielabor, in das er durch einen überdachten Gang gelangte, der mit dem Wohnhaus verbunden war.

Bevor sie Henry kennenlernte, hatte sie den Sternen kaum mehr Beachtung geschenkt als den Sandkörnern am Strand. Er war derjenige, der sie auf die fein abgestuften Farbtöne und Helligkeitsunterschiede der Gestirne hinwies, während er ihr im Flüsterton von seinem Traum erzählte, der Medizin zugunsten der Astronomie abzuschwören. Wenngleich ihr Interesse anfangs geheuchelt war, um ihm zu gefallen, hatte sie inzwischen ihre eigene Leidenschaft für die Materie entdeckt und sich als ergebene Partnerin sowohl bei der Himmelsbeobachtung als auch in der Ehe erwiesen. Wie viele Nächte hatte sie in Kälte und Dunkelheit neben ihm gekniet und übelriechende Emulsion auf den gläsernen Fotoplatten verteilt, die er für seine handgefertigten Teleskope verwendete?

Ein Blick auf Henrys Teller verriet ihr, dass er nichts von den Speisen des Festmahls angerührt hatte. Er kämpfte mit einer Erkältung, vielleicht sogar einer Lungenentzündung. Als er und seine alten Kameraden von der Unionsarmee vor ein paar Wochen in den Rocky Mountains auf die Jagd gegangen waren, hatte sie ein Blizzard überrascht, der sie oberhalb der Baumgrenze stranden ließ, weit entfernt von der nächsten Schutzhütte. Noch immer steckten der eisige Frost und die Erschöpfung Henry in den Knochen. Er wirkte furchtbar mitgenommen, und aus dem 45-Jährigen schien plötzlich ein alter Mann geworden zu sein. Dennoch plauderte er weiterhin freundlich mit den Gästen und erklärte unermüdlich jedem, der danach fragte, wie er mit seinem gasbetriebenen Dynamo Dauerstrom für die Edison-Lampen erzeugt hatte.

Schon bald würden sie und Henry die Stadt verlassen, um zu ihrem privaten Observatorium in der flussaufwärts gelegenen Ortschaft Hastings-on-Hudson aufzubrechen. Jetzt, wo er endlich seine Professur an der New York University niedergelegt hatte, konnten sie sich seiner bedeutendsten Mission widmen. In ihren fünfzehn gemeinsamen Jahren hatte Anna Palmer Draper miterlebt, wie ihm seine bahnbrechenden Leistungen auf dem Gebiet der Astrofotografie immer wieder vielfältige Auszeichnungen eintrugen – im Jahr 1874 erhielt er die Goldmedaille des Kongresses, er wurde in die National Academy of Sciences gewählt und Mitglied der American Association for the Advancement of Sciences. Was würde die Welt wohl sagen, wenn ihr Henry das scheinbar unlösbare Rätsel um das Innere der Sterne lösen würde?

Nachdem Dr. Draper den Gästen zum Abschluss dieses glanzvollen Abends eine gute Nacht gewünscht hatte, nahm er ein heißes Bad, legte sich ins Bett und stand nicht mehr auf. Fünf Tage später war er tot.

Unter der Vielzahl von Beileidsbekundungen, die Mrs Draper nach dem Begräbnis ihres Ehemanns erreichten, befand sich eine, aus der sich ein Briefwechsel entwickelte, der ihr einen gewissen Trost spendete: Sie führte ihn mit Professor Edward Pickering vom Harvard-College-Observatorium, der als Akademiemitglied am Abend von Henrys Zusammenbruch zu Gast bei den Drapers gewesen war.

»Meine liebe Mrs Draper«, schrieb Pickering am 13. Januar 1883, »Mr Clark [von Alvan Clark & Sons, den hervorragenden Teleskopherstellern] hat mir gesagt, dass Sie sich anschicken, die Arbeit zu vollenden, mit der Dr. Draper beschäftigt war, und mein Interesse an dieser Sache möge meine Entschuldigung dafür sein, dass ich mich diesbezüglich an Sie wende. Ich muss wohl kaum meine Befriedigung darüber zum Ausdruck bringen, dass Sie diesen Schritt tun, da es sich von selbst versteht, dass Sie in keiner anderen Weise seinem Andenken ein so bleibendes Denkmal errichten könnten.«

Tatsächlich war genau das Mrs Drapers Absicht. Sie und Henry hatten keine Kinder, die sein Vermächtnis hätten fortführen können, und so hatte sie sich entschlossen, es ganz allein zu tun.

»Ich bin mir der Schwierigkeit Ihrer Aufgabe voll und ganz bewusst«, fuhr Pickering fort. »Es gibt in diesem Land keinen Astronomen, dessen Arbeit so schwer zu vollenden ist wie die Dr. Drapers. Er besaß diese außergewöhnliche Beharrlichkeit und Geschicklichkeit, die es ihm erlaubten, nach einer Vielzahl fehlgeschlagener Versuche, die jeden anderen entmutigt hätten, doch noch zu Ergebnissen zu kommen.«

Pickering bezog sich damit insbesondere auf Drapers jüngste Fotografien der am hellsten leuchtenden Sterne. Diese rund hundert Aufnahmen waren durch ein Prisma gemacht worden, welches das Sternenlicht in das Spektrum der Farben zerlegte, aus denen es sich zusammensetzte. Obwohl der fotografische Prozess die Regenbogenfarben auf Schwarz und Weiß zurücksetzte, bewahrten die Bilder das verräterische Muster von Linien innerhalb jedes Spektrums – Linien, die auf die Elemente hindeuteten, aus denen die Sterne bestanden. In den Gesprächen, die nach dem Essen bei der November-Gala geführt worden waren, hatte Pickering angeboten, Draper bei der Entschlüsselung der Spektralmuster mithilfe von Spezialmessgeräten aus Harvard zu unterstützen. Doch der Doktor hatte abgelehnt, war er doch überzeugt davon, dass seine neu gewonnene Freiheit von Lehrverpflichtungen an der Universität ihm genügend Zeit verschaffen würde, um einen eigenen Messapparat zu entwickeln. Aber jetzt war mit einem Schlag alles anders, und daher wiederholte Pickering sein Angebot gegenüber Mrs Draper. »Es würde mich sehr freuen, wenn ich etwas im Andenken an einen Freund tun könnte, dessen Talente ich stets bewunderte«, schrieb er.

»Welche endgültigen Regelungen Sie auch immer im Hinblick auf die bedeutende Arbeit, die Sie in Angriff genommen haben, treffen«, schrieb Pickering zum Schluss, »denken Sie bitte daran, dass ich, falls ich Sie in irgendeiner Weise beraten oder Ihnen helfen kann, mich für Dr. Drapers nicht zu ersetzende Freundschaft gern erkenntlich zeigen würde, wenn auch nur in einem sehr bescheidenen Maße.«

Wenige Tage später, am 17. Januar 1883, antwortete Mrs Draper auf Briefpapier mit schwarzem Rand:

»Lieber Professor Pickering,

sehr herzlichen Dank für Ihren freundlichen und aufmunternden Brief. Das Einzige im Leben, was mich jetzt noch interessiert, ist die Fortsetzung von Henrys Arbeit, aber ich fühle mich dieser Aufgabe so wenig gewachsen, dass mich manchmal mein ganzer Mut verlässt – ich verstehe Henrys Pläne und seine Arbeitsweise vielleicht besser als irgendjemand sonst, aber ich könnte ohne einen Assistenten nicht zurechtkommen, und meine größte Schwierigkeit besteht darin, eine Person zu finden, die mit Physik, Chemie und Astronomie so vertraut ist, dass sie die diversen Forschungsprojekte fortführen kann. Wahrscheinlich werde ich sogar zwei Assistenten benötigen, einen für das Observatorium und einen für die Laborarbeit, denn es ist unwahrscheinlich, dass ich eine Person mit ähnlich vielseitigen naturwissenschaftlichen Kenntnissen finden werde, wie sie Henry auszeichneten.«

Sie war bereit, gute Gehälter zu bezahlen, um die bestqualifizierten Männer als Assistenten zu gewinnen. Sie und ihre beiden Brüder hatten die riesigen Liegenschaften ihres Vaters geerbt, und Henry hatte ihren Anteil an dem Erbe überaus einträglich verwaltet.

»Es ist schwer zu ertragen, dass er just zu dem Zeitpunkt von uns gegangen ist, da er all seine Angelegenheiten geregelt hatte, um Zeit für jene Arbeiten zu haben, die ihm wirklich Freude machten und in denen er es wahrscheinlich weit gebracht hätte. Damit kann ich mich in keiner Weise abfinden.« Sobald es ihr gelingen würde, das Anwesen in Hastings, auf dem sich das Observatorium befand, zu erwerben, würde sie die Arbeiten hoffentlich unter ihrer Anleitung weiterführen können.

Henry hatte die Anlage auf dem Grundstück eines Landsitzes erbaut, der seinem Vater, Dr. John William Draper, gehörte. Dr. Draper senior, der erste Arzt in der Familie, der die Heilkunst mit eigenen chemischen und astronomischen Forschungen verband, war als Witwer im Januar des Vorjahres gestorben. In seinem Testament hatte er das gesamte Anwesen seiner geliebten, unverheiratet gebliebenen Schwester Dorothy Catherine Draper zugesprochen, die in ihrer Jugend eine Mädchenschule gegründet und geleitet hatte, um seine Ausbildung zu finanzieren. Es war noch nicht klar, ob Henrys Witwe in der von ihr gewünschten Weise über das Landgut in Hastings würde verfügen können, um Henrys Labor aus der Madison Avenue dorthin zu verlegen und den Ort in eine Einrichtung der Grundlagenforschung zu verwandeln, das »Henry Draper Astronomical and Physical Observatory«.

»Solange ich es vermag, werde ich die Einrichtung selbst leiten«, schrieb sie Pickering. »Sie erscheint mir als das einzige angemessene Denkmal, das ich für Henry errichten kann, und als die einzige Möglichkeit, seinen Namen und seine Arbeit zu verewigen.«

Zum Schluss bat sie Pickering eindringlich um Rat. »Ich bin in einer so ungewohnten Weise allein in der Welt, dass ich ohne die Gewissheit, dass mich jene Freunde, die sich für Henrys Arbeit interessierten, beraten werden, nichts ausrichten könnte.«

Pickering ermunterte sie, die bisherigen Ergebnisse ihres Mannes zu veröffentlichen, da es möglicherweise lange dauern werde, bis sie in der Lage wäre, diese zu ergänzen. Einmal mehr bot er ihr an, die gläsernen Fotoplatten in dem Vermessungsapparat in Harvard zu untersuchen, wenn sie ihm denn einige davon schicken würde.

Mrs Draper erklärte sich damit einverstanden, hielt es jedoch für das Beste, die Platten persönlich zu überbringen. Es waren kleine Objekte, die jeweils nur etwa 6,45 Quadratzentimeter maßen.

»Es ist gut möglich, dass ich im Lauf der nächsten zehn Tage nach Boston fahren muss, um geschäftliche Angelegenheiten mit einem meiner Brüder zu regeln«, schrieb sie am 25. Januar. »Wenn dem so sein sollte, könnte ich die Negative mitnehmen und für einige Stunden nach Cambridge kommen, wo wir, falls es Ihnen genehm wäre, die Aufnahmen gemeinsam durchsehen könnten, damit Sie sich eine Meinung darüber bilden.«

Wie vereinbart, traf sie am Morgen des 9. Februar, eines Freitags, im Summerhouse Hill oberhalb des Harvard Yard ein. Begleitet wurde sie von George F. Barker von der Universität von Pennsylvania, einem engen Freund und Kollegen ihres Gatten. Barker, der eine Biografie über Henry vorbereitete, war zum Zeitpunkt des Festessens für die Akademiemitglieder Hausgast bei den Drapers gewesen. Er war es auch, der dabei geholfen hatte, den geschwächten Henry aus dem Bad ins Schlafzimmer zu tragen, und anschließend den benachbarten Arzt Dr. Metcalfe verständigte. Dr. Metcalfe diagnostizierte eine doppelseitige Rippenfellentzündung, wenig später eine Herzbeutelentzündung, der Draper am 20. November gegen vier Uhr früh erlag.

Mrs Draper hatte mit ihrem Ehemann Observatorien in Europa und in den USA besucht, aber nun hatte sie seit Monaten keines mehr betreten. Der große Kuppelbau am Harvard-College-Observatorium beherbergte nicht nur mehrere Teleskope, er diente zugleich als Wohnhaus des Direktors. Professor Pickering und seine Ehefrau führten sie in die freundlich eingerichteten Zimmer und gaben ihr das Gefühl, herzlich willkommen zu sein.

Anders als Mrs Draper assistierte Mrs Pickering, geborene Lizzie Wadsworth Sparks, Tochter des ehemaligen Harvard-Präsidenten Jared Sparks, ihrem Gemahl zwar nicht bei seinen Beobachtungen, dafür fungierte sie als temperamentvolle und bezaubernde Gastgeberin der Sternwarte.

Eine übertriebene, aber aufrichtige Höflichkeit kennzeichnete den Führungsstil von Edward Charles Pickering. Wenngleich finanzielle Engpässe des Observatoriums ihm nicht erlaubten, seinen eifrigen jungen Assistenten mehr als kärgliche Löhne zu zahlen, so begegnete er ihnen doch stets mit Respekt und sprach sie mit Mr Wendell oder Mr Cutler an. Er stellte die leitenden Astronomen Professor Rogers und Professor Searle vor und zog mit einer leichten Verneigung andeutungsweise den Hut vor den Ladys – Miss Saunders, Mrs Fleming, Miss Farrar und den übrigen –, die jeden Morgen kamen, um die notwendigen Berechnungen über die nächtlichen Beobachtungen durchzuführen.

Ob es etwa üblich sei, fragte Mrs Draper, Frauen als »Computer« einzusetzen? Nein, sagte ihr Pickering, soweit er wisse, gebe es diese Gepflogenheit nur in Harvard, wo gegenwärtig sechs Frauen als »Computer«, also wissenschaftliche Rechnerinnen, beschäftigt würden. Auch wenn es ungebührlich erscheinen mochte, wie Pickering einräumte, eine Lady den Strapazen der Teleskop-Beobachtungen auszusetzen, ganz zu schweigen von der Kälte im Winter, konnten Frauen mit Rechentalent im Auswertungsraum eingesetzt werden, wo sie dem Berufsstand alle Ehre machten. Selina Bond beispielsweise war die Tochter des verehrten ersten Direktors des Observatoriums, William Cranch Bond, und außerdem die Schwester seines gleichermaßen verehrten Nachfolgers, George Phillips Bond. Zurzeit war sie Professor William Rogers dabei behilflich, im Rahmen eines weltweiten Projekts der Sternenkartierung unter Federführung der deutschen Astronomischen Gesellschaft die genauen Positionen der vielen tausend Sterne in der dem Harvard-Observatorium zugeteilten Himmelszone zu bestimmen. Professor Rogers verbrachte jede klare Nacht an dem großen Durchgangsinstrument und notierte, wie oft einzelne Sterne die Spinnfäden in dem Okular kreuzten. Weil Luft – auch klare Luft – die Bahnen der Lichtwellen krümmt, mit der Folge, dass sich die scheinbaren Sternörter verschieben, wandte Miss Bond die mathematische Formel an, die Professor Rogers Aufzeichnungen um atmosphärische Effekte bereinigen sollte. Sie benutzte zusätzliche Formeln und Tabellen, um weitere Einflussfaktoren aus den Daten herauszurechnen wie etwa die Bewegung der Erde auf ihrer jährlichen Umlaufbahn, ihre Bewegungsrichtung und die Schwankung ihrer Achse.

Anna Winlock war wie Miss Bond im Observatorium aufgewachsen. Sie war das älteste Kind seines erfinderischen dritten Direktors, Joseph Winlock, Pickerings unmittelbarem Vorgänger. Winlock war im Juni 1875, in der Woche, in der Anna ihren Abschluss an der Cambridge High School machte, an einer plötzlich auftretenden Krankheit verstorben. Kurze Zeit später begann sie als Rechnerin an der Sternwarte zu arbeiten, um ihre Mutter und ihre jüngeren Geschwister zu unterstützen.

Williamina Fleming dagegen konnte keine familiäre oder akademische Verbindung mit dem Observatorium für sich beanspruchen. Sie war im Jahr 1879 als zweites Dienstmädchen für den Wohnbereich des Gebäudes eingestellt worden. Obwohl sie in ihrer schottischen Heimat als Lehrerin unterrichtet hatte, war sie durch ihre Lebenssituation – ihre Heirat mit James Orr Fleming, ihre Einwanderung nach Amerika, das jähe Verschwinden ihres Ehemanns – und durch »andere Umstände« dazu gezwungen gewesen, sich eine Beschäftigung zu suchen. Nachdem Mrs Pickering die Fähigkeiten der neuen Hausangestellten aufgefallen waren, wies Mr Pickering ihr im anderen Gebäudeflügel die Aufgaben einer Teilzeit-Kopistin und -Rechnerin zu. Doch kaum beherrschte Mrs Fleming ihre Aufgaben im Observatorium, da musste sie wegen der bevorstehenden Geburt ihres Kindes auch schon nach Hause ins schottische Dundee. Nach ihrer Niederkunft blieb sie länger als ein Jahr dort, ehe sie 1881 ihren Sohn Edward der Obhut ihrer Mutter und Großmutter überließ und nach Harvard zurückkehrte.

Keines der Projekte, mit denen man sich im Observatorium befasste, war Mrs Draper vertraut. Anders als Henry, der dank seines Privatvermögens und als Amateur-Astronom die Freiheit hatte, auf dem neuesten Gebiet der Sternfotografie und -spektroskopie seinen eigenen Interessen zu folgen, betrieben die Fachleute hier in Cambridge eher traditionelle Forschung. Sie kartierten den Himmel, beobachteten die Umlaufbahnen von Planeten und Monden, verfolgten und kommunizierten die Bahnen der Kometen und schickten außerdem auf telegrafischem Weg Zeitsignale an die Stadt Boston, an sechs Bahngesellschaften und an zahlreiche Privatfirmen wie die Waltham Watch Company. Die Arbeit verlangte sowohl äußerste Akribie als auch eine große Frustrationstoleranz gegenüber Langeweile.

Als der 31-jährige Pickering am 1. Februar 1877 das Amt des Direktors antrat, bestand seine wichtigste Aufgabe darin, genügend Geld zu beschaffen, um die Zahlungsfähigkeit des Observatoriums sicherzustellen. Das College gewährte ihm keine finanzielle Unterstützung, um Gehälter zu zahlen, Bedarfsgüter zu kaufen oder Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Abgesehen von den Zinsen auf sein Stiftungsvermögen und den Einnahmen aus seinem Dienst der exakten Uhrzeit-Übermittlung war das Observatorium zur Gänze auf private Nachlässe und Spenden angewiesen. Seit dem letzten Spendenaufruf waren zehn Jahre vergangen. Pickering überredete schon bald rund siebzig Astronomie-Liebhaber dazu, Beträge zwischen 50 und 200 Dollar pro Jahr auf fünf Jahre fest zuzusagen, und während diese Spendengelder hereintröpfelten, verkaufte er das gemähte Gras von dem rund 2,5 Hektar großen Observatoriumsgelände mit einem kleinen Gewinn. (Das Heu brachte etwa 30 Dollar pro Jahr ein – genug, um die Kosten von 120 Stunden Rechenzeit abzudecken.)

Der in Beacon Hill geborene und aufgewachsene Pickering bewegte sich mühelos zwischen dem Bostoner Geldadel und den Hörsälen von Harvard. In den zehn Jahren, während deren er an dem neu gegründeten Massachusetts Institute of Technology (MIT) Physik lehrte, hatte er den Unterricht revolutioniert, indem er ein Labor einrichtete, wo Studenten anhand der von ihm konzipierten Experimente selbstständig zu denken lernten. Damals trieb er seine eigene Forschung voran und erkundete die Natur des Lichts. Außerdem führte er im Jahr 1870 einen von ihm gebauten Apparat vor, der Schall mittels elektrischer Signale übermittelte – einen Apparat, der im Wesentlichen mit demjenigen übereinstimmte, den Alexander Graham Bell perfektionierte und sich sechs Jahre später patentieren ließ. Pickering dachte jedoch nie daran, sich irgendeine seiner Erfindungen patentieren zu lassen, weil er der Meinung war, Naturwissenschaftler sollten Ideen frei miteinander austauschen.

Am Harvard-Observatorium wählte Pickering einen Forschungsschwerpunkt von fundamentaler Bedeutung, der an den meisten anderen Observatorien vernachlässigt worden war: die Fotometrie, also die Messung der Helligkeit einzelner Sterne.

Augenfällige Helligkeitsunterschiede stellten Astronomen vor die Herausforderung, zu erklären, warum manche Sterne heller strahlten als andere. Sie schillerten nicht nur in mannigfaltigen Farben, sondern sie waren augenscheinlich auch verschieden groß, und sie waren außerdem unterschiedlich weit von der Erde entfernt. Die Astronomen der Antike hatten sie auf einem Kontinuum eingeordnet, von den hellsten Sternen »erster Größenklasse« bis zu den schwächsten Sternen »der Größenklasse 6«, die man gerade noch mit bloßem Auge erkennen konnte. Im Jahr 1610 enthüllte Galileos Teleskop eine Vielzahl von Sternen, die zuvor noch nie gesehen worden waren, wodurch er die Untergrenze der Helligkeitsskala auf die Größenklasse 8 drückte. In den 1880er-Jahren konnten große Teleskope wie der Große Refraktor von Harvard schwach leuchtende Sterne der Größenklasse 14 sichtbar machen. Da es jedoch keine einheitlichen Skalen oder Standards gab, blieben alle Schätzungen der Größen vom subjektiven Urteilsvermögen der einzelnen Astronomen abhängig. Wie die Schönheit, so lag auch die Helligkeit im Auge des Betrachters.

Pickering bemühte sich, die Fotometrie auf eine tragfähige neue Basis der Präzision zu stellen, die alle übernehmen könnten. Zunächst einmal wählte er eine Helligkeitsskala unter den damals gebräuchlichen aus – diejenige des englischen Astronomen Norman Pogson, der die Sternklassen der Antike kalibrierte und davon ausging, dass Sterne der Größenklasse 1 genau hundertmal so hell seien wie Sterne der Größenklasse 6. Demgemäß unterschied sich jede Größenstufe von der nächsten um den Faktor 2,512.

Anschließend wählte Pickering als Basis für alle Vergleiche einen einzelnen Stern aus – Polaris, auch Polar- oder Nordstern genannt. Einige seiner Vorgänger hatten in den 1860er-Jahren die Helligkeit von Sternenlicht mit der einer Flamme in einer Petroleumlampe verglichen, die man durch ein kleines Loch betrachtete, was für Pickering darauf hinauslief, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Polaris ist zwar nicht der hellste Stern am Himmel, aber man glaubte, dass er mit konstanter Helligkeit leuchtete. Zudem stand er ortsfest über dem irdischen Nordpol, im Zentrum der Drehung des Himmels, wo er für alle Sternwarten der Nordhalbkugel erreichbar war.

Mit Pogsons Skala und Polaris als Orientierungshilfen entwarf Pickering eine Reihe experimenteller Instrumente – Fotometer – zur Messung der Helligkeit. Die Firma Alvan Clark & Sons baute rund ein Dutzend Apparate nach Pickerings Entwürfen. Die ersten davon lehnten sich an den Großen Refraktor an, das bedeutendste Teleskop des Observatoriums, das im Jahr 1847 von den Bürgern der Stadt gestiftet worden war. Letzten Endes bauten Pickering und die Clarks ein außergewöhnliches freistehendes Modell, das sie Meridian-Fotometer nannten. Es handelte sich um ein Doppelteleskop mit zwei Objektivlinsen, die in demselben langen Tubus nebeneinander angebracht waren. Der Tubus war unbeweglich, sodass bei der Beobachtung keine Zeit damit verloren ging, es neu auszurichten. Ein Paar drehbarer Prismenspiegel brachte Polaris durch die eine Linse in das Blickfeld und den Zielstern durch die andere. Der Beobachter am Okular, für gewöhnlich Pickering, verstellte mit einem skalierten Handrad ein Nicolprisma im Strahlengang des Instruments und korrigierte die beiden Lichtpunkte so lange, bis Polaris und der Zielstern gleich hell erschienen. Ein zweiter Beobachter, meistens Arthur Searle oder Oliver Wendell, lasen die eingestellte Zahl auf der Skala ab und schrieben sie in ein Notizbuch. Die beiden wiederholten dieses Prozedere vier Mal pro Stern an mehreren hundert Sternen pro Nacht; dabei tauschten sie jede Stunde ihre Plätze, damit ihnen keine Fehler aufgrund von Augenermüdung unterliefen. Morgens übergaben sie das Notizbuch an Miss Nettie Farrar, eine der Rechnerinnen, die das Datenmaterial tabellarisch auflistete. Miss Farrar, die die Polaris willkürlich zugewiesene Größenklasse von 2,1 als Basis benutzte, berechnete die relativen Werte für die anderen Sterne, indem sie mittelte und auf zwei Stellen nach dem Komma rundete. Auf diese Weise benötigten Pickering und seine Mitarbeiter drei Jahre, um jedem Stern, der von der geografischen Breite Cambridges aus sichtbar war, eine Größe zuzuordnen.

Zu den Objekten von Pickerings Fotometrie-Studien gehörten auch 200 Sterne, deren Leuchtkraft im Zeitablauf schwankte. Diese veränderlichen Sterne oder kurz »Veränderlichen« bedurften einer besonders engmaschigen Beobachtung. In seinem Bericht an den Präsidenten der Harvard-Universität, Charles Eliot, für das Jahr 1882 wies Pickering darauf hin, dass Tausende von Beobachtungen notwendig seien, um die Helligkeitsschwankungen jedes Veränderlichen zu erfassen. In einem Fall wurden »in einer einzigen Nacht 900 Messungen durchgeführt, die sich ohne Unterbrechung von sieben Uhr abends bis um halb drei morgens erstreckten, als der Veränderliche seine volle Leuchtkraft erreichte«.

Pickering benötigte Verstärkung, um die Veränderlichen intensiv zu überwachen. Aber leider konnte er es sich im Jahr 1882 nicht leisten, auch nur einen zusätzlichen Mitarbeiter einzustellen. Statt die loyalen Förderer des Observatoriums um mehr Spendengelder zu bitten, richtete er einen Appell an Freiwillige aus den Reihen der Amateur-Sternbeobachter. Er war überzeugt davon, Frauen könnten die Arbeit genauso gut erledigen wie Männer: »Viele Frauen interessieren sich für Astronomie und besitzen Teleskope, aber von zwei oder drei bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen, haben sie so gut wie keinen Beitrag zu den Wissenschaften geleistet. Etliche von ihnen haben Lust auf diese Arbeit und auch die erforderliche Zeit, und unter den Absolventinnen von Frauen-Colleges sind viele, die so gut ausgebildet sind, dass sie hervorragende Beobachterinnen abgeben würden. Da die Arbeit zu Hause erledigt werden kann, sogar an einem offenen Fenster, sofern das Zimmer die Temperatur der Außenluft hat, scheint es keinen Grund zu geben, warum sie ihre Fähigkeiten nicht gewinnbringend nutzen sollten.«

Pickering war überdies der Auffassung, dass die Mitwirkung an der astronomischen Forschung die gesellschaftliche Stellung der Frauen verbessern und die starke Zunahme von Frauen-Colleges rechtfertigen würde: »Gegner der höheren Bildung von Frauen kritisieren oftmals, dass deren geistige Auffassungsgabe zwar derjenigen der Männer in nichts nachstehe, sie aber praktisch nichts Eigenes hervorbrächten, sodass das menschliche Wissen durch ihre Arbeit nicht vorangebracht werde. Dieser Vorwurf könnte gänzlich entkräftet werden, wenn wir auf eine lange Folge von Beobachtungen wie die nachfolgend aufgeführten verweisen könnten, die von Beobachterinnen stammen.«

Pickering druckte und verteilte Hunderte von Exemplaren dieser offenen Einladung und überredete zudem die Herausgeber etlicher Zeitungen, sie zu veröffentlichen. Schon im Dezember 1882 erreichten ihn zwei Antwortschreiben: von Eliza Crane und Mary Stockwell vom Vassar College in Poughkeepsie, New York, auf die ein weiteres von Sarah Wentworth aus Danvers, Massachusetts, folgte. Pickering ging dazu über, die Beobachtung bestimmter veränderlicher Sterne einzelnen Personen zu übertragen. Obgleich seine Freiwilligen keine so ausgetüftelten Apparate wie das Meridian-Fotometer besaßen, konnten sie ihre Veränderlichen mit anderen Sternen in der Nähe vergleichen und die Helligkeitsschwankungen im Laufe der Zeit abschätzen. »Wenn die Leuchtkraft eines dieser Sterne allzu schwach wird«, ließ er sie brieflich wissen, »dann benachrichtigen Sie mich bitte, damit wir versuchen können, Beobachtungen hier [mit dem großen Teleskop] durchzuführen.«

Einige Frauen meldeten sich bei ihm und baten um Unterricht in praktischer und theoretischer Astronomie, aber das Observatorium bot keine derartigen Kurse an, und es konnte wissbegierigen Betrachtern – egal ob Männern oder Frauen – nachts keinen Zutritt gestatten. Tagsüber, so der Direktor, werde er Besucher allerdings sehr gerne durch das Gebäude führen.

Pickerings Alltagspflichten zwangen ihn dazu, regelmäßig mit anderen Astronomen zu korrespondieren, Bücher und Zeitschriften für die Bibliothek des Observatoriums zu erwerben, an wissenschaftlichen Konferenzen teilzunehmen, die Annals of the Astronomical Observatory of Harvard College herauszugeben, Finanzen zu beaufsichtigen, schriftliche Anfragen der Öffentlichkeit zu beantworten, Würdenträger, die zu Besuch kamen, zu empfangen und kleine und große Bedarfsgüter zu bestellen, von Teleskopteilen bis hin zu Heizkohle, Büromaterial, Stiften, Hauptbüchern und sogar »Wasserklosettpapier«. Noch die kleinste Angelegenheit, die mit dem Observatorium zusammenhing, verlangte seine persönliche Aufmerksamkeit oder zumindest seine Unterschrift. Nur wenn eine Wolkendecke die Sterne verbarg, konnte er einmal für eine Nacht durchschlafen.

Mrs Drapers Glasplatten mussten bei Tageslicht geprüft werden. Obwohl Pickering viel von diesen Aufnahmen gehört und sogar am Vorabend des damaligen Festessens für die Akademiemitglieder mit dem Doktor darüber gesprochen hatte, hatte er sie bis jetzt nicht gesehen. Er war es gewohnt, Spektren – die scharf getrennten Spektrallinien des Sternenlichts – durch das Teleskop zu betrachten, wobei er Spektroskope genannte Zusatzgeräte verwendete, die der ehemalige Direktor Joseph Winlock in den 1860er-Jahren gekauft hatte, als die Spektroskopie in Mode kam. Die Ansicht durch das Spektroskop verwandelte einen Stern in einen blassen Streifen bunten Lichts, das von Rötlich an einem Ende über Orange, Gelb, Grün und Blau bis Violett am anderen Ende reichte. Das Spektroskop machte viele vertikale schwarze Linien sichtbar, die über das Regenbogenband verteilt waren. Astronomen glaubten, die Breite, die Helligkeit und der Abstand zwischen diesen Spektrallinien codierten grundlegende Informationen. Hier hatten einige Forscher Klassifikationssysteme vorgeschlagen, innerhalb derer die Sterne nach den Ähnlichkeiten in ihren Spektrallinienmustern bestimmten Typen zugeordnet wurden.

Auf den Draper-Platten glich jedes Spektrum einem grauen Fleck, der kaum eineinhalb Zentimeter lang war, dennoch enthielten einige davon bis zu 25 Linien. Als Pickering sie unter einem Mikroskop betrachtete, verblüfften ihn ihre Details. Wie viel Geschicklichkeit diese gelungenen fotografischen Aufnahmen verrieten und was für ein Glück sie waren! Er kannte nur eine andere Person auf der Welt – Professor William Huggins aus England –, der es je gelungen war, auf einer Fotoplatte ein Sternenspektrum einzufangen. Huggins war neben Henry Draper auch der einzige Mann, den Pickering kannte, der in seiner Ehefrau Margaret Lindsay Huggins eine fähige Astronomie-Assistentin gefunden hatte.

Mrs Draper erklärte sich bereit, ihre Platten in die Obhut von Pickering zu geben, damit er sie gründlich analysieren konnte, und kehrte nach New York zurück. Sie versprach Mrs Pickering, die als eine der versiertesten Gärtnerinnen Cambridges galt, im Frühjahr oder Sommer wiederzukommen, um die Anlagen des Observatoriums dann in voller Blüte zu sehen.

Pickering vermaß jedes Spektrum mithilfe eines Schraubenmikrometers. Am 18. Februar 1883 konnte er Mrs Draper berichten, dass er »auf den Fotos viel mehr [entdeckt hatte], als auf den ersten Blick sichtbar war«. Die Rechnerinnen waren vollauf damit beschäftigt, die Werte, die er mit jeder halben Drehung der Mikrometerschraube ablas, graphisch darzustellen und sie anschließend über eine Formel rechnerisch in Wellenlängen zu verwandeln. Es zeigte sich, dass Dr. Draper die Möglichkeit bewiesen hatte, Sternspektren fotografisch zu erforschen, statt in Instrumente zu blicken und aufzuzeichnen, was das Auge sah.

Pickering drängte Mrs Draper erneut, einen bebilderten Bericht zu veröffentlichen, nicht nur um nachzuweisen, dass ihr Ehemann dieses Verfahren als Erster angewandt hatte, sondern, was noch wichtiger war, um anderen Astronomen zu zeigen, wie viel Potenzial in dieser Technik steckte.

Mrs Draper wandte sich an einen berühmten Experten für die Erforschung des Sonnenspektrums, Charles A. Young von der Universität Princeton, mit der Bitte, eine Einleitung zu dem Aufsatz beizusteuern, in dem Henrys Methoden skizziert werden sollten. Unterdessen katalogisierte sie alle 78 Platten aus der Spektralserie; dabei stützte sie sich auf Henrys Notizbücher, um das Datum und den Zeitpunkt jeder Fotografie, den Namen des Sterns, die Belichtungsdauer, das verwendete Teleskop und die Breite des Spektroskopspalts sowie beiläufige Bemerkungen über Beobachtungsbedingungen wie etwa »Der Himmel war in blauen Nebel gehüllt« oder »In der Nacht war es so windig, dass die Kuppel fast weggeweht wurde« anzugeben.

Pickering fasste die Daten der 21 Platten, die er gründlich ausgewertet hatte, in zehn Tabellen zusammen und versah sie mit Erklärungen. Er gab die Abstände zwischen Spektrallinien an, erläuterte die Methodik und die mathematischen Formeln, die er anwandte, um Linienpositionen in Wellenlängen von Licht umzurechnen. Außerdem nahm er Stellung zu den ähnlichen Forschungen, die William Huggins in London durchgeführt hatte, und wagte es, einige der Draper-Spektren nach Huggins’ Kriterien zu kategorisieren. Als er seinen Entwurf zur Ansicht und Genehmigung an Mrs Draper sandte, lehnte sie die Erwähnung von Huggins ab.

»Dr. Draper stimmte nicht mit Dr. Huggins überein«, schrieb sie Pickering am 3. April 1883 mit Bezug auf zwei der Sterne in der Serie. Ihre fast identischen Spektren zeigten breite Bänder, die Huggins dazu veranlasst hatten, die beiden Sterne dem gleichen Typ zuzuordnen, aber die Draper-Fotos enthüllten, dass einer dieser Sterne zwischen den Bändern auch viele dünne Linien aufwies, die ihn von dem anderen unterschieden. »In Anbetracht dessen möchte ich Mr Huggins’ Klassifikation nicht als Standard anerkennen.« Zwar hatte Pickering die von ihr beschriebenen zahlreichen schmalen Linien ebenfalls gesehen, doch schienen sie ihm zu filigran, um daran aussagekräftige Messungen vornehmen zu können.

»Ich hoffe, meine Kritik grämt Sie nicht«, fügte Mrs Draper hinzu, »aber wenn ich die Arbeiten von Dr. Draper schon veröffentliche, möchte ich, dass seine Ansichten jetzt, wo er nicht mehr da ist, um sie selbst zu erklären, so getreulich wie möglich wiedergegeben werden.«

Die Drapers hatten bei ihrer Reise nach London im Juni 1879 William und Margaret Huggins kennengelernt, als sie das Observatorium im Privathaus der Huggins’ auf dem Tulse Hill besuchten. Mrs Draper erinnerte sich an Mrs Huggins als eine zierliche Frau mit kurzem, widerspenstigem Haar, das wie elektrisch geladen von ihrem Kopf abstand. Sie war halb so alt wie ihr Ehemann, beteiligte sich aber als gleichberechtigte Partnerin an seinen Studien – sowohl am Teleskop als auch im Labor.

Die beiden Paare schienen dafür bestimmt zu sein, entweder Rivalen oder enge Freunde zu werden. Huggins ließ Draper anfangs von seiner längeren Erfahrung profitieren, indem er ihm nützliche Ratschläge zur Konstruktion von Spektroskopen gab. Er empfahl ihm auch eine neue Art von trockener, vorbehandelter Fotoplatte, die kürzlich auf den Markt gekommen war. Man musste diese Platten nicht mehr unmittelbar vor der Belichtung mit einer flüssigen Emulsion bestreichen, und daher ermöglichten sie viel längere Belichtungszeiten. Bevor die Drapers England verließen, kauften sie einen Vorrat an Wratten & Wainwright’s London Ordinary Gelatin Dry Plates, die sich tatsächlich als ein Segen erwiesen. Sie reagierten besonders empfindlich auf die ultravioletten Wellenlängen von Licht, die für das menschliche Auge nicht sichtbar sind. Anders als die alten Nassplatten erlaubten die Trockenplatten eine Daueraufzeichnung, die sich für Präzisionsmessungen eignete. Die Trockenplatten gaben den Drapers das, was sie brauchten, um die Spektren der Sterne zu fotografieren.

Der Aufsatz mit den Forschungsergebnissen »des verstorbenen Henry Draper, M. D., LL. D.« über die Sternspektren erschien im Februar 1884 in den Proceedings of the American Academy of Arts and Sciences. Pickering verschickte Exemplare davon an bekannte Astronomen auf der ganzen Welt. Postwendend – nämlich am 12. März – erhielt er William Huggins’ empörte Reaktion. Huggins fand einige von Pickerings Messungen »ziemlich daneben«, wie es in dem Brief unmissverständlich hieß. »Es würde mich freuen, wenn es Ihnen möglich wäre, dies zu überprüfen, denn es wäre besser, wenn Sie den Fehler entdeckten & die Richtigstellung veröffentlichten, als dass andere auf diese Tatsache aufmerksam machten. […] Meine Frau schließt sich herzlichen Grüßen an Sie und Mrs Pickering an.«

Pickering war fest davon überzeugt, dass er sich nicht geirrt hatte. Und da Huggins seine Messmethoden nicht erläutert hatte, hielt Pickering unbeirrbar an seinen eigenen fest. Während sie Vorwürfe austauschten, leitete Pickering Huggins’ Briefe an Mrs Draper weiter.

Jetzt war es an ihr, sich zu entrüsten. »Es tut mir sehr leid«, schrieb sie Pickering am 30. April 1884, »dass Sie wegen Ihres Interesses an der Arbeit von Dr. Draper solch ungebührlichen Angriffen ausgesetzt sind.« Ehe sie die Briefe an Pickering zurückschickte, nahm sie sich die Freiheit, einen abzuschreiben, denn »es lohnt sich, ihn als eine Kuriosität der Briefliteratur aufzubewahren«.

Zur gleichen Zeit suchte Pickering nach Assistenten, die Mrs Draper dabei helfen könnten, die Arbeit ihres Mannes in die nächste Phase überzuleiten. Er hielt William Crawford Winlock, den Sohn des ehemaligen Direktors Joseph Winlock, der gegenwärtig beim U. S. Naval Observatory arbeitete, für einen sehr geeigneten Kandidaten, aber Mrs Draper lehnte ihn ab. Zu ihrem Bedauern konnte sie ihren Lieblingskandidaten, Thomas Mendenhall, nicht dazu bewegen, seine Professur an der Ohio-State-Universität aufzugeben. Nicht zuletzt aus Enttäuschung darüber stiftete sie die Henry-Draper-Goldmedaille, die von der National Academy of Sciences regelmäßig für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Astrophysik vergeben werden sollte. Sie schenkte der Academy 6000 Dollar als Stiftungskapital für den Preis, und für weitere 1000 Dollar beauftragte sie einen Künstler in Paris damit, eine Medaillen-Matrize mit dem Porträt von Henry Draper anzufertigen.

Das Frühjahr 1884 bescherte Pickering neue Geldprobleme. Die erfolgreichen fünfjährigen Subskriptionen von großzügigen Astronomie-Enthusiasten waren abgelaufen, sodass diese festen jährlichen Einnahmen in Höhe von 5000 Dollar fortan wegfielen. Der Direktor deckte diverse Betriebsausgaben mit seinem eigenen Gehalt, trotzdem musste er fünf Assistenten entlassen. In einem berührenden Akt der Solidarität sammelten Kollegen am Observatorium für einen der Entlassenen und brachten »aus ihren eigenen dürftigen Mitteln einen Teil der erforderlichen Summe auf«. Pickering schätzte die »außerordentlichen Anstrengungen der Sternbeobachter, die fortan ohne Unterstützung die Arbeiten erledigten, bei denen ihnen früher die Protokollanten halfen. Dazu müssen sie mehr Zeit für Beobachtungen aufwenden, und dies hat ihre Arbeit viel mühsamer gemacht. Wenngleich dieser Beweis für die begeisterte Hingabe an die Wissenschaft überaus erfreulich ist, ist es offensichtlich, dass diese nicht lange fortgesetzt werden kann, ohne der Gesundheit zu schaden. In der Tat machten sich die Folgen von Übermüdung und Unterkühlung während der langen, kalten Nächte des letzten Winters in mehr als einem Fall deutlich bemerkbar.«

Das Motto im Familienwappen der Pickerings »Nil desperandum« sowie die Erfahrung seiner eigenen siebenunddreißig Lebensjahre zwangen den Direktor dazu, auf seinen Einfallsreichtum und seine Widerstandskraft zu setzen, statt sich der Verzweiflung hinzugeben. Er begann einen Plan auszuarbeiten, um Mrs Drapers Wünsche sowie ihr Vermögen mit den Fähigkeiten und Bedürfnissen seines Observatoriums in Übereinstimmung zu bringen.

»Ich mache Pläne für eine etwas umfänglichere Arbeit in Astrofotografie, an der Sie, wie ich hoffe, vielleicht interessiert sein werden«, unterrichtete er sie in einem Brief vom 17. Mai 1885.

Pickering beabsichtigte, den größten Teil der Projekte des Observatoriums auf Fotografie umzustellen. Seine Vorgänger, die Bonds, hatten das Potenzial der Fotografie erkannt und im Jahr 1850 die erste Fotografie eines Sterns angefertigt, aber die Grenzen der Nassplatten-Fotografie hatten weitere Fortschritte auf diesem Feld behindert. Mit den neuen Trockenplatten taten sich ungeahnte Möglichkeiten auf. Die Helligkeit und die Helligkeitsschwankungen von Sternen ließen sich mithilfe von Fotografien zweifellos leichter und genauer bestimmen, denn fotografische Aufnahmen konnten nach Belieben immer wieder untersucht und verglichen werden. Ein Programm zum systematischen Abfotografieren des gesamten Himmels würde den mühsamen Prozess des Kartierens von Himmelszonen von Grund auf verändern. Zudem würden diese Fotografien unzählige unbekannte schwach leuchtende Sterne, die selbst in den größten Teleskopen der Welt unsichtbar geblieben waren, zum Vorschein bringen, weil die lichtempfindliche Platte, anders als das menschliche Auge, Licht über einen längeren Zeitraum einfangen und Bilder langsam aufbauen könnte.

Pickerings jüngerer Bruder William, der gerade seinen Abschluss am MIT gemacht hatte, unterrichtete dort bereits fotografische Technik und erprobte die Grenzen der Kunst, indem er Objekte in Bewegung fotografierte. Der 27-jährige William hatte sich einverstanden erklärt, Edward bei einigen fotografischen Experimenten mit dem Harvard-Teleskop zu helfen. Eines ihrer Bilder ermittelte in einer Region, in der bis dahin nur 55 Sterne dokumentiert worden waren, nun eine Zahl von 462.

Der Teil von Pickerings Plan, der vielleicht für Mrs Draper am interessantesten wäre, bezog sich auf eine neue Methode zum Fotografieren von Sternspektren. Statt sich jeweils, wie Draper oder Huggins, auf einen Zielstern zu konzentrieren, wollte Pickering Gruppenporträts der hellsten Sterne in einem weiten Gesichtsfeld anfertigen. Zu diesem Zweck entwarf er ein neues Instrument, das Teleskop und Spektroskop mit jenen speziellen Linsen kombinierte, die in den Studios von Porträtfotografen verwendet wurden.

»Ich glaube, es wird keine Probleme aufwerfen, diesen Plan ohne Ihre Hilfe auszuführen«, versicherte er Mrs Draper. »Aber falls es Ihnen doch nützlich erscheinen sollte, bin ich zuversichtlich, dass wir ihn Ihren Bedingungen anpassen könnten.«

»Danke dafür, dass Sie so freundlich waren, sich an meinen Wunsch zu erinnern, an einer Arbeit mitzuwirken, die man mit Dr. Drapers Namen verbindet und mit der sein Andenken lebendig gehalten werden könnte«, antwortete sie am 21. Mai 1885. »Wenn irgend möglich, arbeite ich gern an dem Projekt mit, das Sie vorgeschlagen haben, denn seine Bedeutung für die Sternspektrum-Fotografie erscheint mir wesentlich.«