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Das Buch

Jürgen Klopp ist ein Trainer zum Anfassen – authentisch und humorvoll nimmt er Medien und Fans mühelos für sich ein. Er lässt Spieler zu Gewinnern werden, weil er aus ihnen das gewisse Extra hervorholt und die Mannschaft zu einer Einheit formt, die den Gegner mit voller Wucht trifft. So geschehen beim FSV Mainz 05 und Borussia Dortmund, die er mit seinem kompromisslosen Stil in die Erfolgsspur brachte.

Doch nicht nur in Deutschland liebt man »Kloppo« – auch in England hat der Schwabe mit seiner Art für Furore gesorgt: Unter tosendem Beifall wurde er im Oktober 2015 zum Trainer des traditionsreichen FC Liverpool ernannt. »I’m the normal one«, sagte Klopp zum Einstand. Doch was er mit dem angeschlagenen Traditionsverein in der Folge anstellen würde, war außergewöhnlich. Ihm gelang die triumphale Rückkehr in die Champions-League-Saison 2017/18.

Der Sportjournalist und Fußballexperte Raphael Honigstein berichtet aus Deutschland und England und zeichnet zum ersten Mal ein umfassendes Portrait von der Herkunft und dem Werdegang des beliebten Trainers.

Der Autor

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© Peter Schiazza

Raphael Honigstein, geboren 1973 in München, lebt seit vielen Jahren in London und ist Sportjournalist, TV-Experte und Autor. Für Spiegel Online, die Süddeutsche Zeitung und 11Freunde schreibt er über den englischen Fußball, für ESPN und die TV-Sender BT Sport und die BBC berichtet er über den deutschen Fußball. Bei Ullstein erschien 2016 von ihm das Buch Der vierte Stern. Wie sich der deutsche Fußball neu erfand.

RAPHAEL HONIGSTEIN

»ICH MAG,
WENN’S KRACHT«

JÜRGEN KLOPP – DIE BIOGRAPHIE

Aus dem Englischen von
Hans Freundl, Reiner Pfleiderer,
Hans-Peter Remmle

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Ullstein extra

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ISBN 978-3-8437-1605-5

Copyright © 2017 by Raphael Honigstein.
© der deutschen Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017.
Titel der Originalausgabe: Jürgen Klopp – Bring The Noise.
Originalverlag: Yellow Jersey Press,
an imprint of Penguin Random House UK.
Covergestaltung: ZERO Media GmbH, München

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

INHALTSVERZEICHNIS

Über das Buch und den Autor

Titelseite

Impressum

1 Die Überraschung

2 Rosenmontag: Stunde null

3 Revolution 09

4 Der Weg nach Anfield

5 In den Fußstapfen des Vaters

6 Wolfgang Frank: Der Lehrmeister

7 »Schönen guten Tag. Hier ist Jürgen Klopp.«

8 Pump up the Volume

9 Starts und Stopps

10 Feuer am Rhein

11 Zum Ersten, zum Zweiten und – beinahe – zum Dritten

12 Chaos und Theorie

13 Kleine Triumphe auf dem Bildschirm

14 60 000 Tränen

15 In Zeiten des abnehmenden Lichts

16 Boom!

17 Liverpool und darüber hinaus

Danksagung

Bildnachweis

Bildteil

Empfehlung

1

Die Überraschung

Glatten 1967

Der Schwarzwald ist nicht schwarz. Genau genommen ist er nicht mal ein Wald. Jedenfalls heute nicht mehr. Vor 1800 Jahren drangen als Erste die Alemannen in diese düstere, überwucherte Wildnis vor, die den Römern so viel Furcht eingeflößt hatte. Sie rodeten den Wald, um Platz zu schaffen für Kühe und Siedlungen. Keltische Missionare aus Schottland und Irland, bewaffnet mit Äxten und ihrem Glauben, stießen weiter in das Landesinnere vor, bis die Natur bezwungen und das Böse gezähmt war. Heute liefern die Reste der Dunkelheit nur noch den Rohstoff für Alpträume von Kindern und für Kuckucksuhren.

Aus allen Teilen des Landes und auch aus dem Ausland strömen Touristen in diese Mittelgebirgslandschaft in der südwestlichen Ecke Deutschlands, um ihre Lungen und Seelen vom städtischen Schmutz zu reinigen. Nach dem Krieg wurde der Schwarzwald eine beliebte Anlaufstelle für die Filmbranche, die auf der Suche nach schönen, idyllischen Kulissen war, und ein idealer Standort für echte oder imaginäre Kliniken. Einer dieser Orte, an denen Phantasie und Realität auf magische Weise miteinander verschmelzen konnten.

Tatsächlich ist sie noch heil, die Welt – im schmucken Städtchen Glatten im Nordschwarzwald. Die blitzsauberen weißen Häuser mit ihren lebkuchenförmigen Dächern und Holzbalkonen, die sich an die Hänge schmiegen, wachen hier über den unendlichen grünen Hügeln. »Andere bauen ihr Haus auf dem Hügel, damit man die Pracht auch gut sehen kann. Der Schwabe dagegen baut das Haus in den Hang hinein, damit die Nachbarn nicht sehen können, wie viele Quadratmeter er wirklich hat«, so erklärt der frühere Grünen-Politiker Rezzo Schlauch die Bescheidenheit der Einheimischen, seiner Landsleute. »Beim Schwaben steht der neue Mercedes in der Garage und der VW vor dem Haus.«

Der Fluss Glatt (althochdeutsch für »klar, glänzend, rein«) kommt von Norden und fließt an der stahlverkleideten Fassade der J. Schmalz GmbH (Vakuumtechnologie) vorbei, hinein in das Städtchen, das ihm seinen Namen verdankt. Er ist ein diskreter Begleiter der Hauptstraße (an der sich ein Autohändler, eine Bank, eine Bäckerei, ein Metzger, ein Blumenladen und ein Döner-Imbiss befinden), speist etwas widerwillig einen kleinen See und verlässt die Stadt hinter dem Sportplatz von Böffingen, einem kleinen Dorf, das nach Glatten eingemeindet wurde.

Das Klima ist schwierig, es regnet viel. Die Idylle musste der Natur abgerungen werden. Es gibt grüne Weiden hier, Getreidefelder, Schweinezuchtbetriebe und Menschen mit furchterregender Entschlossenheit und großer Genügsamkeit, ein außergewöhnlich zäher deutscher Menschenschlag, der härter als hart arbeitet und sich durch nichts aus der Bahn werfen lässt. »Schaffe, schaffe, Häusle baue« – wohl in keinem anderen Landstrich kann dieses Motto größere Gültigkeit beanspruchen.

»Tag und Nacht zu schaffen gehört zum Schwaben, das hat seinen Ursprung in der Geschichte«, sagt Schlauch. »Und darin lassen sich auch die Gründe finden, warum Schwaben solch erfolgreiche Tüftler und Erfinder sind. In anderen Gegenden erbten immer die Ältesten die Höfe der Eltern. In Schwaben wurde gerecht und real geteilt. Das bedeutete, die Erbstücke wurden immer kleiner, und irgendwann konnte man davon nicht mehr leben. Die Nachkommen mussten sich in anderen Berufen üben, was die Tüftler und Erfinder hervorbrachte, also Leute, die nach neuen Lösungen suchen für alte Probleme.«

Hier ist es üblich, dass man alles gewissenhaft und ernsthaft macht. Das gilt auch für Spaß und Unterhaltung. Einer der vierzehn aktiven Vereine in Glatten widmet sich dem Karneval. In einem anderen sammeln sich die Freunde des Deutschen Schäferhunds.

Schuppen säumen eine kleine Straße, auf der dicke Erdklumpen liegen, die von Traktoren hinterlassen wurden, und dann taucht es auf, unmittelbar neben einem Feld: das »Haarstüble« von Isolde Reich. Ein kleiner Friseursalon und Treffpunkt, wo auch Socken verkauft werden, die eine Freundin der Inhaberin selbst strickt. Die Erlöse werden für den Kauf von Schuhen für Obdachlose gespendet.

Isolde Reich wurde 1962 als jüngere von zwei Schwestern in Glatten geboren. Ihr Vater Norbert, ein talentierter Fußballtorwart, der beim 1. FC Kaiserslautern ein Probetraining absolvierte, war ein Sportbesessener. Da er von seinem Vater in seinem Eifer gebremst wurde – dieser habe darauf bestanden, dass Norbert einen anständigen Beruf lernte und nicht versuchen solle, Profifußballer zu werden, erzählt Isolde Reich –, war seine Fußballkarriere schon vorbei, bevor sie richtig begonnen hatte. Doch seine Begeisterung für den Sport ließ er sich nicht nehmen. Er spielte Amateurfußball, Handball und Tennis und versuchte auch seiner Familie diese Leidenschaft zu vermitteln. Als seine Frau Elisabeth und seine erste Tochter Stefanie keinerlei Neigung zeigten, irgendeinen Sport zu betreiben, richtete Norbert seine Hoffnungen ganz auf Isolde. »In mein Kinderalbum schrieb er ›Isolde, eigentlich solltest du ein Junge werden‹«, erzählt sie lächelnd. »Ich war das erste Mädchen in Glatten, das Fußballtraining machte.«

Norbert war ihr Trainer, seine Methoden waren anspruchsvoll und fordernd. Er ließ die fünfjährige Isolde auf einem Sportplatz am Fluss, wo ein schwerer alter Ball an einem Seil an einem grünen Eisenbalken hing, Kopfbälle üben. Wenn ihre Körperhaltung nicht richtig war oder sie die Arme zu weit oben hielt, musste sie eine Strafrunde um den Platz laufen. »Er war hart, aber gerecht. Ein Mann mit Prinzipien und extrem leidenschaftlich«, erzählt sie heute.

Im Sommer 1967 musste Mutter Elisabeth die Familie für einen Monat verlassen. Sie war abermals schwanger. Weil bei der Geburt Komplikationen drohten, fuhr sie in ein Krankenhaus in Stuttgart, achtzig Minuten nordwestlich von Glatten. Das nächste Krankenhaus in Freudenstadt, nur acht Kilometer entfernt, war nicht ausgerüstet für Geburten per Kaiserschnitt. Stefanie und Isolde fiel es schwer, so lange ohne ihre Mutter zurechtzukommen. »Uns wurde daher versprochen: Wenn die Mutter wiederkommt, bringt sie was ganz, ganz Tolles mit.«

Doch als Norbert und Elisabeth wieder zu Hause ankamen, hielten sie ein kleines Baby auf dem Arm, das wie am Spieß brüllte. Nach einer Stunde fragten sich die beiden Schwestern, ob man dieses Wesen nicht zurückbringen und gegen etwas anderes umtauschen könnte. Ein kleiner, schreiender Bruder – was für eine miserable Überraschung!

Aber Isolde wurde schnell klar, dass sie an diesem Tag mehr als nur ein zweites, unerträglich lautes Geschwisterchen bekommen hatte. »Ab sofort stand Jürgen im Sport-Fokus des Vaters. Ich wurde vom Training am Kopfball-Pendel entbunden und durfte stattdessen Ballett tanzen und Leichtathletik machen. So gesehen war die Geburt von Jürgen mein Glück. Ich war befreit.«

2

Rosenmontag: Stunde null

Mainz 2001

Christian Heidel gefällt die Geschichte so sehr, dass er sich allmählich fragt, ob sie so wirklich stimmt. »Ich könnte als Mainzer jetzt ja sagen, wir denken uns das mal aus. Das war aber so«, sagt er und nimmt Anlauf für einen großen Sprung: weg von seinem eher kargen Büro in der Geschäftsstelle von Schalke 04, mitten rein in eine Stadt, die lustvoll durch den Konfettiregen torkelt, während eine kleine, erfolglose Zweitligamannschaft die Party vierzig Autominuten entfernt im provinziellen, gewollt unprickelnden Exil verpasst.

Am 25. Februar 2001, einen Tag vor Rosenmontag, hatte der FSV Mainz 05 bei seinem Angstgegner SpVgg Greuther Fürth im Playmobilstadion mit 1:3 verloren. »Kloppo war leicht verletzt und war der schlechteste Mann auf dem Platz. Er musste zwanzig Minuten vor Spielende ausgewechselt werden«, erzählt Heidel. Durch die Niederlage rutschte Mainz auf einen Abstiegsplatz. »Wir waren mal wieder am Arsch«, erinnert sich der ehemalige FSV-Manager. Es gab keine Hoffnung mehr da ganz unten, kein Licht. »Wir hatten 3000 Zuschauer im Schnitt. Keiner hat sich mehr für Mainz interessiert. Alle waren überzeugt, dass wir absteigen.«

Eckhard Krautzun, der weitgereiste Trainer der Mainzer (man nannte ihn den »Weltenbummler«), hatte befürchtet, dass die Verlockungen der Fastnacht die Mannschaft vor dem schweren Spiel in Duisburg am Aschermittwoch zu sehr ablenken könnten. Das Team wurde ausquartiert. »Nachdem wir das Spiel in Fürth verloren haben, kochte die Stimmung in Mainz. Da war klar, entweder gibt es jetzt einen Trainerwechsel, oder die Mannschaft kriegt ordentlich Feuer. Wir haben uns dann drei Tage in einem Hotel in Bad Kreuznach abgeschottet, damit keiner draußen unterwegs ist«, erinnert sich der Mainzer Mittelfeldspieler Jürgen Kramny, damaliger Zimmergenosse von Jürgen Klopp.

Christian Heidel war zu Hause in Mainz geblieben. Nach Feiern war ihm jedoch nicht zumute. Die Lage war viel zu düster, um sich ins närrische Treiben zu stürzen. Dass der Trainer würde gehen müssen, war klar. Krautzun war durchaus ein angenehmer Mensch, ein erfahrener Fußballlehrer, der in einem Jubiläumsspiel von Al-Ahli in Saudi-Arabien auch schon Diego Maradona trainiert hatte, abgesehen von den Nationalmannschaften von Kenia und Kanada und zahlreichen Klubs weltweit. Aber sechs Punkte in neun Spielen seit seinem Amtsantritt im November waren eine sehr magere Ausbeute. 05 belegte wieder einen Abstiegsrang. Darüber hinaus wusste Heidel, dass sich Krautzun den Job gewissermaßen erschlichen hatte.

Krautzuns Vorgänger, der ehemalige belgische Nationalspieler René Vandereycken, war ein mürrischer, einsilbiger Mann, dessen Weigerung, mit den Spielern und den Vorstandsmitgliedern zu reden, nur noch durch seinen Widerwillen übertroffen wurde, ein stimmiges Spielsystem zu entwickeln. Er wurde in der Saison 2000/01 nach zwölf Spielen entlassen, die nur mickrige zwölf Punkte eingebracht hatten, Mainz war damit bereits mitten im Abstiegskampf. Heidel wollte einen Nachfolger, der das erfolgreiche System der Viererkette und Raumdeckung wiederbelebte, das der ehemalige Mainzer Trainer Wolfgang Frank vor sechs Jahren eingeführt hatte, eine Taktik, die in der Bundesliga damals als so modern und fortschrittlich galt, dass niemand so richtig wusste, wie man sie praktisch umsetzen konnte.

Heidel erzählt: »Ich habe jedem erzählt, dass ich einen Trainer brauche, der versteht, wie die Viererkette funktioniert. Einen, der das den Spielern beibringen kann. Und irgendwann ruft Krautzun an. Ich muss gestehen, dass ich an den überhaupt nicht mehr gedacht habe. Er war vorher bei Kaiserslautern, und das hat nicht funktioniert. Aber er hat mich so lange überredet, bis ich eingewilligt habe, mich mit ihm in Wiesbaden zu treffen. Und da hat er mir dann alles genaustens über die Viererkette erklärt. Ich dachte: Leck mich am Arsch, der weiß das ja wirklich! Ich wusste ja von Franks Training, wie die Übungen dazu aussahen. Also hab ich ihn zum Trainer gemacht. Zwei Wochen später kam Klopp zu mir und erzählte: ›Der Krautzun hat mich vor einem Monat angerufen und drei Stunden mit mir telefoniert. Der wollte wissen, wie die Viererkette geht.‹ Und so hat sie dann auch ausgesehen: Am Anfang haben wir noch ein, zwei Spiele gewonnen, und dann ging es bergab.«

Sich von Krautzun zu trennen war die vernünftige und leichte Entscheidung. Den richtigen Nachfolger zu finden war wesentlich schwieriger. Heidel durchstöberte einen ganzen Berg von Kicker-Jahresheften in der Hoffnung, einen geeigneten Kandidaten ausgraben zu können. »Damals gab es ja noch kein Internet. Du hast nicht gewusst, wer ist denn eigentlich Trainer in Brügge gerade. Die waren sowieso fünf Nummern größer als wir zu diesem Zeitpunkt. Das war damals einfach anders. Es gab auch kaum ausländische Trainer in Deutschland. Du hast immer im selben Teich gefischt.« Nach einer Weile legte Heidel die Zeitschriften beiseite und gestand sich sein Scheitern ein. »Dann habe ich gedacht, die einzige Chance wäre, dass wir wieder so spielen wie beim Wolfgang. Aber ich fand niemanden.«

Vielleicht kam Heidel der zündende Einfall, als er die Narren beobachtete, die an diesem Tag durch die Straßen von Mainz zogen. Der einzig logische, noch verbleibende Schritt in dieser ausweglosen Lage war, das offenkundig Verrückte zu probieren. Wenn sich kein geeigneter Trainer auftreiben ließ, sollte man es mal ohne einen Trainer versuchen?

»Und dann habe ich überlegt: Machen wir doch etwas völlig Spektakuläres. Trainieren wir uns selbst.« Es gab ja schon »ein paar richtig gute Jungs in der Mannschaft, intelligente Typen«, erzählt er, diese mussten nun jene Spieler, die nach Franks Zeit zum Verein gekommen waren, eben selbst unterweisen. Aber Fußball war immer noch Fußball, und einer musste das Sagen haben. Heidel überlegte, ob er selbst den Posten übernehmen sollte. »Ich hätte es denen durchaus beibringen können, so viele von Wolfgangs Trainingseinheiten habe ich erlebt. Aber ich hatte ja weder ein Bundesligaspiel noch ein Oberligaspiel in meiner Karriere absolviert. Das hätte doof ausgesehen. Deshalb habe ich dann Kloppo im Trainingslager in Bad Kreuznach angerufen. Der wusste überhaupt nicht, was auf ihn zukam.«

Heidel informierte den erfahrenen Rechtsverteidiger, dass es mit Krautzun nicht weiterging und dass ein Trainerwechsel unabdingbar war. »Ich habe ihm ganz ehrlich gesagt: Ich glaub, wir sind untrainierbar. Das, was wir spielen wollen, versteht hier in Deutschland keiner. Ihr, also du und die Mannschaft, ihr habt das verstanden. Aber mit den Trainern geht es wirklich nicht. Klopp hat überhaupt nicht gewusst, worauf ich hinauswill. Dann habe ich gesagt: ›Was hältst du davon, wenn wir uns selbst trainieren? Aber einer muss da vorne stehen, und das machst du.‹ Er zögerte ein paar Sekunden. Dann sagte er: ›Geile Idee. Das machen wir.‹«

Heidel rief Mannschaftskapitän Dimo Wache an, den Torwart. »Eigentlich war ja Kloppo Kapitän, aber Dimo trug die Binde. Dietmar Constantini (der Vorgänger von Krautzun) hatte sie Klopp abgenommen, weil der sich immer über die Taktik beschwerte. Der hat ihn auch auf die Bank beordert. Das geht gar nicht, Kloppo auf der Bank. Wenn der heute meckert, dass seine Spieler meckern … Man hätte ihn mal erleben sollen, als er selbst auf der Bank saß.«

Harald Strutz, damals der Präsident des FSV Mainz, ging gerade seinen karnevalistischen Pflichten als führendes Mitglied der Ranzengarde nach, als sein Telefon klingelte. »Heidel hat mich angerufen: ›Pass auf, wir müssen den Trainer dringend wechseln‹«, erzählt Strutz in seinem Büro im Verwaltungsgebäude des Vereins, in einem Gewerbegebiet außerhalb der Stadt. In der Eingangshalle steht eine Vitrine mit Fanartikeln des FSV, darunter eine Monopoly-Version mit Heidel und Klopp auf der Schachtel. »Eckhard Krautzun hat sich da sehr fair verhalten. Er wollte zwar Trainer bleiben, aber wir haben gesagt, dass es nicht mehr geht. Dann habe ich meine Uniform ausgezogen, und wir sind nach Bad Kreuznach gefahren. Am Rosenmontag feiert eigentlich jeder in Mainz, das bedeutet aber nicht, dass jeder hier betrunken ist. Ich war jedenfalls nicht betrunken, sonst wäre ich nicht mehr gefahren. Wir haben Kloppo gefragt: ›Traust du dir das zu?‹ Er hat keine Sekunde gezögert: ›Klar, mach ich.‹«

Strutz hält kurz inne, noch immer erstaunt über die Tragweite der wichtigsten Entscheidung, die er je in seinem Amt getroffen hat. Er ist Kommunalpolitiker, Mitglied der FDP und arbeitet als Rechtsanwalt, auf seinem Konferenztisch steht ein Exemplar des Bürgerlichen Gesetzbuchs: Strutz ist ein grundseriöser Mann. Eigentlich nicht die Art von Fußballboss, die sich von einer Schnapsidee des Sportdirektors mitreißen lässt. »Es ist schon eine besondere Geschichte«, sagt er. »Aber so hat das eben angefangen. Wenn Sie wüssten, wie es damals hier ausgesehen hat … Es war ja schon eine große Leistung, dass die ganze Mannschaft überhaupt zusammengeblieben ist. Ein außerordentlicher Start für so eine Trainerkarriere. Und diese Außergewöhnlichkeit sprudelt mir immer noch ins Gedächtnis.«

Die zehn Lokaljournalisten, die sich am nächsten Tag zur Pressekonferenz in Bad Kreuznach einfanden, waren weniger euphorisch gestimmt. Heidel: »Die haben schon gewusst, was los ist. Wir haben dann die Trainerentlassung bestätigt. Und dann sagt der eine, Reinhard Rehberg, der ist heute noch Journalist in Mainz: Was macht denn Klopp hier? Die haben gedacht, wir machen mit dem Co-Trainer eine Übergangslösung. Und dann habe ich gesagt: ›Der Kloppo wird jetzt Trainer.‹ Der ganze Tisch hat gegrölt. Alle haben gelacht. Am nächsten Tag sind wir in den Zeitungen verarscht worden. Man glaubt ja immer, dass wegen Klopp alle jubeln, aber das war noch nicht der Klopp von heute, sondern der Kloppo von damals. Er war nur Spieler, er hatte keine Trainerlizenz und Sportwissenschaften studiert.«

Klopp wusste, dass die Reporter ihm nicht zutrauten, Mainz vor dem scheinbar unvermeidlichen Abstieg zu retten. Er machte sich über seine Unerfahrenheit lustig. »Ihr müsst mir sagen, was ich hier sagen soll«, verlangte er von den Pressevertretern mit breitem Grinsen.

»Und dann, das werde ich nie vergessen«, fährt Heidel fort, »als die Journalisten raus waren, sagte Kloppo: ›Wir gehen jetzt trainieren.‹ Dann sind wir zum Friedrich-Moebus-Stadion in Bad Kreuznach gefahren, und ich habe gedacht: ›Ah, das ist wieder Leben in der Bude.‹ Überall haben wieder Stangen auf dem Feld gestanden. Die Mannschaft hat wieder verschoben. Da war mir klar: Wir kehren zurück zu alten Zeiten.«

Die Spieler waren ebenso überrascht wie die Journalisten, dass Klopp ihr neuer Chef war. »Da stand auf einmal der Kloppo im Sitzungsraum. Da war der Kloppo Trainer«, erinnert sich Mittelfeldspieler Sandro Schwarz, der heute Mainz 05 trainiert. »Trotzdem war er noch immer einer von uns. Es war nicht so, dass du von nun an ›Sie‹ sagen oder auf Distanz gehen musstest. Kloppo griff mit einer natürlichen Autorität durch und traf Entscheidungen. Und die Mannschaft hatte damit kein Problem. In der schwierigen Situation, wir waren ja im Abstiegskampf, haben wir das komplett angenommen. Die Jungs, die schon länger da waren, haben danach gelechzt, wieder das 4-4-2-System zu spielen, das uns früher so stark gemacht hatte. Er hat es wieder eingeführt und ist mit seiner positiven Art voranmarschiert.«

Die erste Mannschaftssitzung unter dem neuen Trainer hinterließ einen bleibenden Eindruck bei Heidel. »Ich weiß noch, wie der Raum ausgesehen hat. In diesem Hotel in Bad Kreuznach. Der Mann hatte noch nie eine Mannschaftssitzung abgehalten, noch nie. Damals war ich noch ein bisschen schlanker und fitter, und wenn man mir Fußballschuhe gegeben hätte, wäre ich gegen Duisburg sofort aufgelaufen … Ich kannte ja schon zehn oder elf Trainer, aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Du wolltest raus und sofort spielen. Ich habe zu meinen Vorstandskollegen gesagt, dass wir hundertprozentig gewinnen. Und ich habe mir gedacht, wenn die Spieler genauso sicher sind wie ich, dann werden wir das Spiel gewinnen. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was Kloppo genau gesagt hat. Aber es war eine Mischung aus Taktik und Motivation. Wir hätten sofort spielen können. Das war diese Fähigkeit, die Mannschaft starkzureden.«

Diesen Job anzunehmen, sei »ein gefühltes Himmelfahrtskommando« gewesen, räumte Klopp zehn Jahre später auf spox.com ein. »Es ging nur um die Frage: Was kann man tun, damit wir nicht weiterhin jedes Spiel verlieren? Über Gewinnen habe ich gar nicht nachgedacht. In der ersten Trainingseinheit habe ich Stangen in den Boden gerammt und taktisch laufen lassen. Für die allermeisten waren diese Abläufe noch im Langzeitgedächtnis abgespeichert, weil wir sie ja bis zum Erbrechen unter Wolfgang Frank trainiert haben. Wir wollten das Spiel so aufziehen, dass es unabhängig war vom Gegner.« Auch im Motivationsteil seiner Ansprache klang eines von Franks Themen wieder an: dass es entscheidend darauf ankommt, »die letzten fünf Prozent zu geben« (Klopp).

Klopp habe »ganz einfache Dinge« gemacht, erzählt Kramny. »Mich zum Beispiel hat er von der rechten Position ins Zentrum genommen. Und dann gab es noch eine oder zwei Veränderungen in der Mannschaft. Heidel sagte uns, wir müssten zusammenhalten, nachdem wir es den Trainern zuvor so schwergemacht hatten. Wir fühlten uns alle verantwortlich. Viel Zeit hatten wir nicht, also was konnten wir tun? Ein bisschen spielen, ein bisschen Spaß reinbringen, Standards üben. Und dann haben wir gesagt: Okay, auf geht’s. Rennen, rennen, rennen. Am Spieltag hat es gegossen wie aus Kübeln.«

Heidel erzählt: »Wir hatten 4500 Zuschauer. Es war Aschermittwoch, das ist in Mainz etwas Besonderes. Wir haben gegen den MSV Duisburg gespielt, die waren Zweiter oder Dritter. Also ein ganz heißer Aufstiegskandidat. Und ich muss ehrlich sagen: Wir haben die an die Wand gespielt. Wir haben zwar nur 1:0 gewonnen, aber die kamen überhaupt nicht vor unser Tor. Die kamen mit unserem System überhaupt nicht klar. Und die Leute im Stadion sind ausgerastet.«

Die Zuschauer auf der Haupttribüne hatten eine Menge Spaß. Sie sahen einen Mainzer Trainer, der »wie ein zwölfter Feldspieler um die Bank rumgelaufen ist, er hat ja quasi mitgespielt«, fährt Heidel fort. »Auf die Haupttribüne passten damals ja nur tausend Leute. Die haben sich alle kaputtgelacht über den da unten. Ich weiß gar nicht mehr, wo der hingerannt ist, als das Tor fiel. Vielleicht wurde er vom Schiedsrichter vom Platz verwiesen? (Wurde er nicht – in diesem Fall). Das alles war schon sehr, sehr besonders. Man kann sagen: Das war seine Geburt. Danach ist er seinen Weg gegangen.«

3

Revolution 09

Dortmund 2008

Ein kalter Winterabend in Marbella im Januar 2017. Die Eingangshalle des Don Pepe Gran Melia-Hotels sieht aus wie der Traum eines »Denver-Clan«-Bühnenbildners: weißer Marmor, goldverkleidete Säulen, Töpfe mit Palmen. Und ein Mann, der Saxophon spielt.

Mitarbeiter von Borussia Dortmund tragen Körbe mit schmutziger Wäsche vom Abendtraining an der leeren Hotelbar vorüber. Auf einem cremefarbenen Sofa sitzt Hans-Joachim Watzke und beobachtet die Szenerie mit zufriedenem Nicken. Der 58-jährige Geschäftsführer des BVB ist ein erfolgreicher Unternehmer; seine Firma Watex setzt mit Arbeitsschutzkleidung jährlich 250 Millionen Euro um. Er ist der Mann, der den Verein 2005 vor dem Konkurs gerettet hat, der Mann, der den schönen, guten Fußball ins Westfalenstadion zurückbrachte, indem er Jürgen Klopp anheuerte. Aber wie jeder echte Anhänger scheint er am allermeisten glücklich und stolz darüber, einfach nur hier sein zu dürfen beim zehntägigen Wintertrainingslager der Mannschaft in Andalusien.

»Wieso Klopp? Das ist einfach zu beantworten«, sagt Watzke und stellt seine Espressotasse ab. »Weil ab 2007 klar war, dass wir überleben würden, aber weil genauso klar war, dass wir kein Geld hatten.«

Der Ballspielverein Borussia 09 e.V. Dortmund, Deutscher Meister 1995 und 1996, Champions-League-Sieger 1997 und erneut Deutscher Meister 2002, hatte einen schmerzhaften finanziellen Niedergang erlebt. Die Einnahmen von 130 Millionen Euro durch den Börsengang im Jahr 2000 waren für teure Spieler ausgegeben worden, um im Wettrüsten mit Bayern München mithalten zu können. Doch als das Team zweimal hintereinander die Qualifikation für die Champions League verpasste, wäre der Verein 2005 unter seiner Schuldenlast von 240 Millionen Euro beinahe zusammengebrochen. »Wir waren in der Geschäftsstelle und wussten nicht, ob wir am nächsten Tag noch einen Job haben würden«, sagt der Stadionsprecher und frühere BVB-Stürmer Norbert »Nobby« Dickel. »Es war eine fürchterliche Zeit.«

»Dortmund ist eine Stadt, die für diesen Verein lebt, die extrem mit diesem Verein lebt«, sagt Sebastian Kehl. Der frühere Mannschaftskapitän erinnert sich, dass in der Stadt große Anspannung herrschte, alle hatten Angst, dass die Borussia untergehen könnte. »Taxifahrer, Bäcker, Hotelangestellte – jeder hatte Angst um seine Existenz. Und wir Spieler wussten nicht, ob es am Ende vielleicht gar keine Rolle mehr spielt, ob wir das Spiel am Wochenende gewinnen oder verlieren.«

Es war Watzke, der frühere Schatzmeister des Vereins, der schließlich den Klub rettete, als er nach dem Abtritt des buchstäblich diskreditierten Duos von Sportdirektor Michael Meier und Präsident Gerd Niebaum die Geschäftsführung übernahm. Watzke sanierte den Verein mit Unterstützung der amerikanischen Investmentbank Morgan Stanley, die ein Darlehen bereitstellte. Mehrere Kapitalerhöhungen ermöglichten es dem Verein, sein Stadion zurückzukaufen. Doch der radikale Kostensenkungsplan bedeutete auch, dass kein Geld für teure Spielertransfers mehr vorhanden war.

»Sportdirektor Michael Zorc und ich hatten uns darauf verständigt, eine junge Mannschaft aufzubauen. Marcel Schmelzer war schon da, Kevin Großkreutz kam bald danach. Wir wollten auch eine andere Art Fußball spielen. Unter Bert van Marwijk und Thomas Doll lief der Ball in der Viererkette rauf und runter, zehnmal hintereinander. Wir hatten zwar 57 Prozent Ballbesitz, aber es fehlte die Action. So kann man in Dortmund nicht spielen. Wir wollten den Leuten eine Mannschaft bieten, die bis zur Erschöpfung rannte. Das hatten wir in Mainz gesehen, als wir in den Jahren zuvor dort spielten. Man hatte immer das Gefühl, die sind eigentlich nicht besonders gut. Trotzdem haben sie es einem schwergemacht und manchmal sogar gewonnen. Weil die eine Mörder-Mentalität hatten. Und sie waren taktisch sehr gut eingestellt. Es musste also am Trainer liegen. Heute wäre es schwierig, in Dortmund einen Trainer aus der Zweiten Liga einzustellen. Damals ging das aber.«

In Dortmund war man nicht sicher, so Heidel, ob Klopp der Umstieg gelingen würde, vom Mainzer Säulenheiligen zum Erneuerer eines gefallenen Bundesliga-Giganten. Im Oktober 2007 nahm Watzke zum ersten Mal Kontakt mit dem Mainzer Geschäftsführer auf, kurz vor einem Treffen des DFB, das in Mainz stattfand. Heidel erzählt: »Watzke rief mich an und fragte, ob er bei mir mal zum Kaffeetrinken vorbeikommen könnte. Ich weiß noch, wie wir zusammensaßen. Das Thema kam schnell auf Jürgen. Ich sagte: ›Wenn ich jetzt sage, dass er top ist, dann schnappen Sie ihn mir ja weg. Ich könnte auch lügen und behaupten, er kann gar nichts. Aber dann erzählen Sie es ihm, und er wäre sauer auf mich.‹ Dann sagte ich: ›Der Kerl ist ein Bundesliga-Trainer.‹« Watzke bohrte weiter, ohne explizit über Dortmund zu sprechen. War Klopp fähig, einen großen Bundesligisten zu trainieren? »Ich sagte ihm: ›Er kann jeden Klub der Welt trainieren‹«, erzählt Heidel. »›Weil er einen Riesenvorteil vor jedem anderen hat: Er ist wirklich intelligent. Und wenn er zu einem großen Klub geht, wird er sich darauf einstellen. Wenn Sie einen in Anzug und Krawatte brauchen, holen Sie Jürgen Klopp besser nicht. Aber wenn Sie einen Top-Trainer haben wollen, holen Sie ihn.‹ Es ging nicht darum, sofort eine Entscheidung zu treffen, aber die Dortmunder haben von da an ein bisschen genauer auf ihn geguckt. Aber sie waren noch nicht überzeugt. Watzke rief mich immer wieder an, ich weiß gar nicht mehr, wie oft. Ich sagte immer: ›Machen Sie’s, machen Sie’s. Sie werden den Tag nie bereuen, an dem Sie Klopp unter Vertrag genommen haben.‹«

Zeitgleich wuchsen in der Dortmunder Strobelallee die Zweifel, ob es richtig gewesen war, Thomas Doll zu engagieren. Der frühere Mittelfeldspieler der deutschen Nationalmannschaft, seit März 2007 Trainer in Dortmund, konnte die Spieler und das Publikum mit seinem quälend langweiligen Fußball nicht mitreißen. Dortmund stand näher an den Abstiegsrängen als an der Tabellenspitze und beendete die Saison auf Platz 13, der schlechtesten Platzierung seit zwanzig Jahren. Ein guter Lauf im DFB-Pokal, wo die Dortmunder im Finale im April schließlich Bayern München nach Verlängerung mit 1:2 unterlagen, konnte die Mängel nicht verdecken. »Das war vielleicht die wertvollste Finalniederlage in der Geschichte des Vereins«, schrieben Sascha und Frank Fligge in ihrem Buch Echte Liebe, einer Chronik des Comebacks von Borussia Dortmund in den vergangenen zehn Jahren. »Bei einem Sieg hätte sich die Vereinsführung sehr schwergetan, Thomas Doll zu entlassen, an dessen Befähigung keiner mehr glaubte. Jürgen Klopp wäre dann nie nach Dortmund gekommen. Aber die Geschichte hat eine andere Wendung genommen.« Watzke meinte später scherzhaft, die Niederlage sei Teil eines strategischen Plans gewesen, Jürgen Klopp den Weg freizumachen. Klopp hatte das Spiel in Berlin als Experte des ZDF kommentiert und gegenüber Redakteur Jan Döhling bekannt, dass er »eines Tages einmal selbst da unten an der Seitenlinie stehen« wolle. Zurück in seinem Berliner Hotel, empfingen Dortmunder Fans ihn in der Eingangshalle mit »Jürgen Klopp, du bist der beste Mann!«-Gesängen. Sie wollten, dass er den Job übernahm.

Watzke erklärt, er sei immer überzeugt gewesen, dass Klopps Persönlichkeit stark genug war, um diese Herkulesaufgabe zu bewältigen: »Seine Fernsehauftritte haben uns das Gefühl gegeben, dass er die Fähigkeit besitzt, ein großes Projekt in Angriff zu nehmen. Wir haben über keinen anderen Trainer nachgedacht, wir wollten Klopp.« Nachdem Doll am 19. Mai zurückgetreten war, brachte ein geheimes Treffen im Büro eines Freundes von Watzke im Rheinland weitere Klarheit. »Das Gespräch war großartig«, erzählt Watzke. »Wir haben ihm gesagt, wie wir es uns vorstellen, und das deckte sich ziemlich gut mit seinen Vorstellungen. Michael Zorc hatte ihn bereits einen Tag vorher getroffen. Wir wollten uns unabhängig voneinander eine Meinung bilden. Wir sind uns ja häufig einig, aber in diesem Fall waren wir uns sehr schnell einig. Die Chemie stimmte von Anfang an.«

Klopp war damals aber auch an einer anderen Art von Chemie interessiert. Bayer 04 Leverkusen, die Werks-Elf des gleichnamigen Pharmakonzerns, hatte ebenfalls ein Auge auf den Trainer geworfen. Bayer verfügte zwar nicht über das Prestige der Schwarzgelben, hatte dafür aber keine Geldprobleme und besaß einen guten, ausgewogenen Kader, dem die Qualifikation für die Champions League zuzutrauen war. »Kloppo wollte zuerst nicht nach Dortmund, er wollte nach Leverkusen«, erzählt Heidel. »Ich habe ihm gesagt, er muss nach Dortmund, schon wegen der starken Emotionen dort. Er hatte ein Gespräch mit Wolfgang Holzhäuser, dem Sprecher der Geschäftsführung von Bayer. Die konnten sich nicht entscheiden … dann hat sich Dortmund gemeldet. Aber am Anfang war sich Kloppo nicht sicher.«

Auch die Gehaltsfrage zog sich ein wenig in die Länge, ergänzt Heidel schmunzelnd. »Eine lustige Geschichte. Als Dortmund ihm das erste Angebot gemacht hat, hat Kloppo mir gesagt: ›Du, die bieten weniger an, als ich in Mainz hatte.‹ Da habe ich gesagt: ›Keine Sorge, ich helfe dir.‹ Die Dortmunder konnten sich im Traum nicht vorstellen, dass er bei uns so viel verdient. Dann meldet sich der Watzke wieder: ›Was verdient der denn bei euch?‹ Darauf habe ich gesagt: ›Der verdient richtig Geld bei uns, er ist der wichtigste Mann. Eher würde ich bei einem Spieler sparen.‹ Watzke wollte das erst überhaupt nicht glauben. Dann haben sie sein Gehalt aufgestockt.« Klopp unterschrieb am Freitag, dem 23. Mai, morgens im Lennhof-Hotel in Dortmund einen Zweijahresvertrag und wurde um 11 Uhr im Stadion öffentlich vorgestellt.

Die Borussia hatte mehr als nur finanzielle Anreize zu bieten. Mit Josef Schneck beschäftigte sie beispielsweise einen Mediendirektor, mit dem Klopp sehr gut auskam. »Wir haben uns schon im April 2004 bei einer Veranstaltung in Köln kennengelernt«, erzählt Schneck. An diesem Abend wurde Klopp der Fairness-Preis des Verbands Deutscher Sportjournalisten verliehen als Anerkennung für sein sportliches Verhalten während des nervenaufreibenden Schlussspurts und der Nicht-Aufstiege in den beiden vorangegangenen Spielzeiten. Matthias Sammer, der damalige Trainer von Borussia Dortmund, sollte die Laudatio halten. »Wir sind mit Matthias und seiner Frau Karin hingefahren und saßen mit Klopp an einem Tisch. Es war ein sehr netter Abend«, erinnert sich Schneck.

»Ich kannte Jürgen auch von Pressekonferenzen nach den Spielen gegen Mainz«, fährt Schneck fort. »Einmal hat Mainz unter Klopp in Dortmund 1:1 gespielt. Und wie selbstverständlich gehe ich hin und sage ›Herzlichen Glückwunsch‹. Da guckt er mich an und sagt: ›Ja, dir auch.‹ Das war so ein echter Klopp. Und nachdem er hier angekommen war, während seiner ersten Wochen im Verein, hat er einmal scherzhaft zu Michael Zorc gesagt: ›Ich konnte mich lange nicht entscheiden, ob ich hier unterschreiben soll. Aber ihr habt einen anständigen Pressesprecher, da konnte der Verein ja so schlecht nicht sein.‹«

Dazu kam, dass nur wenige Vereine auf solch leidenschaftliche Anhänger zählen konnten. Die berühmte »Gelbe Wand« im Signal Iduna Park, die größte Stehplatztribüne Europas mit 25 000 Plätzen, bringe die Fußballleidenschaft zum Ausdruck, die in ihm brenne, erklärte Klopp den Reportern bei seiner Vorstellung als Trainer. »Wer schon einmal da unten auf dem Platz gespielt hat, der weiß, dass die Gelbe Wand etwas ganz Besonderes ist, mit das Eindrucksvollste, was man im Fußball findet. Es ist für mich eine Ehre, Trainer des BVB zu sein und dem Verein dabei zu helfen, wieder richtig in die Spur zu kommen. Ich habe eine Riesenlust, hier mit der Arbeit anzufangen.« Ob es ein großer Schritt für ihn sei vom Karnevalsverein Mainz 05 zu einem der traditionellen Schwergewichte der Liga, wollte ein Journalist wissen. »Wir sind in Mainz nicht von einer Prunksitzung zur nächsten geschwankt«, antwortete Klopp und lächelte. »Wir haben mit großer Disziplin gearbeitet. Ich habe das Gefühl, dass ich gut vorbereitet bin.«

In der Stadt kursierten Gerüchte, dass einige der Sponsoren, die an der Sanierung des Vereins beteiligt waren, auf einen bekannteren Trainer gehofft hätten, einen großen Namen mit internationaler Zugkraft.

Klopp, der wahrscheinlich über diese Bedenken informiert war, trug bei seiner Vorstellung ein Jackett. Aber keine Krawatte. Still und heimlich habe er in den vergangenen Monaten an der Aufwertung seiner Garderobe gearbeitet, schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Klopps temperamentvolle Ausdrucksweise passte jedoch exakt zu der in dieser Arbeiterregion tief verwurzelten Liebe zum Fußball als ausgelassene Unterhaltung, als identitätsstiftende Kraft und als quasi-religiöses Erlebnis.

»Es geht immer darum, den Zuschauern Spaß zu bereiten, es geht darum, Spiele mit einem unverwechselbaren Stil zu bieten«, bekannte er. »Wenn die Spiele langweilig sind, verlieren sie ihre Berechtigung. Rasenschach hat noch keine meiner Mannschaften gespielt. Ich hoffe, wir kriegen hier die Gelegenheit, öfter richtig Vollgas zu geben. Die Sonne wird nicht jeden Tag scheinen in Dortmund, aber wir haben die Chance, dafür zu sorgen, dass sie öfter scheint.« Fußballreporter Freddie Röckenhaus von der Süddeutschen Zeitung war beeindruckt von diesem forschen Optimismus. Wenn Klopp die Mannschaft so trainiere, wie er rede, dann werde Dortmund bald reif sein für die Champions League, schrieb er. »Klopp hat genau 45 Minuten einer Pressekonferenz gebraucht, um die BVB-Fans mit seinem ansteckenden Funkeln und seiner Schlagfertigkeit im Sturm zu erobern. Wenn man je das Gefühl haben konnte, dass die Mentalität eines Trainers zur fußballverrückten Ruhrpott-Metropole Dortmund passt, dann bei Klopp.«

Die Begeisterung beschränkte sich nicht auf die Anhänger der Borussia. Auf der persönlichen Homepage von Klopp bekundete ein Besucher seine Zustimmung. »Es ist toll, dass Sie zum BVB kommen«, schrieb er. »Dieser Klub ist zwar gar nicht mein Verein, aber ich besitze viele seiner Aktien. Da ich großes Vertrauen in Sie und Ihre Fähigkeiten habe, freue ich mich schon darauf, bald mehr Geld in der Tasche zu haben.« Das Vertrauen des anonymen Anlegers sollte sich als berechtigt erweisen. Dortmunds Aktienkurs stieg um 132 Prozent: von 1,59 Euro am 23. Mai 2008 auf 3,70 Euro am Tag von Klopps Abschied, sieben Jahre später.