image

„Im Andenken an meine Eltern“

Andreas Gustke

Andreas Gustke

Ein brillantes Leben

...und die Uhren ticken weiter.

© 2017 Andreas Gustke

Verlag und Druck: tredition GmbH, Grindelallee 188, 20144 Hamburg

ISBN
Paperback: 978-3-7439-3312-5
Hardcover: 978-3-7439-3313-2
e-Book: 978-3-7439-3314-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheber-rechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Prolog2017

Wieso dieses Buch? Ein Traum? Nicht nur. Die Idee hatte ich schon mit zwanzig. Aber was hätte ich da groß erzählen sollen? Sicher nicht viel. Naja, von Mädchen vielleicht und so manchen amourösen Abenteuern.

Aber die Ambitionen zum Schreiben hatte ich in meiner frühen Jungend schon, genauer gesagt mit dreizehn.

Bei den Vorbereitungen zu diesem Buch habe ich die kleine Kriminalgeschichte doch tatsächlich wiedergefunden, die ich in der achten Klasse mal niedergeschrieben hatte. Beim Lesen musste ich die ganze Zeit schmunzeln und habe mich dann entschieden, dass sie endlich das Licht der Welt erblicken soll. Achtung. Ich habe alles so übernommen, wie ich es damals als dreizehnjähriger Spund aufgeschrieben habe, auch alle Fehler. Sonst wäre es ja nicht authentisch.

Also hier mein Erstlingswerk auf den folgenden Seiten zur Einstimmung.

Die Atomuhr

Kriminalroman

von Andreas Gustke

fertiggestellt am 3.2.1970

Inhaltsverzeichnis

KapitelName

1 Einleitung

2 Eine sensationelle Erfindung

3 Klein Klein`s Befehl

4 Das Wrack auf der Insel

5 Der seltsame Flugbrüchige

6 Diebstahl!

7 Landung in Glasgow

8 Mord!

9 Die Hamburgflugtickets

10 In die Falle gegangen

11 Ende

Einleitung

In Denison, einer kleinen Stadt in den USA lebte ein berühmter Professor. Er war sehr klein und wurde darum überall nur Klein Klein genannt.

Im laufe der Jahre war er so berühmt geworden, dass in den Zeitungen oft von im stand. Außerdem besaß er einen Vertrauten. Es war ein junger, blonder Mann, der aus Hamburg stammte. Immer, wenn der Professor eine Erfindung gemacht hatte, mußte der Vertraute sie nach Washington zum prüfen bringen.

Eine sensationelle Erfindung

Eines Tages, man zählte den 16.Juni 1959, machte der Professor eine sensationelle Erfindung. Der Professor hatte die Atomuhr erfunden! Diese sollte der Vertraute, sein Assistent, nicht nach Washington, sondern nach Hamburg zum testen bringen. Denn dort saß im hydrografischen Institut eine Abteilung Fachkräfte, die glänzend dazu geeignet war, solche Erfindungen zu prüfen.

Klein Klein`s Befehl

Am morgen des 17.Junis fand folgende Unterhaltung statt, in der der Professor seinen Assistent beauftragte: „So, Adlerberg, morgen fliegen sie mit einer Boing 707 von New-York aus nach Hamburg. Zwischenstation machen sie in London und Glasgow. Ihr Flug wird getarnt als der eines New-Yorker Lehrlings zu seinen Eltern. Die Atomuhr und die Formeln dazu werden sie in einer Aktentasche befördern.“

Das Wrack auf der Insel

„Es werden alle Fluggäste gebeten, sich anzuschnallen. Wir starten in einer Minute!“ ertönte es aus einem Flugzeuglautsprecher.

Schon nach acht Minuten war New-York allen Blicken entschwunden und man sah unter sich die Weiten des Atlantic. Nach einer halben Stunde überflog man eine kleine Insel ohne Namen, auf der kein Mensch lebte. Sie war ungefähr 1 km lang und bestand aus einem 50 Meter breiten und sich fast bis über die ganze Insel ziehenden Grasstreifen. Die übrige Fläche war dichter Wald mit vereinzelten Lichtungen.

Plötzlich bemerkte der Pilot eine Rauchsäule, die von der Insel aufstieg. Dann sah er durch seinen Feldstecher einen kleinen Punkt bei einem Flugzeugwrack stehen. Dieser Punkt war ein Mensch. „Pilot, beidrehen und auf Grasstreifen landen!“ befahl der Käpt`n.

Der seltsame Flugbrüchige

Unten, auf der Insel, stand bei dem Flugzeugwrack ein in zerissenen Sachen gekleideter Mann. Dieser war ungefähr 40 Jahre alt und hatte einen schwarzen Vollbart. „Ich will nicht Noli heißen, wenn das nicht klappt! War doch `ne klasse Idee vom Chef, mich mit `nem getarnten Flugzeugabsturz an Bord der Boing zu befördern. Die Atomuhr ist unser!“ brummte der Mann in seinen Bart. Da hörte er ein ohrenbetäubendes Zischen und sah, daß die Boing auf dem Grasstreifen landete. Wenig später kam der Kapitän mit einigen Besatzungsmitgliedern auf ihn zu. Noli erzählte die erlogene Geschichte, daß er nach Boston wollte, aber Motorschaden gehabt hatte und auf dieser Insel abgestürzt sei. Er hatte den Sturz unverletzt überlebt, aber die Maschine sei im Eimer. Sofort meldete der Kapitän das an die Flughafenzentrale in New-York. Noli wurde an Bord aufgenommen. Er sollte sich mit seinem Beutelchen voll gerettetem Gepäck auf einen lehren Platz setzen. So kam es, daß er bald einen New-Yorker Lehrling fragte: „Ist der Platz neben Dir frei?“ Der Lehrling, der kein anderer als Herr Adlerberg, der Vertraute und Assistent Professor Klein Klein`s war, nickte mit dem Kopf.

Diebstahl

Es war nachts um 12.30. Alle Passagiere schliefen. Nur einer nicht: Noli! Er tat nur so. Neben ihm lag der Vertraute des Professors und hinter ihm seine Aktentasche. Das in dieser Tasche wohl die Uhr lag, dachte Noli sich gleich. Er zog aus seinem Beutelchen eine ausgezeichnete Imitation der Atomuhr heraus. Allerdings war die Imitation nur von außen dem Original gleich. Leise griff er nach der Aktentasche und öffnete sie. Vorsichtig zog er die Atomuhr heraus und steckte seine Imitation herein. Was Noli nicht wissen konnte: Er hat selbst nur eine Fälschung der Atomuhr geklaut! Die wirkliche Uhr hielt der Vertraute in einer Spezialschuhsohle versteckt, die im rechten Schuh eingebaut war.

Landung in Glasgow

Seit dem Diebstahl war eine halbe Stunde vergangen. Nun ertönte eine Stimme im Lautsprecher. „Bitte schnallen sie sich an, in drei Minuten landen wir in Glasgow!“ Diesem Befehl wurde Folge geleistet: Die Passagiere wurden geweckt und machten sich zur Landung fertig.

Auch Noli stieg aus. Nach den nötigen Verhandlungen begab er sich zur Wohnung seines Chefs.

Mord

Noli klingelte an der Haustür seines Chefs und wurde von ihm persönlich eingelassen. „Komm `rein, Noli,“ flüsterte er: „Es ist niemand weiter im Haus!“

Die beiden begaben sich in den Keller des Bungalows. Dort fragte der Chef: „Hat es geklappt?“ „Klar, Chef!“ Noli reichte ihm den Beutel herüber. Der Chef öffnete ihn und zog die Uhr heraus. Er öffnete sie und untersuchte sie genau. Plötzlich fuhr er Noli an: „Du Hund, daß ist ja eine Imitation!“ Noli wich erschrocken zurück. Blitzschnell zog der Chef seinen Revolver. Er fauchte: „Wo ist die richtige Uhr? Damit willst Du wohl selbst Geschäfte machen, was? Hahaha!“

Noli sah sofort, daß es ihm ans Leben gehen sollte und wollte dem Chef blitzschnell den Revolver aus der Hand schlagen. Aber für den war er doch zu langsam. Ein Schuß krachte, Noli fiel getroffen zusammen. Es folgten noch sieben weitere, der Chef schoß sein gesamtes Magazin lehr. Noli war tot….

Die Hamburgflugtickets

Plötzlich hörte der Chef ein Fenster klirren.Leise stieg er die Kellertreppe herauf. Aber ebenso leise schlich er noch

einmal herunter und durchsuchte den toten Noli nach der richtigen Atomuhr. Als er sie nicht fand, spuckte er wü-tend aus. Dann hastete er in die Wohnung. Dort sah er plötzlich zwei Einbrecher hinter sich, die auf ihn eindrangen. Er wand sich zur Haustür, stieß sie auf und rannte davon. Dabei schrie er laut um Hilfe. Zufällig war ein Pressefotograf in der Nähe, welcher die beiden Einbrecher knipste, als sie an ihm vorbei hinter dem Chef herranten. Diesem gelang es, zum Bahnhof zu entkommen. Dort setzte er sich in den ersten besten Zug und fuhr nach London. Auf der Fahrt sammelte er seine Gedanken. Er dachte folgendes: „Das waren natürlich die beiden, die mich gesehen hatten, als ich Monkeyfaces Auto geklaut hatte. Haben mich erpresst, die Geschichte der Polizei zu erzählen, wenn ich ihnen nicht die Atomuhr beschaffe! Wollten sich wohl eben vergewissern, daß ich sie nicht selbst behalte.“

In London angekommen, ging er zum Flugplatz und erwartete die Ankunft der Maschine, mit welcher der Assis-tent des Professors ankommen mußte. Er wollte ihm die Atomuhr persönlich abnehmen.

Nach dem Aufenthalt in Glasgow flog die Maschine mit dem Assistenten wieder ab nach London. Dort war sie eben gelandet und der Chef stieg hinzu. Er setzte sich auf einen der leeren Plätze. Aber was er nicht ahnte: Mr. Monkeyface, dessen Auto er einmal gestohlen hatte, befand sich in der Maschine. Dieser erkannte den Chef sofort wieder. Nach dem Abflug kam die Stewardess vorbei und fragte nach den Wünschen der Passagiere. Monkeyface winkte sie Monkeyface zu sich heran: „Ich muß dringend den Kapitän sprechen!“ flüsterte er. „Es befindet sich ein Dieb an Bord!“ Das der Dieb inzwischen schon zum Mörder geworden war, konnte Monkeyface freilich nicht ahnen.

„Tun sie so, als ginge es ihnen schlecht und folgen sie mir!“ flüsterte die Stewardess zurück. Dann ging sie mit Monkeyface nach vorn zur Kanzel und sagte dabei laut: „Warten Sie, nach einem Glas Wasser geht es Ihnen schon wieder besser.“

Niemand an Bord durchschaute den Trick. Monkeyface drehte dem Chef den Rücken zu, damit dieser ihn nicht erkannte.

Beim Kapitän erklärte der Bestohlene alles, welches er dann gleich nach Hamburg funkte. Gut, dort würde auf dem Flugplatz Polizei stehen, um den Chef zu empfangen!

In die Falle gegangen

„Bitte anschnallen!“ hörte man den Lautsprecher des Flugzeuges wieder: „Wir landen in fünf Minuten in Hamburg!“ Pünktlich lief die Maschine auf dem Rollfeld aus. Die Leiter wurde herangefahren, hinter ihr standen Polizisten. Es verlief alles, wie es verlaufen sollte. Der Chef stieg aus, gleich hinter ihm Monkeyface. Als der Chef auf die dritte Stufe von unten stieg, gab Monkeyface ihm einen Stoß in den Rücken. Der Chef stolperte und fiehl den Polizisten geradewegs in die Arme. Passagiere stießen Schreckensrufe aus, wurden aber von der Polizei und den Stewardessen beruhigt. Der Chef wurde abgeführt.

Ein paar Tage später klärte sich in der Gerichtsverhand-lung alles. Der Chef gestand, erst jetzt wurde dem Assistenten des Professors bekannt, in welcher Gefahr er geschwebt hatte. Dann des Fotos des Pressefotografen wurden die beiden Einbrecher bekannt und als die Erpresser des Chefs indentifiziert. Ein paar Tage später wurden sie bei einem Bankeinbruch geschnappt und bestraft.

Ende!

Tja, so schrieb ich mit dreizehn. Das ist nun schon fast achtundvierzig Jahre her. Da wohnten wir noch nicht einmal drei Jahre in Glinde und Vater wühlte Tag und Nacht im Geschäft. Mutter natürlich auch. Das hat mich schon damals tief beeindruckt. Wieso kommt ein Dreizehnjähriger sonst auf das Thema Atomuhr?

Auf jeden Fall haben mich Uhren und Schmuck immer begleitet und heute weiß ich, dass die Idee, ein Buch zu schreiben, reifen musste. Es war gut, meinen 60. Geburtstag abzuwarten. Denn bis dato ist viel passiert.

Vor fünfundzwanzig Jahren habe ich mir bereits einen Traum erfüllt, meine eigene CD. Mehr darüber werden sie im Verlaufe des Buches lesen können. Noch heute hören viele meiner Kunden die damals aufgenommenen Songs.

Nun sind weitere fünfundzwanzig Jahre vergangen und ich erfülle mir wieder einen Traum: Mein eigenes Buch. Und eines ist sicher, heute habe ich viel zu erzählen. Also kommen sie mit zu einem Streifzug durch mein Leben.

Mit brillanten Grüßen

Andreas Gustke

Der kleine Andi1956

10.Mai 1956.Vatertag. Ich kam schreiend auf die Welt und zum Entsetzen meiner Mutter mit einem gravierenden Fußfehler. Der konnte zwar operativ gerichtet werden, aber für sie blieb ich ein Leben lang ein Sonderling.

Jedes 1000ste Kind wird mit Klumpfüßen geboren, einer extremen Fehlbildung. Durch eine Entwicklungsstörung im unteren Teil des Rückenmarks ist die Wadenmuskulatur geschwächt und der hintere Schienenbeinmuskel hat ein Übergewicht. Außerdem sind die Bänder zwischen Wadenbein und Sprungbein, und die Achillessehne verkürzt. Dadurch sind die Füße nach innen gedreht. Ein schöner Anblick ist das nicht und ich kann mir gut vorstellen, dass man geschockt ist, wenn man sein Kind das erste Mal auf dem Arm hält. Aber zum Glück gab es eine Lösung, eine Operation. Die Achillessehnen wurden verlängert und die Fehlstellungen der Füße korrigiert.

Also habe ich laufen gelernt, wie alle anderen Kinder auch. Sicher, bei mir sah das nicht so elegant aus, aber welches Kind steht schon auf und läuft gleich los! Und sobald ich es konnte, war ich nicht mehr zu halten. Da war es doch nicht verwunderlich, dass ich Zeter und mordio schrie, wenn mich meine Mutter ins Laufgitter stellte. Schließlich wollte ich meine Beine doch auch benutzen. Also gab ich Gas und schrie mir fast die Seele aus dem Leib. Nichts half. Meine Mutter blieb konsequent. Heute kann ich das verstehen. Schließlich hatte sie genügend im Haushalt und im Laden zu tun und konnte nicht immer hinter mir herrennen.

Aber wenn Oma Alma kam war mein kleiner Lauf-stall tabu. Dann durfte ich so viel laufen wie ich wollte. Ich frage mich heute noch, woher sie die Kraft und Ausdauer genommen hat, mich immer wieder einzufangen.

Irgendwann, ich weiß nicht mehr genau wie alt ich war, auf jeden Fall war ich noch stolzer Besitzer des Laufstalls, passierte es. Meine Mutter war schon einige Zeit ausdauernd hinter mir hergelaufen und brauchte eine Pause. Also wurde ich nach oben gehoben und in meine Zwergenwohnung gesetzt. Ihr könnt euch meine Enttäuschung vorstellen, als ich meiner Freiheit beraubt wurde. Also begann ich mein vielfach getestetes Konzert, um meine Mutter doch noch dazu zu bewegen, mich wieder herauszuheben. Aber an diesem Tag half nichts.

Immer wieder streichelte sie mir die Wangen und versuchte mich mit diesen kleinen Blechautos zu bestechen, die ich so liebte. Nein. Heute half nichts. Mittlerweile lagen schon drei Autos in meinem Stall und das vierte hatte ich wutentbrannt hinter mich geworfen. Dadurch verlor ich das Gleichgewicht und taumelte. Kurz darauf fiel ich einfach um und natürlich auf meine geliebten Blechautos.

Ich weiß heute natürlich nicht mehr, ob das Konzert, was ich danach gab, meinen geliebten Autos oder eher meiner schmerzenden Wunde über dem linken Auge galt. Aber eins weiß ich sicher noch, aus den Erzählungen meiner Mutter, ich blutete so stark, dass mir das Blut bis in den Mund lief und sie mich lange nicht beruhigen konnte. Als ich dann endlich ein gro-ßes Pflaster auf der Augenbraue hatte war aber alles wieder gut und eine kleine Narbe wird mich immer an diesen Tag erinnern.

Ich hatte nie Angst vorm Alleinsein, glaubte ich auf jeden Fall. Meine Eltern haben mich auch nie allein gelassen, aber erstens kommt es anders und zweitens…Naja.

Mein Papa hat damals noch geraucht und wollte sich nur eine Schachtel Zigaretten holen. Da es so ein schöner Sommerabend war, ist meine Mama mitgegangen. Und so wurde aus einem kurzen Einkauf um die Ecke ein ausgedehnter Spaziergang. Zu meinem Unglück liefen meinen Eltern Freunde über den Weg und so wurde an den Spaziergang noch ein Gläschen Wein angehängt.

Das war mein Verhängnis. Natürlich wachte ich genau in dieser Nacht auf und musste aufs Klo. Und natürlich habe ich bei meinen Eltern kein Licht gesehen. Sie waren weder in der guten Stube noch im Schlafzimmer. Ach du Scheiße.

Kurz darauf kamen meine Eltern zurück und der erste Weg meiner Mutter führte sie ins Kinderzimmer. Aber ich war nicht da. Ich kann mich noch an die aufgeregten Stimmen und ihre lauten Schritte erinnern. Schließlich entdeckten sie mich, zitternd unter ihrer Bettdecke.

Als Fünfjähriger hatte ich ein außergewöhnliches Hobby. Zu gern saß ich allein in der guten Stube und hörte auf die Geräusche der vorbeifahrenden Autos. Ich wollte unbedingt erraten welches Auto gerade vorbeifuhr. Also begann ich zu trainieren, zum Leidwesen der Erwachsenen.

Auch wenn ich mit Opa Erich in Göttingen unterwegs war, blieb ich häufig stehen, um mir die Geräusche der Motoren genau einprägen zu können. Er amüsierte sich darüber und war fest der Meinung, dass ich mal Automechaniker werden würde. Doch ich widersprach. Nein, Rennfahrer.

Irgendwann war ich so gut, dass ich an einem Sonntagnachmittag am Kaffeetisch eine kleine Vorfüh-rung meiner Hörkunst gab. Mama war davon nicht begeistert, aber Papa. Ich positionierte mich dicht vor dem Fenster und Opa Erich öffnete es leicht. Alle waren leise und als die Frauen doch begannen, mit den Tellern zu klappern, legten die Männer böse ihre Zeigefinger auf den Mund. Dann konnte es endlich losgehen.

Der erste Wagen war ein VW Käfer. Papa stand am Fenster und sah, dass ich recht hatte. Dann ein Opel Kadett. Wieder richtig. Das nächste Motorengeräusch war schwieriger, aber dann tippte ich zuversichtlich auf einen Ford Badewanne. Opa Erich klatschte in die Hände.

Als ich dann noch den BMW Isetta und das Gogo Mobil erkannte, wurde ich von Papa auf das Fensterbrett gehoben und wir drei Männer schauten noch eine Weile den vorbeifahrenden Autos zu.

Mein erstes Fahrrad war karoeinfach, aber es war meins! Es hatte zwar noch Stützräder, doch ich nahm mir gleich vor: Die bleiben nicht lange dran!

Irgendwann war es dann so weit und ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, stellte mich vor meinen Vater und sagte: „Papa, die Räder müssen ab.“ Der sah mich erstaunt an: „Aber dann müssen wir erst üben, Andi!“ Ich nickte freudig. Doch er fügte hinzu: „Heute aber nicht!“ Ich war sehr traurig und Papa streichelte mir über den Kopf. „Sonntag üben wir, ganz bestimmt.“ Ich hüpfte vor Freude.

Bis Sonntag vergingen die Tage überhaupt nicht. Oma hatte mir auf dem Küchenkalender gezeigt, wie oft ich noch schlafen musste. Drei Nächte. Bockig ließ ich mein Rad einfach im Keller stehen und bin gar nicht mehr gefahren. Stützräder! Pö, ich bin doch kein Baby mehr!

Alle freuten sich auf ein ausgiebiges Sonntagsfrühstück. Nur ich nicht. Opa hatte schon mit mir geschimpft, weil ich ständig mit den Beinen zappelte. Warum dauerte das denn auch so lange? Reicht denn nicht eine Tasse Kaffee? Opa trinkt doch sonst auch nur eine. Gerade heute.

Endlich war es so weit und der Frühstückstisch wurde abgeräumt. Opa und Papa gingen mit mir nach unten. Zu meiner Überraschung waren die Stützräder von meinem Fahrrad schon abgeschraubt und es konnte gleich losgehen. Und es ging los, aber wie. Kaum saß ich auf dem Rad, trat ich auch schon in die Pedalen. Papa musste richtig rennen und nach den ersten Wackelmetern fuhr ich, als ob ich schon immer ohne Stützen gefahren wäre.

In den nächsten Tagen wurde ich aber immer beaufsichtigt. Mama hatte große Angst und so durfte ich erst eine Woche später alleine mit meinem neuen Freund unterwegs sein.

Als erstes unternahm ich einen Miniausflug. Gleich neben unserem Wohnhaus war Schlachterei Blaue. Da war ich besonders gern. Ich liebte den Geruch, der einem schon von weitem in die Nase kroch und heute wollte ich mein neues Fahrrad ohne Stützräder vorstellen. Natürlich freute ich mich jetzt schon über die Knackwurst, die mir der Fleischermeister immer schenkte.

Mein Fahrrad wurde bestaunt und ich wartete darauf, dass ich wieder eine dieser rauchigen Knackwürste bekommen würde. Ich wartete und spielte an den Trägern meiner ledernen Latzhose. Zu fragen traute ich mich nicht, also drehte ich mich enttäuscht um und ging. Doch plötzlich wurde ich mit einem Ruck angehoben und hing kurz darauf an einem Schlachterhaken. Alle lachten. Ich hatte einen Mordsschreck bekommen und fand das gar nicht lustig. Fleischer Blaue hob mich schnell wieder herunter und tröstete mich mit zwei Knackwürsten.

Am anderen Tag führte ich mein Fahrrad weiter aus. Die Straße hoch war das Geschäft Knorr Autoersatzteile. Herrn Roder und Herrn Mürter mochte ich besonders gern. Sie ließen mich durch das große Warenlager stöbern, ohne mit mir zu schimpfen. Das war toll. Manchmal erzählten sie mir von ihrer Fuß-ballzeit bei Göttingen 05 und ich trank dazu eine Brause. Dass sie mal Profis waren, sah man ihnen aber gar nicht an. Oder haben Fußballer so dicke Bäuche?

Der Ostseeurlaub im Juli 1961 mit meinen Eltern war ein ganz besonderer. Wir waren schon öfter in Howacht gewesen, aber dieses Mal wollte ich unbedingt schwimmen lernen. Schließlich war ich bald ein Schulkind. Ich hatte Glück. Ein sehr netter Rettungsschwimmer nahm sich meiner an. Er war Student und sehr geduldig mit mir. Die Sonne hatte ihn schon kräftig braungebrannt und darum leuchteten seine blauen Augen besonders. Erst erschrak ich mich deswegen, aber dann merkte ich, dass er sehr kinderlieb ist.

Die ersten Übungen durfte ich auf dem Trockenen machen. Naja, nicht ganz trocken, der Sand war ganz schön feucht und ich hatte Mühe ihn wegzuschieben. Dann durfte ich endlich ins Wasser und Sven hielt mir seine Hand unter den Bauch. Leider waren die Wellen am ersten Tag zu hoch und wir mussten schnell auf weitere Übungen verzichten.

Am nächsten Morgen war ich der erste am Strand und mein Lehrer wartete schon. Also sprangen wir gleich ins Wasser, das sich heute nur leicht wellte. Ideal zum Schwimmen lernen.

Nach und nach klappte es dann auch mit der Koordi-nation und ich kam tatsächlich gut voran. Sven hielt mir aber immer noch seine Hand unter meinen Bauch und ich nahm einige kräftige Züge. Schließlich fragte er mich, ob ich es nicht allein versuchen wolle, aber ich hatte zu große Angst.

Am dritten Tag wurde ich von Papa und Mama angefeuert und ich versuchte es im ganz flachen Wasser. Es klappte, aber mein kleines Bäuchlein berührte immer den Grund und so kam ich nicht wirklich voran. Also wagten wir uns wieder ins Tiefe, aber Sven hielt immer noch brav seine Hand unter mich. „Na bitte, geht doch!“, rief er und riss beide Hände nach oben. Was? Wie macht der das? Eine Hand liegt doch immer noch unter meinem Bauch. Was ist das? Ich erschrak und verschluckte mich. Sven eilte mir zu Hilfe und dann sah ich ihn, den Fisch.

Schulkind1962

Aufregung pur. Die Albani Volksschule Göttingen wartete auf mich. Damit aber auch neue Freunde und viele Streiche. Gleich am ersten Tag habe ich meinen Schulfreund Tommy kennengelernt. Der Lehrer fragte uns: „Kann denn schon jemand die Uhrzeit lesen?“ Tommy sagte: „Na klar. Viertel nach acht.“ Diese Freundschaft hält bis heute. Im März 2017 habe ich mit ihm seinen 60.Geburtstag gefeiert.

Nach der Schule war ich sehr häufig bei Oma Alma und Opa Erich, die auch in der Innenstadt wohnten, wie wir. Zu der Zeit war Opa noch Wachmann, bei der Wach- und Schließgesellschaft Göttingen. Ohne Hasso ging er nicht seine Runden. Vor dem Schäferhund hatten alle Respekt, aber natürlich auch vor meinem Opa. Jeden Abend kontrollierte er die Göttinger Geschäfte, ob alle ihre Türen ordnungsgemäß verschlossen hatten. Spät abends bis nachts war er unterwegs und am Tag hatte er Zeit für mich.

Da ich oft bei meinen Großeltern war, traf ich mich dort auch mit meinen Spielkameraden. Ich war Mitglied einer kleinen Bande. Aufgenommen wurden nur Jungs. Mädchen fanden wir doof. Meistens spielte wir Cowboy und Indianer, aber auch Kriminalkommissar. Darum hatte jeder von uns eine kleine Plastikknarre. Irgendwann haben wir uns ein Versteck für unsere Waffen gesucht und nach und nach kamen auch Pfeil, Bogen und Indianerbeile dazu. Einmal wäre unser Versteck fast aufgeflogen, aber wir haben unsere Waffen schnell umgelagert. Die kleine Schwester von Peter hatte gepetzt. Ich sag doch, Mädchen sind doof. Auf jeden Fall dachte ich das damals noch.

An eine Sportstunde kann ich mich besonders gut erinnern. Unser Lehrer verkündete uns, wir werden schwimmen lernen. Lernen? Ich war stolz wie Oskar. Ich konnte doch schon schwimmen. Also durfte ich es einmal vorführen.

Mutig sprang ich ins Wasser und ruderte wild mit den Armen. Ein Frosch sah sicher eleganter aus als ich. Ich kann mich noch an die ängstlichen Blicke meines Sportlehrers erinnern. Der dachte sicher, ich saufe ab. Also sprang er hinterher und wollte mich aus dem Wasser ziehen, doch ich boxte ihn wütend in die Seite und hatte plötzlich die Koordination wiedergefunden. Also schwamm ich eifrig weiter und er ließ mich ziehen. Als ich die Bahn zurückkam, blickte er mich erstaunt an und sagte nichts.

In der nächsten Schwimmstunde durfte ich dann den Freischwimmer machen: Eine viertel Stunde freischwimmen und einmal vom 1m Brett springen, mit den Füßen zuerst.

Gleich beim ersten Versuch hatte ich es geschafft und habe sofort meinen Aufnäher für Freischwimmer bekommen. War ich stolz. Zu Hause bettelte ich meine Mama so lange an, bis sie mir noch am selben Tag das runde Symbol mit blauer Welle auf meine Badehose nähte.

Eigentlich mochte ich meinen Klassenkameraden Paul nicht besonders, aber ich spielte zu gern im Betrieb seines Vaters. Er hatte ein Bestattungsinstitut und die Familie wohnte direkt darüber. Jedes Mal, wenn ich bei ihm war, überredete ich ihn dazu, ins Lager zu schleichen. Irgendwie fand ich es gruselig hier und ich sah mir zu gerne die Särge an. Angst hatte ich nicht, bis zu diesem Tag.

Paul hatte mir gerade einige der neuen Modelle gezeigt und einer der Särge gefiel mir besonders. Ich strich meine Finger über den weißen Lack. Plötzlich hörten wir Stimmen und mussten uns verstecken. Aber wo? Die Stimmen kamen näher und näher und wir wussten, dass Paul fürchterlichen Ärger mit seinem Vater bekam, wenn er uns hier entdecken würde. Also mussten wir handeln. Blitzschnell stiegen wir in einen riesigen Mahagonisarg und zogen den Deckel vorsichtig zu. Doch der war viel zu schwer für uns Knirpse, also war der Aufknall nicht zu verhindern. Wir hielten den Atem an und warteten ab.

Wie lange wir im Sarg lagen? Ich weiß es nicht mehr. Aber eins weiß ich. Ärger hin oder her. Als Pauls Vater den Deckel hob, den wir allein nicht mehr aufbekommen hatten, waren wir heilfroh. Völlig durchgeschwitzt und mit weichen Knien stiegen wir aus diesem Ungetüm.

Übrigens Ärger bekamen wir nicht. Unsere Eltern meinten, wir wären schon genug bestraft worden.

Felix saß in der Schule eine Zeit lang neben mir und wir trafen uns meistens dienstags. Sein Vater hatte ein Sägewerk in Göttingen. Ich rieche noch heute das frisch geschnittene Holz. Der riesige Lagerplatz war für uns ideal zum Spielen. Manche Hölzer waren meterhoch gestapelt und es war schon sonderbar, dass wir dort überhaupt sein durften. Aber wir durften.

Es war mal wieder ein Dienstagnachmittag. Felix und ich versteckten uns gegenseitig hinter den riesigen Holzstapeln und wie immer fand er mich, ich ihn nicht. Frustriert saß ich in einer Ecke und maulte. Doch plötzlich hörte ich ein quietschendes Geräusch und versuchte zu lokalisieren, wo es herkam. Aber es gelang mir nicht. Felix kam aus seinem Versteck gekrochen und strahlte mich an, da ich ihn bestimmt das zehnte Mal nicht gefunden hatte.

Nach fünf Minuten intensivem Hinhörens hatten wir dann eine Spur aufgenommen und schlichen uns in diese Richtung. Doch immer, wenn wir glaubten, wir seien dem Ziel nähergekommen, entfernten wir uns wieder. Plötzlich hörten wir es ganz nah. Es war kein Quietschen. Da miaute eine Katze. War sie eingeklemmt? Felix ging um den Holzstapel herum und winkte mich heran.

Vier kleine Kätzchen lagen zwischen den Stämmen. Sie waren winzig und von der Katzenmama war weit und breit nichts zu sehen. Felix lief gleich zu seinem Vater und wir durften sie in eine große Kiste mit wei-chen Tüchern legen.

Die Katzenmutti tauchte nicht mehr auf und so wurden Felix und ich Pflegeeltern.

Egal, wo ich hin wollte, meistens war ich mit dem Fahrrad unterwegs und raste oft viel zu schnell durch die Straßen von Göttingen. Darum ist es dann irgendwann passiert. Ich musste einer Oma ausweichen, schoss über den Lenker und knallte voll auf die Pfeife. Das war so schmerzhaft, dass ich ohnmächtig wurde.

Aber einmal ist keinmal und so passierte es wieder. Ich bin im Göttinger Stadtpark auf einen Baum geklettert und so unglücklich hinuntergefallen, dass ich wieder auf meinem Gottesgeschenk gelandet bin. Eigentlich kann ich heute froh sein, dass ich überhaupt noch in der Lage war, Kinder zu zeugen.

Trotz meiner Behinderung war ich immer sportbegeistert. Und eine Sportart mochte ich in der Schule besonders: Krabbelfußball. Kennt ihr nicht? Hände und Füße auf den Boden, als ob man eine Brücke ma-chen will und dann einfach drauf los krabbeln! Ich war immer der schnellst und als erster am Ball, trotz meiner leichten Behinderung oder vielleicht genau deswegen.

Nach der Volksschule kam ich in Göttingen auf die Knabenrealschule. An einen Vorfall kann ich mich besonders gut erinnern. Ich hatte mir eine sehr schlechte Zensur eingefangen und Schiss, diese meinen Eltern zu zeigen. Zu allem Unglück sollte mein Vater den Fünfer auch noch unterschreiben. Darum habe ich einfach selbst unterschrieben, natürlich mit Hans Gustke.

Am anderen Tag wurden die Hefte kontrolliert und ich verstand nicht warum sich mein Lehrer so aufregte. Ich wurde vor der ganzen Klasse zur Schnecke gemacht und hatte keine Ahnung, warum ihm meine Fälschung überhaupt aufgefallen war. Ich fand Papas Handschrift gelungen. Anschließend holte ich mir noch eine Predigt vom Direktor ab und da erfuhr ich es. Ich Rindvieh hatte Hans mit Z geschrieben und nicht mit S.

Zu Hause bekam ich noch den Hosenboden strammgezogen und mein Vater redete drei Tage nicht mit mir. Das habe ich nie wieder versucht, aber dafür andere Sachen.

Wir wohnten in Göttingen bei einem ganz netten Vermieterpaar, Tante und Onkel Semmelrogge. Da sie keine Kinder hatten, pflegten sie zu mir und meinen Eltern ein sehr inniges Verhältnis. Sie waren beide schon Mitte fünfzig und Frau Semmelrogge streichelte mir immer über den Kopf, wenn wir uns im Treppenhaus begegneten. Ich erinnere mich daran, dass sie sehr schlank war und ihre Haare immer sehr kurz trug. Dadurch wirkte ihr Gesicht noch schmaler als es eh schon war. Wenn sie sich zu mir hinunterbeugte, wich ich immer etwas zurück, aus Angst, ihre spitze Nase ins Auge zu bekommen.

Herr Semmelrogge war sehr groß und eine stattliche Erscheinung mit dickem Bauch. Sein volles Gesicht wurde von pechschwarzem Haar umsäumt. Die grauen Schläfen glänzten meistens, weil er immer so schwitzte.

Wir hatten ein sehr gutes Verhältnis und irgendwann haben Semmelrogges meinen Eltern ihre Goldmünzensammlung mit 20 Münzen übergeben Die sollten sie mir zu meinem 18. Geburtstag schenken.

Wir waren mal wieder in Kellenhusen. Vater hatte inzwischen eine Wohnung hier gekauft und so hatten wir für immer ein eigenes Feriendomizil an der Ostsee.

Minigolf entwickelte sich in den letzten zwei Jahren zu meiner Lieblingssportart und so war es nicht verwunderlich, dass ich mehr auf dem Minigolfgelände war als am Strand.

An einem sehr sonnigen Freitagnachmittag schlug ich mal wieder mit meinem Vater einige Bälle und war ihm bereits nach der dritten Bahn weit voraus. Außerhalb des Zaunes wurde ich von einer Gruppe Menschen angefeuert und egal an welcher Bahn ich spielte, sie folgten mir. Natürlich gewann ich und heute weiß ich, dass es ein gutes Training für den gro-ßen Golfplatz war.

1966 wurde eine große Schuluntersuchung in der Knabenrealschule Göttingen durchgeführt. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Ja, ich hatte eine Behinde-rung, aber mit der kam ich gut klar. Auch aus den Reihen der Schulkameraden hatte ich nie ein böses Wort gehört. Also, warum sollte ich mir Gedanken machen, wegen so einer dämlichen Untersuchung. Irgendwann war ich an der Reihe. Die Ärztin rief mich in den Untersuchungsraum. Ich trat ein, schloss die Tür hinter mir und ging auf sie zu. Ja, ich weiß, mein Gang ist nicht so geschmeidig, aber musste die mich deswegen so anglotzen?

Als ich vor ihr stand, glotzte sie immer noch und ich dachte nur, die hat einen Stich. Doch plötzlich konnte der Weißkittel sprechen, nur was da aus ihrem Mund kam, war der absolute Scheiß!

Da sagt die doch zu mir: „Du hast ja wirklich Pech mit deinen Füßen. Na, da wirst du ja in jungen Jahren schon im Rollstuhl sitzen.“

Wow! Das hatte gesessen! Ist die völlig verblödet? Ich drehte mich um und ging. Das war die kürzeste Untersuchung meines Lebens.

Vater war seit vielen Jahren schon Uhrmachermeister und Werkstattleiter in Göttingen bei Juwelier Sechting. Seine Chefin hatte zwei Söhne. Eigentlich sollte einer der beiden Mal ins Geschäft einsteigen, aber letztendlich hatte keiner der beiden Interesse. Also sollte Vater eine stille Beteiligung fürs Alter erhalten. Da die Besitzerin keinen Nachfolger hatte, hoffte sie, dass Vater das Geschäft weiterführen würde. Schließ-lich kam sie selbst schon in die Jahre. Doch noch bevor mein Vater den Vertrag unterzeichnen konnte, besann sich einer der Söhne und kam ins Familienunternehmen zurück. Vaters Zukunft stand plötzlich auf sehr wackeligen Beinen und so entschied er über Nacht, sich selbständig zu machen.

Die Suche ging los. Klar war, dass es nicht unbedingt Göttingen sein musste. Da kam ihm ein Zufall zu Hilfe. Ein Schmuckvertreter, Onkel Rudi, ein guter Freund meines Vaters, wusste, dass Juwelier Hofer aus der Bahnhofstrasse in Glinde gerade verstorben war. Die Frau hatte keine Ahnung vom Geschäft ihres verstorbenen Mannes und wollte darum schnell verkaufen. Vater und die Witwe sind sich gleich handelseinig geworden und die Wohnung über dem Geschäft konnte auch gleich angemietet werden. Und so stand der Umzug fest.

Auf nach Glinde 1967

Als ich 11 Jahre alt war, zog meine Familie nach Glinde und ich kam in die Realschule nach Reinbek. Dort habe ich auch meinen Freund Bernd kennengelernt, der irgendetwas ausgefressen hatte und darum aus dem Gymnasium Reinbek rausgeflogen war. Seine Eltern waren Gutsarbeiter auf dem Gut Glinde. Die Familie war nicht so wohlhabend und mein Freund konnte sich keine Fahrkarte leisten. Darum bin ich mit ihm, auch im Winter, jeden Tag mit dem Rad zur Schule gefahren. Sechs Kilometer hin und sechs Kilometer zurück.

Auf dem Fahrradweg zur Schule hatten Bernd und ich mal einen fürchterlichen Streit. Worum es genau ging, weiß ich heute nicht mehr. Als wir gerade bei den Juridwerken vorbeifuhren, eskalierte es. Wir sprangen beide vom Rad und haben uns fürchterlich geprügelt. Es ist aber nichts passiert. Damals hat man sich noch fair geprügelt. Irgendwann haben wir beide angefangen zu lachen, sind auf die Räder und einfach weitergefahren.

Mit zwölf bekam ich meine erste Brille. Nicht, dass ich eine gewollt hätte, aber mein Lehrer hatte mich schon länger beobachtet und sagte irgendwann zu mir: „Andreas, du kannst das doch gar nicht lesen an der Tafel. Ständig kneifst du die Augen zusammen.“ Daraufhin wurde ich zum Augenarzt geschickt und schon hatte ich mein erstes Nasenfahrrad.

Am 3.10.67 eröffneten meine Eltern ihr erstes Juweliergeschäft in Glinde in der damaligen Bahnhofstrasse. Heute heißt die Straße Avenue St. Sebastien. Ich weiß noch, dass Vaters Papa, also mein Opa aus Neumünster, ganz stolz auf seinen Sohn war. Er hat ihm damals eine DM-Münze in den Geldschrank geklebt und ihm alles Gute gewünscht, auf dass die Umsätze immer steigen werden.

Im gleichen Zuge wurde Vater Mitglied im Ankra Uhrenverband, den es heute so nicht mehr gibt, und Onkel Rudi stattete das Geschäft mit Schmuck der Firma Charles Noakes aus. Außerdem entschloss sich mein Vater in die Gewerbevereinigung und in den Schützenverein einzutreten, denn er wollte gleich engen Kontakt mit anderen Gewerbetreibenden und Kunden. Das war genau die richtige Entscheidung, denn bald darauf lieferte er regelmäßig die Pokale für die Siegerehrungen vieler Vereine in der Umgebung von Glinde.

Der Juwelierladen war in einem Bauernhaus in der unteren Etage, mit großem Schaufenster links. In der oberen Etage war das Möbelgeschäft Lawrenz und unten rechts ein Lederwarengeschäft, das Frau Lawrenz führte. Dieses Haus gibt es leider nicht mehr. Es wurde gerade abgerissen. Jetzt steht dort ein neues Gebäude für altersgerechtes Wohnen.

Ein halbes Jahr später bekamen wir Zuwachs. Nein. Kein Baby. Oma und Opa aus Göttingen zogen nach Glinde in die Saalbergstrasse. Das war eine Freude. Ich liebte meine Großeltern sehr und hatte sie schmerzlich vermisst. Vor allen Dingen Omas Koch-künste. Eine tolle Oma übrigens. Warmherzig und sehr hilfsbereit. Ich sehe sie noch vor mir, die kleine, schlanke Frau mit ihrem rundlichen Gesicht und ihrem ewigen Haarknoten.

Opa Erich dagegen hatte eher eine sportliche, kräftige Figur und volles, graues Haar. Für einen Mann hatte er sehr schlanke Hände. So lange ich mich erinnern kann, war er immer sportlich unterwegs, zu Fuß oder mit dem Rad. Wenn mein Fahrrad kaputt war, hat er es repariert, ohne zu murren. Er war durch und durch Handwerker. Oft waren wir gemeinsam mit den Rädern unterwegs. Radwanderungen waren eben unser Ding, teilweise von Glinde bis nach Hamburg an die Elbe. Aber Opa Erich hat immer zu mir gesagt: „Andi, denke daran, Rentnertempo.“

Abends saßen wir oft in der Küche und haben Mühle gespielt. Opa kannte alle Tricks, von Klipp-Klapp-Mühle bis mattsetzen. Irgendwann hatte ich alles drauf und manchmal auch eine Chance gegen ihn. Aber egal wer gewonnen oder verloren hatte, wir spielten immer wieder.

Auf Opas Initiative hin wurde auch das große Schaufenster des Juwelierladens vergittert, denn 1968 gab es mehrere Einbrüche in der Gegend. Opa machte eine Zeichnung, wie die Gitter aussehen mussten, damit wir wirklich abgesichert waren. Danach ließ mein Vater sie anfertigen und ärgerte sich im Nachhinein, dass er auf Opa gehört hatte. Die Konstruktion war zwar sicher, aber musste jeden Morgen abgenommen und abends wieder eingehängt werden.

Als ich dreizehn Jahre und einen Monat alt war, kam noch ein Schreihals auf die Welt. Am 17.5.1969 wurde meine kleine Schwester Karin geboren. Ich fand das prima, auch wenn ich häufig auf sie aufpassen musste. Viel mehr ärgerte mich, dass ich jedes Mal nach der Schule einen Einkaufszettel in die Hand gedrückt bekam und gleich wieder losstiefeln musste. Es war jeden Tag das gleiche, erst zur Schule, dann nach Hause, dann einkaufen, dann Hausaufgaben.

Meine Mutter war eigentlich Textilfachverkäuferin und hatte in Göttingen bei Wolltex gearbeitet. Seit wir in Glinde wohnten und Vater das Juweliergeschäft eröffnet hatte, war sie noch unruhiger und hektischer, als sie es sowieso schon war. Sie konnte einfach nicht vom Geschäft abschalten. Immer nur ging es um die Kundschaft und die Ware. Vater und ich haben oft den Esstisch in der Stube verlassen und sind in die Küche umgezogen, um in Ruhe essen zu können. Darum war ich auch so oft bei meinen Großeltern.

Pubertät 1970

Wer nicht einmal hängengeblieben ist, war nicht in der Schule. Also blieb ich hängen, nämlich in der siebten. Mein Freund Bernd fand das allerdings scheiße. Also zog er nach, in der achten. Und schon waren wir wieder in einer Klasse.

Aber ein Schuljahr mussten wir aufeinander verzichten und trafen uns immer nur am Nachmittag. Das war aber gar nicht schlimm. Denn ich hatte sowieso nur Augen für Marion. Mann, war die süß! Und die braunen Mandelaugen und das schokoladenbraune Haar. Wir verstanden uns sofort und ich hatte mir damals fest vorgenommen, nie wieder sitzen zu bleiben. Schließlich wollte ich ihr Antlitz so schnell nicht wieder missen.

Wenn ich mit Bernd nicht Billard gespielt habe, waren wir auf dem Kiez. Sankt Pauli war quasi unser zweites zu Hause. Der Nachteil war die beschissene Bahnverbindung und einmal mussten wir tatsächlich zu Fuß gehen, von Sankt Pauli bis nach Glinde. Die Füße brennen mir heute noch, wenn ich daran denke. Da nützten auch unsere zwei Promille nichts.