Böschemeyer, Uwe Worauf es ankommt

PIPER

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ISBN 978-3-492-97629-9

© Piper Verlag GmbH, München 2003

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Zitate

Keine Zeit hat so viel und so Mannigfaltiges vom Menschen gewußt wie die heutige – und keine Zeit wußte weniger, was der Mensch sei, als die unsrige.

(Martin Heidegger)

 

Das Wissen, die intellektuelle Beherrschung, nimmt ständig zu. Das Begreifen aus dem Ganzen heraus wird immer schwächer. Das Wissen wächst, die Weisheit wird weniger.

(Romano Guardini)

 

Wir müssen heute fürchten, daß der Mensch die Weisheit nicht hat, seine eigene Intelligenz zu steuern, daß er also zu töricht ist, seine Klugheit vor Torheit zu bewahren. Er muß endlich lernen, Weisheit zu gewinnen, statt seinen Verstand anzubeten und ihm hirnlos zum Opfer zu fallen.

(Jörg Zink)

 

Wir leben im Zeitalter der Überarbeitung und der Unterbildung; das Zeitalter, in dem Menschen so fleißig sind, daß sie verdummen.

(Oscar Wilde)

 

Das spezielle Problem unserer Zeit ist aber das des Menschen selbst; das Problem der Rettung der menschlichen Persönlichkeit vom inneren Zerfall, das Problem der Bestimmung und der Berufung des Menschen.

(Nikolai Berdjajew)

 

Ohne eine feste Vorstellung davon, wozu er leben soll, wird der Mensch gar nicht leben wollen, und er wird sich eher vernichten, als daß er auf Erden leben bliebe – selbst dann nicht, wenn um ihn herum Brote in Fülle wären.

(Fjodor Michailowitsch Dostojewski)

Vorwort

Wanderungen haben Ziele. Ziele muß man kennen, wenn man ankommen will. Wer keine Ziele kennt oder sie aus den Augen verliert, kann in Not geraten. Auf manchen Wanderungen stellen sich uns Hindernisse und Widerstände in den Weg. Sie fordern uns heraus, sie zu beseitigen oder zu umgehen, damit wir unseren Weg fortsetzen können. Auf keinen Fall aber darf die Beschäftigung mit den Hindernissen dazu führen, daß wir unser Ziel aus dem Blick verlieren.

Mit unserem Leben, das einer Wanderung gleicht, ist das nicht anders. Die Ziele im Leben nenne ich Werte. Werte sind Gründe für Sinn. Und nichts ist wichtiger als die Erfahrung von Sinn. Deshalb ist die Suche nach Sinn das Menschlichste im Menschen.

Die Widerstände auf dem Weg zur Sinnerfahrung nenne ich Sinnfindungsbarrieren. Manche von ihnen liegen in der äußeren, die meisten jedoch in der inneren Welt. Manche der inneren Widerstände sind neurotisch und daher krankhaft zu nennen, viele dagegen menschlich, weil sie Ausdruck des Mangels an Sinnerfahrung sind. Wer auf seinem Lebensweg solche Barrieren vorfindet, ist daher herausgefordert, seinen Weg freizumachen. Wichtiger noch ist es, auf seine Ziele und Werte ausgerichtet zu bleiben.

Sucht nicht jeder Mensch seine eigenen Ziele und Werte? Ich spreche nicht von verordneten Werten, die in Büchern nachzulesen sind, sondern von denen, die unsere eigene Seele kennt. Denn sie kennt »Gründe zum Leben, die der Verstand nicht kennt« (Pascal). Die Seele kennt diese Gründe? Ja, denn die Pfade der Seele sind nicht nur dunkel, sondern auch hell.

In diesem Buch ist weniger von ihren Abgründen die Rede, mehr von ihrer Mitte, dem »unbewußten Geist«, den der berühmte Wiener Psychiater und Neurologe Viktor E. Frankl als Dreh- und Angelpunkt seines Menschenbildes gesehen hat. »Unbewußter Geist« meint das jedem Menschen potentiell zugängliche Wissen von den großen und kleinen Zusammenhängen des eigenen und des großen Lebens. Er ist die Quelle jener Wertgefühle, die ein sinnvolles Leben ermöglichen. Darüber hinaus stellt er das stärkste Energiezentrum dar, zu dem wir Zugang haben können.

Haben wir Zugang zu diesem Zentrum, dann haben wir Zugang zu uns selbst. Haben wir Zugang zu uns selbst, dann bilden wir unsere Persönlichkeit weiter. Bilden wir unsere Persönlichkeit weiter, dann haben wir die besten Voraussetzungen für ein starkes Leben.

Diese Gedanken werden in der Einführung des Buches entfaltet. Sie stellen zugleich die Grundlagen eines neuen »dritten Weges« neben Psychotherapie und Lebensberatung dar, der gesunden Menschen behilflich sein soll, den Weg zu sich und zu einem bejahenden Leben in dieser Zeit zu finden. Diesen »dritten« Weg – ich nenne ihn »Wertorientierte Persönlichkeitsbildung« – brauchen wir dringend, denn wir leben in einer »Epoche grandioser Unübersichtlichkeit der geistigen Strömungen, die gegeneinander wirken und nebeneinander herlaufen.«[1]

 

Im Hauptteil werde ich eine Reihe wichtiger Themen aus der »Schule des Lebens« behandeln. Diese »Schule« ist Teil des Konzepts der Wertorientierten Persönlichkeitsbildung und findet in der Praxis in Seminaren statt. Die beglückenden Reaktionen auf die bisherigen Veranstaltungen waren Anlaß, einige ihrer wichtigsten Inhalte zu veröffentlichen.

Teile dieses Buches hatte ich zunächst bei »Books on Demand« erscheinen lassen. Die Weiterentwicklung des Gesamtkonzeptes machte allerdings so rasche Fortschritte, daß ich an eine Neuauflage denken konnte. Einige Abschnitte sind geblieben, jedoch gründlich überarbeitet und ergänzt worden, andere sind neu hinzugekommen.

 

Vorläufer dieser »Schule« waren »Leben-lernen-Seminare«, die ich in den achtziger Jahren im »Hamburger Institut für Existenzanalyse und Logotherapie« hielt. Sie waren thematisch und zeitlich weniger intensiv als die heute laufenden Veranstaltungen. Am Ende eines dieser Seminare bat ich die Teilnehmer um Rückmeldungen. Einige wenige davon möchte ich wiedergeben:

 

Das Seminar bringt Bewegung in mein Leben, denn es hilft mir, Zusammenhänge des Lebens zu erkennen. – Es hat mich angespornt, geistig zu arbeiten. – Dinge, die ich gehört habe, kann ich ausprobieren und anwenden. – Viele Ängste habe ich abgelegt. – Ich habe gelernt, »ja« zum Leben zu sagen. – Liebe, Glaube, Hoffnung, wenn diese Fragen sterben, dann stirbt auch die Welt. Das habe ich begriffen. – Das Seminar hat meine pseudo-intellektuelle Distanz zum Leben erschüttert, weil ich in diesem Seminar über urmenschliche Anliegen als ganzer Mensch betroffen und angesprochen wurde. – Leben geht! Trotz oder gerade wegen meiner Sorgen. – Ich habe mich verändert. – Das Seminar ist eine »Präventivmaßnahme«, die mir hilft, gar nicht erst in ein neurotisches Leben hineinzugeraten.

Ermutigt zur Gründung einer »Schule des Lebens« wurde ich auch von C. G. Jung, der mehrfach »Schulen für Erwachsene« forderte. So sagte er z.B. am 17. Juli 1960 in einem Interview mit der Londoner »Sunday Times« anläßlich seines nahenden 85. Geburtstages: »Wir geben uns alle Mühe, den jungen Menschen eine Ausbildung zu geben, die ihnen den Aufbau einer erfolgreichen sozialen Existenz ermöglicht. Diese Art der Ausbildung behält ihre Gültigkeit, ihren Wert bis ungefähr zur Lebensmitte. … Wir haben aber heute die Chance, doppelt so lang zu leben wie früher, und die zweite Lebenshälfte weist bei vielen Menschen eine Struktur auf, die sich von Grund auf von der ersten unterscheidet. Aber diese Tatsache bleibt vielen unbewußt. … Wenn aber die verhängnisvolle Zeit um das vierzigste Lebensjahr erreicht ist, beginnt man Rückschau zu halten, und stumme Fragen drängen sich immer mehr auf …«[2]

 

Ich hoffe allerdings, daß nicht nur Ältere die »Schule des Lebens« lesen oder besuchen werden, denn die zunehmende Orientierungslosigkeit betrifft inzwischen Erwachsene jedweden Alters.

 

Ich habe dieses Buch für Menschen geschrieben,

 

Noch drei Bemerkungen:

An einigen Stellen des Buches werden Sie Wiederholungen finden. Da jedoch die Seele in ihrer Vielfalt nicht teilbar ist und manche Aspekte für mehrere Themen bedeutsam sind, ließen sich die Wiederholungen nicht vermeiden.

Auf vielen Seiten ist von »er« und »ihm« die Rede. Selbstverständlich meine ich damit den Menschen, die Frau und den Mann.

Frankl folgend schreibe ich existenziell mit»z«.

Einführung in die Wertorientierte Persönlichkeitsbildung

Das Kernproblem unserer Zeit

In keiner Zeit haben Menschen so vielfältige Veränderungen erfahren wie in unserer. Die Veränderungen beglücken und bedrücken uns. Wir sind Zeugen einer rasant verlaufenden technologischen Entwicklung, eines umfassenden Wandels unserer Gesellschaft in eine »Informationsgesellschaft«, einer Internationalisierung des Lebens, einer radikalen Veränderung in der Wirtschafts- und Arbeitswelt. Diese und andere Entwicklungen sind eine nie dagewesene Herausforderung, Leben neu zu begreifen und sich neu darauf einzustellen. Darüber hinaus hat der 11. September 2001, an dem die Türme von New York fielen, das Daseinsgefühl der Menschen weltweit verändert. Unverhohlener denn je zieht die Angst mit ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen durch die Länder. Die Träume sprechen davon eine deutliche Sprache.

Mit dieser Entwicklung geht einher – wie sollte das anders sein? – ein tiefgreifender Wandel des Werteverständnisses. Nicht wenige bedauern einen Werteverlust. Sie beklagen, das fand das Allensbacher Institut[3] heraus, den Verlust der Bindung an die Religion, den Mangel an Anerkennung von Normen, Hierarchien und Autoritäten, den Verlust traditioneller Tugenden wie z.B. Höflichkeit, Ordentlichkeit, Sauberkeit, Sparsamkeit, den Mangel an Gemeinsinn und die sinkende Bereitschaft zu politischem Engagement. Gleichzeitig entwickelt sich eine Freizeitmentalität (Freizeit statt Leistung) und wachsen die Ansprüche an den Staat.

Andere dagegen sprechen fast euphorisch vom Wertewandel, von neu gewachsenen Werten, vom Wachsen der Bereitschaft, sich auch außerhalb der politischen Parteien, etwa in Bürgerinitiativen, zu engagieren, von der zunehmenden Toleranz gegenüber Randgruppen, von der Zunahme kreativer Selbstentfaltung, von zunehmendem Selbstbewußtsein der Menschen und ihren Tendenzen zur Emanzipation, von sich verbreiterndem Interesse an der Kultur, von wachsender Hilfsbereitschaft.

 

Was ist das Kernproblem dieser Zeit? Sind es die vielfältigen Veränderungen selbst? Ist es die Angst als Folge der Veränderungen oder gar die vor neuen Terroranschlägen? Was bedeutet es, daß Menschen mehr denn je Fragen stellen wie diese: Welche Werte gelten (noch)? Wie finde ich Sinn für mein Leben? Wonach kann ich mich richten? Welche Wegweiser für Leben gibt es? Wie kann ich in dieser Zeit leben? Wie kann ich eine veränderte Beziehung zu dem sich verändernden Leben finden?

 

Der Wiener Psychiater und Neurologe Viktor E. Frankl, der sich wie kein anderer Seelenarzt des 20. Jahrhunderts mit der Sinnfrage befaßte, sah als Kernproblem dieser Zeit weder die Umwälzungen selbst noch die daraus resultierende Angst, sondern die »existenzielle Frustration« – als Folge »eines weltweit um sich greifenden Sinnlosigkeitsgefühls«[4]. Angebahnt wurde diese Entwicklung seiner Auffassung nach vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die in der Biologie, Psychologie und Soziologie sich ausbreitende Tendenz, das Menschenbild um die geistige Dimension zu reduzieren. Diese Reduzierung führte, so Frankl, zunächst zum »gelehrten Nihilismus«, dann zum »gelebten Nihilismus«[5]. Nihilismus aber bedeutet Verleugnung des Sinns menschlichen Lebens, Degradierung des Menschen zum bloßen Produkt physiologischer, psychologischer und soziologischer Fakten und zugleich Relativierung jener Werte, die sinnvolles Leben begründen.

 

Mag sein, daß der streitbare Wiener in seiner leidenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Reduktionismus deren Urheber nicht immer differenziert genug sah oder sehen wollte – insgesamt scheint er einen bedeutsamen Schlüssel zum Gesamtverständnis der Probleme unserer Zeit gefunden zu haben.

Was ist Geist?

Geist ist eine Erfahrungstatsache, die sich nicht begründen läßt. Er ist im Menschen erfahrbar, aber nicht erklärbar. Er geht in ihm nicht auf.

Geist ist die wichtigste Dimension des Menschen, das spezifisch Menschliche, denn Geist bewirkt Erkenntnis des Lebens und Liebe zum Leben. Er ist die Mitte der Seele.

 

Geist ist die schöpferische Gestaltungskraft, die ihn befähigt, sein inneres und äußeres Leben innerhalb bestimmter Grenzen frei gestalten zu können. Er ist die Fähigkeit, sich nicht nur gehen, sondern auch stehen zu lassen.

 

Das Spezifische des Geistes liegt in seiner Intentionalität, d.h. in seinem Gerichtetsein auf solche Werte im Leben, die Sinn begründen. Zugleich ist der unbewußte Geist die Quelle der spezifisch menschlichen Werte, z.B. der Freiheit, Verantwortlichkeit, Liebe, Hoffnung, des Mutes, Vertrauens, der Religiosität, Kreativität und damit der Grund der Sinnerfahrung. Nichts aber ist dem Menschen wichtiger als diese Erfahrung, und deshalb ist die Suche nach Sinn sein wichtigster Beweggrund, sein primäres Motiv zum Leben und daher für Leib, Seele und Geist entscheidend.

Was sind Werte?

Werte sind allgemeine Leitlinien zur Orientierung auf der Suche nach Sinn. Darüber hinaus sind Werte »dynamische Größen, Brenngläsern gleich, die die Lebenskraft der Person bündeln«. Sie sind »der Nährstoff der Person, das Bewegende im Leben, das, was das Herz zu erwärmen vermag«[6]. Werte sind Energiezentren mit hoher Anziehungskraft.

 

Alles, was einen Menschen motiviert, sinnvoll zu leben, ist ein geistiger Wert. Setzt er sich mit einem dieser Werte in Beziehung, denkt er, fühlt er, träumt er sich in ihn hinein, dann zieht der Wert ihn an. Dann wird der Wert zum Magneten. Dann beeinflußt und bestimmt er sein Denken, Fühlen und Handeln. Dann motiviert er ihn zu Veränderungen. Dann bewirkt er in ihm neue Erfahrungen.

Werte sind also Gründe für Sinnerkenntnis und Gründe für Sinnerfahrung.

 

Zwei einfache Beispiele

 

Das erste:

Sie sind auf einer Wanderung. Ihr Ziel ist eine Barockkirche. Sie haben sie in einem Buch entdeckt und freuen sich darauf, dieses herrliche Kunstwerk kennenzulernen und zu erleben.

Sie sind schon lange unterwegs. Irgendwann bemerken Sie, daß Sie sich verlaufen haben. Sie sind inzwischen müde und setzen sich an den Wegrand. Zu allem Überfluß haben Sie sich zwei Blasen erwandert. Ihre gute Stimmung ist verflogen. Sie ärgern sich, daß Sie den Weg verfehlt haben. Sie bleiben einfach sitzen.

Dann schauen Sie durch ein Gebüsch. Und was sehen Sie? Den Turm »Ihres« ersehnten Bauwerks. Innerhalb von Sekunden stehen Sie auf. Daß neben der Kirche ein feines Restaurant sein soll, beflügelt zusätzlich Ihren inzwischen raschen Schritt. Vergessen ist die Enttäuschung über Ihren scheinbar verfehlten Weg, vergessen sind die Blasen und die Müdigkeit. Sie lassen den Turm nicht mehr aus den Augen. Fast magisch zieht er Sie an. Dann stehen Sie in dem wunderbaren Bau. Sie lassen sich von seiner einmaligen Ausstrahlung gefangennehmen. Sie sind angefüllt von seinem Geist. Sie staunen.

 

Das zweite:

Ob Sie einmal die Augen schließen und sich einige Minuten Einfälle zu der Frage kommen lassen: Was wäre, wenn ich freier wäre? (Diese »Übung« nimmt reale Möglichkeiten als Vision vorweg. Sie hat sich in der Praxis als äußerst hilfreich erwiesen). Sie würden unter anderen diese Antworten finden:

Ich hätte weniger Angst.

Ich wäre nicht so gehemmt.

Ich wäre nicht so empfindlich.

Ich wäre sicherer.

Ich hätte mehr Selbstvertrauen.

Ich würde mehr auf Menschen zugehen.

Ich wäre versöhnter.

Ich würde Dinge tun, die ich bisher nicht getan habe.

Ich würde mehr lachen etc. …

 

Sollten Sie sich wirklich auf diese Frage einlassen, würden Sie nicht nur deutlicher als bisher erkennen, was Ihnen fehlt – Sie würden auch die ersten Wirkungen Ihrer Einfälle erfahren[7].

Geist und Werte gehören untrennbar zusammen. Der Geist des Menschen ist nur dann lebendig, er entwickelt nur dann Erkenntnis und Kraft, wenn er auf Werte bezogen ist. Die Werte wiederum werden nur dann erkennbar und wirksam, wenn sich der Geist auf sie ausrichtet. Ohne das Zusammenspiel von Geist und Wert gibt es keinen Sinn. Ohne dieses Zusammenspiel gibt es keine Zufuhr von Leben und keine Bejahung für Leben.

Was ist existenzielle Frustration und wie wirkt sie sich aus?

Was existenzielle Frustration bedeutet, zeigt eindrucksvoll die folgende Tagebuchaufzeichnung des französischen Dramatikers Eugène Ionesco, einem der Hauptvertreter des »absurden Theaters«:

 

»Was hätte ich alles machen, was hätte ich alles hervorbringen können, wenn nicht diese unvorstellbare, enorme Müdigkeit gewesen wäre, die seit ungefähr fünfzehn Jahren oder vielleicht noch länger auf mir lastet. Eine Müdigkeit, die mir das Arbeiten, aber auch das Ausruhen verwehrt, die mich das Leben nicht genießen läßt, die mich hindert, mich zu freuen, mich zu entspannen, und die es mir unmöglich macht, mich mehr den anderen zuzuwenden, so wie ich es gern gewollt hätte, statt mein eigener Gefangener zu sein, Gefangener meiner Müdigkeit, dieser Last, dieser Bürde, die die Bürde meiner selbst ist: Wie sich andern zuwenden, überwältigt vom eigenen Ich? Kein Arzt unter den dreißig oder vierzig, die ich konsultiert habe, keiner hat es verstanden oder vermocht, diese unendliche Mattigkeit zu heilen, wahrscheinlich weil keiner von ihnen dem Übel auf den Grund gegangen ist, seinen Ursprung erforscht hat. Ich begreife von Mal zu Mal besser, was die Ursache dieser Erschöpfung ist: Es ist der Zweifel, es ist die ewige Frage »Wozu?«, die von jeher in meinem Geist Wurzeln geschlagen hat und die ich nicht ausreißen kann. Ach, wenn das »Wozu?« in meiner Seele nicht gekeimt hätte, wenn es später nicht gewachsen wäre, bis es alles andere überwuchert und die anderen Pflanzen erstickt hat, dann wäre ich wohl ein anderer Mensch geworden, wie man so sagt.«[8]

Je weniger ein Mensch auf diese Frage Antworten weiß und lebt, je weniger er Sinn erfährt, desto beziehungsloser ist er – sich selbst, anderen und anderem gegenüber. Je beziehungsloser er ist, desto mehr kreist er um das, was er nicht ist, nicht kann und nicht hat. Je mehr er um seine Mängel kreist, desto frustrierter ist er. Je frustrierter er ist, desto mehr entwickelt sich in ihm innere Leere. Je größer dieses Vakuum ist, desto kraftloser wird sein Geist und desto weniger findet er Beziehung zu Werten. Je weniger Beziehung er zu Werten findet, desto mehr öffnet sich seine »leere« Seele für Angst, Aggressivität, Depressivität, Stress, Lebensmüdigkeit, Sucht, psychosomatische Störungen und all das, was Sinnerfahrungen und beglückendes Leben behindert oder verhindert. Je mehr seine Seele angefüllt ist von sinnverweigernden Gefühlen, desto mehr stagniert die Weiterbildung seiner Persönlichkeit. Je mehr die Weiterbildung seiner Persönlichkeit stagniert, desto frustrierter ist er. Hier schließt sich der Kreis.

 

Das Fazit:

Wertleeres Leben erzeugt Sinnkrisen und, wenn sie andauern, möglicherweise Krankheiten an Körper und Seele. Die Folge ist Lebensverneinung. Lebensverneinung aber behindert oder verhindert Sinnsuche und Sinnfindung.

Wert- und sinnvolles Leben dagegen ist erfülltes Leben und daher der Grund für Lebensbejahung. Lebensbejahung aber ist die primäre Voraussetzung für Sinnfindung und deshalb für Prävention von Konflikten, Störungen und Erkrankungen.

Wenn existenziell frustrierte Menschen in die Praxis kommen, sagen sie über ihre Befindlichkeit z.B. dieses:

 

Irgend etwas stimmt nicht mit mir. Irgend etwas habe ich verloren. Ich bin unzufrieden. Ich bin zerstreut. Ich bin initiativlos und interesselos. Ich langweile mich. Ich bin so schwer geworden. Es gibt für mich nichts Besonderes mehr. Ich funktioniere zwar noch, aber in mir ist es leer. Ich habe keine Schlüssel mehr, um neue Türen zu öffnen. Nichts verändert sich mehr. Ich sehe die Sonne, aber sie wärmt mich nicht mehr. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal gelacht habe. Ich gleiche einem Menschen, der in einem gläsernen Fahrstuhl zwischen zwei Etagen hängt, und um ihn her tobt das Leben. Ich bin mir selbst fremd geworden. Ich bin bei mir nicht mehr zu Hause. Das soll mein Leben sein? Wer bin ich nur? Was will ich denn? Ich bin irgendwie vom Leben beleidigt. Ich wandere nicht, ich irre durchs Leben. Ich kenne keine Ziele mehr. Ich suche mein verschüttetes Ich. Ich suche meine verborgene Seele. Ich suche Halt. Ich suche nach neuen Ideen, nach Wegweisern für mein Leben. Ich bin weit davon entfernt, mich selbst zu bestimmen. So habe ich mein Leben nicht gewollt. So will ich nicht weiterleben. Mein Leben braucht eine Wende.

Ich fühle mich niedergeschlagen, kraftlos, deprimiert, freudlos, müde vom Leben, bin wie gelähmt. Ich sehe und empfinde nichts mehr. Ich bin nur noch ein Schatten meiner selbst. Ich habe Lebensängste, die ich bisher nicht kannte. Ich bin krankheitsanfälliger als in vergangenen Zeiten, ich bin auch irgendwie krank. Ich kenne keine Wünsche mehr. Ich weiß kaum noch Antworten auf die Frage, was wert ist zu leben und was nicht. Ich bin orientierungslos, bin ratlos. Ich habe nur noch wenig Hoffnung auf Veränderungen. Ich werde immer aggressiver, spöttischer, zynischer. Ich weiß nicht mehr, wozu ich da bin. Ich fühle kaum noch Sinn. Ich habe das Gefühl für Sinn vergessen. Ich bin verzweifelt. Ich bin verloren.

Kommen existenziell frustrierte Menschen mit einem konkreten Problem in die Praxis, mit einem Partnerschafts- oder Berufskonflikt, zeigt sich häufig, daß dessen Auslöser zwar in erklärbaren psychischen und sozialen Schwierigkeiten besteht, der Grund aber in ihrer geistig bedingten existenziellen Frustration. Es trifft zu, was Einstein gesagt hat: »Wer sein eigenes Leben und das seiner Mitmenschen als sinnlos empfindet, der ist nicht nur unglücklich, sondern auch kaum lebensfähig.«[9]

 

Ein typisches Beispiel:

Eine etwa fünfzigjährige Frau kam zu mir mit der Klage, ihr Freund habe ihr vor längerer Zeit die Ehe versprochen und halte sich nun nicht an sein Versprechen. Zwar gehe die Beziehung »irgendwie« weiter, doch mache dieser Zustand sie unglücklich.

Der Freund habe ihr in wenigen Monaten all das gegeben, was sie in langen Ehejahren von ihrem inzwischen verstorbenen Mann nicht bekommen habe.

Bald stellte sich heraus, daß sie nicht nur unglücklich, sondern auch lebensmüde war, doch hatte dieses Gefühl nur vordergründig mit ihrem Freund zu tun. Zwar hatte sie – außer der gewünschten Beziehung – alles, was Glück zu versprechen scheint: Luxus, interessante Menschen, die Möglichkeit, weit zu reisen, die Freiheit, mit ihrer Zeit tun und lassen zu können, was sie wollte. Trotzdem fand sie kaum Sinn in ihrem Dasein.

Mehr und mehr ging ihr auf, daß der eigentliche Grund ihres desolaten Lebensgefühls nicht der unwillige Freund war, sondern ihre »leere Seele«. Sie begriff, daß sie die Leere viel zu lange schon überdeckt hatte – in der Ehe mit Äußerlichkeiten, danach mit ihrer Leidenschaft zu ihrem neuen Partner. Deshalb sagte sie – und der Satz wirkte keineswegs als Formel: »Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich weiß nicht, was ich will. Ich weiß auch nicht, wofür ich leben könnte.«

 

Merkwürdig ist, daß zunehmend Menschen über Sinnmangel klagen, die äußerlich »alles« haben, und doch mit ihrem Leben nicht einverstanden sind. Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, daß sie hauptsächlich Werte anstreben, die ihre Seele nicht als Hauptsachen anerkennt.

 

Ein weiteres Beispiel:

Ein 40-jähriger Mann, verheiratet, Vater von zwei liebenswerten Kindern, beruflich erfolgreich, beklagte im Gespräch, er habe »eigentlich« Anlaß, laut zu jubeln, doch sei ihm danach keineswegs zumute, im Gegenteil: Seine Freude am Leben nehme seit Monaten ab. Er sei bedrückt und befürchte, krank zu werden. Er habe nichts dagegen, wenn sein Leben bald zu Ende sei.

Im Verlauf der Gespräche zeigten ihm seine Träume, daß er schon lange nicht mehr danach gefragt hatte, wer er sei, was seine Seele von ihm wolle, welche Ziele zu seiner Persönlichkeit gehörten und ob sein innerer und äußerer Weg durchs Leben ihr entsprächen. Ihm ging auf, daß er viel zu einseitig lebte, daß das Streben nach Erfolg zur Hauptsache in seinem Leben geworden und das, was ihm in jüngeren Jahren einmal wichtig gewesen war – die Liebe, das Spiel, die Kunst, das Fragen nach den Zusammenhängen des Lebens etc. – für ihn an Bedeutung verloren hatte.

Er begann zu begreifen, daß die Sachzwänge der »Welt« zwar stark sind, die eigene Seele jedoch unbeirrt an den für sie wichtigen Werten festhält und ihre Wünsche geltend macht.

 

Diese Beispiele bedeuten nun nicht, daß nur wohlhabende oder erfolgreiche Zeitgenossen unter existenzieller Frustration leiden. Das Problem zeigt sich vielmehr in allen Gesellschaftsschichten. Die Beispiele sollen lediglich darauf hinweisen, daß die zur Zeit in den Medien und anderenorts gepriesenen Werte (Werte?) wie Geld oder Geltung keineswegs die Voraussetzung für ein wertvolles Leben sind.

Existenzielle Frustration, Leid und Krankheit

»Nicht in allem, wo Krankheit draufsteht, ist auch Krankheit drin,« sagte kürzlich jemand, der viel Erfahrung mit seelischen Störungen hat. Er wollte sagen: Nicht alle Ausdrucksformen von Leid oder Bedrückung sind Depressionen im klinischen Sinne. Es gibt auch Formen von Niedergeschlagenheit und Traurigkeit, die »menschlich« zu nennen sind, dann nämlich, wenn sie unmittelbarer, sensibler Ausdruck von Leiden am Leben sind, wenn also Fragen nach Wert, Sinn und Halt aufbrechen, die zu den wichtigsten im Leben gehören.

Es ist daher an der Zeit, die Frage zuzulassen, ob ein erheblicher Teil der immer häufiger auftretenden »Depressionen« tatsächlich als Krankheit einzustufen ist, ob nicht manchem Leidenden das Beste genommen wird, wenn man seine innere Dunkelheit pathologisch mißdeutet. Gewiß, der Grat zwischen krankhafter Depression und »menschlichem« Leiden ist schmal. Würden jedoch die unterschiedlichen Ursachen und Gründe dieser beiden Leidensformen mehr als bisher beachtet, würde man nach unterschiedlichen Lösungswegen suchen.

 

In vielem jedoch, »wo Krankheit draufsteht, ist auch Krankheit drin«. Nachdenklich macht mich ein »Zeit«-Artikel[10], in dem der Journalist und Arzt Werner Bartens auf zwei Phänomene aufmerksam macht:

 

 

 

Das Fazit des Autors: »Mit dem Wandel der Krankheitsbilder steigen auch die Erwartungen an die Medizin. Zugleich sinkt die Bereitschaft, Leid und Entbehrung als Teil der Existenz [Hervorhebung vom Autor] wahrzunehmen. Doch ein Rundum-sorglos-Paket wird es nie geben. Auch wenn wir eines Tages die genetischen Grundlagen des Lebens vollständig entschlüsselt haben sollten.«

Kann es sein, daß die Entwicklung eines Großteils der nicht begründbaren Störungen und Krankheiten von existenzieller Frustration begünstigt wird? Denn Sinnmangel trifft den Kern des Menschen und damit seine Ganzheit. Doch selbst dann, wenn die Entstehung jener Erkrankungen nichts mit existenzieller Frustration zu tun haben sollte, gilt, daß ein sinnerfüllter Mensch weit besser mit Leid und Entbehrung umgehen kann als ein frustrierter[11].

Viktor E. Frankls Neuansatz

Das Problem dieser Zeit besteht nicht im Mangel an Werten und Sinn, sondern in den Zugängen zu Werten und Sinn[12]. Sie scheinen für viele Zeitgenossen verengt oder verschüttet zu sein. Sie öffnen sich jedoch in dem Maße, in dem der Geist sie öffnet. Daher ist die Auseinandersetzung mit der geistigen Dimension und die in ihr gründenden Wertgefühle und -kräfte eine not-wendende Aufgabe dieser Zeit, wichtig für Therapie und Beratung, vor allem für die Prävention von Störungen. Diese Aufgabe stellt sich nicht nur Ärzten und Psychologen, sondern allen, die Menschen begleiten und leiten.

 

Wir haben im 20. Jahrhundert mehr als in anderen Zeiten gelernt, Probleme analytisch zu durchdenken. Wir haben weniger gelernt, nach Gründen für sinnvolles Leben zu fragen. Wir haben gesehen, daß sich die therapeutischen und beratenden Einrichtungen für seelisch und körperlich erkrankte Menschen in erfreulicher Weise ausgeweitet haben. Doch darf man sich nicht auf die Betreuung, Beratung und Therapie erkrankter oder problembeladener Menschen beschränken. Notwendig wäre, sie auch auf jene auszuweiten, die nach gelingendem Leben fragen und darauf keine ausreichenden oder gar keine Antworten finden.

 

Frankl zog aus seiner Diagnose, das Sinnlosigkeitsgefühl sei das Kernproblem unserer Zeit, die Konsequenz und entwickelte eine neue, nämlich sinnzentrierte Psychotherapie: die Logotherapie (Logos = Geist, Sinn), die inzwischen weltweit praktiziert wird. Darüber hinaus forderte er, die Gründe für Sinnmangel, die zu Erkrankungen führen können, so weit wie möglich zu reduzieren. In vielen seiner Schriften wies er auf die Notwendigkeit einer solchen, nämlich präventiven Arbeit hin. Er gab dazu wichtige Hinweise. Ein konkretes Konzept zur Vorbeugung von Erkrankungen entwickelte er nicht. Gerade das Menschenbild der Logotherapie aber könnte die Basis für ein geistig orientiertes Präventionskonzept sein.

Wertorientierte Persönlichkeitsbildung

Seit etwa zehn Jahren arbeite ich an einem solchen Konzept. Seit kurzem liegt es vor. Ich nenne es die »Wertorientierte Persönlichkeitsbildung«. Ich sehe sie als einen eigenständigen, einen dritten Weg neben krankheits- und konfliktorientierter Psychotherapie und Beratung. Sie ist gedacht als geistig-emotionale Begleitung gesunder Menschen auf dem Weg zu sich und anderem Leben und daher zum Sinn. »Persönlichkeitsmentor« nenne ich den, der die Begleitung übernimmt.

 

Das Konzept der Wertorientierten Persönlichkeitsbildung läßt sich in acht Thesen zusammenfassen:

  1. Menschsein ist Herausforderung zur Menschwerdung, die erst im Tod endet. Daher ist Wertorientierte Persönlichkeitsbildung mehr als die persönliche Arbeit an Entwicklungsdefiziten, mehr auch als die Hilfe zur Aneignung überlieferter Werte. Sie zielt vor allem darauf ab, die spezifisch menschlichen Wertgefühle, die in der »Dimension der Tiefe« (Tillich), d.h. im unbewußten Geist ihren Grund haben, so individuell und so weit wie möglich verwirklichen zu helfen. In dem Maße jedoch, in dem ein Mensch diesen Grund erfährt, sieht er über sich hinaus – nicht nur auf andere, sondern auch auf die Welt in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen, und weiß sich für sie mitverantwortlich.
  2. »Der Mensch ›ist‹ Person und ›wird‹ Persönlichkeit« [13]. »Person« ist Geist, und Geist ist dasjenige im Menschen, das immer auch anders sein, sich anders einstellen und sich anders verhalten kann, das nicht festgelegt, sondern frei ist und weltoffen. »Persönlichkeit« meint nicht ein Zusammenspiel bestimmter angeborener Eigenschaften, auch nicht einen herausragenden Menschen, sondern das, was diese Person im Rahmen des ihr Möglichen aus sich gemacht, aus sich heraus gelebt hat.
  3. Grundlage der Wertorientierten Persönlichkeitsbildung ist das Menschenbild der Logotherapie (Betonung von Geist, Freiheit, Verantwortlichkeit, Liebe, Werten, Sinn), erweitert um die in Wertimaginationen gewonnenen Einsichten[14].
  4. Die wichtigsten Methoden der Wertorientierten Persönlichkeitsbildung sind
  5. Ihre konkreten Aufgaben sieht die Wertorientierte Persönlichkeitsbildung
  6. Ziel der Wertorientierten Persönlichkeitsbildung ist die Hilfe zur Erfahrung der Ganzheit, die nie erreicht, doch immer intendiert werden kann. »Ganz« geworden wäre ein Mensch, der zu sich selbst gekommen wäre. Und zu sich selbst gekommen wäre er, wenn er das Leben in und trotz seiner Ambivalenz grundsätzlich bejahte.
  7. Allgemeine Zielgruppe sind gesunde Menschen, die wissen, daß nicht nur der Körper der Pflege bedarf, sondern auch die Seele, daß die Seele keineswegs vom Entspanntsein allein lebt, sondern auch und vor allem von einem lebendigen Geist. Denn die ständig wechselnden Situationen im Leben und die natürlichen Lebenskrisen wie z.B. die Pubertät, die Lebensmitte, das Alter, verlangen immer wieder neue Ein- und Umstellungen. Die spezifische Zielgruppe sind existenziell frustrierte, aber noch nicht erkrankte Menschen, die nicht mehr oder nicht mehr genügend Sinn im Leben erfahren.
  8. Praktiziert wird die Wertorientierte Persönlichkeitsbildung in

Die »Dimension der Tiefe« und ihre Bedeutung

Mit »Dimension der Tiefe« meine ich das Unbewußte, im besonderen den unbewußten Geist mit seinen emotionalen Kräften, der tiefsichtig genug ist, um zu erkennen, wer der Mensch ist und was er zu einem wertvollen Leben braucht, und stark genug, die Erkenntnisse in die Tat umsetzen zu helfen.

 

Das Unbewußte ist der seelische Bereich in uns, zu dem unser Bewußtsein keinen unmittelbaren Zugang hat. Das Unbewußte ist die innere Welt, die der Verstand nicht ergreifen, geschweige denn begreifen kann, weil sie sich rationaler Logik entzieht. Man kann sie weder messen noch erklären, man kann sie allenfalls – und das nur nach reichlicher Selbsterfahrung – zu verstehen beginnen. Das Unbewußte ist das, was unserem Bewußtsein in Gedankenblitzen und Einfällen, Ahnungen und Visionen, Stimmungen und inneren Schmerzen, über Erinnerungen, Träume und innere Wanderungen nahekommt. Es ist die uns nicht bewußte Welt der Seele, deren Mitte der unbewußte Geist und in dem die »Logik des Herzens« (Pascal) zu Hause ist.

 

Jedes Land hat seine eigene Sprache. Wer ein fremdes Land kennenlernen will, tut gut daran, sich mit dessen Sprache vertraut zu machen. Das gilt auch und insbesondere für das uns unbewußte Land. Wer es näher kennenlernen möchte, sollte sich deshalb so weit wie möglich mit dessen Sprache vertraut machen. Von der Bewußtseinssprache hat Alfons Rosenberg gesagt: »Zu arm ist die menschliche Sprache, um die Fülle der Ahnungen, welche der Wechsel zwischen Leben und Tod wachruft, zu kleiden. Nur das Symbol und der sich ihm anschließende Mythos können diesen Bedürfnissen genügen. Das Symbol weckt Ahnungen, die Sprache kann nur erklären. Das Symbol schlägt alle Saiten des menschlichen Geistes zugleich an, die Sprache ist genötigt, sich immer nur einem einzigen Gedanken hinzugeben. Bis in die tiefsten Geheimnisse der Seele treibt das Symbol seine Wurzel, die Sprache hingegen berührt wie ein leichter Windhauch die Oberfläche des Verständnisses … Nur dem Symbol gelingt es, das Verschiedene zu einem einheitlichen Gesamteindruck zu verbinden. Die Sprache reiht Einzelnes aneinander und bringt (das Unsagbare) immer nur stückweise zu Bewußtsein.«[17]

 

Die Menge an Büchern, die auf die Frage nach dem Unbewußten eine Antwort zu geben versuchen, läßt sich nicht mehr messen. Die meisten von ihnen sind von der Empore des Bewußtseins aus, also in der Bewußtseinssprache geschrieben worden. Dagegen ist nichts einzuwenden, denn wissenschaftliche Forschungen verlangen auch wissenschaftliche Sprache. Die Frage ist nur, ob diese Sprache dem Leser das Wesen des Unbewußten – mit seinen Abgründen ebenso wie mit seinem Reichtum – nahebringen kann.

 

Nicht so lang sind die Regale mit jener Literatur, die versucht, das unbewußte Land in dessen eigener Sprache, also der Bildersprache zu beschreiben. Ob sie jedoch ebenso differenzierte Aussagen machen kann wie die Bewußtseinssprache? Gewiß nicht. Zweifellos haben beide Literaturformen ihr Recht und ihre Begründung. Die Bewußtseinssprache klärt und ordnet, was wir vom Unbewußten wissen. Die Bildersprache macht mit seinen geheimnisvollen Erscheinungen vertraut. Sie ist berührende Sprache und schafft daher existenzielle Beziehungen zum Unbewußten. Gerade deshalb aber ist sie in unserer Zeit, in der die Berührungen mit der tieferen Dimension des Lebens verloren zu gehen drohen, wichtig. Erlauben Sie mir daher, Ihnen das Unbewußte in dieser Sprache vorzustellen:

 

Die Seele gleicht einer Stadt am Strom, die im Lauf der Zeit an jenem Berge hochgewachsen ist, durch dessen Tal ein Strom fließt. Die Häuser in der Oberstadt – auf ihrem Ortsschild steht der Name »Bewußtsein« – sind also jünger als die der Unterstadt. Deren Bewohner haben ihrem Ort keinen Namen gegeben. Die Oberstädter nennen ihn »Das Unbewußte«.

 

Je tiefer nun ein Wanderer in die Stadt wandert, desto mehr staunt er über die alte Bauweise. Doch obwohl ihm vieles fremd erscheint, gewinnt er allmählich den Eindruck – sofern er sich mit den Örtlichkeiten ausreichend vertraut gemacht hat – , dort unten zu Hause zu sein, vor allem dann, wenn er sich dem großen Strom nähert, dessen Wasser klar ist wie der junge Morgen. Weise Bewohner der Oberstadt haben ihn das »Wasser des Lebens« genannt, andere den »Grenzfluß zwischen beiden Welten«.

 

Fragt man den Wanderer, warum er sich in der Tiefe der Stadt und besonders am Strom zu Hause fühle, antwortet er, von hier aus könne er besonders weit sehen: sowohl nach oben in die Oberstadt als auch über den Strom hinweg in jenes grenzenlose Land, das jenseits des Stromes liege. Für dieses Land hätten die Oberstädter den Namen »Transzendenz«, für das Gebiet am Strom selbst den Namen »Geist« gefunden. Nur wenige schienen jedoch berührt zu sein, wenn sie diese Wörter in den Mund nähmen.

 

Fragt man den Wanderer der Tiefe, was er empfinde, wenn er am Strom stehe, fällt ihm die Antwort nicht leicht. Denn das, wovon er berichten möchte, muß für den Fragenden recht fremd klingen. Dann erzählt er von hellen Gestalten, die ihm Wärme, Klarheit, Freiheit, Weite, Kraft und anderes mehr entgegen bringen, und von denen er sich getragen, geborgen und geliebt fühle. Und noch etwas fällt dem Wanderer ein, wenn er danach gefragt wird, warum er so gern in die Tiefe wandere: Das Gebiet am Strom sei gar nicht dunkel, darum habe er dort keine Angst. Man brauche sich auch nicht zu verstecken (wie so oft in der Oberstadt). Man könne so sein, wie man nun einmal sei.

 

Nun darf nicht der Eindruck entstehen, als seien alle Unterstädter Glücksbringer. Das ist keinesfalls so. Denn es gibt unter ihnen solche, die die Stadt empfindlich stören können. (Es versteht sich von selbst, daß sie nicht in der Nähe des Stromes wohnen). Manche von ihnen sind oft wütend oder boshaft, manche niedergeschlagen. Andere sind schrecklich eitel. Wieder andere gebärden sich wie die Angsthasen. Einige sind brutal, einige sind einfach nicht da, wenn sie gebraucht werden. Es gibt auch Bewohner der Unterstadt, die jede Schwierigkeit leugnen, und solche, die jede Schwierigkeit in etwas ganz Phantastisches uminterpretieren, wie die Oberstädter sagen. Nein, nicht alle Unterstädter sind liebenswert. Man sollte jedoch jene, die aus dem dunklen Bereich kommen, kennen, um zu verhindern, daß sie irgendwann einmal der ganzen Stadt am Berg zu schaffen machen.

 

Die Oberstädter sind schon seit langem der Auffassung, daß sie vom ganzen Berg des Lebens mehr verstehen als die Unterstädter. Das ist zweifellos richtig und doch wieder nicht. Recht haben sie darin, daß sie den Gipfel des Berges (»Denken« oder »Wissen« genannt) leichter sehen und erreichen können als die Unterstädter. Von dort aus haben sie einen besseren Überblick und können daher vieles besser erklären und in Zusammenhang bringen als jene. Wir haben ja schon mehrfach davon gehört, daß sie für alle Dinge des Berges auch Namen finden können. In einem jedoch täuschen sich die Oberstädter: Der Gipfel des Berges ist nicht wichtiger als sein Fuß mit dem dazugehörigen Gebiet. Sie begreifen nur schwer, daß Gipfel und Fuß gemeinsam den Berg ausmachen. Was wäre auch ein Berg ohne Gipfel, was wäre ein Gipfel ohne den tragenden Sockel?

 

Zu den die ganze Stadt bereichernden Tatsachen gehört, daß es eine Brücke zwischen der Ober- und der Unterstadt gibt. Bisher jedoch warten vor allem die Bewohner der Unterstadt darauf, daß sie breiter, viel breiter werde, so daß es zu einer regen Beziehung (ein Wort der Oberstädter) zwischen beiden Stadtteilen kommen könne. Diesen Wunsch teilen leider nur wenige der dem Gipfel nahen Bewohner. Woran mag das liegen? Offenbar an ihrer Angst vor den Unterstädtern. Obwohl sie so stolz darauf sind, daß sie dem Gipfel näher wohnen als diese? Angst also wovor?

 

Die Oberstädter haben Angst vor der Unübersichtlichkeit der Unterstadt. Da haben sie keinen Überblick. Besondere Angst aber haben sie vor den dunklen Gestalten, von denen eben die Rede war. Sie fürchten, diese finsteren Gesellen könnten ihren Stadtteil besetzen und sie ihrer Macht berauben. Wenn sie nur wüßten, woran die Wanderer der Tiefe nicht zweifeln: daß die dunklen Gestalten darauf warten, endlich von ihrer Feindschaft gegen das Leben befreit zu werden.

 

Das ist schon fast tragisch zu nennen: Vor lauter Angst und Fixierung (wieder ein Wort der Oberen) auf das, was sie nicht überblicken und »regeln« können, lernen sie das Zentrum der Unterstadt nicht kennen, also nicht das Land am Strom, in dem die Bewohner leben, die reich sind an Erkenntnis, Gestaltungskraft, Liebe und Frieden, die viel Phantasie für die Belange der ganzen Stadt haben und viele Ideen, sie schöner und reicher zu gestalten. Und weil die Oberstädter so viel Angst haben, hören sie nicht auf jene Wanderer, die mit der Unterstadt vertraut sind.

 

Da ist noch etwas, was man wissen muß: Die Stadt ist so geplant, daß sie irgendwann einmal eine werden soll. Woher man das weiß? Wann immer es passiert, daß sich die Brücke zwischen oben und unten verbreitert hat, – das kommt bekanntlich so oft nicht vor – herrscht Jubel sowohl in der Unter- als auch in der Oberstadt. Dann treffen sich die unterschiedlichen Bewohner mitten auf der Brücke. Sie wird deshalb von den Oberen »Mitte« genannt. Wenn sie dann beieinander sind, hat keiner von ihnen mehr Sehnsucht, weder nach dem Gipfel noch nach dem Fuß. Dann freuen sie sich – freuen sich darüber, daß sie da sind, hier sind und gemeinsam den Lebensberg erleben und genießen. Dann sind sie glücklich darüber, daß das, was sie getrennt hat, überwunden ist. Oberstadt und Unterstadt, die bewußte und die unbewußte Welt, gehören nun einmal zusammen.

Werte, die das Unbewußte kennt

Nicht darum kann es gehen, den gewaltigen Veränderungsprozeß unserer Zeit rückläufig zu gestalten. Wer daran denkt, verkennt, daß Leben Geschichte und daher Veränderung bewirkt. Es kann nur darum gehen, die mit diesem Prozeß verbundene Gefahr der Selbstentfremdung zu erkennen und die »Dimension der Tiefe« wieder zu entdecken.

 

Was ist Selbstentfremdung? Wer sich selbst entfremdet ist, erkennt sich selbst nicht und daher weder sein Sein noch seinen Sinn. Er weiß nicht, wer er in Wirklichkeit ist, wozu er in Wirklichkeit da ist und was er in Wirklichkeit will. Ihm fehlt der Orientierungssinn. Ihm fehlen deshalb echte Beziehungen zum Leben. Weil er sich selbst fremd ist, ist ihm auch die Realität fremd. Dann fühlt er sich im Leben nicht zu Hause. Dann lebt er als Fremder in seiner eigenen Welt.

 

Wer meint, die Wiederentdeckung der Tiefendimension sei ein weltfremder Ansatz zur Lösung der Probleme dieser Zeit, erfahre selbst die innere Welt und deren zentrale Aussagen über den Menschen, wie sie in den Wertimaginationen deutlich werden. Dann würde er die Wirkungen erleben, die von den Begegnungen mit der eigenen Seele ausgehen. Dann würde er begreifen, daß Bewußtsein und Unbewußtes zusammengehören wie Berg und Tal, Land und Meer, Licht und Schatten.

 

Mit Hilfe der Wertimaginationen ließe sich sogar eine umfassende »Wertphilosophie des unbewußten Geistes« entwickeln. Sie hätte gegenüber einer traditionellen Wertethik den entscheidenden Vorteil, daß die Werte dem Geist unserer Zeit entsprechend nicht von außen, sondern von innen her erfahren und daher existenziell begründet werden können.

 

Zwanzig wertvolle Aussagen, die ich in Wertimaginationen gefunden habe, möchte ich hier vorstellen. Grundlage dieser subjektiven Empirie sind etwa 15 000 Imaginationen, die ich bislang studieren konnte. Die folgenden Aussagen sind zugleich die Leitlinien der Wertorientierten Persönlichkeitsbildung. Bevor ich auf sie eingehe, möchte ich in aller Kürze beschreiben, was man unter Wertimaginationen zu verstehen hat.

Exkurs: Was sind Wertimaginationen?[18]