Viola Shipman
Familie ist das größte Geschenk
Für immer in deinem Herzen & So groß wie deine Träume
Aus dem Amerikanischen von Anita Nirschl
FISCHER digiBook
Viola Shipman arbeitet regelmäßig für People.com, Entertainment Weekly und Coastal Living sowie öffentliche Rundfunkprogramme. Ihre Romane »Für immer in deinem Herzen« und »So groß wie deine Träume« waren beide sofort SPIEGEL-Bestseller. Viola Shipman schreibt im Sommer in einem Ferienort, inspiriert von der grandiosen Kulisse des Michigansees.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
»Für immer in deinem Herzen«: Ein Sommer, der drei Lebenswege zusammenführt und für immer verändert. Alle Frauen der Familie Lindsey besitzen ein Armband mit Glücksbringern, Großmutter Lolly, Tochter Arden und Enkelin Lauren. Die Anhänger werden von Generation zu Generation weitergegeben und stehen für Geschichten voller Hoffnung, Sehnsucht und Lebenslust. Jedes Armband erzählt eine Geschichte.
»So groß wie deine Träume«: Im Alter von zehn Jahren bekommt Mattie eine Truhe geschenkt, um darin alles zu sammeln, was sie als Erwachsene an ihre Familie erinnern würde: ihre geliebte Stoffpuppe, glitzernder Christbaumschmuck, eine Vase ihrer Mutter, und vieles mehr. Der neue Roman ist eine hochemotionale, tief berührende Geschichte über drei Menschen, die neuen Mut schöpfen und ihrem Leben Sinn geben, indem sie füreinander da sind.
Erschienen bei FISCHER digiBook
Für immer in deinem Herzen:
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel
›The Charm Bracelet‹ bei Thomas Dunne Books, New York.
Copyright © 2016 by Viola Shipman
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
So groß wie deine Träume:
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel ›The Hope Chest‹ bei Thomas Dunne Books, New York.
Copyright © 2017 by Viola Shipman
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: bürosüd, München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490697-3
Für meine Großmütter
… und meine Mom
Ihr habt mir beigebracht, dass die größten Geschenke im Leben die einfachsten sind, und ihr habt mir eure Charm-Anhänger anvertraut, die mich diese Lektion neu gelehrt haben. Ich danke euch!
Das geteilte Herz
Für ein Leben, in dem wir nie voneinander getrennt sind
Lolly
4. Juli 1953
Glühwürmchen flimmerten in der Abenddämmerung und erhellten den Pfad aus Trittsteinen, der zu unserem Bootssteg am Lost Land Lake hinunterführte, mit flackerndem Licht.
»Siehst du das?«, lachte meine Mom. »Mutter Natur gibt uns schon einen Vorgeschmack auf das Feuerwerk.«
Ich lächelte und atmete tief ein.
Meine ganze Welt roch nach Sommer: nach Sonnencreme und Feuerwerkskörpern, nach Kiefernnadeln und Barbecue.
Als wir zum Steg schlenderten, begleitete uns das Schwirren von Libellen, wie ein privates Streichorchester, das nur für meine Mom und mich spielte.
Ich hatte gerade erst die Kerzen auf dem Kuchen zu meinem zehnten Geburtstag ausgepustet, und Dad war damit beschäftigt, ein Lagerfeuer zu machen, an dem wir später Marshmallows rösten würden. Er hatte mir sein Geschenk schon gegeben, meine erste Angelrute, damit ich die Sonntage mit ihm verbringen konnte, aber jetzt war es Zeit für Moms Geschenk. Und das gab sie mir immer am Ende unseres Stegs.
In der zunehmenden Dunkelheit griff ich nach ihrer Hand, dabei berührten sich unsere Handgelenke, und unsere Bettelarmbänder klimperten. Ich kicherte. Aus Gewohnheit tastete ich nach ihren Anhängern und versuchte, jeden einzelnen davon blind zu erraten. Ein Spiel, das ich mir vor Jahren ausgedacht hatte.
»Mein Babyschuh!«, sagte ich aufgeregt.
»Für ein Leben, erfüllt mit gesunden, glücklichen Kindern«, antwortete meine Mom.
»Ein Schlüssel!«, rief ich.
»Weil du mir das Herz geöffnet hast«, erklärte sie.
»Eine Schneeflocke?«
»Ja«, bestätigte sie. »Für eine einzigartige Persönlichkeit mit vielen Facetten.«
Flink tasteten meine Finger weiter, und für jeden der kleinen Glücksbringer hatte meine Mutter eine Bedeutung und eine Geschichte. Ich kannte sie fast alle auswendig, deshalb flogen meine Finger, bis ich meine Lieblingsanhänger fand, die, mit denen ich immer spielte: den Konzertflügel, dessen Deckel sich auf- und zuklappen ließ, die Schildkröte mit den Augen aus grünen Schmucksteinen, deren Kopf hin und her wackelte, und einen Wunschbrunnen mit beweglicher Kurbel.
»Für ein Leben voller Schönheit, für besonnene, bedeutsame Entscheidungen und für ein Leben, das all deine Wünsche wahr werden lässt!«
Als wir uns dem Ende des Stegs näherten, ertasteten meine Finger einen Anhänger, den ich nicht identifizieren konnte.
»Was ist das für einer, Mommy?«, fragte ich. »Den kenne ich nicht.«
»Das …« Ihre Stimme brach leicht, und sie zögerte.
»Ist alles in Ordnung?«
»Das ist mein Schaukelstuhl«, erklärte sie.
»Wofür steht er?«
»Der ist für …«, wieder stockte sie und musste tief Luft holen, als wäre sie gerade eine weite Strecke durch den See geschwommen, »ein langes und gesundes Leben.«
Wir setzten uns ans Ende des Stegs und ließen die Füße ins Wasser baumeln, gerade als das Feuerwerk anfing.
»Ooooh!«, rief ich aus, sowohl wegen der Kälte des Wassers als auch wegen des Feuerwerks. »Wow!«
Mein Geburtstag fiel auf den vierten Juli, genau wie der unserer Nation, und ich war ein Kind des Sommers.
»All das ist in Wirklichkeit für dich!«, flüsterte meine Mom immer, wenn das Feuerwerk über unseren Köpfen explodierte und von der Wasseroberfläche widerhallte. »Die Welt feiert deine Einzigartigkeit!«
Schon so lange ich zurückdenken konnte, bekam ich von meiner Mutter zu besonderen Gelegenheiten einen Anhänger geschenkt: zu Weihnachten, Zeugnisverleihungen, besonderen Leistungen. Und jedes Jahr an meinem Geburtstag fügte sie meinem Armband einen weiteren Glücksbringer hinzu.
Dieses Jahr bildete keine Ausnahme.
»Alles Gute zum Geburtstag, Lolly!« Meine Mutter zog mich in ihre Arme und küsste mich auf den Kopf. »Bist du bereit, zuerst unser Gedicht aufzusagen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Mom! Ich bin doch schon zu alt dafür.«
»Dafür ist man nie zu alt. Komm, dann sagen wir es gemeinsam auf!«
Diesen Anhänger will ich dir geben,
Heut’ an deinem besonderen Tag …
Das Gesicht meiner Mom leuchtete auf, als sie zu den ersten Zeilen des Gedichts ansetzte. Plötzlich war es, wie an einem heißen Tag in den See zu springen – ich konnte einfach nicht widerstehen. Also stimmte ich mit ein:
Bei jedem Schritt in deinem Leben
Soll er dir sagen, wie lieb ich dich hab.
Bei jedem kleinen Geschenk von mir
Da denke stets daran,
Mit dir und mir
Fing alles an.
Strahlend vor Freude drückte meine Mom mich an sich. »Hier, das ist für dich«, sagte sie und zog ein Schächtelchen aus der Jackentasche.
Eifrig öffnete ich es, und wie üblich thronte dort ein silberner Anhänger auf einem kleinen Samtkissen.
»Was ist es, Mommy?«, fragte ich und kniff die Augen zusammen, um den Gegenstand in der Dunkelheit besser erkennen zu können.
»Es ist die Hälfte eines Herzens. Für ein Leben, in dem wir nie voneinander getrennt sind.«
Ich nahm den Anhänger aus der Schachtel, um ihn zu betrachten, und zog mit den Fingern die filigrane Kontur nach.
»Wo ist die andere Hälfte?«
»Hier«, antwortete sie und zeigte mir ihr Armband, das so üppig mit Anhängern beladen war wie unser Weihnachtsbaum mit Christbaumkugeln. Dann nahm sie mein Handgelenk, befestigte den Anhänger am Kettchen und legte meine Hand auf ihr Herz. »Und hier. Du wirst immer ein Teil von mir sein.«
Lächelnd schmiegte ich mich an sie. Sie war warm, sicher und roch nach einer Mischung aus Pfingstrosen und Sonnencreme.
»Siehst du, wenn man unsere beiden Anhänger aneinanderhält«, sie fügte die zwei Hälften unseres Herzens zusammen, »dann steht da ›Mutter und Tochter‹. Sie vervollständigen einander. Also ganz egal, was von nun an geschieht, ich werde immer ein Teil von dir sein, und du immer ein Teil von mir. Versprichst du mir etwas, Lolly?«
»Natürlich, Mommy.«
»Versprich mir, dass du unsere Geschichte erzählen wirst und dass du immer du selbst bleiben wirst.«
»Versprochen, Mommy«, antwortete ich.
Meine Mutter lächelte und blickte hinaus über den See, während das Feuerwerk den Nachthimmel erhellte, legte den Arm um meine Schulter und zog mich noch enger an sich.
»Ich werde immer bei dir sein, Lolly. Besonders, wenn du dein Armband trägst. Es wird immer von den Erinnerungen an unser gemeinsames Leben erfüllt sein. Niemand kann dir das je nehmen.«
Sie küsste mich auf die Wange, als eine weitere Salve bunter Feuerwerkskörper über uns krachte.
»Ich werde dich immer lieben, Lolly.«
»Ich werde dich auch immer lieben, Mommy.«
Ein Windhauch strich über die Wasseroberfläche und den Steg und ließ unsere Armbänder klimpern.
»Weißt du, manche Leute sagen, sie hören die Stimmen ihrer Familie in diesem See: im Ruf der Nachtschwalben, dem Schrei der Seetaucher, dem Klagen der Ochsenfrösche«, flüsterte meine Mom. »Aber ich höre die Stimmen meiner Familie im Klimpern der Anhänger an meinem Arm.«
Wie sie es sagte, klang so schön, dass mich ein Schauder durchrieselte und ich mich zu meiner Mutter umdrehen und sie ansehen musste. Die Lichtblitze des Feuerwerks erhellten ihr lockiges, blondes Haar und die rosigen, mit Sommersprossen gesprenkelten Wangen. Es war, als nähmen tausend Kameras mit tausend Blitzlichtern ihr Bild auf, damit ich nie vergessen sollte, wie sie in diesem Moment aussah.
Erst als ich näher hinsah, bemerkte ich die Tränen, die ihr übers Gesicht strömten.
Ein Jahr später war meine geliebte Mutter tot, an Krebs gestorben.
Das Feuerwerk sprüht krachend über mir und reißt mich aus dieser Erinnerung.
Ich bin jetzt siebzig. Meine Mutter und mein Vater sind schon lange gestorben. Mein Mann ist tot, meine Tochter Arden ist erwachsen und lebt fünf Stunden entfernt in Chicago, meine Enkelin Lauren geht aufs College. Zu viele Jahre schon feiere ich meinen Geburtstag allein. Und dennoch, wenn ich hinauf in den Nachthimmel blicke, bin ich immer noch verzaubert von der schlichten Schönheit eines Sommerfeuerwerks, überwältigt von Erinnerungen.
Als ich den Kopf hebe, spüre ich, dass mir Tränen übers Gesicht laufen.
Meine Mutter mag die Hälfte meines Herzens mit sich genommen haben, aber ich durfte all ihre Anhänger behalten, und sie hatte recht: Das Bettelarmband erinnert mich unablässig an ihre Liebe zu mir.
Ich habe mir geschworen, die Geschichten unserer Familie mit Arden und Lauren zu teilen, denn niemand von uns stirbt je wirklich, solange wir unsere Geschichten an die, die wir lieben, weitergeben. Ich fing an, ihnen von unserer Familie zu erzählen, als sie noch klein waren, doch inzwischen sind sie so beschäftigt, und das Leben fliegt dahin, schnell wie ein flacher Stein über die Wasseroberfläche des Lost Land Lake.
Ich versuche, sie durch die Anhänger, die ich ihnen immer noch schicke, an unsere Geschichte und unsere Traditionen zu erinnern, aber meine Tochter hat unsere Vergangenheit und mich abgestreift, als wären wir eine Jacke, die sie nicht mehr tragen möchte. Und ich spüre ihre Abwesenheit schmerzlich, wie die Kälte des ersten Frosts im Oktober.
Während ich also dafür bete, dass sie nach Hause zurückkommen, setze ich die Tradition allein fort: Ich lese dem See immer noch das Gedicht meiner Mutter vor, jeden vierten Juli an meinem Geburtstag, während das Feuerwerk explodiert. Und unweigerlich fährt der Wind durch mein Bettelarmband – noch schwerer inzwischen sogar, als das meiner Mutter je war –, und ich schließe die Augen und lausche dem Klimpern der Anhänger.
Alles Gute zum Geburtstag, Lolly, höre ich meine Mutter sagen.
Der Heißluftballon
Für ein Leben voller Abenteuer
Arden
Mai 2014
Zu spät bemerkte Arden Lindsey, dass sie laut aufgeschrien hatte. Sie stand auf und schloss die Tür ihres Büros in der Redaktion von Paparazzi. Nun konnte sie ihrem Zorn über den miserabel geschriebenen Artikel, den das jüngste Mitglied ihres Autorenteams gerade eingereicht hatte, freien Lauf lassen.
Beyoncé rockte ihren ›seit kurzem unschwangeren Bauch‹ mit Sushi?!
Soll das ein Witz sein?!
Simóne interessierte sich stets mehr für Champagner und Backgroundtänzer als dafür, knackige Schlagzeilen und flüssige Sätze zu Papier zu bringen.
»Wie oft kann man eigentlich das Wort singen in irgendeiner Form verwenden?«, schimpfte Arden weiter. »Singt? Sang? Gesungen? Sängerin?« Sie holte tief Luft.
»Und ist es denn wirklich zu viel verlangt, den Artikel gleich für die Webseite zu formatieren?«, brummte sie resigniert.
Schwungvoll ließ sie sich zurück in den Bürostuhl fallen, wobei ihr der schwarze Bob ins Gesicht schwang und der dicke, schwarze Rahmen ihrer Brille auf der Nase hüpfte.
Sie nahm die Brille ab, schloss die Augen und rieb sich die Schläfen. Schon spürte sie, dass sich dumpf pochende Kopfschmerzen ankündigten, so wie die vibrierenden Schienen der Chicago Elevated, die direkt an den hippen Bürolofts von Paparazzi im River North District vorbeiführten, die Ankunft des Zuges verkündeten.
Den Zug kannst du auch nicht aufhalten, dachte Arden, als sie zwei Ibuprofen aus der Tasche fischte, während der El unvermittelt an ihrem Fenster vorbeidröhnte.
Arden warf sich die Tabletten in den Mund und spülte sie mit dem Rest ihres Latte Macchiato hinunter. Sie atmete tief durch und versuchte, ihre innere Yogi heraufzubeschwören, dann schob sie sich die Brille hoch auf die Nase und brachte ihre Finger wie eine ausgebildete Pianistin auf den Tasten ihres Macs in Position.
Backstage mit Beyonc[ACUTE »e«]!
(Nur [ITALIC »Paparazzi«] war live dabei!)
Von Simóne Jaffe
[P]
Bereit für die Party, Single Ladies? [CELEBRITY_LINK »Beyonc[ACUTE »e«]«] rockt los!
[P]
Die Pop-Diva, die am Freitag und Samstag im [LINK »United Center«] ihre [LINK »Mrs Carter Show«] performen wird, feierte im [LINK »Sunda«] eine private Party, um ihre Ankunft in [LINK »Chicago«] zu feiern. Sie schlemmte Sushi und Sake mit ihrem [BUSINESS LINKS »Göttergatten«] [CELEBRITY_LINK »Jay-Z«] und ihren Celebrity-BFFs [CELEBRITY_LINK »Gwyneth Paltrow«] und [CELEBRITY_LINK »Alicia Keys«].
Wenn Arden Lindsey so hochkonzentriert arbeitete, dann war es, als verlasse ihre Seele unvermittelt den Körper, um unter die Decke des zugigen Lofts zu schweben und von dort zwischen freiliegenden Rohrleitungen und Holzbalken auf sie herabzublicken.
Sie konnte sich selbst beobachten, wie ihre Finger nur so über die oberste Reihe der Tastatur flogen, Tasten, die die wenigsten Leute je benutzten.
Runde und eckige Klammern, Hashtags und Et-Zeichen.
Arden übte einen Beruf aus, von dessen Existenz nur wenige überhaupt eine Ahnung hatten. Sie verbrachte ihren Tag damit, zu editieren und umzuformulieren, mit Suchmaschinenoptimierung, Klickraten, Codierung, Links – kurz: mit all den Dingen, über die niemand nachdachte, der das Magazin auf seinem Laptop, iPad oder Handy las, die jedoch dafür sorgten, dass die Werbekunden glücklich waren und Paparazzi zur meistbesuchten Celebrity-Webseite der Welt avancierte.
Arden begann, sich durch die Fotos zu klicken, die der Fotograf von Paparazzi ihr im Morgengrauen gemailt hatte: Beyoncé, die Gwyneth umarmt. Jay-Z mit Sonnenbrille. Die unglaublich große Kimora Lee Simmons in High Heels.
Und natürlich die umwerfende Simóne.
Simóne sah aus, als gehöre sie auf die Seiten von Paparazzi. Üppiges, dunkles Haar, blasser Teint mit smaragdgrünen Augen, exotisch und doch nahbar, gewissermaßen eine Kardashian für Arme. In Natura war Simóne nur knapp über eins fünfzig groß und wog um die fünfundvierzig Kilo. Aber auf Fotos sah sie aus wie ein Star.
Sie benahm sich auch wie einer. Sie konnte so ungezwungen mit Berühmtheiten plaudern, dass es wirkte, als gehöre sie zu ihrem engsten Freundeskreis. Sie brachte sie schon nach wenigen Drinks dazu, gesprächig zu werden.
Das heißt, wenn sie nicht vergisst, sich Notizen zu machen, dachte Arden.
Während Arden die Fotos musterte, erhaschte sie plötzlich einen Blick auf ihr eigenes Spiegelbild im Bildschirm des Laptops, ihr blasses Gesicht und das farblose Kleid ein herber Kontrast zu der Schönheit von Alicia Keys und Kelly Rowland.
Sie betrachtete Kelly Rowlands Haare näher und fragte sich, ob es sich bei der glatten Mähne in Wirklichkeit womöglich um eine Perücke handelte.
Also das nenn ich mal eine gute Zweitfrisur, Mom!, kicherte sie bei dem Gedanken an die peinlichen Perücken, die ihre eigene Mutter trug, um die Touristen in dem Erholungsort, in dem sie aufgewachsen war, zu unterhalten.
[PHOTO CODE: »TZQ189&04L«]
Arden ging den Artikel ein letztes Mal durch, dann lud sie ihn zu Paparazzi.com hoch, gekrönt mit einem umwerfenden Foto von Beyoncé und Gwyneth, die sich umarmten, unter einem tanzenden roten Banner, das BREAKING NEWS! schrie.
Arden nahm ihren leeren Kaffeebecher und warf ihn in hohem Bogen in den Papierkorb. Sie stand auf und ging hinüber zu ihrem Fenster im achten Stock, von dem aus man – zwischen den Hochbahnschienen und umgebenden Wolkenkratzern hindurch – einen kleinen Blick auf den Michigansee erhaschen konnte.
Es war ein schöner, warmer Tag spät im Mai, und das Sonnenlicht verwandelte die Wasseroberfläche in ein funkelndes Kaleidoskop.
Arden betrachtete die vielen Boote, die entlang des Ufers auf den dunkelgrünen Wellen schaukelten.
Sie war am Michigansee aufgewachsen, gefühlte tausend Meilen weit entfernt, »auf der anderen Seite«, wie die Chicagoer ihr Gegenüber in Michigan manchmal nannten.
Für Arden war er wahrhaftig einer der »Großen Seen«, denn als Kind war es ihr so vorgekommen, als trenne das gewaltige Gewässer sie vom Rest der Welt.
»Ich kann gar kein Salz riechen«, oder »Soll das heißen, man sieht gar nicht auf die andere Seite?«, pflegten Stars aus L.A. und New York zu sagen, wenn sie nach Chicago kamen, nicht in der Lage, das gewaltige Ausmaß dieses Süßwassersees zu begreifen.
»Gute Arbeit bei der Beyoncé-Story.«
Beim Klang der Stimme ihres Chefs drehte Arden sich um.
»Danke«, antwortete sie. Ihr Blick fiel auf Vans jugendliche Zac-Efron-Frisur und die hippe Fliege.
»Erst ein paar Minuten online, und schon ein paar tausend Klicks«, fuhr er fort. »Jay-Z hat mir bereits gesimst und sich dafür bedankt, dass wir all die Links zu seinen Unternehmen platziert haben. Wir leisten großartige Arbeit, nicht wahr?«
Wir? Du magst zwar der Herausgeber von Paparazzi.com sein, und vielleicht bringen wir auch jeden Tag etwas über die Royals, aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, den Majestätsplural zu verwenden, wenn es um MEINE Arbeit geht, dachte Arden.
»Ja«, sagte sie stattdessen. Sie musste sich zusammenreißen, nicht die Augen zu verdrehen.
Dann zögerte sie unsicher.
»Besteht eventuell eine Chance, dass du mich über ihre After-Party morgen Abend berichten lässt?«
»Eigentlich eine tolle Idee, aber leider brauchen wir dich hier dringender«, antwortete Van lächelnd, auf dieselbe süßlich herablassende Weise wie ihr Exmann, wann immer sie davon gesprochen hatte, ihren Roman zu schreiben.
Selbst ein ganzes Jahrzehnt danach konnte Arden immer noch nicht fassen, dass ihr Ex sich wegen jeder Kleinigkeit mit ihr gestritten – ihrem Wunsch zu schreiben, Geld, den Nachrichten –, aber nicht um seine eigene Tochter gekämpft hatte. Am Ende hatte er nicht einmal das Sorgerecht haben wollen. Er wollte Arden nicht, und auch Lauren wollte er nicht. Seine Gefühlskälte hatte Arden derart gelähmt, dass sie unfähig gewesen war, ihm die Stirn zu bieten, wodurch sie am Ende ohne nennenswerte finanzielle Unterstützung dastand. Und jetzt hatte ihr Ex eine neue Familie, eine neue Frau und ein neues Leben ohne sie.
»Wie sollten wir denn ohne dich zurechtkommen?«, fügte Van hinzu.
Die Ironie seiner Frage entlockte Arden ein zynisches Lächeln, und sie wandte sich ab und sah aus dem Fenster, um ihre Enttäuschung und Frustration zu verbergen.
»Das soll Simóne erledigen«, fuhr er fort. »Die lebt für so was. Außerdem wird sie ohnehin unsere nächste Feature-Autorin.«
Arden zuckte zusammen, als habe er ihr völlig unerwartet eine Ohrfeige verpasst. Aus Gewohnheit zupfte sie an ihrem Ohrläppchen, eine Marotte, die schon in ihrer Kindheit begonnen hatte, nachdem sie mit ihrer Mutter die Carol Burnett Show angesehen hatte, und sich zu einem nervösen Tick entwickelte, als sie in die Vorschule kam und zu viel Angst davor hatte, von ihrer Mom alleingelassen zu werden.
»Zupf einfach wie Carol an deinem Ohrläppchen«, hatte Lolly ihr vor dem Gruppenraum geraten. »Damit kannst du mir – und dir selbst – auf stumme Weise sagen, dass alles gutgehen wird.«
Arden hielt Van den Rücken zugewandt, bis sie hörte, dass er das Büro wieder verließ. Van war – wie viel? – ein ganzes Jahrzehnt jünger als sie und ihr siebter Boss in den letzten zehn Jahren. Sie alle kamen und gingen, wie hübsche kleine Spielzeugsoldaten, investierten ihre Zeit, bis das Büro in New York sie rief oder sie bei People, Entertainment Weekly oder Entertainment Tonight landeten.
Arden seufzte. Niemand will mehr Autor sein, jeder möchte ein Star sein wie die, über die sie berichten.
»Post!«
Der Ruf und ein lautes Plumpsen veranlassten Arden dazu, sich umzudrehen. Auf ihrem Schreibtisch war ein gewaltiger Berg Briefe gelandet, der bereits ins Rutschen geriet. Sie trat an den Tisch und begann, den Stapel durchzusehen.
»Immer das Gleiche«, murmelte sie, während sie sich durch Pressemitteilungen und Vorabproben von Celebrity-Parfüms blätterte. Doch dann fiel ihr die Absenderadresse eines gepolsterten Umschlags ins Auge und ließ ihren Puls in die Höhe schnellen. Ihr Schreibtisch begann zu vibrieren. Sie blickte aus dem Fenster, sah den El auf heftig ratternden Schienen kreischend vorbeirasen und spürte, wie ihre Kopfschmerzen zurückkehrten.
Arden hob den dicken Umschlag auf und nahm eine Schere aus einer Paparazzi-Kaffeetasse, um ihn aufzuschlitzen.
Eine kleine Karte purzelte heraus.
Arden schlug das Herz bis zum Hals. Die schöne Handschrift ihrer Mutter war nicht mehr das schwungvolle, ausdrucksstarke Kursiv ihrer Jugend, sondern fahrig, schief, gedrungen.
Sie las die Karte:
»Aber ich möchte nicht unter Verrückte kommen«, meinte Alice.»Aber ich möchte nicht unter Verrückte kommen«, meinte Alice.
»Da kommst du nicht drum herum«, sagte die Grinsekatze. »Wir sind alle verrückt hier. Ich bin verrückt, du bist verrückt.«
»Woher willst du wissen, dass ich verrückt bin?«, sagte Alice.
»Du musst es sein«, antwortete die Grinsekatze, »sonst wärst du nicht hier.«
Wie läuft es mit dem Schreiben, mein Liebes?
Denk dran, wir müssen alle manchmal ein bisschen VERRÜCKT werden, um unser Glück zu finden.
Hoffe, Du kannst mich diesen Sommer besuchen. Ich vermisse Dich und liebe Dich von ganzem Herzen!
Sag Lorna Lauren alles Liebe von mir.
Mom
Ardens Herzschlag begann, in ihren Schläfen zu pochen, dann hinter ihren Augen.
Lorna? O Mom!, sagte Arden zu sich selbst, als sie den Fehler sah. Wie konntest du den Namen deiner eigenen Enkelin verwechseln?
Arden nahm den Umschlag und drehte ihn um, woraufhin ein Schächtelchen über ihren Schreibtisch kullerte. Als sie es aufklappte, thronte auf einem Samtkissen ein silberner Anhänger in Form des verrückten Hutmachers.
»Alice im Wunderland!«, lächelte Arden. »Mein Lieblingsbuch!«
Sie betrachtete den Glücksbringer, legte ihn auf ihre Handfläche und strich leicht mit dem Finger darüber.
Immer noch die Anhänger, Mom? Glaubst du immer noch, sie sind irgendwie magisch?
Sie dachte an das Bettelarmband ihrer Mutter, schwer von so vielen Anhängern. Das Armband, das sie nie ablegte und das Arden als Heranwachsende mit seinem unablässigen Klimpern in den Wahnsinn getrieben hatte.
Wie lange ist es her, dass Lauren und ich zu Hause in Michigan waren? Wo ist bloß die Zeit geblieben? Als Ardens Laptop ein leises Pling von sich gab, versetzte es ihr einen schuldbewussten Stich.
Arbeit. Termine. Da ist die Zeit geblieben.
Arden nahm die Karte und las sie noch einmal.
»Hoffe, Du kannst mich diesen Sommer besuchen.«
Ihre Mutter bat nur selten um etwas, am allerwenigsten um einen Besuch. Nach Hause zu kommen stellte für Arden jedes Mal eine harte Prüfung dar, in etwa so wie, nun ja, wie für Alice, in den Kaninchenbau zu fallen. Es war für Arden nicht leicht gewesen, in einer amerikanischen Kleinstadt aufzuwachsen. Es war nicht leicht gewesen, eine Mutter wie Lolly Lindsey zu haben.
»Es ist ja nicht so, als wäre sie ein schlechter Mensch«, erklärte Arden dem Anhänger, als wäre er ein Therapeut. »Sie ist nur …«
»Debbie Reynolds!«
Ja, genau! Überlebensgroß. Immer auf einer Bühne, dachte Arden.
»Arden?«
Arden schrak hoch und sah Van in der Tür stehen, seine blaue, mit gelben Booten verzierte Fliege zuckte an seinem Hals.
Moment mal. Das hab gar nicht ich gesagt?, wurde ihr bewusst.
»Debbie Reynolds datet einen Fünfundzwanzigjährigen! Die Story kommt grad rein! Wir haben sie exklusiv. Sie muss spätestens in fünfzehn Minuten online sein!«
»Natürlich«, nickte Arden. Van hatte sich bereits wieder zum Gehen gewandt. »Aber wenn ich fertig bin, würde ich gern meine Mittagspause vorziehen, wenn das okay ist«, rief sie ihm hinterher. »Ich brauche ein bisschen frische Luft.«
Van blieb stehen, schlurfte im Moonwalk drei Schritte rückwärts und sah auf die Uhr, bevor er mit einer Fingerpistole auf Arden zielte.
»Klar doch. Wir wollen schließlich, dass du frisch und fit bist. Aber für eine Pause ist es wirklich noch zu früh. Mach einen späten Lunch draus, okay? Heute ist jede Menge los. Du hast doch heute Abend eh nichts vor, oder? Oder dieses Wochenende? Über diese Beförderung zur Leiterin der Webnachrichtenredaktion ist noch nicht entschieden …«, fügte Van hinzu.
Arden klappte den Mund auf, um etwas zu erwidern, aber Van war bereits wieder verschwunden.
Lauren
Mai 2014
»Jedes Kind ist ein Künstler.
Die Schwierigkeit ist,
ein Künstler zu bleiben,
wenn man erwachsen wird.«
Pablo Picasso
Lauren stellte das Zitat, das sie gerahmt auf ihrem Schreibtisch stehen hatte, wieder an seinen Platz zurück und starrte brütend auf den Bildschirm ihres MacBooks. Die Aufzeichnungen aus ihrem Wirtschaftskurs verschwammen ihr vor den Augen.
Ein warmer Wind wehte durchs Fenster des Studentenwohnheims und spielte mit Laurens blondem Haar.
Sie atmete tief ein. Der Geruch des Michigansees und des nahen Sommers füllte ihre Lunge und das Zimmer, dieser süße Duft nach Blumen und Süßwasser, frisch gemähtem Gras und Wärme, dieser Geruch nach … Hoffnung.
Von draußen drangen fröhliche Schreie herein. Sie stand auf und lehnte sich über ihren Schreibtisch zum Fenster, um die Szene zu betrachten: Ihr Studentenzimmer auf dem Campus der Northwestern University blickte hinaus auf den See und den Studentenstrand. Obwohl der Wind vom Wasser her noch ein wenig kühl war, spielten einige Jungs Frisbee mit nacktem Oberkörper, und Mädchen in Jeans und Bikinioberteil tankten ein paar Sonnenstrahlen.
Dieses schlichte Bild ihrer Kommilitonen, die sorglos den Tag genossen, hatte etwas an sich, das Lauren veranlasste, aufzustehen, sich die lila Wildcat-Kapuzenjacke vom Leib zu reißen und an die Staffelei neben ihrem Schreibtisch zu treten. Sie hob den Pinsel.
»Eiscreme!«
Erschrocken zuckte Lauren zusammen, als ihre Mitbewohnerin Lexie wie ein Tornado mit fliegenden dunklen Locken ins Zimmer wirbelte.
»Dachte, die könnten wir brauchen«, sprudelte Lexie sogar noch schneller als sonst auf ihre typische New Yorker Art hervor, »wo wir doch an diesem herrlichen Tag hier drin festsitzen, um für die Abschlussprüfungen zu büffeln, und außerdem hab ich … na ja, ich hab grad rausgefunden, dass Josh mich wieder mal für dumm verkauft.«
»Was?« Lauren schnappte ihrer Mitbewohnerin eine Eistüte aus der Hand und wedelte ihr mit dem Pinsel vor der Nase herum. »Was hat er denn diesmal angestellt?«
»Ich hab rausgefunden, dass er dieses Wochenende mit Grace ins Beyoncé-Konzert im United Center geht!« Lexie leckte an ihrem Eis. »Da sollte er doch mit mir hingehen!« Sie ließ die Schultern hängen. »Das sollte unser letztes großes Date sein, bevor wir in den Sommerferien nach Hause fahren.«
»Schick den Loser endlich in die Wüste«, riet Lauren und legte den Pinsel weg. »Und zwar auf der Stelle!«
Lexie leckte weiter an ihrem Eis, dann riss sie plötzlich die braunen Augen auf. Sofort war Lauren klar, dass ihre Mitbewohnerin irgendetwas ausgeheckt hatte.
»Kann deine Mom uns denn keine Tickets für das Konzert besorgen?«, bettelte Lexie. »Damit wir ihm nachspionieren können?«
Lauren verdrehte die Augen und setzte sich auf ihr Bett. »Theoretisch könnte sie schon. Aber du weißt doch, dass sie das nie tun würde. Sie ist absolut nicht der Typ dafür, um so etwas zu bitten.«
»Nicht zu fassen, dass deine Mutter für Paparazzi arbeitet und diese Connections nie ausnutzt.«
»So ein Risiko würde sie einfach nie eingehen. Ich bin mir sicher, dass sie über das Konzert berichtet … aber nur von ihrem Büro aus«, antwortete Lauren, dann fügte sie hinzu: »Lexie, du musst dir diesen Typen endlich aus dem Kopf schlagen. Er ist einfach nicht gut für dich.«
Lexie stand auf, schob sich die halb aufgegessene Eiswaffel in den Mund und fing an, auf ihrem Handy zu tippen.
»Erledigt!«, rief sie wenige Sekunden später.
»Wie romantisch!«, meinte Lauren, dann musste sie über ihre Mitbewohnerin lachen. »Übrigens, dir ist hoffentlich klar, dass du wie ein schwangeres Känguru aussiehst, oder?«
Lexie sah an ihrem aufgeplusterten Bauch hinunter und erstickte beinahe an der Eistüte, die sie immer noch im Mund hatte.
»Hab ich ganf fergeffen«, nuschelte sie an der Waffel vorbei. Sie griff in die vollgestopfte Tasche ihres Kapuzenshirts und ließ eine Flut aus Umschlägen und Päckchen aufs Bett regnen. »Hier. Post.«
Lauren begann, sich durch die darauf verstreuten Briefe zu wühlen, und bei jedem Umschlag, den sie öffnete, wurde ihr schwerer ums Herz: Benachrichtigungen über Praktika bei Banken und Unternehmen der Fortune 500, Termine für Bewerbungsgespräche auf dem Campus, Anzeigen für Jobmessen. Es war schon spät im Jahr, und sie hatte jede dieser Benachrichtigungen ignoriert. Und musste ihrer Mutter erst noch beichten, dass sie kein Praktikum oder einen Job für den Sommer vorweisen konnte.
Seufzend ließ Lauren den Kopf hängen, dass ihr die blonden Locken vors Gesicht fielen.
»Dadurch kannst du die Zukunft auch nicht ausblenden«, meinte Lexie. »Warum sagst du deiner Mom nicht einfach, dass du mit deinem Hauptfach nicht glücklich bist?«
»Du kennst sie doch«, erwiderte Lauren. »Glücklich zu sein hat in der Gleichung ihres Lebens schon seit einer ganzen Weile keinen großen Stellenwert mehr.«
»Aber wenn du jetzt schon unglücklich bist«, gab Lexie zu bedenken, »dann stell dir nur vor, wie du dich in zwanzig Jahren fühlen wirst.«
Lauren seufzte.
»Hey, was ist das da?«, fragte Lexie plötzlich und zeigte auf einen kleinen, gelben Luftpolsterumschlag, der auf ihrer lilafarbenen Northwestern-Bettwäsche thronte.
Auf dem Umschlag stand Laurens Name, doch die konnte die krakelige Handschrift erst nicht zuordnen, bis sie die Absenderadresse aus Michigan sah. »Grandma!«, rief sie aus. Freudig riss sie den Umschlag auf, um darin eine Karte und eine kleine Schachtel zu entdecken.
»Ich wette, ich weiß, was es ist«, lachte Lexie. Sie ließ sich aufs Bett fallen. »Na, mach schon auf!«
Lauren klappte die kleine Schachtel auf und fand darin einen silbernen Charm in Form eines Heißluftballons.
»Lies vor«, drängte Lexie.
Bei dem Gedanken an Lolly musste Lauren lächeln. Sie vergötterte ihre Großmutter – ihre verrückten Perücken, ihre sorglose Art, ihre Liebe zur Natur, ihr feuriges Temperament.
Lauren nahm die Karte und begann mit wachsender Rührung in der Stimme zu lesen:
Dieser Anhänger steht für ein Leben voller Abenteuer!
YOLO, vergiss das nicht!
Alles Liebe,
Grandma
»Sie kennt ›You Only Live Once?‹«, fragte Lexie verblüfft, dann klappte sie ihren Laptop auf, um davon abzulenken, dass ihre Stimme plötzlich rau klang. »Deine Großmutter ist so aufmerksam. Ich vermisse meine eigene Grandma. Ich hatte sie so lieb.«
Tief von Lexies Worten berührt, strich Lauren ihrer Mitbewohnerin über die Schulter. »Sie ist immer noch bei dir.«
»Ich weiß.« Lexie biss sich auf die Lippe und wechselte das Thema. »Also: Abschlussprüfung Wirtschaftswissenschaft. Schätze, es wird höchste Zeit, was?«
Lauren gab dem Heißluftballon einen kleinen Kuss, bevor sie ihn vorsichtig an ihrem bereits überladenen Armband befestigte. Dann ging sie zu ihrem Schreibtisch und legte die Karte neben das Picasso-Zitat. Sanft strich sie über die Handschrift ihrer Großmutter. Mit einem Blick auf Lexie versuchte sie sich vorzustellen, wie es wäre, die eigene Großmutter zu verlieren.
Ist sie inzwischen wirklich schon siebzig? Kann das überhaupt sein?
Lauren sah hoch, betrachtete ihre Litanei aus akademischen, künstlerischen und sportlichen Erfolgen, die die Wand säumten, und seufzte.
Du hast ja so recht, Grandma. Ich brauche wirklich ein Abenteuer.
Erneut starrte Lauren aus dem Fenster auf ihre Kommilitonen, die sich am Seeufer vergnügten. Sie schloss die Augen.
Als sie noch klein gewesen war, hatte sie ihre Großmutter jeden Sommer in Michigan besucht, in deren Blockhütte am Lost Land Lake nahe einer Kleinstadt namens Scoops. Es war die schönste Zeit ihres Lebens gewesen. Die Beziehung ihrer Mom zur deren eigener Mutter war Lauren dagegen stets so kalt vorgekommen wie die Eistüten, die sie und ihre Großmutter im Sommer beinahe täglich verdrückten.
»Wenn man von Eiscreme Kältekopfschmerz bekommt, dann ist es das allemal wert, nicht wahr, Liebling?«, pflegte ihre Großmutter zu sagen, wenn sie Lauren mit ihren feuerrot lackierten Fingernägeln die Schläfen massierte.
Mit ihrer Großmutter war jeder Tag ein Abenteuer: Sie brachte ihr alles bei: malen, schwimmen, daran zu glauben, dass alles möglich ist.
»Lachen und träumen sind das Wichtigste auf der Welt, mein Liebes«, sagte sie stets. »Das sind die Dinge, die wir als Erwachsene vergessen.«
Lauren dachte wieder an die Worte von Picasso, ging zu ihrer Staffelei und holte ihre Farben hervor.
Sie konnte das Gesicht ihrer Großmutter vor sich sehen, ihr Lachen hören, ihre Wärme spüren. Eigentlich sollte sie für die Abschlussprüfung lernen, anstatt zu malen.
Ich wünschte, ich könnte ganztägig malen, dachte Lauren mit einem Blick auf ihre Wand der Auszeichnungen. All die vielen Male, die ich es auf die Bestenliste geschafft habe, all die vielen Male, die ich meine Leichtathletikwettbewerbe gewonnen habe, und es hat ihn nicht einmal interessiert.
In Laurens Zimmer gab es kein einziges Foto von ihrem Dad. Abgesehen von gelegentlichen Briefen und dem Scheck zum Geburtstag und zu Weihnachten hatte sie von ihrem Vater seit Jahren nichts mehr zu Gesicht bekommen. Er hatte sie im Stich gelassen, und sie hegte keinerlei Absicht, seine neue Familie kennenzulernen.
Dass man sie an der Northwestern angenommen hatte, war Laurens eigener Verdienst gewesen: Ihre Noten und Auszeichnungen hatten natürlich dabei geholfen, aber es war ihr Talent gewesen – ihre Kunst –, das ihr die Aufnahme ermöglicht hatte.
Doch als Lauren damals für ihr erstes Jahr am College ihre Sachen packte, geschah etwas, das ihr Leben völlig veränderte: Sie fand die abscheulichen Briefe ihres Vaters auf dem Dachboden. In der Garage stieß sie auf die Einzelheiten der Scheidungsvereinbarung. Sie entdeckte die Kontoauszüge und überfälligen Rechnungen im Sekretär ihrer Mutter, und während diese bei der Arbeit war, las Lauren das Tagebuch, das ihre Mutter in einem Schuhkarton unter dem Bett versteckt hatte. So erfuhr sie die Wahrheit: Ihr Vater weigerte sich, Arden bei der Erziehung ihrer Tochter zu unterstützen.
Manchmal muss man seine Leidenschaft aufgeben, um zu überleben, hatte ihre Mutter in ihr Tagebuch geschrieben.
Lauren war von Schuldgefühlen überwältigt worden. Bis zu diesem Zeitpunkt war ihr nicht bewusst gewesen, wie viel ihre Mutter geopfert hatte, und sie schwor sich, dasselbe zu tun: Eine viertel Million Dollar für einen Kunstabschluss war völlig unrealistisch. Wie konnte sie von ihrer Mutter erwarten, solch eine Summe zurückzuzahlen? Aber ein Wirtschaftsabschluss, und dann ein MBA? Damit könnte sie ihrer Mutter helfen, sich aus der finanziellen Notlage herauszukämpfen. Sie könnte dabei helfen, das Chaos, das ihr Vater angerichtet hatte, zu lindern.
Und dann, wenn es noch nicht zu spät ist, könnte ich immer noch malen, schwor Lauren sich.
Nun verstand sie das Mantra ihrer Mutter: »Sei vernünftig«, predigte sie ständig. »Sei vorsichtig. Sei organisiert.«
Es stand in direktem Gegensatz zu dem Mantra ihrer Großmutter: »Träume, mein Liebling. Träume!«
Obwohl sie eigentlich lernen sollte, begann Lauren zu malen. Sie vergaß alles um sich herum, bis auf ihre Pinselstriche.
»Wow«, riss Lexies Ausruf sie schließlich aus ihrer Trance. »Ich meine, wow!«
Lauren hielt inne und betrachtete ihr entstehendes Werk.
Wenn sie malte, verblasste die Welt um sie herum. Sie lebte in dem Gemälde.
»Du weißt hoffentlich, wie talentiert du bist, oder?«, fragte Lexie bewundernd. »Das ist eine Gabe.«
Lauren lächelte und berührte zögerlich die noch feuchte Leinwand, als wäre das Gemälde ein Vogel, den sie nicht durch eine plötzliche Bewegung aufschrecken wollte. Wenn es fertig war, würde das Bild ihre Großmutter zeigen, wie sie an einem Eis leckte, das schnell in der Sommersonne schmolz, ihr alterndes Gesicht eine Mischung aus kindlicher Freude und reifen Zügen.
»Du hast ihre Augen«, stellte Lexie fest. »Die gleiche Farbe wie der Himmel jetzt gerade. Ich muss farbige Kontaktlinsen tragen, damit meine so aussehen, weißt du?«
Lauren musste lächeln. »Danke, dass du so eine großartige Freundin und Mitbewohnerin bist.«
»War anfangs nicht gerade einfach«, antwortete Lexie. »Weißt du noch?«
Lauren nickte.
Als sie an der Northwestern angefangen hatte, war Laurens ursprüngliche Begeisterung fast schon in eine Depression abgeglitten, nachdem sie die finanziellen Schwierigkeiten ihrer Mutter herausgefunden und ihr Hauptfach gewechselt hatte.
Die werden mich zwingen, mit irgendeiner Langweilerin zusammenzuwohnen, die Statistiken liebt und sich weigert, auszugehen, war Lauren felsenfest überzeugt.
In den ersten Wochen verhielt sie sich Lexie gegenüber eisiger als ein Winter in Chicago. Sie belegten beide den Grundkurs Statistik I, und Laurens Anspannung war regelrecht greifbar.
»Wie können die das nur eine ›gut verständliche und umfassende Einführung in die Statistik‹ nennen?«, stieß Lauren eines Abends in ihrem Studentenzimmer frustriert hervor, und ihre Stimme wurde immer lauter. »Gut verständlich? Data-Mining? Quantitative Methoden? Im Ernst jetzt?«
»Lass mich dir helfen«, bot ihre Zimmergenossin in dem offensichtlichen Versuch, sie zu beruhigen, an.
»Nicht nötig«, erwiderte Lauren trotzig. »Ich bin eben kein solches Genie wie du.«
»Weißt du was?«, platzte Lexie der Kragen. »Mir reicht’s! Du willst keine Hilfe. Du willst nicht reden. Du willst mich nicht kennenlernen. Du willst dich einfach nur in Selbstmitleid suhlen. Schön! Kannst du haben. Ich verschwinde!«
Und damit packte sie ihre Sachen zusammen und schlug die Tür hinter sich zu.
Frustriert begann Lauren zu malen. Langsam tauchte aus der Leinwand ein kleines Mädchen auf, das im Schlauch eines alten Autoreifens auf dem See planschte, während sich am Horizont ein Sturm zusammenbraute.
Lauren war gegen ein Uhr früh eingeschlafen, und als sie aufwachte, sah sie, wie Lexie ihr Gemälde betrachtete.
»Du wolltest eigentlich nie Betriebswirtschaft als Hauptfach, stimmt’s?«
Lauren schüttelte den Kopf und brach in Tränen aus.
»Erzähl mir, was los ist«, bat Lexie. »Bitte.«
Von diesem Moment an wurden die beiden unzertrennlich. Und als Lauren ihrer Großmutter erzählte, was Lexie ihr für eine Hilfe gewesen war, schickte sie den Mädchen zwei Anhänger in der Form von Puzzleteilen mit der Aufschrift ›Beste‹ auf dem einen und ›Freundin‹ auf dem anderen, die sie seitdem gewissenhaft trugen.
»Schätze, ich kann das Unvermeidliche nicht länger vor mir herschieben«, kehrte Lauren mit einem Kopfschütteln in die Gegenwart zurück. »Wollen wir irgendwo hingehen und gemeinsam büffeln?«
»Klar. Ich muss mich nur noch schnell fertig machen, okay?«
»Wofür?«
»Ich bin doch jetzt wieder Single«, erklärte Lexie. »Da kann ich doch nicht so vor die Tür gehen!«
»Na, dann beeil dich.« Lauren band ihr Haar zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen und knotete sich eine leichte Jacke um die Hüften.
»Du brauchst echt nichts zu tun, um gut auszusehen, oder?«, seufzte Lexie auf dem Weg ins Bad, das ihr Zimmer mit dem der Mädchen nebenan verband. »Gib mir fünf Minuten, okay?«
Kopfschüttelnd setzte Lauren sich aufs Bett, da sie wusste, dass fünf Minuten in Lexies Welt in Wahrheit eher zwanzig Minuten bedeuteten.
Nachdenklich betrachtete sie das Gemälde. Ich vermisse meine Grandma. Warum kommt einem das Leben eigentlich immer in die Quere? Laurens Handy vibrierte, und sie zog es aus der Jeanstasche. Es war eine SMS ihrer Mutter.
Treffen wir uns zu einem späten Mittagessen?
Will gleich mit Lexie für die Abschlussprüfung lernen. Ein sehr spätes Mittagessen kann ich schaffen. Um 3?
OK. Wir treffen uns unter Marilyn. Hab dich lieb!
OK. Ich dich auch.
Lauren hielt kurz inne und schrieb dann eine weitere Nachricht.
Hast du von Grandma auch einen Charm bekommen?
Ja. Einen verrückten Hutmacher.
Ich mach mir ein wenig Sorgen um sie.
Laurens Herz klopfte, als sie an ihre so weit entfernte Großmutter dachte. Dann schrieb ihre Mutter zurück: Ich auch. Wir reden später.
Lauren kicherte. Mit ihrer Mutter zu reden, war oft eher Familiengericht als Unterhaltung.
»Fertig?« Lauren schnappte sich ihre Handtasche und wartete ungeduldig.
»Nur noch ein paar Minuten«, kam es von Lexie zurück. »Meine Haare wollen nicht so wie ich.«
Lauren ließ sich wieder auf das schmale Bett fallen und warf einen Blick auf die Karte. Die Sonne schien durchs Fenster auf das Porträt ihrer Großmutter, und es war, als erstrahle ihr Gesicht in einem inneren Licht.