Die Hauptmannstochter

Inhaltsverzeichnis


Mein Vater, Andrej Petrowitsch Grinew, diente in seiner Jugend unter dem Grafen Münnich und nahm später im Jahre 17 .. als Major seinen Abschied. Er lebte auf seinem Dorf im Ssimbirskschen und heiratete Fräulein Awdotja Wassiljewna J., die Tochter eines Edelmannes aus der Gegend. Neun Kinder entsprossen der Ehe. Meine Brüder und Schwestern starben alle in früher Kindheit. Durch die Vermittlung eines nahen Verwandten, des Gardemajors Fürst B., wurde ich Sergeant des Ssemjonowschen Regiments. Dort war ich beurlaubt bis zum Abschluß meiner Erziehung. Damals wurden wir nicht auf die heutige Art erzogen. Als ich fünf Jahre alt war, kam ich unter die Obhut des früheren Reitknechts Ssaweljitsch, der wegen seines ordentlichen Betragens zu meinem Wärter ernannt worden war. Unter seiner Aufsicht gelang es mir bereits mit zwölf Jahren, meine Muttersprache zu lesen, und ich wußte die Eigenschaften von Jagdhunden genau zu beurteilen. Damals engagierte mein Vater einen Franzosen für mich, Monsieur Beaupré, der aus Moskau gleichzeitig mit dem Jahresbedarf an Wein und Provenceöl ankam. Sein Erscheinen war Ssaweljitsch ganz und gar nicht recht.

»Weiß Gott«, knurrte er, »das Kind ist gewaschen und gekämmt und wohl auch satt. Muß man da noch Geld verschwenden und so einen Musjö anstellen, als hätte man keine eigenen Leute mehr!«

Beaupré war in seinem Vaterlande Friseur gewesen, darauf Soldat in Preußen und dann nach Rußland gekommen. Er war ein guter Kerl, gleichzeitig aber leichtsinnig und im höchsten Grade liederlich. Leidenschaft für das schöne Geschlecht war seine Hauptschwäche, jedoch brachten ihm seine Zärtlichkeiten nicht selten Rippenstöße ein, die er dann tagelang beklagte. Er war zudem (wie er selbst sagte) durchaus kein Feind des Fläschchens, das heißt, um es deutlich zu sagen, er liebte es, einen hinter die Binde zu gießen. Da jedoch in unserem Hause Wein nur bei Tisch getrunken wurde, und auch dann nur höchstens ein Glas, wobei der Lehrer sogar meistens übergangen wurde, so blieb Beaupré nichts anderes übrig, als sich mit großer Schnelligkeit an die russischen Liköre zu gewöhnen, ja er zog sie mit der Zeit sogar den Weinen seines Vaterlandes vor und meinte, sie seien viel verträglicher für den Magen. Wir schlossen bald Freundschaft, und war er auch nach seinem Kontrakt verpflichtet, mir Französisch, Deutsch und sämtliche Wissenschaften beizubringen, so zog er doch bei weitem vor, in aller Eile von mir ein wenig Russisch zu lernen, worauf ein jeder von uns beiden seine Wege ging. Und so lebten wir denn wie ein Herz und eine Seele. Einen besseren Lehrer wünschte ich mir gar nicht. Allein schon bald trennte uns das Schicksal voneinander, und das kam so:

Palaschka, die Wäscherin, ein dickes, pockennarbiges Mädchen, und die einäugige Akuljka, die Kuhmagd, waren miteinander übereingekommen und warfen sich gleichzeitig meiner Mutter zu Füßen, bekannten ihre sündige Schwäche und klagten weinend den Musjö an, der sie in ihrer Unerfahrenheit betört habe. Die Mutter verstand in solchen Dingen keinen Spaß und gab die Klage meinem Vater weiter. Und der machte kurzen Prozeß. Augenblicks befahl er, die Kanaille von Franzosen zu rufen. Man berichtete ihm, daß der Musjö mir gerade eine Stunde gebe. Und so kam der Vater denn in mein Zimmer. Aber Beaupré schlief um diese Zeit auf meinem Bett den Schlaf des Gerechten. Ich dagegen war sehr beschäftigt. Man hatte aus Moskau für mich eine Geographiekarte bestellt. Sie hing an der Wand, ohne daß jemand sie benutzte, aber schon lange hatte mich ihre Breite und das schöne, starke Papier entzückt. Ich war entschlossen, einen Drachen aus ihr zu machen, und da Beaupré schlief, ging ich ans Werk. Doch in dem Augenblick, als ich gerade einen Bastschwanz an das Vorgebirge der Guten Hoffnung knüpfte, trat mein Vater ein. Er sah meine Bemühungen in der Geographie, und schon hatte er mich am Ohr, dann aber ging er auf Beaupré los, weckte ihn äußerst unsanft und überschüttete ihn mit Vorwürfen. Beaupré wollte sich zwar trotz seiner Bestürzung erheben, aber es ging nicht: der arme Franzose war auf den Tod betrunken. Ihm war nicht mehr zu helfen. Am Kragen zerrte ihn mein Vater hoch und aus dem Bett und warf ihn zur Tür hinaus, und noch am selben Tage wurde er Knall und Fall entlassen, zu Ssaweljitschs unsagbarer Freude. Damit war meine Erziehungsperiode abgeschlossen.

Fortan lebte ich das Leben eines Landjunkers, der den Tauben nachstellte und mit den Jungen des Gutsgesindes spielte. So erreichte ich mein sechzehntes Jahr. Aber da änderte sich mein Schicksal.

Einst – es war im Herbst – machte die Mutter im Gastzimmer Obst mit Honig ein, ich aber beobachtete, die Lippen leckend, inzwischen den brodelnden Schaum. Der Vater las am Fenster den »Hofkalender«, den er jedes Jahr zugestellt bekam. Die Lektüre dieses Buches machte immer einen starken Eindruck auf ihn: niemals brachte er es fertig, es ohne persönliche Anteilnahme zu lesen, und noch ein jedesmal rief diese Lektüre in ihm eine erstaunliche Erregung der Galle hervor. Die Mutter, die alle seine Gewohnheiten und Launen natürlich aufs beste kannte, war immer darauf aus, das unglückselige Buch so weit wie möglich zu verstecken, und so geschah es, daß manchmal der »Hofkalender« ihm monatelang nicht unter die Augen kam. Fand er ihn aber dann zufällig irgendwo, dann konnte es geschehen, daß er ihn stundenlang nicht mehr aus den Händen ließ. Und so las denn auch dieses Mal mein Vater den »Hofkalender« und zuckte manchmal mit den Achseln und brummte hie und da halblaut: »Generalleutnant! … Der war doch in meiner Kompanie Sergeant! … Beider russischen Orden Ritter! … Und ist’s denn so lange her, daß wir …?« Schließlich flog der Kalender aufs Sofa, mein Vater versank in Nachdenklichkeit, die uns nichts Gutes verhieß.

Plötzlich wandte er sich zur Mutter: »Awdotja Wassiljewna, wie alt mag wohl unser Petruscha jetzt sein?«

»Je nun, er steht jetzt im siebzehnten Jährchen«, entgegnete die Mutter. »Petruscha wurde im gleichen Jahre geboren, als die Tante Nastasja Gerassimowna ihr eines Auge verlor, und damals war auch …«

»Schon gut«, unterbrach sie der Vater, »dann ist es auch an der Zeit für ihn, Soldat zu werden. Er ist genug zu den Mägdekammern geschlichen und in die Taubenschläge gekrochen.«

Die Mutter geriet durch den Gedanken an die baldige Trennung in eine solche Bestürzung, daß sie den Löffel, mit dem sie rührte, in den Topf fallen ließ, während sie weinte. Mein Entzücken war dagegen schwer zu beschreiben. Der Gedanke an den Militärdienst verschmolz in mir mit Gedanken an die kommende Ungebundenheit und an die Vergnügungen des Lebens in Petersburg. Ich sah mich schon als Gardeoffizier, und das war meiner Ansicht nach die Höhe menschlicher Glückseligkeit.

Mein Vater war nicht geneigt, seine Entschlüsse zu ändern oder ihre Verwirklichung hinauszuschieben. So wurde denn der Tag meiner Abreise festgesetzt. Am Abend vorher teilte uns der Vater mit, er beabsichtige, an meinen zukünftigen Kommandeur durch mich einen Brief gelangen zu lassen, und forderte Feder und Papier.

»Vergiß nicht, Andrej Petrowitsch«, sagte die Mutter, »den Fürsten B. auch von mir zu grüßen, ich hoffe sehr, daß er Petruscha seine Gnade nicht entziehen wird.«

»Unsinn!« entgegnete der Vater und runzelte die Stirne. »Wie komme ich dazu, an den Fürsten B. zu schreiben?«

»Sagtest du nicht, du wolltest an Petruschas Kommandeur schreiben?«

»Und?«

»Und Petruschas Kommandeur ist doch der Fürst B. Du weißt ja, daß Petruscha dem Ssemjonowschen Regiment zugezählt worden ist.«

»Zugezählt! Was will das schon heißen, daß er dort zugezählt ist? Nach Petersburg kommt mir Petruscha nicht. Was kann er lernen, wenn er in Petersburg dient? Prassen und dummes Zeug treiben? Nein, in der Armee soll er mir dienen und den Gurt enger ziehen, Pulver riechen und ein ordentlicher Soldat werden und kein Gardelaffe! Wo hast du seinen Paß? Gib ihn her.«

Und so mußte denn Mütterchen meinen Paß hervorholen, den sie in ihrer Schatulle mit dem Hemdchen, in dem ich getauft worden war, aufbewahrte; mit zitternder Hand übergab sie ihn dem Vater. Dieser las ihn aufmerksam durch, legte ihn sorgfältig vor sich auf den Tisch und begann seinen Brief.

Neugier peinigte mich. Wohin, wenn es schon nicht nach Petersburg ging, sollte ich geschickt werden? Ich beobachtete gespannt des Vaters Feder, obwohl sie sich mit großer Langsamkeit bewegte. Endlich war er fertig, steckte den Brief samt dem Paß in einen Umschlag und versiegelte diesen, legte darauf die Brille ab, rief mich heran und sagte: »Hier hast du einen Brief an Andrej Kirillowitsch R., meinen alten Kameraden und Freund. Deine Reise geht nach Orenburg, wo du unter seinem Kommando dienen wirst.« Meine schönen Hoffnungen, so waren sie denn nun alle dahin! Mich erwartete an Stelle des heiteren Petersburger Lebens die Langeweile einer öden und abgelegenen Gegend. Der Dienst, den ich mir noch vor einem Augenblick mit solchem Entzücken ausgemalt hatte, kam mir jetzt wie ein bitteres Unglück vor. Aber da half kein Widerstreben! Bereits am nächsten Morgen fuhr der Reisewagen vor unserer Freitreppe vor; die Kiste mit meinen Habseligkeiten wurde verstaut, ich erhielt ein Reisebesteck mit dem nötigen Teegeschirr, und ebenso mangelte es nicht an verschiedenen Paketen mit Weißbrot und Kuchen, sozusagen den letzten Beweisen mütterlicher Sorgfalt. Die Eltern gaben mir ihren Segen. Und der Vater sagte noch: »Leb denn wohl, Pjotr. Wem du geschworen hast, dem diene mit aller Treue; den Vorgesetzten gehorche; sei nicht zu sehr hinter ihrer Gunst her; dränge dich im Dienst nie vor, aber scheue auch keinen Dienst; und gedenke des Sprichwortes: Wahre das Kleid, derweil es neu ist, die Ehre aber von Jugend auf.« Die Mutter war ganz in Tränen aufgelöst und hieß mich auf meine Gesundheit achtgeben. Ssaweljitsch aber befahl sie, das Kind nicht aus den Augen zu lassen. Darauf mußte ich einen kleinen Pelz anziehen, über den ein schwerer Fuchspelz geworfen wurde. Ich setzte mich neben Ssaweljitsch in den Reisewagen, und während ich bittere Tränen vergoß, begann unsere Reise.

Noch in der gleichen Nacht erreichten wir Ssimbirsk; hier mußte ich einen ganzen Tag zubringen, da Ssaweljitsch den Auftrag hatte, einiges Notwendige einzukaufen. Ich stieg im Gasthaus ab. Schon am frühen Morgen entfernte sich Ssaweljitsch, um seine Besorgungen zu machen. Ich sah aus dem Fenster auf die schmutzige Seitenstraße, bis es mir langweilig wurde, und schlenderte darauf durch die übrigen Zimmer des Gasthauses. Im Raum, in dem das Billard stand, sah ich einen hochgewachsenen Herrn im Schlafrock, er mochte einige fünfunddreißig Jahre alt sein, sein Schnurrbart war lang und schwarz, in der Hand hielt er ein Queue und in den Zähnen die Pfeife. Er spielte mit dem Kellner; wenn dieser gewann, durfte er einen Schnaps trinken, verlor er aber, so mußte er auf allen vieren unter den Billardtisch kriechen. Ich sah ihrem Spiel zu. Je mehr Zeit verging, desto häufiger wurden die Spaziergänge auf allen vieren, und zu guter Letzt blieb der Kellner unter dem Billard liegen. Der Herr sandte ihm einige gesalzene Worte als eine Art Leichenrede nach und wendete sich darauf an mich mit dem Vorschlag, eine Partie zu spielen. Ich lehnte wegen meiner Unkenntnis des Spiels ab. Ihm kam das augenscheinlich sonderbar vor. Er warf mir einen Blick zu, als bemitleide er mich, dennoch aber kamen wir ins Gespräch. Und so erfuhr ich denn, daß er Iwan Iwanowitsch Surin heiße, daß er Rittmeister in einem Husarenregiment sei, daß er sich in Ssimbirsk nur aufhalte, um eine Anzahl von Rekruten in Empfang zu nehmen, und daß er im gleichen Gasthaus wohne. Surin forderte mich auf, mit ihm gemeinsam Mittag zu essen, und zwar nach Soldatenart, was Gott geschickt habe. Ich willigte mit Vergnügen ein. Wir setzten uns zu Tisch. Surin trank viel und veranlaßte auch mich dazu, denn er sagte, ich müsse mich auf diese Weise an den Dienst gewöhnen; er erzählte mir so viel Anekdoten aus dem Armeeleben, daß ich mich vor Lachen kaum mehr halten konnte, – und so waren wir denn nach Tisch natürlich schon die besten Freunde. Er machte mir den Vorschlag, mich zu unterweisen, wie man Billard spielt. »Das ist nämlich«, sagte er, »für jeden von uns unumgänglich notwendig. Wenn man zum Beispiel während des Feldzuges in einen kleinen Ort verschlagen wird, womit soll man sich dort beschäftigen? Man kann doch nicht immer und immer nur Juden hauen. Dann gehst du eben unwillkürlich ins Wirtshaus und spielst Billard; aus diesem Grund muß man es spielen können.« Ich fand das ganz in der Ordnung und machte mich mit großem Eifer daran, es zu lernen. Mit lauter Stimme feuerte Surin mich an, er wunderte sich über meine raschen Fortschritte und schlug mir schon nach einigen Versuchen vor, um Geld zu spielen, um einen Groschen die Partie, nicht etwa des Gewinnes halber, sondern um nicht so für nichts und wieder nichts zu spielen, denn das, sagte er, sei von allen Gewohnheiten die übelste. Auch hiermit erklärte ich mich einverstanden, Surin jedoch ließ Punsch kommen und überredete mich, diesen zu versuchen, wobei er immer wieder sagte, ich müsse mich an den Dienst gewöhnen; und was wäre der Dienst ohne Punsch! Ich tat, was er wollte. Indessen ging unser Spiel weiter. Je häufiger ich aus meinem Glase trank, desto verwegener wurde ich. Meine Bälle flogen jeden Augenblick über den Rand; ich ereiferte mich und schalt den Kellner. Von Stunde zu Stunde erhöhte ich die Einsätze – mit einem Worte, mein Benehmen war das eines Knaben, der zum ersten Male die Freiheit kostet. Die Zeit verstrich inzwischen unmerklich. Surin sah endlich auf die Uhr, warf dann sein Queue hin und kündigte mir an, ich hätte hundert Rubel an ihn verloren. Ich geriet ein wenig in Verlegenheit. Meine Gelder waren bei Ssaweljitsch. Ich begann, mich zu entschuldigen. Aber Surin unterbrach mich: »Ach was! Kein Grund, dich zu beunruhigen. Ich kann warten, inzwischen aber wollen wir zu Arinuschka fahren.«

Was soll man sagen? Diesen Tag beschloß ich genauso liederlich, wie ich ihn begonnen hatte. Zu Abend aßen wir bei Arinuschka. Surin schenkte mir ununterbrochen ein und wiederholte unablässig, ich müsse mich unbedingt an den Dienst gewöhnen. Als wir aufstanden, hatte ich kaum mehr die Kraft, mich auf den Beinen zu halten; um Mitternacht brachte mich Surin ins Gasthaus.

Ssaweljitsch empfing mich auf der Schwelle. Er stöhnte nur, als er die unzweideutigen Anzeichen meines Eifers im Dienste gewahrte. »Ach, junger Herr, was ist bloß mit dir?« sprach er mit weinerlicher Stimme. »Wo hast du dich so vollgeladen? Ach, mein Gott! die Sünde!«

»Schweig, alter Knaster!« entgegnete ich, nicht ohne dabei aufzustoßen, »du bist sicher besoffen; marsch, schlafen … und bring mich zu Bett.«

Als ich am anderen Morgen erwachte, hatte ich Kopfweh und besaß kaum mehr als eine dunkle Erinnerung an die gestrigen Ereignisse. Meine Betrachtungen wurden durch Ssaweljitsch unterbrochen, der mir eine Tasse Tee hereinbrachte. »Früh, Pjotr Andrejewitsch«, hub er an und schüttelte den Kopf, »zu früh fängst du mit dem Leichtsinn an. Und von wem hast du das bloß? Weder dein Väterchen noch dein Großväterchen waren Trinker, wie mir scheint, vom Mütterchen ganz zu schweigen; die hat zeitlebens nichts als höchstens Kwaß zu trinken geruht. Und wer ist an allem schuld? Der verdammte Musjö. Ich weiß noch, wie er immer zu Antipjewna gelaufen kam: ›Madam, sche wu pri, ein Schnäpschen.‹ Da hat man’s nun! Man kann wohl sagen: nichts Gescheites hat er dich gelehrt, der Hundesohn. Notwendig, einen Heiden zum Erzieher zu machen! Als wenn unser Herr keine eigenen Leute gehabt hätte!«

Ich schämte mich. Ich wendete mich ab und sagte nur: »Laß mich jetzt, Ssaweljitsch; ich will keinen Tee.« Aber es war eine unmögliche Sache, Ssaweljitsch zum Schweigen zu bringen, wenn er es sich in den Kopf gesetzt hatte, zu predigen. »Da siehst du nun, Pjotr Andrejewitsch, wie es ist, wenn man über die Schnur haut. Das Köpfchen wird einem schwer, und essen mag man auch nicht. Ein Mensch, der trinkt, taugt zu nichts … Ich würde dir raten, eingemachte Gurken mit Honig zu nehmen, noch besser aber wäre es, ein kleines Gläschen Fruchtlikör gegen den Katzenjammer zu trinken. Soll ich dir’s bringen?« In diesem Augenblick kam ein Knabe und brachte mir ein Billet von I. I. Surin. Ich entfaltete es und las folgende Zeilen:

»Mein bester Pjotr Andrejewitsch, schicke mir bitte durch meinen Burschen die hundert Rubel, die Du gestern an mich verloren hast. Ich benötige das Geld sehr.

Bereit zu Diensten

Iwan Surin

Da war nichts mehr zu machen. Ich nahm eine gleichgültige Miene an und wendete mich zu Ssaweljitsch, der meines Geldes, meiner Wäsche und aller meiner Dinge Sachwalter war, und befahl ihm, dem Knaben hundert Rubel zu geben.

»Wie! und warum?« fragte der bestürzte Ssaweljitsch.

»Ich schulde sie ihm«, antwortete ich mit der größtmöglichen Kaltblütigkeit.

»Du schuldest sie ihm!« entgegnete Ssaweljitsch, dessen Bestürzung mit jedem Augenblick wuchs, »ja, wann denn, junger Herr, konntest du solche Schulden machen? Da stimmt was nicht. Doch wie du willst, Herr, aber das Geld gebe ich nicht heraus.«

Mir schoß durch den Kopf, daß, wenn es mir in dieser entscheidenden Minute nicht gelang, den eigensinnigen Alten kleinzukriegen, es mir in der Zukunft unmöglich sein würde, mich von seiner Vormundschaft zu befreien, und so sagte ich denn, indem ich ihn hochmütig anblickte, nur:

»Ich bin dein Herr, du aber bist mein Diener. Das Geld ist mein. Ich habe es verspielt, weil es mir so gefiel; dir aber rate ich dringend, keine großen Reden zu führen, sondern zu tun, was dir befohlen wird.«

Ssaweljitsch war ganz starr, als er solche Worte von mir zu hören bekam, er schlug die Hände zusammen und stand wie ein Stock da.

»Was stehst du noch!« schrie ich wütend.

Ssaweljitsch brach in Tränen aus.

»Pjotr Andrejewitsch, Väterchen«, sprach er mit bebender Stimme, »laß mich nicht vor Kummer sterben. Licht meiner Augen, hör auf mich alten Mann: schreibe diesem Räuber, es sei alles nur ein Spaß gewesen und überhaupt hätten wir gar nicht so viel Geld bei uns. Einhundert Rubel! Gnädiger Gott! Sag ihm, die Eltern hätten dir auf das allerstrengste verboten zu spielen und wenn, dann nur höchstens um Nüsse …«

»Dummes Zeug«, unterbrach ich ihn streng, »her mit dem Geld oder du fliegst hinaus.«

Mit tiefem Grame blickte Ssaweljitsch mich an und ging, das Geld zu holen. Der arme Alte tat mir leid, aber ich mußte auf meinem Willen bestehen, schon um ihm zu beweisen, daß ich nicht mehr das Kind sei. Surin kam zu seinem Gelde. Ssaweljitsch hingegen beeilte sich, mich so schnell wie möglich aus dem verwünschten Gasthaus fortzuschaffen. Er meldete, daß unsere Pferde bereitständen. Mit einigen Gewissensbissen und stummer Reue ließ ich Ssimbirsk hinter mir, ohne von meinem gestrigen Lehrmeister Abschied zu nehmen, denn ich hoffte, daß ich ihn nie mehr wiedersehen würde.

Die Betrachtungen unterwegs waren nicht sonderlich angenehm. Mein Verlust war, wenn man die damaligen Zeiten, berücksichtigt, nicht unbedeutend. Zudem mußte ich mir innerlich eingestehen, daß mein Benehmen im Ssimbirskschen Gasthause töricht war, und ich fühlte mich Ssaweljitsch gegenüber schuldbewußt. Das bekümmerte mich. Der Alte saß von mir abgewandt düster in einer Ecke und schwieg, und nur hie und da hustete er. Ich wünschte sehr, mich mit ihm zu versöhnen, und wußte doch nicht, wie anfangen. Endlich redete ich ihn an:

»Was soll das, Ssaweljitsch! Laß gut sein, ich bin schuld; ich sehe es ein, daß ich schuld bin. Ich habe gestern dummes Zeug getrieben und dich grundlos gekränkt. Ich verspreche dir, mich in Zukunft zu bessern und dir zu folgen. Aber nun sei auch nicht mehr ärgerlich und laß uns Frieden schließen.«

»Ach, Pjotr Andrejewitsch, Väterchen!« entgegnete er mit einem Seufzer. »Ich bin auf mich selber zornig: ich allein bin es, der an allem schuld ist. Wie durfte ich dich im Gasthaus allein lassen, wie konnt’ ich es nur! Aber was tun? Der Böse hat mich verführt: es kam mir in den Kopf, die Frau Küsterin aufzusuchen, die Gevatterin wiederzusehen. Jammer über Jammer! Wie soll ich in Zukunft meiner Herrschaft unter die Augen treten? Und was wird sie wohl sagen, wenn sie erfährt, daß das Kind trinkt und spielt?«

Um ihn zu trösten, gab ich dem armen Ssaweljitsch mein Wort, weiterhin ohne seine Zustimmung auch nicht über eine Kopeke zu verfügen. Nach und nach beruhigte er sich, obwohl er immer noch zuweilen mit Kopfschütteln vor sich hinknurrte: »Hundert Rubel! Wahrhaftig, keine Kleinigkeit!«

Allmählich näherten wir uns dem Orte meiner Bestimmung. Rings um uns dehnte sich eine traurige Öde, nur zuweilen von Schluchten durchschnitten und von Hügeln unterbrochen. Alles war von tiefem Schnee bedeckt. Die Sonne sank. Der Wagen folgte dem schmalen Wege oder, besser, der Spur, die ein Bauernschlitten zurückgelassen hatte. Plötzlich bemerkten wir, daß der Kutscher immer angestrengter nach einer Richtung ausschaute, schließlich zog er die Mütze und drehte sich zu mir um:

»Herr, befiehlst du nicht, umzukehren?«

»Warum denn?«

»Das Wetter gefällt mir nicht: der Wind bläst; schau, wie dort der Pulverschnee fortgeweht wird.«

»Was kümmert uns das!«

»Und dort, siehst du dort nichts?«

Der Kutscher wies mit der Peitsche nach Osten.

»Ich sehe nichts außer der weißen Steppe und dem klaren Himmel.«

»Aber dort, dort: das Wölkchen da.«

Und in der Tat, jetzt bemerkte ich am Himmelsrande ein kleines weißes Wölkchen, das ich anfangs für einen entfernten Hügel gehalten hatte. Der Kutscher erklärte mir, dieses Wölkchen kündige einen Schneesturm an.

Von den in jener Gegend herrschenden Wirbelstürmen hatte ich manches gehört und wußte auch, daß zuweilen ganze Wagenzüge von ihnen verweht worden waren. Ssaweljitsch war der gleichen Ansicht wie der Kutscher und riet zur Rückkehr. Mir jedoch kam der Wind nicht bedeutend vor: ich hoffte, noch rechtzeitig die nächste Unterkunft zu erreichen, und befahl nur, schneller zu fahren.

Der Kutscher brachte die Pferde in Galopp, starrte aber unentwegt nach Osten. Die Pferde liefen gut. Von Stunde zu Stunde blies der Wind kräftiger. Das Wölkchen wurde zu einer weißen Wolke, die langsam aufstieg, mit jedem Augenblick wuchs und allmählich den ganzen Himmel bedeckte. Ein feiner Schnee fiel, plötzlich aber kam er in dicken Flocken herunter. Der Wind heulte; ein Schneewirbel erhob sich. In einem Augenblick waren der Himmel und das Schneemeer miteinander verschmolzen. Man sah nicht mehr die Hand vor den Augen.

»Herr«, schrie der Kutscher, »das Unglück ist da: das ist der Schneesturm!«

Ich steckte den Kopf hinaus: alles war Nacht und Wirbelsturm. Der Wind heulte mit wütender Kraft. Ssaweljitsch und ich waren sogleich von Schnee bedeckt; die Pferde fielen in Schritt und blieben bald darauf ganz stehen.

»Warum fährst du nicht weiter?« herrschte ich den Kutscher ungeduldig an.

»Wohin fahren?« entgegnete er und kletterte vom Bock, »wir haben uns ohnehin verirrt: wir sind vom Weg abgekommen, und dabei ist es ringsum stockdunkel.«