Über Agatha Christie

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Agatha Christie begründete den modernen britischen Kriminalroman und avancierte im Laufe ihres Lebens zur bekanntesten Krimiautorin aller Zeiten. Seit Erscheinen ihres ersten Romans Das fehlende Glied in der Kette 1920 haben sich ihre Bücher weltweit mehr als zwei Milliarden Mal verkauft und ihre beliebten Helden Miss Marple und Hercule Poirot sind – auch durch die Verfilmungen – einem Millionenpublikum bekannt. 1971 wurde sie in den Adelsstand erhoben. Agatha Christie starb 1976 im Alter von 85 Jahren.

Für Margaret Guillaume

»Führungsstärke ist eine große kreative Kraft,

kann aber auch teuflisch sein …«

Jan Smuts

Einleitung

Die Autorin ergreift das Wort:

Die erste Frage, die Autoren – persönlich wie auch per Post – immer wieder gestellt wird, lautet:

»Woher nehmen Sie Ihre Einfälle?«

Die Versuchung ist groß, zu antworten: »Ich gehe immer zu Harrods«, oder: »Meistens bestelle ich sie bei den Army & Navy Stores«, oder schnippisch: »Versuchen Sie es doch bei Marks and Spencer.«

Generell scheint sich die Ansicht durchgesetzt zu haben, dass es einen magischen Ideenquell gibt und Autoren herausgefunden haben, wie sie ihn anzapfen können.

Man kann schwerlich alle Fragenden mit Shakespeares Zeilen in Elisabethanische Zeiten zurückschicken:

Tell me, where is fancy bred,

Or in the heart or in the head?

How begot, how nourished?

Reply, reply.

 

[Sagt, wo wird Phantasie erzogen,

im Herzen oder im Kopf?

Wie gezeugt, wie genährt?

Antwortet, antwortet.]

Stattdessen sagt man einfach mit Nachdruck: »Aus meinem Kopf.«

Das hilft natürlich niemandem weiter. Wenn Ihnen der Anblick des Fragenden gefällt, geben Sie ruhig nach und gehen ein Stück weiter.

»Wenn eine Idee besonders vielversprechend wirkt und Sie das Gefühl haben, damit etwas anfangen zu können, wälzen Sie sie hin und her, spielen damit herum, bauschen sie auf, schwächen sie ab und bringen sie nach und nach in eine Form. Danach muss man natürlich anfangen, sie niederzuschreiben. Das macht längst nicht so viel Spaß – es artet schnell in Arbeit aus. Stattdessen kann man sie natürlich auch sorgsam beiseitelegen, sie einmotten, um sie nach einem oder zwei Jahren vielleicht wieder hervorzuholen.«

Eine zweite Frage – oder eher Behauptung – lautet dann meistens:

»Wahrscheinlich nehmen Sie die meisten Ihrer Figuren aus dem wirklichen Leben?«

Empörtes Leugnen dieser monströsen Unterstellung.

»Nein, tue ich nicht. Ich erfinde sie. Sie sind mein. Es müssen meine Figuren sein, die für mich lebendig werden – die tun, was ich will, und sind, was ich will. Manchmal können sie eigene Vorstellungen entwickeln, aber nur, weil sie durch mich real geworden sind.«

Somit hat der Autor die Ideen und die Figuren selbst hervorgebracht, aber jetzt folgt die dritte Voraussetzung – der Kontext. Die ersten beiden kommen von innen, die dritte aber ist da draußen, sie muss bereits da sein, warten, schon existieren. Das erfindet man nicht, es ist schon da – ist real.

Vielleicht haben Sie eine Kreuzfahrt auf dem Nil unternommen und noch alles vor Augen – genau der richtige Rahmen für diese bestimmte Geschichte. Sie haben in Chelsea in einem Café etwas gegessen. Es gab einen Streit – ein Mädchen hat einem anderen ein Büschel Haare ausgerissen. Ein vorzüglicher Anfang für das Buch, das Sie als Nächstes schreiben wollen. Sie reisen mit dem Orientexpress. Höchst vergnüglich, diesen zum Ort einer Handlung zu machen, die sie im Kopf haben. Sie treffen sich mit einer Freundin zum Tee. Als sie ankommen, klappt deren Bruder gerade das Buch zu, in dem er gelesen hat, wirft es zur Seite und sagt: »Nicht schlecht, aber warum zum Teufel hat niemand Evans gefragt?«

Daraufhin entscheiden Sie sofort, dass ein Buch, welches Sie demnächst schreiben, den Titel tragen wird: Warum hat niemand Evans gefragt?

Noch wissen Sie nicht, wer Evans sein wird. Nebensächlich. Evans wird schon noch kommen – der Titel steht.

In gewissem Sinn erfinden Sie also Ihre Schauplätze nicht. Sie sind da draußen, überall um Sie herum, schon vorhanden – Sie müssen nur die Hand ausstrecken und sich die Rosinen herauspicken. Eine Eisenbahn, ein Krankenhaus, ein Londoner Hotel, ein Karibikstrand, ein Dorf auf dem Land, eine Cocktailparty, eine Mädchenschule.

Es gibt nur eine Regel: Es muss die Schauplätze tatsächlich geben. Echte Menschen, echte Orte. Ein eindeutiger Fixpunkt in Raum und Zeit. Falls im Hier und Jetzt: Woher bekommt man alle nötigen Informationen, zusätzlich zu dem, was man mit eigenen Augen und Ohren wahrnimmt? Die Antwort ist schrecklich einfach.

Es ist das, was die Presse Ihnen jeden Tag liefert, in der Morgenzeitung ganz allgemein als Nachrichten aufbereitet. Sammeln Sie es sich von der Titelseite zusammen. Was tut sich heute auf der Welt? Was sagt, denkt, tut jedermann? Halten Sie dem England des Jahres 1970 den Spiegel vor.

Betrachten Sie einen Monat lang jeden Tag die Titelseite, machen Sie sich Notizen, wägen Sie ab und sortieren Sie.

Jeden Tag geschieht ein Mord.

Ein Mädchen erdrosselt.

Ältere Frau überfallen und ihrer kargen Ersparnisse beraubt.

Junge Männer oder Teenager – greifen an oder werden angegriffen.

Gebäude und Telefonzellen verwüstet und ausgebrannt.

Drogenschmuggel.

Diebstahl und Überfall.

Kinder vermisst, und die Körper von ermordeten Kindern unweit ihrer Elternhäuser abgelegt.

Kann das England sein? Ist England wirklich so? Man hat das Gefühl – nein, noch nicht, aber es könnte bald so sein.

Angst erwacht – Angst vor dem, was kommen könnte. Weniger aufgrund tatsächlicher Ereignisse als wegen der möglichen Ursachen. Manche bekannt, manche ungewiss, aber man fühlt sie. Und nicht nur im eigenen Land. Da sind kürzere Absätze auf anderen Seiten, Meldungen aus Europa, aus Asien, aus Amerika – Nachrichten aus aller Welt.

Flugzeugentführungen.

Kidnapping.

Gewalt.

Aufstände.

Hass.

Anarchie – und all das nimmt zu.

All das scheint zu einem Zerstörungskult, zu Freude an Grausamkeit zu führen.

Was hat das alles zu bedeuten? Ein elisabethanischer Satz, der vom Leben berichtet, hallt aus der Vergangenheit wider:

… it is a tale

Told by an idiot, full of sound and fury,

Signifying nothing.

 

[… es ist eine Geschichte,

erzählt von einem Schwachsinnigen, voll Klang und Wut,

die nichts bedeutet.]

Und doch weiß man – aus eigener Erfahrung –, wie viel Gutes es auf der Welt gibt; gute Taten, Herzensgüte, Handlungen aus Mitgefühl, Freundlichkeit zwischen Nachbarn, Hilfsbereitschaft von Mädchen und Jungen.

Warum dann diese gespenstische Atmosphäre in den Nachrichten – bei Dingen, die geschehen, die Tatsachen sind?

Um eine Geschichte anno domini 1970 zu schreiben, muss man sich mit den Gegebenheiten arrangieren. Ist der Schauplatz bizarr, muss sich die Geschichte diesem Hintergrund anpassen. Sie muss ebenfalls ein bizarres Hirngespinst sein – ein Capriccio. Der Rahmen muss die phantastischen Fakten des täglichen Lebens enthalten.

Kann man sich eine phantastische Ursache ausdenken? Eine geheime Kampagne zum Griff nach der Weltmacht? Kann wahnsinnige Gier nach Zerstörung eine neue Ära einläuten? Kann man dann noch einen Schritt weiter gehen und eine Rettung durch phantastische und scheinbar unmögliche Mittel andeuten?

Nichts ist unmöglich, das hat uns die Wissenschaft gelehrt.

Die folgende Geschichte ist im Kern phantastisch. Sie will gar nicht mehr sein.

Aber die meisten in ihr geschilderten Vorgänge ereignen sich in der Gegenwart tatsächlich oder bahnen sich zumindest an.

Es ist keine unmögliche Geschichte – lediglich eine erfundene.

Buch I Unterbrochene Reise

Erstes Kapitel Passagier nach Frankfurt

I

»Wir bitten Sie, die Sicherheitsgurte anzulegen.« Die verschiedenen Passagiere an Bord des Flugzeugs kamen dieser Aufforderung nur langsam nach. Allgemein herrschte der Eindruck, man könne Genf eigentlich noch nicht erreicht haben. Die Schläfrigen ächzten und gähnten. Die noch Schläfrigeren mussten von einer Stewardess sanft, aber nachdrücklich geweckt werden.

»Bitte schnallen Sie sich an.«

Die tonlose Stimme erklang gebieterisch aus den Lautsprechern. Sie erklärte auf Deutsch, Französisch und Englisch, dass man demnächst einige Turbulenzen zu erwarten habe. Sir Stafford Nye öffnete den Mund so weit wie möglich, gähnte und setzte sich aufrecht hin. Er hatte einen überaus schönen Traum vom Angeln an einem englischen Fluss geträumt.

Er war ein Mann mittlerer Größe, fünfundvierzig, mit einem ebenmäßigen, olivfarbenen, glattrasierten Gesicht. Er kleidete sich gerne ziemlich exzentrisch. Als Spross aus bestem Hause frönte er absolut sorglos jeder Textilmarotte. Und wenn das einige seiner eher konventionell gekleideten Kollegen bisweilen zusammenzucken ließ, war dies für ihn lediglich ein Quell boshafter Freude. Er hatte etwas von einem Dandy des 18. Jahrhunderts an sich. Er fiel gern auf.

Auf Reisen schmückte er sich bevorzugt mit einer Art Räuberumhang, den er einmal auf Korsika erstanden hatte. Außen war er in sehr dunklem, bläulichem Violett gehalten, innen mit scharlachrotem Futter. Hinten hing wie bei einem Burnus eine Art Kapuze herab, die er nach Wunsch über den Kopf ziehen konnte, etwa um sich vor Zugluft zu schützen.

Sir Stafford Nye war in diplomatischen Kreisen eine Enttäuschung gewesen. In der Jugend schien er aufgrund seiner Fähigkeiten zu Höherem berufen, aber es war ihm völlig misslungen, diese frühen Erwartungen zu erfüllen. Für gewöhnlich befiel ihn gerade im entscheidenden Moment ein eigentümlicher, diabolischer Sinn für Humor. Wenn es darauf ankam, stellte er jedes Mal fest, dass er lieber seiner koboldhaften Bosheit freien Lauf ließ, als sich zu langweilen. Er war eine bekannte Person des öffentlichen Lebens, ohne es jemals zu Ansehen gebracht zu haben. Man war der Meinung, dass Stafford Nye – obschon zweifellos brillant – nicht zuverlässig sei und dies wohl auch nie sein würde. In diesen Zeiten verworrener Politik und verwickelter auswärtiger Beziehungen war Zuverlässigkeit – gerade wenn man zum Rang eines Botschafters aufsteigen wollte – allerdings der Genialität vorzuziehen. Sir Stafford Nye wurde auf das Abstellgleis verbannt, wiewohl man ihn von Zeit zu Zeit mit Aufträgen betraute, die zwar kunstvolle Intrigen erforderten, aber nicht allzu wichtig oder für die Öffentlichkeit wahrnehmbar waren. Journalisten nannten ihn manchmal die unbekannte Größe der Diplomatie.

Ob Sir Stafford von seiner Karriere enttäuscht war, wusste niemand. Wahrscheinlich noch nicht einmal er selbst. Er war durchaus eitel, gab aber eben auch liebend gerne seiner Neigung zu Unfug nach.

Nun kehrte er gerade von einem Untersuchungsausschuss in Malaya – an das er aus patriotischer Gepflogenheit noch immer nicht als »Malaysia« denken mochte – zurück, den er als ganz besonders uninteressant empfunden hatte. Seiner Meinung nach hatten seine Kollegen schon vorher entschieden, was sie dort herausfinden würden. Zwar nahmen sie alles wahr und hörten zu, ihre vorgefertigte Meinung beeinflusste das allerdings nicht. Sir Stafford hatte ihnen ein paar Knüppel zwischen die Beine geworfen, mehr aus Spaß an der Freude als aus wirklicher Überzeugung. Immerhin, so fand er, war es dadurch etwas lebhafter geworden. Er wünschte sich mehr Gelegenheiten, so etwas zu tun. Seine Kommissionskollegen waren anständige, verlässliche Kerle gewesen – und bemerkenswert langweilig. Selbst die bekannte Mrs Nathaniel Edge, einziges weibliches Mitglied und bekannt für ihre fixen Ideen, war vollkommen vernünftig, wenn es um Fakten ging. Sie beobachtete, hörte zu und ging auf Nummer sicher.

Er war ihr schon einmal begegnet, als es ein Problem in einer der Hauptstädte des Balkans zu lösen galt. Bei dieser Gelegenheit hatte Sir Stafford Nye es sich nicht verkneifen können, einigen interessanten Andeutungen nachzugehen. In der skandalverliebten Zeitschrift Inside News war unterstellt worden, Sir Stafford Nyes Anwesenheit in jener Balkanhauptstadt sei eng mit größeren Problemen auf dem Balkan verbunden und er befinde sich auf einer äußerst heiklen Geheimmission. Ein vermeintlicher Freund hatte Sir Stafford eine Ausgabe zugeschickt und die entsprechenden Passagen angestrichen. Sir Stafford war keineswegs bestürzt gewesen; er hatte den Artikel mit entzücktem Grinsen gelesen. Darüber nachzudenken, wie lächerlich weit von der Wahrheit entfernt die Journalisten in diesem Fall waren, amüsierte ihn sehr. Seine Anwesenheit in der Gegend von Sofia war lediglich einem unschuldigen Interesse für seltene Wildblumen und dem Drängen einer betagten Freundin geschuldet – Lady Lucy Cleghorn. Diese war unermüdlich auf der Suche nach derlei scheuen floralen Seltenheiten und jederzeit bereit, eine Felswand zu erklimmen oder fröhlich in einen Sumpf zu hüpfen, sobald sie ein Blümchen erspähte, dessen Größe in umgekehrtem Verhältnis zur Länge seines lateinischen Namens stand.

Seit etwa zehn Tagen war eine kleine Schar von Enthusiasten dieser botanischen Suche an verschiedenen Berghängen nachgegangen, da kam Sir Stafford in den Sinn, wie schade es sei, dass diese Meldung nicht den Tatsachen entsprach. Er hatte die Blumen ein wenig – nur ein klein wenig – satt, und sosehr er die gute Lucy auch mochte, ging ihm ihre Fähigkeit, trotz ihrer über sechzig Jahre Hügel in Windeseile zu erklimmen – und ihn dabei mühelos abzuhängen –, doch manchmal gegen den Strich. Dauernd sah er direkt vor sich die Rückseite dieser leuchtend königsblauen Hosen, und wenn Lucy auch an anderen Stellen bei Gott genug Knochen aufwies, war sie achtern entschieden zu ausladend, um königsblaue Cordhosen tragen zu können. Wie wäre es, hatte er gedacht, mit einem netten kleinen internationalen Durcheinander, bei dem er seine Finger im Spiel hätte, mit dem er sich vergnügen könnte?

Im Flugzeug fing die metallische Lautsprecherstimme erneut zu reden an. Sie setzte die Passagiere davon in Kenntnis, dass das Flugzeug wegen dichten Nebels über Genf nach Frankfurt umgeleitet und von dort nach London fliegen würde. Passagiere nach Genf würden von Frankfurt aus so bald wie möglich dorthin befördert. Sir Stafford Nye war das gleich. Falls es in London Nebel gab, würden sie, wie er annahm, das Flugzeug wohl nach Prestwick umleiten. Er hoffte, dass es dazu nicht käme. Er war ein- oder zweimal zu oft in Prestwick gewesen. Das Leben, dachte er, und insbesondere Flugreisen waren wirklich hochgradig langweilig. Wenn doch nur – er wusste auch nicht – wenn doch nur – was?

II

Es war warm in der Transitlounge des Frankfurter Flughafens, deshalb schlug Sir Stafford Nye seinen Umhang zurück, sodass sich das scharlachrote Futter spektakulär um seine Schultern legte. Er trank ein Glas Bier und hörte mit halbem Ohr auf die verschiedenen Durchsagen.

»Flug 4387 nach Moskau. Flug 2831 nach Ägypten und Kalkutta.«

Reisen über den gesamten Erdball. Eigentlich sollte das alles sehr romantisch sein. Irgendetwas jedoch hatte die Stimmung in einem Warteraum am Flughafen an sich, das jede Romantik erkalten ließ. Es gab zu viele Leute, zu viele Dinge zu kaufen, zu viele ähnlichfarbene Sitze, zu viel Plastik, zu viele Menschen, zu viele schreiende Kinder. Er versuchte sich zu entsinnen, wer gesagt hatte:

I wish I loved the Human Race;

I wish I loved its silly face.

 

[Ich wollte, ich liebte das Menschengeschlecht;

Ich wollte, ich liebte sein dummes Gesicht.]

Chesterton vielleicht? Auf jeden Fall stimmte es. Genug Menschen auf einem Fleck, und sie sahen sich so quälend ähnlich, dass es kaum auszuhalten war. Jetzt ein interessantes Gesicht, dachte Sir Stafford. Wie viel das ausmachen würde. Abschätzig betrachtete er zwei junge Frauen, aufwendig geschminkt, gewandet in der nationalen Montur ihres Heimatlandes – England, so nahm er an. Ein Minirock kürzer als der andere. Dann war da noch eine andere junge Frau, noch aufwendiger geschminkt – tatsächlich ziemlich hübsch – und in einem Aufzug, den man, wie er meinte, Hosenrock nannte. Modisch war sie weiter fortgeschritten.

Er war nicht sonderlich interessiert an hübschen Mädchen, die wie alle anderen hübschen Mädchen aussahen. Er mochte es, wenn jemand anders war. Jemand ließ sich neben ihm auf der plastikbezogenen Kunstlederbank nieder. Ihr Gesicht erregte sofort seine Aufmerksamkeit. Nicht unbedingt, weil es anders war: Tatsächlich schien er es fast von irgendwo her zu kennen. Hier saß jemand, den er schon einmal gesehen hatte. Zwar konnte er sich nicht entsinnen, wo oder wann, doch kam ihm das Gesicht bekannt vor. Vielleicht fünf- oder sechsundzwanzig, dachte er, was das Alter anging. Eine feingeschnittene Adlernase, ein schwerer schwarzer Busch von Haaren, der ihr bis zu den Schultern reichte. Sie hielt ein Magazin in der Hand, nahm aber keine Notiz davon. Vielmehr schaute sie ihn an, mit fast so etwas wie Ungeduld. Dann plötzlich sprach sie. Es war eine tiefe Altstimme, beinahe so tief wie die eines Mannes. Sie hatte einen leichten ausländischen Akzent. Sie sagte:

»Kann ich mit Ihnen reden?«

Er musterte sie einen Moment, ehe er antwortete. Nein, anders, als man hätte glauben mögen, war es kein Versuch, ihn abzuschleppen – es war etwas anderes.

»Ich sehe keinen Grund,« sagte er, »warum Sie das nicht tun sollten. Es scheint so, als hätten wir hier genug Zeit totzuschlagen.«

»Nebel«, sagte die Frau, »Nebel in Genf, vielleicht Nebel in London. Nebel überall. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

»Ach, machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er beschwichtigend, »die werden Sie schon irgendwo absetzen. Sind ziemlich tüchtig, wissen Sie. Wohin geht es denn?«

»Eigentlich nach Genf.«

»Nun ja, irgendwann werden Sie da schon hinkommen.«

»Ich muss da sofort hin. Wenn ich es nach Genf schaffe, wird alles gut. Ich habe dort eine Verabredung. Ich würde heil ankommen.«

»Heil?« Er lächelte zurückhaltend.

Sie sagte: »Heil ist auch ein Wort mit vier Buchstaben, aber nicht die Sorte wie der beliebte Kraftausdruck. Trotzdem kann es eine Menge bedeuten. Für mich bedeutet es viel.« Sie fuhr fort: »Verstehen Sie, falls ich nicht nach Genf komme, falls ich das Flugzeug hier verlassen muss oder in diesem Flugzeug weiter nach London fliege, ohne gewisse Vorkehrungen zu treffen, wird man mich umbringen.« Sie sah ihn scharf an. »Wahrscheinlich glauben Sie mir nicht.«

»Ich fürchte, nein.«

»Es stimmt aber. So etwas passiert. Sogar jeden Tag.«

»Wer will Sie denn umbringen?«

»Spielt das eine Rolle?«

»Nicht für mich.«

»Sie können mir glauben, wenn Sie nur wollen. Ich sage die Wahrheit. Ich brauche Hilfe. Hilfe, um heil nach London zu kommen.«

»Und weshalb suchen Sie mich aus, um Ihnen zu helfen?«

»Weil es mir so vorkommt, als hätten Sie Ahnung vom Tod. Sie wissen über den Tod Bescheid, haben ihn vielleicht sogar schon gesehen.«

Er schaute sie scharf an, dann wieder zur Seite.

»Irgendwelche anderen Gründe?«, sagte er.

»Ja, dieser hier.« Sie streckte ihre schmale, olivfarbene Hand aus und berührte die Falten des ausladenden Umhangs. »Das da«, sagte sie.

Zum ersten Mal war seine Neugier geweckt.

»Was soll das denn jetzt heißen?«

»Das ist ungewöhnlich – charakteristisch. Nicht das, was alle tragen.«

»Wohl wahr. Wollen wir sagen, eine meiner Schrullen?«

»Eine Schrulle, die für mich nützlich sein könnte.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich will Sie etwas fragen. Wahrscheinlich werden Sie ablehnen, vielleicht aber auch nicht, weil ich glaube, dass Sie ein Mann sind, der bereit ist, Risiken einzugehen. Genau wie ich eine Frau bin, die Risiken eingeht.«

»Ich will mir ihr Vorhaben gern anhören«, sagte er mit einem flüchtigen Lächeln.

»Ich möchte Ihren Umhang anziehen. Ich möchte Ihren Reisepass. Ich möchte Ihre Bordkarte für den Flieger. Bald wird der Flug nach London ausgerufen, in, sagen wir, zwanzig Minuten. Ich werde Ihren Pass haben, ich werde Ihren Umhang tragen. Und so werde ich nach London reisen und da heil ankommen.«

»Sie wollen sich also als ich ausgeben? Also wirklich, meine Liebe!«

Sie öffnete die Handtasche und holte einen kleinen, viereckigen Spiegel heraus.

»Schauen Sie«, sagte sie. »Sehen Sie mich an und dann Ihr eigenes Gesicht.«

Da sah er es, erkannte, was ihm die ganze Zeit vage im Kopf herumgegangen war. Seine Schwester Pamela, die vor rund zwanzig Jahren gestorben war. Pamela und er hatten sich immer sehr ähnlich gesehen. Eine große Familienähnlichkeit. Sie hatte eine leicht maskuline Gesichtsform gehabt. Sein Gesicht war wohl, vor allem in jungen Jahren, etwas feminin gewesen. Sie hatten beide diese hervorstehende Nase gehabt, die schrägen Augenbrauen, das leicht schiefe Lächeln. Pamela war groß gewesen, etwa eins siebzig, er selbst war eins fünfundsiebzig. Er betrachtete die Frau, die ihm den Spiegel hingehalten hatte.

»Unsere Gesichter sehen sich ähnlich, das meinen Sie doch, nicht wahr? Aber meine Liebe, das würde niemanden täuschen, der mich oder Sie kennt.«

»Natürlich nicht. Verstehen Sie denn nicht? Das muss es gar nicht. Ich reise in Hosen. Sie hatten auf der Reise die Kapuze ihres Umhangs ins Gesicht gezogen. Ich muss lediglich mein Haar stutzen, es in eine Zeitung wickeln und in einen dieser Mülleimer da hinten werfen. Dann ziehe ich Ihre Kapuze über und halte Ihre Bordkarte, Ihren Flugschein und Ihren Pass bereit. Falls also in diesem Flugzeug nicht gerade jemand ist, der Sie gut kennt, wovon ich nicht ausgehe, sonst hätten Sie ja wohl schon miteinander gesprochen, werde ich sicher als Sie reisen können. Ich zeige Ihren Pass vor, falls nötig, die Kapuze über den Kopf gezogen, sodass Nase, Augen und Mund so ziemlich alles sind, was man von mir sieht. Sobald das Flugzeug am Ziel ist, kann ich es gefahrlos verlassen, da niemand weiß, dass ich mit ihm gereist bin. Heil rauskommen und in den Menschenmassen Londons untertauchen.«

»Und was mache ich dann?«, fragte Sir Stafford mit einem knappen Lächeln.

»Ich könnte Ihnen einen Vorschlag machen, falls Sie den Nerv haben, sich dem zu stellen.«

»Schlagen Sie etwas vor«, sagte er. »Ich mag Vorschläge.«

»Sie stehen auf, gehen weg und kaufen ein Magazin oder eine Zeitung, vielleicht auch ein Geschenk am Souvenirstand. Sie lassen Ihren Umhang hier über dem Sitz hängen. Sobald Sie mit was auch immer zurückkehren, setzen Sie sich irgendwo anders hin – zum Beispiel ans Ende der Bank gegenüber. Vor Ihnen wird ein Glas stehen, ebendieses hier. Darin wird etwas sein, das Sie in Schlaf versetzt. Schlaf in einer ruhigen Ecke.«

»Und weiter?«

»Man wird annehmen, Sie wären Opfer eines Diebstahls geworden«, sagte sie. »Irgendwer hätte Ihnen ein paar K.-o.-Tropfen ins Getränk gemischt und Ihre Brieftasche entwendet. So ungefähr. Sie sagen, wer Sie sind und dass man Ihnen den Pass und andere Dinge gestohlen hat. Sie können Ihre Identität ohne Probleme beweisen.«

»Wissen Sie, wer ich bin? Meinen Namen, meine ich?«

»Noch nicht«, sagte sie. »Noch habe ich Ihren Pass nicht gesehen. Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind.«

»Trotzdem behaupten Sie, ich könnte meine Identität problemlos beweisen.«

»Ich habe eine gute Menschenkenntnis. Ich weiß, wer wichtig ist und wer nicht. Sie sind eine wichtige Person.«

»Und warum sollte ich all das tun?«

»Vielleicht, um einem Mitmenschen das Leben zu retten.«

»Ist das nicht alles eine arg dramatische Geschichte?«

»Ja, schon. Sehr einfach, das nicht zu glauben. Glauben Sie es?«

Er schaute sie nachdenklich an. »Wissen Sie, wie Sie klingen? Eine schöne Spionin in einem Thriller.«

»Ja, vielleicht. Aber schön bin ich nicht.«

»Und auch keine Spionin?«

»Man könnte mich vielleicht so nennen. Ich bin im Besitz von bestimmten Informationen. Informationen, die ich schützen will. Sie werden es mir einfach glauben müssen, aber es sind Informationen, die für Ihr Land von Bedeutung wären.«

»Finden Sie nicht, dass Sie ziemlich irrwitzig klingen?«

»Doch, tue ich. Auf Papier sähe das absurd aus. Aber viele absurde Dinge passieren doch einfach, oder?«

Wieder musterte er sie. Sie war Pamela sehr ähnlich. Sie hatte die gleiche Stimme wie Pamela, trotz der fremdländischen Intonation. Was sie vorschlug, war lächerlich, absurd, ziemlich unmöglich und wahrscheinlich gefährlich. Gefährlich für ihn. Unglücklicherweise war es jedoch gerade das, was ihn anzog. Die Stirn zu haben, ihm so etwas vorzuschlagen! Was würde bei alldem herauskommen? Auf jeden Fall wäre es interessant, das herauszufinden.

»Was habe ich davon?«, sagte er. »Das wüsste ich gern.«

Sie sah ihn abwägend an. »Ablenkung«, sagte sie. »Etwas, das nicht alle Tage passiert? Vielleicht eine Arznei gegen die Langeweile. Uns bleibt nicht viel Zeit. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.«

»Und was wird aus Ihrem Pass? Muss ich mir in dem Laden da eine Perücke zulegen, falls man hier so etwas verkauft? Muss ich mich als Frau ausgeben?«

»Nein. Es geht nicht um einen Rollentausch. Sie wurden bestohlen und betäubt, bleiben aber Sie selbst. Entscheiden Sie sich. Bald. Mir läuft die Zeit davon. Ich muss mich ja noch verwandeln.«

»Sie haben gewonnen«, sagte er. »Man sollte Ungewöhnliches nicht abschlagen, wenn es einem angeboten wird.«

»Ich hatte gehofft, dass Sie es so sehen würden, gebe aber zu, es war ein Vabanquespiel.«

Aus einer Tasche zog Sir Stafford seinen Pass. Er ließ ihn in die Außentasche des Umhangs gleiten, den er getragen hatte. Er erhob sich, gähnte, blickte um sich, guckte auf seine Uhr und schlenderte zu dem Stand hinüber, an dem verschiedene Waren zum Verkauf ausgestellt waren. Er schaute nicht einmal über die Schulter. Er erstand ein Taschenbuch und befühlte einige kleine pelzige Tiere – passende Mitbringsel für Kinder. Schließlich entschied er sich für einen Panda. Er blickte sich im Wartesaal um, ging dahin zurück, wo er gesessen hatte. Umhang und Mädchen waren verschwunden. Ein halbes Glas Bier stand noch auf dem Tisch. Nun, dachte er sich, beginnt der riskante Teil. Er nahm das Glas, ging ein paar Schritte weiter und trank es aus. Nicht sehr schnell. Eher gemächlich. Es schmeckte fast wie vorher.

»Jetzt bin ich gespannt«, sagte Sir Stafford. »Jetzt bin ich gespannt.«

Er ging durch die Lounge zu einer entfernten Ecke. Dort saß eine Familie, die lebhaft lachte und schwatzte. Er setzte sich in ihre Nähe, gähnte, ließ den Kopf auf die Kante des Polsters sinken. Ein Flug nach Teheran wurde angekündigt. Viele Passagiere standen auf und bildeten eine Schlange am entsprechenden Flugsteig. Die Lounge war noch immer halb voll. Er schlug sein Taschenbuch auf. Er gähnte abermals. Er war jetzt wirklich müde, ja, richtig müde … Er musste sich nur noch überlegen, wo er am besten einschlafen könnte. Irgendwo, wo er ungestört bliebe …

Trans-European Airways kündigte den Abflug ihrer Maschine an, Flug 309 nach London.

III

Eine ganze Menge Fluggäste erhob sich, um dem Aufruf zu folgen. Inzwischen waren allerdings schon weitere Passagiere in die Transitlounge gekommen, die auf andere Flüge warteten. Es folgten Durchsagen bezüglich des Nebels über Genf und anderer Verkehrsbehinderungen. Ein schlanker Mann mittlerer Größe mit einem dunkelblauen Umhang, dessen roter Saum zu sehen war, durchquerte die Halle, um seinen Platz in der Schlange für den Flug einzunehmen. Seine Kapuze war über den kurzgeschorenen Haarschopf gezogen, der nicht wesentlich unordentlicher war als die Frisuren vieler anderer junger Herren heutzutage. Er zeigte seine Bordkarte vor und entschwand durch Flugsteig Nr. 9.

Weitere Durchsagen folgten. Swissair Richtung Zürich. BEA nach Athen und Zypern – dann aber folgte eine andere Sorte Durchsage.

»Miss Daphne Theodofanous, gebucht auf den Flug nach Genf, möge sich bitte am Flugschalter einfinden. Flug nach Genf aufgrund von Nebel verspätet. Passagiere werden über Athen geleitet. Das Flugzeug steht nun zum Abflug bereit.«

Andere Durchsagen folgten, die sich mit Passagieren nach Japan, nach Ägypten, nach Südafrika befassten, Fluglinien, die den Erdball umspannten. Mr Sidney Cook, Passagier gebucht auf den Flug nach Südafrika, wurde dringend gebeten, sich am Flugschalter zu melden, wo eine Mitteilung auf ihn wartete. Wieder wurde Daphne Theodofanous ausgerufen.

»Letzter Aufruf für Flug 309

In einer Ecke des Wartesaals schaute ein kleines Mädchen zu einem Mann in dunklem Anzug hoch, der fest schlief, den Kopf an das Polster der roten Sitzbank gelehnt. In der Hand hielt er einen kleinen wolligen Panda.

Das Mädchen streckte die Hand nach dem Panda aus. Die Mutter sagte:

»Nein, Joan, nicht anfassen. Der arme Herr schläft doch.«

»Wohin fliegt der denn?«

»Vielleicht ja auch nach Australien«, sagte ihre Mutter, »so wie wir.«

»Hat er eine kleine Tochter wie mich?«

»Scheint ganz so«, sagte ihre Mutter.

Das Mädchen seufzte und schaute wieder den Panda an. Sir Stafford Nye schlief weiter. Ihm träumte, er versuchte, einen Leoparden zu erlegen. Ein äußerst gefährliches Tier, sagte er zum Leiter der Safari, der ihn begleitete. »Ein äußerst gefährliches Tier, zumindest habe ich das gehört. Einem Leoparden darf man nicht trauen.«

In diesem Moment änderte sich der Traum, so wie Träume das zu tun pflegen; er saß mit seiner Großtante Matilda beim Tee und versuchte, sich Gehör zu verschaffen. Sie war tauber als je zuvor! Bis auf die erste Durchsage für Miss Daphne Theodofanous hatte er keine weitere gehört. Die Mutter des kleinen Mädchens sagte:

»Weißt du, ich habe mich immer gefragt, was wohl los ist, wenn ein Passagier vermisst wird. Fast immer, wenn man irgendwo hinfliegt, hört man davon. Irgendwer, den sie nicht finden können. Jemand, der den Aufruf nicht gehört hat oder nicht an Bord ist oder so ähnlich. Dann frage ich mich immer, wer das wohl ist und was er gerade macht, und warum er nicht aufgetaucht ist. Ich denke mal, diese Miss Soundso wird wohl ihren Flug einfach verpasst haben. Was werden sie dann mit ihr anstellen?«

Da niemand die richtige Auskunft hätte geben können, blieb ihre Frage unbeantwortet.

Zweites Kapitel London

Sir Stafford Nyes Wohnung war überaus ansprechend. Sie schaute direkt auf Green Park. Er schaltete die Kaffeemaschine ein und sah nach, was ihm die Post an diesem Morgen gebracht hatte. Es schien nichts besonders Interessantes dabei zu sein. Er sah die Briefe durch; eine oder zwei Rechnungen, eine Quittung und Briefe mit ziemlich langweiligen Poststempeln. Er stapelte sie und legte sie auf einen Tisch, auf dem schon einige Briefe lagen, die sich in den letzten beiden Tagen angesammelt hatten. Er wusste, er würde sich damit bald einmal befassen müssen. Irgendwann an diesem Nachmittag würde seine Sekretärin kommen.

Er ging in die Küche zurück, goss sich einen Becher Kaffee ein und trug ihn zum Tisch. Er nahm sich die zwei oder drei Briefe, die er nach seiner Ankunft nachts noch geöffnet hatte. Während er den einen noch einmal las, lächelte er ein wenig.

»Halb zwölf«, sagte er. »Ganz angenehmer Zeitpunkt. Man darf gespannt sein. Ich sollte wohl noch mal alles durchgehen und mich gebührend auf Chetwynd vorbereiten.«

Jemand schob etwas durch den Briefschlitz. Er ging hinaus in den Flur und hob die Morgenzeitung auf. Darin stand wenig Neues. Eine politische Krise, eine Nachricht aus dem Ausland, die man als beunruhigend hätte ansehen können, er aber tat das nicht. Es war lediglich ein Journalist, der Dampf abließ und versuchte, die Fakten aufzubauschen. Man muss den Leuten ja etwas zu lesen geben. Im Park war ein Mädchen erdrosselt worden. Andauernd wurden Mädchen erdrosselt. Jeden Tag eines, dachte er herzlos. Kein Kind war an diesem Morgen entführt oder vergewaltigt worden. Das war eine angenehme Überraschung. Er machte sich einen Toast und trank seinen Kaffee.

Später verließ er das Gebäude, ging die Straße hinunter und durchquerte den Park in Richtung Whitehall. Er lächelte in sich hinein. Er mochte das Leben gut leiden an diesem Morgen. Er fing an, über Chetwynd nachzudenken. Chetwynd war ein alberner Esel, wie er im Buche stand. Eine gute Fassade, ein Anschein von Bedeutung, ein liebenswert argwöhnischer Geist. Es würde ihm durchaus Vergnügen bereiten, mit Chetwynd zu plaudern.

Er erreichte Whitehall gute sieben Minuten zu spät. Das war er seiner eigenen Bedeutung schuldig, verglichen mit der von Chetwynd, dachte er sich. Er betrat das Büro. Chetwynd saß am Schreibtisch, mit einer Menge Papiere vor sich und einer Sekretärin an seiner Seite. Er sah angemessen wichtig aus, wie er sich gerne zeigte, sooft es eben ging.

»Hallo, Nye«, sagte Chetwynd, wobei er über das ganze bestechend attraktive Gesicht strahlte. »Froh, wieder da zu sein? Wie war Malaya?«

»Heiß«, sagte Stafford Nye.

»Na ja, das ist es wohl immer da unten. Ich gehe davon aus, dass sich das aufs Wetter bezog, nicht auf die Politik?«

»Oh, rein aufs Wetter«, sagte Stafford Nye.

Er nahm die angebotene Zigarette und setzte sich.

»Irgendwelche erwähnenswerten Resultate?«

»Kaum. Jedenfalls nichts, was ich Resultate nennen würde. Ich habe meinen Bericht schon abgegeben. Eine ganze Menge Gelaber, wie üblich. Wie geht es Lazenby?«

»Lästig, wie immer. Der wird sich nie ändern«, sagte Chetwynd.

»Nein, das wäre wohl zu viel verlangt. Mit Bascombe hatte ich vorher noch nie zusammengearbeitet. Der kann ganz lustig sein, wenn er will.«

»Tatsächlich? Ich kenne ihn nicht besonders gut. Ja. Wird wohl so sein.«

»Tja. Also. Keine weiteren Neuigkeiten, nehme ich an?«

»Nein, nichts, was für Sie von Interesse wäre.«

»Sie haben in Ihrem Brief nicht wirklich erwähnt, warum Sie mich sehen wollten.«

»Ach, nur um ein paar Dinge durchzugehen, das ist alles. Falls Sie irgendwelche pikanten Geheimnisse mitgebracht hätten. Irgendetwas, worauf man vorbereitet sein sollte, wissen Sie. Nachfragen im Hohen Haus. All so was.«

»Ja, natürlich.«

»Mit dem Flugzeug heimgekommen, nicht wahr? Wie ich hörte, gab es Komplikationen.«

Stafford Nye setzte die Miene auf, für die er sich vorher schon entschieden hatte. Ein wenig zerknirscht mit einer Prise Verdruss.

»Ah, davon haben Sie also bereits gehört?«, sagte er. »Dumme Sache.«

»Ja. Ja, klang ganz so.«

»Bemerkenswert«, sagte Stafford Nye, »wie solche Dinge immer an die Presse gelangen. In den letzten Meldungen heute Morgen fand sich ein Absatz darüber.«

»Das ist Ihnen eher unangenehm, nicht wahr?«

»Na ja, es lässt mich ziemlich dämlich aussehen, oder?«, sagte Stafford Nye. »Muss man schon zugeben. Erst recht in meinem Alter!«

»Was ist denn genau passiert? Ich hab mich schon gefragt, ob der Bericht in der Zeitung übertrieben war.«

»Die wollten natürlich eine wilde Meldung daraus stricken. Sie wissen ja, wie solche Reisen sind. Verflucht langweilig. Über Genf gab es Nebel, deshalb mussten sie den Flieger umleiten. Dann zwei Stunden Warten in Frankfurt.«

»Und da ist es passiert?«

»Ja. In Flughäfen langweilt man sich doch zu Tode. Flugzeuge kommen an, Flugzeuge fliegen ab. Die Lautsprecher laufen auf Hochtouren. Flug 302 auf dem Weg nach Hongkong, Flug 109 nach Irland. Dies, das und jenes. Leute stehen auf, Leute gehen weg. Und man sitzt einfach da und gähnt.«

»Was genau ist passiert?«, sagte Chetwynd.

»Also, ich hatte ein Getränk vor mir stehen, ein Pilsner, um genau zu sein, und dann wollte ich mir etwas Neues zu lesen besorgen. Alles, was ich bei mir hatte, war schon ausgelesen, also bin ich zum Kiosk gegangen und hab mir irgendein Taschenbuch gekauft. Ich glaube, es war ein Krimi; außerdem habe ich noch ein Stofftier für eine meiner Nichten gekauft. Dann bin ich zu meinem Platz zurück, habe mein Bier ausgetrunken, das Taschenbuch aufgeschlagen und bin dann eingeschlafen.«

»Verstehe. Sie sind eingeschlafen.«

»Na, eine ganz natürliche Sache, oder nicht? Ich gehe davon aus, dass sie danach meinen Flug aufgerufen haben, aber wenn, dann habe ich es nicht gehört. Offensichtlich habe ich das aus gutem Grund überhört. Ich kann in Flughäfen jederzeit einschlafen und höre trotzdem immer die für mich relevanten Durchsagen. Diesmal wohl nicht. Als ich aufgewacht bin oder wieder zu mir kam, wie auch immer Sie das ausdrücken wollen, wurde ich gerade ärztlich versorgt. Offenbar hatte mir da jemand etwas ins Bier gekippt. Muss wohl passiert sein, als ich gerade unterwegs war, um das Buch zu kaufen.«

»Das ist doch eine höchst merkwürdige Angelegenheit, nicht wahr?«, sagte Chetwynd.

»Jedenfalls ist mir so etwas noch nie passiert«, sagte Stafford Nye. »Ich hoffe auch, das passiert nie wieder. Man kommt sich furchtbar albern vor, wissen Sie. Von dem Brummschädel ganz zu schweigen. Da waren ein Doktor und eine Art Krankenschwester oder so. Aber offenbar habe ich das Ganze unversehrt überstanden. Man hat mir die Brieftasche mit etwas Geld und dem Pass geklaut. Natürlich war mir das peinlich. Zum Glück hatte ich nicht allzu viel Geld bei mir. Die Reiseschecks waren in einer Innentasche. Ein wenig Papierkrieg und so ist ja unvermeidlich, wenn einem der Pass abhandenkommt. Immerhin hatte ich noch Briefe und andere Dinge bei mir, sodass es ein Leichtes war, mich auszuweisen. Nach und nach haben wir alles bereinigt, und ich konnte weiterfliegen.«

»Trotzdem höchst verdrießlich für Sie«, sagte Chetwynd. »Einen Mann von Ihrem Rang, meine ich.« Sein Tonfall war missbilligend.

»Ja«, sagte Stafford Nye. »Das zeigt mich nicht gerade im besten Licht, nicht wahr? Also nicht gerade so helle, wie das ein Bursche von meinem – äh – Rang sein sollte.« Die Vorstellung schien ihn zu amüsieren.

»Haben Sie herausgefunden, ob so etwas öfter passiert?«

»Ich glaube nicht, dass das ein üblicher Vorfall ist. Könnte aber sein. Wahrscheinlich würde jeder Mensch mit Hang zum Taschendiebstahl einen schlafenden Kerl bemerken und ihm eine Hand in die Tasche schieben, und wenn er etwas von seinem Fach versteht, kann er ein Portemonnaie oder eine Brieftasche erwischen und hoffen, dass es sich lohnt.«

»Sehr lästig, den Pass zu verlieren.«

»Ja, ich muss jetzt einen neuen beantragen. Ich fürchte, ich werde einiges zu erklären haben. Wie gesagt, das ist eine ziemlich dumme Sache. Und Hand aufs Herz, Chetwynd, das zeigt mich wirklich nicht in günstigem Licht, wie?«

»Ach, nicht Ihre Schuld, mein Lieber, nicht Ihre Schuld. Das hätte jedem, wirklich jedem zustoßen können.«

»Sehr liebenswürdig von Ihnen«, sagte Stafford Nye freundlich lächelnd. »Wird mir wohl eine herbe Lehre sein.«

»Sie glauben aber nicht, dass jemand speziell hinter Ihrem Pass her war?«

»Das glaube ich kaum«, sagte Stafford Nye. »Wozu sollte jemand meinen Pass haben wollen? Es sei denn, es war jemand, der mich ärgern wollte, und das scheint mir doch sehr weit hergeholt. Oder jemand hat sich in mein Passbild verguckt – und das ist noch abwegiger!«

»Haben Sie da in – wo, sagten Sie, waren Sie noch gleich? – Frankfurt irgendwen gesehen, der Ihnen bekannt vorkam?«

»Nein, nein. Wirklich niemanden.«

»Mit irgendwem geredet?«

»Eigentlich nicht. Ein paar Worte mit einer netten, fetten Dame gewechselt, die versuchte, ihr kleines Kind aufzuheitern. Kamen aus Wigan, glaube ich. Auf dem Weg nach Australien. Sonst fällt mir niemand ein.«

»Ganz sicher?«

»Da war noch eine Frau, die wissen wollte, was man tun muss, um in Ägypten Archäologie studieren zu können. Ich habe ihr gesagt, davon hätte ich keine Ahnung und sie solle besser zum British Museum gehen, um sich dort zu erkundigen. Und dann habe ich noch ein paar Worte mit einem Mann gewechselt, der gegen Tierversuche war. Richtig leidenschaftlich bei der Sache.«

»Man hat ja immer das Gefühl«, sagte Chetwynd, »dass bei solchen Dingen etwas dahinterstecken könnte.«

»Was für Dingen?«

»Na ja, Dinge wie das, was Ihnen geschehen ist.«

»Ich wüsste nicht, was da dahinterstecken könnte«, sagte Stafford Nye. »Sicherlich könnten Journalisten daraus etwas stricken, die sind ja sehr geschickt in solchen Sachen. Dennoch bleibt es ein unwichtiges kleines Ärgernis. Um Himmels willen, lassen Sie uns die Sache vergessen. Wahrscheinlich werden jetzt, nachdem es in der Presse erwähnt wurde, alle meine Freunde anfangen, mich danach auszufragen. Wie geht’s dem alten Leyland? Was treibt er zurzeit? Ich habe da draußen ein oder zwei Geschichten über ihn gehört. Leyland redet immer ein bisschen zu viel.«

Die beiden gaben sich noch zehn Minuten kollegialer Fachsimpelei hin, dann erhob sich Sir Stafford und ging zur Tür.

»Ich habe heute Morgen noch allerhand zu erledigen«, sagte er. »Mitbringsel für Verwandte besorgen. Das Problem daran, wenn man nach Malaya fliegt, ist, dass die gesamte Verwandtschaft exotische Geschenke erwartet. Ich werde mal bei Liberty’s vorbeischauen, glaube ich. Die haben da einen netten Vorrat an fernöstlichen Gütern.«

Er ging fröhlich hinaus und nickte draußen auf dem Gang einigen Leuten zu, die er kannte. Als er fort war, rief Chetwynd seine Sekretärin an.

»Bitten Sie Colonel Munro, zu mir zu kommen.«

Colonel Munro trat ein und brachte einen weiteren großen Mann mittleren Alters mit.

»Ich weiß nicht, ob Sie Horsham von der Sicherheit kennen«, sagte er.

»Ich glaube, wir sind uns schon mal begegnet«, sagte Chetwynd.

»Nye ist gerade gegangen, nicht?«, sagte Colonel Munro. »Ist an dieser Geschichte aus Frankfurt was dran? Ich meine, irgendwas, wovon wir Notiz nehmen sollten?«

»Sieht nicht so aus«, sagte Chetwynd. »Er ist ein wenig verärgert deswegen. Meint, es ließe ihn wie einen Esel dastehen. Tut es natürlich auch.«

Der Mann namens Horsham nickte. »So sieht er das also, wie?«

»Na ja, er bemüht sich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen«, sagte Chetwynd.

»Trotzdem«, sagte Horsham, »ich meine, eigentlich ist er kein Esel, oder?«

Chetwynd zuckte mit den Schultern. »Solche Dinge passieren«, sagte er.

»Ich weiß«, sagte Colonel Munro, »ja, ja, ich weiß. Trotzdem, also, ich hatte immer das Gefühl, dass Nye irgendwie ein bisschen unberechenbar ist. Dass seine Haltung in einigen Belangen, wissen Sie, nicht wirklich vernünftig ist.«

Der Mann namens Horsham ergriff das Wort. »Nichts gegen ihn«, sagte er. »Absolut nichts, soweit wir wissen.«

»Ach, das habe ich auch nicht gemeint. Das nun wirklich nicht«, sagte Chetwynd. »Es ist nur so – wie soll ich das sagen? –, er nimmt die Dinge nicht immer besonders ernst.«

Mr Horsham trug einen Schnurrbart. Er fand es nützlich, einen Schnurrbart zu haben. Vor allem in Situationen, in denen es ihm schwerfiel, nicht zu lächeln.

»Er ist nicht dumm«, sagte Munro. »Hat ordentlich Grips, wissen Sie. Sie glauben doch nicht, dass – na ja, ich meine, Sie glauben doch nicht, dass an der Sache irgendetwas faul sein könnte?«

»Von seiner Seite aus? Scheint nicht so.«

»Sie sind der Sache auf den Grund gegangen, Horsham?«

»Bisher hatten wir nicht sonderlich viel Zeit. Aber so weit sieht alles sauber aus. Nur ist sein Pass tatsächlich verwendet worden.«

»Verwendet? Inwiefern?«

»Er hat Heathrow passiert.«

»Wollen Sie damit sagen, jemand hätte sich als Sir Stafford Nye ausgegeben?«