Über Stefan Aust

Foto: Spiegel-Verlag

Stefan Aust, Gründer von Spiegel TV und langjähriger Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, ist heute Herausgeber der Welt. Zuvor war Aust unter anderem Mitarbeiter des NDR, vor allem für Panorama, und später Mitinhaber des Fernsehsenders N24. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Der Baader Meinhof Komplex, erstmals 1985 erschienen, gilt als »Klassiker« (Frankfurter Allgemeine Zeitung).

Dieses Buch ist keine Anklageschrift und nicht das Plädoyer eines Verteidigers. Es ist auch kein Urteil, weder in juristischer noch in moralischer Hinsicht. Es soll ein Protokoll sein, eine Chronik der Ereignisse vom Juni 1967 bis zum »Deutschen Herbst«DeutscherHerbst 1977, der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin SchleyerSchleyer, Hanns Martin, der Entführung und Befreiung der Passagiere und Besatzungsmitglieder der Lufthansa-Maschine »Landshut«Landshut und den Selbstmorden im Hochsicherheitstrakt von Stammheim.

»Der Baader-Meinhof-Komplex« ist zum ersten Mal 1985 erschienen, acht Jahre nach dem Selbstmord der StammheimStammheim, Strafvollzugsanstalter Gefangenen Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt, Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt und Jan-Carl RaspeRaspe, Jan-Carl ab Seitedurchgängig erwähnt, neun Jahre nachdem sich Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite in ihrer Zelle das Leben genommen hatte. Der blutige »Deutsche HerbstDeutscherHerbst« des Jahres 1977 markierte den Gipfelpunkt eines Weges in die Gewalt, der mit zunächst friedlichen Protesten gegen den Krieg der Amerikaner in VietnamDemonstration:Vietnamkrieg begonnen hatte. Moralische Empörung war erst langsam, dann immer schneller in krasse Unmoral umgeschlagen.

Seit 1967 habe ich, zunächst bei der Zeitschrift »konkret«,konkret dann als Mitarbeiter des Magazins »Panorama«Panorama NDR-Magazin 73 beim NDR, die Entwicklung vom Protest über den Widerstand zum TerrorismusTerrorismus verfolgt. Dabei begegnete ich vielen, die zur Zeit der Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition (APO) auf die Straße gegangen waren und später in den Untergrund abtauchten. Einige traf ich bei den Recherchen zu diesem Buch wieder, manche von ihnen saßen im Gefängnis, andere waren nach vielen Jahren Haft wieder in Freiheit. Ich führte Interviews, sammelte und sichtete bis 2017 gut hundert laufende Meter Aktenordner und versuchte, daraus die Geschichte der »Baader-Meinhof-GruppeBaader-Meinhof-Gruppe«, die sich später »Rote Armee Fraktion« nannte, zu rekonstruieren. Vom Prozess in Stammheim gibt es außerdem Wortprotokolle, 15000 Seiten, insgesamt gut 30 Aktenordner.

Kontakt hatte ich unter anderen zu: Rudi DutschkeDutschke, Rudi, Daniel Cohn-BenditCohn-Bendit, Daniel, Peter SchneiderSchneider, Peter, Peter HomannHomann, Peter, Otto SchilySchily, Otto, Christian StröbeleStröbele, Christian, Kurt GroenewoldGroenewold, Kurt, Horst MahlerMahler, Horst, Hans-Jürgen BäckerBäcker, Hans-Jürgen, Peter-Jürgen BoockBoock, Peter-Jürgen, Jan-Carl RaspeRaspe, Jan-Carl%, Astrid ProllProll, Astrid, Klaus JünschkeJünschke, Klaus, Gerhard MüllerMüller, Gerhard, Hans-Joachim KleinKlein, Hans-Joachim, Rainer LanghansLanghans, Rainer, Bommi BaumannBaumann, Bommi, Till MeyerMeyer, Till, Black Panther Eldridge CleaverCleaver, Eldridge, Black Panther, Weatherman Mark RuddRudd, Mark, Weatherman, Ex-Bürgermeister und Pfarrer Heinrich AlbertzAlbertz, Heinrich, Ex-Bürgermeister und Pfarrer, BKA-Präsident Horst HeroldHerold, Horst, BKA-Präsident, BKA-»Familienbulle« Alfred KlausKlaus, Alfred, BKA-Familienbulle, Horst BubeckBubeck, Horst, GSG-9-Chef Ulrich WegenerWegener, Ulrich, GSG-9 Chef, »Landshut«-Stewardess Gabriele DillmannDillmann, Gabriele später von Lutzau, Landshut-Stewardess (später von Lutzau), »Landshut«-Copilot Jürgen VietorVietor, Jürgen, Landshut-Copilot, Hans-Jürgen WischnewskiWischnewski, Hans-Jürgen, Helmut SchmidtSchmidt, Helmut, Hanns Martin SchleyerSchleyer, Hanns Martin …

Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt bin ich niemals begegnet. Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt auch nicht – aber das war haarscharf.

Ich habe das Buch damals wie heute nicht als die quasi in Stein gemeißelte Geschichte der RAFRAF betrachtet, sondern als den Stand meiner Recherchen. Wann immer etwas Neues auftauchte, habe ich es in die verschiedenen Ausgaben des Buches aufgenommen oder auch Details korrigiert.

 

Inzwischen sind vierzig Jahre vergangen, und die Ereignisse von damals lassen sich noch genauer beschreiben, als es bis etwa 1990 möglich war. Mit dem Fall der Mauer war den bundesdeutschen Fahndern eine Gruppe von RAFRAF RotenArmeeFraktion-Aussteigern in die Hände gefallen, die bis dahin unerkannt in der DDR gelebt hatten. Eine spezielle Einheit des Ministeriums für StaatssicherheitMinisterium für Staatssicherheit der DDR hatte die im Westen als Terroristen steckbrieflich gesuchten RAF-Mitglieder mit gefälschten Identitäten in die realsozialistische Gesellschaft integriert. Auch einige damals noch aktive Gruppenmitglieder hatte die Stasi phasenweise in der DDR betreut und anschließend wieder in ihr westdeutsches »Operationsgebiet« ausreisen lassen. Das

Mit Hilfe von MfS-Akten ließen sich eine ganze Reihe zuvor ungeklärter Hintergründe ausleuchten, denn die RAF-Mitglieder hatten gegenüber den Genossen vom Ministerium für StaatssicherheitMinisterium für Staatssicherheit einiges offenbart, was den bundesdeutschen Ermittlern entgangen war. Zudem begannen die resozialisierten DDR-Neubürger in bundesdeutscher Haft überwiegend zügig auszusagen. Einige von ihnen gehörten zu den Entführern Hanns Martin Schleyer, Hanns MartinSchleyers. Ihre Geständnisse wiederum bewegten einen der Haupttäter zu einer Neuaussage. Peter-Jürgen BoockBoock, Peter-Jürgen, wegen seiner Beteiligung an der Schleyer-Entführung ohnehin zu einer lebenslangen Strafe verurteilt, legte gegenüber der Bundesanwaltschaft so etwas wie eine »Lebensbeichte« ab.

Unter Nutzung der Stasi-Unterlagen und sehr ausführlicher Interviews mit Beteiligten habe ich 1997 die Ursprungsfassung dieses Buches ergänzt. Vor allem Peter-Jürgen BoockBoock, Peter-Jürgen schilderte damals detailliert die Vorbereitungen der Schleyer-EntführungSchleyer-Entführung, die Tat selbst, die Unterbringung des Entführten in verschiedenen VersteckenStammheimer Hochsicherheitstrakt:Verstecke in den Zellen, die Flucht der Hauptgruppe der Entführer nach Bagdad und schließlich die Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten. Die Aussagen Boocks deckten sich im Wesentlichen mit den Ermittlungsergebnissen und den Aussagen anderer Gruppenmitglieder sowie der einzig überlebenden »Landshut«Landshut-EntführerLandshut-Entführerin, die fast zwanzig Jahre nach der Tat in Deutschland vor Gericht gestellt wurde.

All diese Materialien habe ich 1997 als zusätzliche Passagen und Kapitel in das Buch eingearbeitet, andere Teile des ursprünglichen Textes wurden revidiert und ausgebaut. Dann, dreißig Jahre nach dem »Deutschen Herbst«DeutscherHerbst, habe ich mir das Buch noch einmal vorgenommen und mit neuen Rechercheergebnissen angereichert. Neu vor allem waren zahlreiche Indizien für geheimdienstliche Aktivitäten rund um den Hochsicherheitstrakt in Stammheim. Die schon in der Ursprungsausgabe geäußerten Vermutungen, dass die Gefangenen in ihren Zellen abgehörtStammheim-Gefangene:abgehörte worden sind, haben sich dadurch weiter verdichtet.

 

Meine Sicht auf die GeschichteRAF:Geschichte der RAF und die Reaktion des Staates auf die Gruppe hat sich im Laufe der Zeit im Lichte der neueren Erkenntnisse nicht wesentlich verändert – außer vielleicht in zwei Punkten: Wie genau man innerhalb der RAF über die Tatsache des SelbstmordStammheimer Gefangene:abgesprochener kollektiver Selbstmordes der Gefangenen in Stammheim Bescheid wusste und wie systematisch man die Mordlegende gestrickt hat. Und: Welch ein ungeheures Versagen des staatlichen Fahndungsapparates dazu geführt hat, dass SchleyerSchleyer, Hanns Martin nicht befreit wurde, obwohl es schon weniger als 48 Stunden nach der Entführung einen konkreten Hinweis auf sein VersteckStammheimer Hochsicherheitstrakt:Verstecke in den Zellen gab.

 

Einige Fragen bleiben bis heute ungeklärt. So etwa die Hintergründe mancher Geheimdienstspuren, die sich durch die Geschichte ziehen. Oder der dringende Verdacht, dass die Gefangenen in Stammheim auch während der Schleyer-EntführungSchleyer-Entführung in ihren Zellen abgehörtStammheim-Gefangene:abgehörte wurden – und dass es womöglich einen Tonbandmitschnitt ihrer letzten Nacht gibt – oder zumindest gab; auch dazu findet man in dieser Ausgabe des Buches neue Erkenntnisse.

 

Der Schilderung vergangener Ereignisse sind Grenzen gesetzt, das habe ich beim Schreiben der ersten Version des Buches genauso gespürt wie jetzt bei der Aktualisierung und Ergänzung. Zum einen ist nicht jeder bereit, Auskunft zu geben. Zum anderen sind auch Augenzeugenberichte immer subjektiv gefärbt. Ich habe damals und heute versucht, aus den verschiedenen Aussagen herauszufiltern, was sich tatsächlich abgespielt hat. Gab es einander krass widersprechende Versionen, so habe ich diese gegenübergestellt. Soweit es möglich war, habe ich im Fluss der Erzählung deutlich gemacht, auf welche Quellen ich mich stütze. Eine ganze Reihe von Informanten haben aber darum gebeten, anonym zu bleiben.

In dieser, der vierten, Ausgabe des Buches habe ich einige Vorgänge detaillierter geschildert als in den vorherigen Versionen, vor allem habe ich meine eigene Rolle als »teilnehmender Beobachter« immer dann genauer beschrieben, wenn ich unmittelbar mit den Ereignissen zu tun hatte.

Was die Geschichte nach wie vor so faszinierend macht, ist, dass in dieser Gruppe die politischen und gesellschaftlichen Strömungen der Zeit zusammenliefen: die revolutionären Bewegungen der Dritten Welt, der Protest gegen den VietnamkriegVietnamkrieg, gegen Imperialismus und Kolonialismus, die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, die Rolle des Konfliktes zwischen Israel und den Palästinensern, die Kritik am Kapitalismus, die Frage der Gewalt, die Auseinandersetzung oder Kooperation mit dem real existierenden Sozialismus, die Rolle der Geheimdienste und des zum Teil von ihnen genutzten oder unterstützten Terrors im eiskalten Krieg Kalter Kriegzwischen den Machtblöcken.

Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite steht von allen Gruppenmitgliedern am ehesten für die Sehnsüchte und Ziele der linken Außerparlamentarischen OppositionAPO der sechziger Jahre – und deren Abgleiten in politische Sekten oder TerrorismusTerrorismus. Diese Geschichte ist auch ihre persönliche Tragödie.

 

Hamburg, im Juli 2017

Stefan Aust

Wege in den Untergrund

Tod in Stammheim

»00.38 Uhr. Hier ist der Deutschlandfunk mit einer wichtigen Nachricht. Die von Terroristen in einer LufthansaLandshut-Boeing entführten 86 GeiselGeiseln sind alle glücklich befreit worden. Dies bestätigt ein Sprecher des Bundesinnenministeriums soeben in Bonn. Ein Spezialkommando des Bundesgrenzschutzes hatte um 00.00 Uhr die Aktion auf dem Flughafen von Mogadischu gestartet. Nach den ersten Informationen sollen drei Terroristen getötet worden sein.«

Zwei Minuten später wiederholte das gemeinsame Nachtprogramm der ARD die Meldung im Wortlaut. Es war Dienstag, der 18. Oktober 1977. Im siebten Stock der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-StammheimStammheim, Strafvollzugsanstalt wachte einsam der Justizassistent Hans Rudolf SpringerSpringer, Hans Rudolf über die Gefangenen Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt, Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt, Jan-Carl RaspeRaspe, Jan-Carl ab Seite durchgängig erwähnt und Irmgard MöllerMöller, Irmgard. Er saß in der Wachkabine, getrennt von den Gefangenen durch Wände, Gitter und Türen. Über Fernsehmonitore konnte er den großen Flur vor den Zellen beobachten. Nichts regte sich.

Die Meldung, eingestreut in das nächtliche Musikprogramm, riss Springer vom Stuhl. Er ging in den hinteren Flügel des Zellentrakts und stellte sich vor das Gitter zum Flur. Alles war still. Springer ging zurück in seinen Wachraum und starrte weiter auf die Monitore.

Um 6.30 Uhr wurde der Justizassistent von einem Kollegen abgelöst. Langsam erwachte die Anstalt.

 

Um 7.15 Uhr traten die Vollzugsbediensteten MiesterfeldMiesterfeld, Klaus, StapfStapf, Willi, StollStoll, Willy Peter, GriesingerGriesinger, Horst und HermannHermann, Ernst ihren Dienst an. Hauptsekretär KlausKlaus, Alfred Miesterfeld holte bei der Vollzugsdienstleitung die Zellenschlüssel ab und quittierte mit seiner Unterschrift. Dann schaltete er die Alarmanlage aus. Er öffnete die Gittertür zum Zellenflur und zog die Jalousien vor dem Fenster am hinteren Zellenflur auf.

MiesterfeldMiesterfeld, Klaus öffnete die Sicherheitsschlösser aller vier Zellen. Um 7.41 Uhr schloss Obersekretär StollStoll, Willy Peter die Tür zur Nummer 716 auf. Neben ihm stand der Hauptsekretär Willi StapfStapf, Willi. Die beiden Beamten hatten den Frühstückswagen mit Kaffee, Graubrot und einem gekochten Ei in den Trakt geschoben. Ihnen war seltsam zumute. Der Gefangene RaspeRaspe, Jan-Carl ab Seite durchgängig erwähnt stand nicht, wie sonst, an der Tür. Ihre Kollegen, unter ihnen die Vollzugsbeamtin Renate FredeFrede, Renate, die während der Nacht im siebten Stock Bereitschaftsdienst gehabt hatte, standen einige Schritte entfernt.

StollStoll, Willy Peter warf einen Blick in die Zelle und drehte sich abrupt um: »Komm einmal her. Schau mal, da ist was los!«

Die Beamten drängten sich in die Türöffnung. Das Bett Raspes stand wie gewöhnlich quer zum Eingang. Es reichte fast von einer Zellenwand zur anderen. RaspeRaspe, Jan-Carl ab Seite durchgängig erwähnt saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Bett. Mit dem Rücken lehnte er an der Treppenhauswand. Sein Kopf war leicht nach rechts gedreht und hing nach unten. Von der linken Schädelseite rann Blut. An der Wand hinter Raspes

»Mach sofort wieder zu!«, ordnete Hauptsekretär MiesterfeldMiesterfeld, Klaus an. Keiner der Justizbeamten hatte die Zelle betreten. StollStoll, Willy Peter schloss die Tür und verständigte den stellvertretenden Vollzugsdienstleiter Horst BubeckBubeck, Horst. Miesterfeld rief das Krankenrevier an.

Die Beamten sprachen leise, damit die Gefangenen in den übrigen Zellen nichts von den Geschehnissen mitbekamen. Kaum drei Minuten später betraten zwei Sanitäter in Begleitung von Amtsinspektor Erich GötzGötz, Erich und Hauptsekretär HeinzHeinz, Werner MünzingMünzing, Heinz den Zellentrakt. Die Tür wurde wieder aufgeschlossen, und die Beamten gingen in Raspes Zelle. »Da liegt eine PistoleStammheimer Waffen!«, rief einer der Beamten.

»Der lebt ja noch«, entfuhr es GötzGötz, Erich. »Vorsichtshalber nehme ich die Pistole weg.« Mit seinem Taschentuch ergriff er die Waffe vorn am Lauf und zog sie an sich. MiesterfeldMiesterfeld, Klaus holte ein Geschirrtuch und wickelte die Pistole ein. Götz steckte sein Taschentuch weg. Es klebte kein Blut daran.

Später waren sich die Beamten nicht einig, wo die Pistole tatsächlich gelegen hatte. Einer der Sanitäter meinte, sie habe sich auf Raspes geöffneter Hand befunden. Amtsinspektor GötzGötz, Erich erinnerte sich dagegen, er habe sie unter der geschlossenen Hand weggezogen. Verwertbare Fingerabdrücke waren nachher nicht mehr festzustellen.

RaspeRaspe, Jan-Carl ab Seite durchgängig erwähnt blutete aus Mund, Ohren und Nase. Er hatte an beiden Augen Blutergüsse, groß wie eine Kinderfaust. Die Sanitäter konnten auf den ersten Blick keine Schussverletzung feststellen. Ohne Raspes Lage zu verändern, alarmierten sie den Notarztwagen.

Gegen 8.00 Uhr traf der Unfallwagen des Roten Kreuzes ein. Zwei Sanitäter hängten RaspeRaspe, Jan-Carl ab Seite durchgängig erwähnt an den Tropf und legten ihn auf eine Trage. Wenig später kam auch der Notarzt. Unter Begleitung von zwei Justizbeamten wurde Raspe zum Katharinenhospital gebracht. Zwei Polizeifahrzeuge fuhren vorweg und machten die Straße frei.

Im Operationssaal war alles vorbereitet. RaspeRaspe, Jan-Carl ab Seite durchgängig erwähnt wurde geröntgt und ärztlich versorgt. Aber alle Hilfe war vergebens. Jan-Carl Raspe starb um 9.40 Uhr.

Auf Anweisung eines inzwischen eingetroffenen Mitglieds der Anstaltsleitung wurde die Tür zu Baaders Zelle wieder verschlossen.

Da bei Baader in Zelle 719 nichts mehr zu retten war, hasteten die Beamten zur gegenüberliegenden Zelle 720. Wieder betrat der Sanitäter als Erster den abgedunkelten Raum. Links vom Eingang stand eine Art spanische Wand, hinter der Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt ihr Matratzenlager hatte. SoukopSoukop, Adolf tastete sich im Halbdunkel an der

 

Inzwischen eilten die Beamten weiter zur Zelle 725. Irmgard MöllerMöller, Irmgard, in Jeans und T-Shirt, lag zusammengekrümmt auf der Matratze, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Der Sanitäter fasste sie an der rechten Schulter, drehte sie auf den Rücken und zog die Decke weg. Irmgard Möller stöhnte. Adolf Soukop spürte Blut an seinen Händen. Er vermutete, sie hätte sich die Pulsadern aufgeschnitten, und untersuchte ihre Handgelenke. Als er keine Verletzungen finden konnte, schob er das schwarzblaue T-Shirt der Gefangenen hoch und sah, dass sie in der Herzgegend mehrere Stichverletzungen hatte. Er fühlte den Puls und stellte achtzig Schläge pro Minute fest. Dann versuchte er, ihr in die Pupillen zu sehen, aber Irmgard Möller kniff die Augen zusammen. Unterdessen betrat der Anstaltsarzt Dr. MajerowiczMajerowicz, Wolf die Zelle und untersuchte die Verletzte. Er kam zu dem Ergebnis, dass lebensgefährliche Stichwunden nicht vorlagen. Nach seinem Eindruck war Irmgard Möller bei vollem Bewusstsein. Er gab ihr eine Spritze mit einem Herz-Kreislauf-Mittel und deckte die Wunden ab.

Inzwischen war der zweite Notarztwagen eingetroffen. Irmgard MöllerMöller, Irmgard wurde in das Robert-Bosch-Krankenhaus gebracht. Rechts von der Matratze in Irmgard Möllers Zelle lag ein blutverschmiertes Anstaltsmesser auf dem Fußboden; ein normales, oben abgerundetes Besteckmesser mit Wellenschliff.

In der Abteilung für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie der chirurgischen Universitätsklinik stellten die Ärzte fest, dass Irmgard MöllerMöller, Irmgard vier eineinhalb bis zwei Zentimeter tiefe Stiche im unteren Viertel der linken Brust hatte. Bei der Operation zeigte sich, dass das Gewebe vor dem Herzbeutel blutig durchtränkt, der Herzbeutel selbst aber nicht verletzt war.

Die Befreiung

Am 14. Mai 1970 versah der Hauptwachtmeister Günter WetterWetter, Günter den Aufsichtsdienst im Verwahrhaus I der Strafanstalt Tegel in Berlin. Bei der Dienstbesprechung um 6.30 Uhr ordnete sein Vorgesetzter an, den Strafgefangenen Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt zum »Deutschen Zentralinstitut für soziale FragenInstitut für soziale Fragen« in der Dahlemer Miquelstraße auszuführen. Dort sollte Baader die Journalistin Ulrike Marie Meinhof treffen, um gemeinsam mit ihr Unterlagen einzusehen. Baader und Meinhof wollten ein Buch über die Organisation »randständiger Jugendlicher« schreiben.

Oberwachtmeister Karl-Heinz WegenerWegener, Karl-Heinz sollte WetterWetter, Günter begleiten. Vor der Ausführung musste sich Wetter noch zu einem kurzen Gespräch bei seinem Chef einfinden. Ihm blieb noch etwas Zeit, und er holte sich die Gefangenenakte Baaders. Auf einem Zettel notierte er sich das Geburtsdatum, 6. Mai 1943, die Straftat, »menschengefährdende Brandstiftung«, und das voraussichtliche Strafende, Anfang 1972. Dazu die Personendaten Baaders: »Größe 176 Zentimeter, schlank, Kopf oval, hohe Stirn, vorspringendes Kinn, Haar braun, Ohrläppchen frei hängend, Zähne lückenhaft.«

Dann nahm er ein Passfoto von Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt aus der Akte, wie es bei einer Ausführung vorgeschrieben war. Er holte sich vom Anstaltsleiter Wilhelm GlaubrechtGlaubrecht, Wilhelm die Ausführungsgenehmigung, in der die Einzelheiten festgelegt waren. Der Gefangene sollte Zivil tragen, die Beamten Uniform und Schusswaffen. Handfesseln sollten ebenfalls mitgenommen, aber nur bei Bedarf angelegt werden.

Baader wurde belehrt, wie er sich zu verhalten habe. »Es besteht keine Gefahr«, versicherte Baader. »Ich denke nicht daran abzuhauen. Schließlich habe ich einen Buchvertrag mit einem Verleger. Dafür bekomme ich eine ganze Menge Geld. Und das kann ich dringend brauchen.« WetterWetter, Günter wusste von dem Buchvertrag, dennoch wies er Baader vorschriftsmäßig darauf hin, dass die Beamten bei einem Fluchtversuch von der Schusswaffe Gebrauch machen würden.

Bis zum Eintreffen des Transportwagens wurde Baader in einer Zelle des Pfortengebäudes eingeschlossen. Die Beamten holten ihre

Dort saß Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite bereits über Karteikästen. WetterWetter, Günter untersuchte eine zweite Tür und stellte fest, dass sie verschlossen war. Dann machte er die Fenster zu. Nachdem der Raum so gesichert war, nahm er Baader die Handfessel ab, um ihm die Schreibarbeiten zu ermöglichen. Baader bat um eine Tasse Kaffee, und ein Institutsangestellter servierte umgehend Pulverkaffee und heißes Wasser. Ulrike Meinhof erkundigte sich bei den Justizbeamten, ob sie verheiratet seien und Kinder hätten. »Ja«, antworteten sie, »Frau und Kinder.« Sie waren erstaunt über diese Frage und wunderten sich besonders darüber, dass die Journalistin von der Antwort irritiert schien. Ulrike Meinhof verließ einige Male den Raum, um neues Material zu holen. Dann setzte sie sich neben Baader und redete leise mit ihm.

Es klingelte an der Außentür. Der Institutsangestellte Georg LinkeLinke, Georg öffnete. Vor ihm standen zwei junge Frauen, die schon am Tag zuvor im Institut gewesen waren. Sie wollten direkt an Linke vorbei in den Lesesaal, aber der stellte sich ihnen in den Weg und verwies sie an die Bibliothekarin. »Ich hatte Sie doch gestern gebeten, erst am Nachmittag zu kommen«, sagte sie, »der Lesesaal ist besetzt.« Daraufhin nahmen die beiden Frauen an einem runden Tisch in der Eingangshalle Platz. Linke kehrte in sein Arbeitszimmer zurück.

Die Beamten im Lesesaal hatten den Eindruck, Baader und Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite würden intensiv arbeiten. Beide rauchten eine Zigarette nach der anderen. Um den verqualmten Raum zu lüften, öffnete

Unmittelbar darauf wurde die Haustür aufgestoßen. Ein Mann mit einer grünen, grob gestrickten Kopfmaske, die nur die Augen freiließ, stürmte in die Eingangshalle. Ihm folgte eine ebenfalls vermummte Frau.

»Los, schnell in den Saal«, rief der Mann den beiden jungen Frauen zu. Linke versuchte, den Maskierten aufzuhalten, obwohl er zwei Pistolen in dessen Händen sah. Da fiel ein Schuss. Der maskierte Mann hatte mit der Gaspistole, die er in der einen Hand hielt, schießen wollen. Er schoss aber mit der anderen, der scharfen Pistole, die einen Schalldämpfer trug. Georg LinkeLinke, Georg wurde getroffen. Trotz seiner Verletzung lief er in sein Zimmer und schloss die Tür von innen ab. Dann versuchte er, die Durchgangstür zum Raum seiner Chefin abzuschließen. Als er keinen Schlüssel fand, ließ er sich auf den Boden fallen und hielt mit dem ausgestreckten Arm die Klinke hoch. »Springen Sie aus dem Fenster«, rief er zwei Kolleginnen in seinem Zimmer zu. Die Frauen sprangen. Als die beiden im Garten gelandet waren, kletterte auch Georg Linke aus dem Fenster. Die drei Institutsangestellten liefen auf die Straße und versuchten, die Nachbarn auf den Überfall aufmerksam zu machen. Erst jetzt bemerkte LinkeLinke, Georg das Blut an seinem Körper.Institut für Soziale Fragen

Die beiden Frauen, die von der Polizei später als Ingrid SchubertSchubert, Ingrid und Irene GoergensGoergens, Irene identifiziert wurden, rannten in den Lesesaal und schossen mit Tränengaspistolen um sich. »Überfall«, schrie eine. Ihnen folgten der maskierte Mann und die Frau, die ein KleinkalibergewehRAF Rote Armee Fraktion-Waffenr mit sich führte. Es war Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt. Der Justizbeamte Wegener, der dicht an der Tür saß, sprang auf und griff die Frau an. »Ich schieße«, schrie sie und drängte den Beamten in eine Ecke des Lesesaals. Dort entwickelte sich ein kurzes Handgemenge, bei dem WegenerWegener, Karl-Heinz der Frau eine rote Perücke vom Kopf riss. Darunter kamen kurze blonde Haare zum Vorschein.

Wie verabredet hatte sich ein Helfer, der später nie identifiziert wurde, gegenüber im Theaterwissenschaftlichen Institut ans Fenster gestellt, um eine Zeitung hochzuheben, wenn keine Gefahr drohte. Er selbst war aber entschlossen, das »grüne Licht« auf keinen Fall zu geben. Er wollte die Befreiungsaktion sabotieren, weil er kurz zuvor erfahren hatte, dass Schusswaffen eingesetzt werden sollten. Vergeblich. Die Akteure im Haus gegenüber hatten das Signal gar nicht erst abgewartet und gleich geschossen.

Niemand sonst im Theaterwissenschaftlichen Institut hatte etwas von der dramatischen Situation gegenüber bemerkt. Erst als Schüsse fielen, liefen Besucher und Mitarbeiter ans Fenster. Sie sahen zum Teil vermummte Gestalten zur Straße rennen. »Guck mal«, sagte einer. »Was sind das da für welche? Die sind ja bewaffneRAF Rote Armee Fraktion-Waffent!« Die Beobachter hatten bis jetzt an einen studentischen Mummenschanz geglaubt, nun griffen sie zum Telefon und riefen die Polizei.

Draußen auf der Straße warfen sich gerade vier Frauen und zwei Männer in einen silbergrauen Alfa Romeo Sprint und einen zweiten, viertürigen Wagen. Am Steuer saß jeweils eine Frau.

 

An diesem Morgen hatte Astrid ProllProll, Astrid den schon einige Zeit zuvor von ihr beschafften zweitürigen Alfa Romeo vor dem Institut für soziale FragenInstitut für soziale Fragen geparkt, um auf die Befreiten zu warten. Nacheinander klemmten sich drei Frauen durch die Beifahrertür auf den Rücksitz, ein Mann nahm vorn Platz. Astrid Proll kannte den

In dem engen Wagen wurden Masken und Perücken gewechselt, Waffen und Jacken verstaut. In der Mitte saß Ingrid SchubertSchubert, Ingrid, die sich sieben Jahre später, nach dem Tod der Stammheimer Häftlinge, in der Vollzugsanstalt München-StadelheimJustizvollzugsanstalten:München-Stadelheim erhängte. Gudrun EnsslinEnsslin, Gudrun durchgängig erwähnt saß hinten rechts, stumm und angespannt. Alles ging sehr schnell. Astrid Proll hielt einige Male, und allein oder zu zweit verließen ihre Mitfahrer den Wagen, bis sie ihn in einer ruhigen Gegend abstellte, abschloss und wegging.

 

Um 12.45 Uhr erschien die Mordkommission am Tatort. Der 62-jährige Institutsangestellte Georg LinkeLinke, Georg wurde mit einem lebensgefährlichen Leber-Steckschuss in das Martin-Luther-Krankenhaus eingeliefert.

Die Befreiung Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnts war gelungen.

3. Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt

Der junge Mann, der am 14. Mai 1970 aus dem Fenster in die Freiheit gesprungen war und das Studium sozialer Fragen und einen alten angeschossenen Mann hinter sich gelassen hatte, war kurz zuvor 27 Jahre alt geworden.

Geboren wurde Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt am 6. Mai 1943 in München als Sohn des Historikers und Archivars Dr. Berndt Phillipp BaaderBaader, Berndt Phillipp 73, der seit 1945, nachdem er als Soldat in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten war, vermisst blieb.

Die Mutter hatte nicht wieder geheiratet.

Andi, wie er zärtlich genannt wurde, war ein von Mutter Anneliese BaaderBaader, Anneliese, der Großmutter und einer Tante verwöhntes Kind.

Intelligent, aber sprunghaft sei er gewesen, so das Urteil von Er

Sein Vater hatte zu Beginn des Krieges an der Münchener Universität studiert. Als die Geschwister SchollScholl, Hans und Sophie verhaftet wurden, kam er erregt nach Hause und erklärte seiner Frau, nun müsse er in den Widerstand gehen.

»Damit setzt du die Existenz der Familie aufs Spiel«, warf seine Frau ein. Der Schritt in den Widerstand blieb aus.

»Weil er Angst hatte«, sagte Anneliese BaaderBaader, Anneliese später über ihren MannBaader, Berndt Phillipp, »das macht den Unterschied zwischen den beiden aus. Andreas hatte nie Angst. Er führte alles bis zur letzten Konsequenz durch.« Anweisungen oder gar Befehlen folgte Andreas als Kind nicht, ohne nach dem Warum zu fragen. Irgendwann gab die Mutter es auf, erzieherische Maßnahmen durchzusetzen. Es war schwer für sie, seine Handlungen und Reaktionen vorauszusehen. Mal teilte er uneigennützig alles, was er hatte, zog seinen Pullover aus, wenn er jemanden frieren sah, dann wieder konnte er bedenkenlos jemanden um Geld erleichtern.

Im Frauenhaushalt lehnte er sich gegen viele Rituale auf: Aus Protest wollte er sich nicht waschen, zum Essen musste er oft an den Ohren herbeigezogen werden; was ihm nicht schmeckte, das aß er nicht. Er ließ sich nicht konfirmieren, weil er den Religionsunterricht hasste, wollte seinen Geburtstag nicht feiern und versuchte, seiner Mutter das Weihnachtsfest auszureden.

In Diskussionen hatte er immer eine ausgeprägte Meinung und verteidigte sie bis zum Jähzorn. Er prügelte sich oft, aber nicht nur für seine eigenen Interessen.

Seine Großmutter hielt ihn keineswegs für brutal, sondern eher für weich. Sie vermisste den männlichen »Mumm« und vor allem eine jungenhafte Sportlichkeit. Sport hasste er, und wenn andere Bergtouren unternahmen, blieb er unten im Tal.

Schon in der Grundschule musste Andreas eine Klasse wiederholen, dennoch war seine Mutter der Auffassung, der Junge müsste Abitur machen. In der fünften Klasse blieb er »wegen Vernachlässigung seiner Hausaufgaben und Schwierigkeiten mit den Lehrern« erneut sitzen. Daraufhin meldete ihn seine Mutter auf dem

Die MutterBaader, Anneliese gab nicht auf und meldete Andreas auf dem Maximiliansgymnasium an. Der Klassenlehrer entwickelte eine gewisse Sympathie für den schwierigen Jungen: »Er besitzt eine überdurchschnittliche Intelligenz, ist fähig, logisch zu denken und kritisch zu urteilen. Seine Phantasie ist gut entwickelt.« Dennoch fiel Baader immer wieder auf. Die über zwanzig Einträge in seinem Personalbogen passten nicht auf eine Seite: dauerndes Schwätzen, fortgesetzte Schlamperei, fortschreitende Unterrichtsstörung, fortwährende Vergesslichkeit, ungezogene Bemerkungen zum Tode eines Lehrers. Verständnisvoll notierte der Lehrer: »Dass er in der 2. Klasse scheitert, ist am allerwenigsten seine Schuld. Es fehlt dem Buben die starke Hand zu Hause. Der Vater ist vermisst. Die Mutter ist berufstätig und bringt zu ihrer täglichen Berufsarbeit nicht die Kraft auf, dem Buben den fehlenden Vater zu ersetzen.«

Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt musste die Schule wieder verlassen. Seine MutterBaader, Anneliese brachte ihn auf einem Privatgymnasium unter. Dort hielt er es trotz dürftiger Leistungen und Verhaltensauffälligkeiten immerhin drei Jahre aus. Manche Lehrer mochten den schlampigen, rebellischen und dennoch charmanten Rüpel offenbar.

1959 bemerkte sein Klassenlehrer: »Seine Lausbubenstreiche unterscheiden sich nicht von denen anderer, sind aber immer mit Humor gewürzt. Gesamteindruck: Sympathisch, berechtigt zum pädagogischen Abwarten. Entsprechend der Begabung könnte der Schüler jederzeit die Hochschulreife erreichen.«

An dem jugendlichen Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt schieden sich die Geister von Klassenkameraden, Nachbarn, Lehrern. »Bei ihm gab es nur zwei Möglichkeiten«, meinte seine Mutter, »entweder man liebte oder man hasste ihn.« Ein Mitschüler erinnerte sich: »Andreas war intelligenter als der Durchschnitt. Aber er war frech und aufsässig und wollte sich den Regeln nicht unterwerfen. Er war ein dunkler Typ, sah aus wie ein Franzose oder Ire, und er wirkte irgendwie romantisch. Eine Zeitlang hat er uns vorgespielt, Krebs oder Tuberkulose zu haben. Er lief in München herum, mit dem Gesicht eines Mannes, der wusste, dass er sterben muss, aber das Beste daraus machen will. Er tat immer so, als würde er Blut in sein Taschentuch husten, aber das Tuch blieb weiß.« Andreas Baader prügelte sich in der Schule so oft, dass sich der Schulleiter schriftlich bei der Mutter beschwerte: »Einen zweiten Baader könnte meine Schule nicht tragen.«

Der Schuldirektor war aber auch sicher: »Er war ein besonders begabter junger Mann. Damals nahm ich an, er würde irgendwann einmal Journalist oder Schriftsteller werden. Er schrieb hervorragende Aufsätze.« Während seines letzten Jahres auf der Oberschule entdeckte Baader den Reiz von Motorrädern. Auf einer gestohlenen Maschine raste er mit 120 Stundenkilometern durch den Englischen Garten. Er wurde beim Fahren ohne Führerschein erwischt und zu drei Wochen Jugendarrest verurteilt. Verkehrsdelikte waren fortan seine Spezialität. Er hat nie einen Führerschein besessen, jedenfalls keinen echten.

Die Schule musste Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt nun verlassen. Er war für »untragbar« erklärt worden. Mitschüler hatte er zum Motorraddiebstahl animiert, am Unterricht kaum noch teilgenommen oder ihn gestört.

Er schrieb sich für kurze Zeit an einer privaten Kunstschule ein und versuchte sich als Werbetexter. Nachts bewegte er sich dort,

Arrivierte Homosexuelle zeigten sich gern mit dem aggressiven und exotischen Burschen, der sie seinerseits mit bösartigem Spott bedachte. Er deutete oft eine geheimnisvolle Herkunft an, irgendwo warte eine phantastische Zukunft und ein großes Erbe auf ihn.

In den Cafés saß er mit denen zusammen, die eine große künstlerische Zukunft planten. Dem damals unbekannten Rainer WernerWerner, Hans-Ulrich FassbinderFassbinder, Rainer Werner begegnete er oft. Fassbinder schrieb fünfzehn Jahre später zu seinem Terroristen-Film »Die dritte Generation«: »Ich schmeiße keine Bomben. Ich mache Filme.«

Der Sprung in die Illegalität

Die Befreier Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnts hatten an jenem 14. Mai 1970, der als GeburtsstundeRAF:Geburtsstunde der RAF angesehen wird, für den Fall, dass etwas Unvorhergesehenes geschehe, die Wohnung einer Freundin Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite 73s als Ausweichquartier vorgesehen. Sie war Schauspielerin und wohnte wenige Straßen vom ZentralinstitutInstitut für Soziale Fragen entfernt. Allerdings hatte niemand sie vorher gefragt.

Jetzt, da plötzlich Schüsse gefallen, ein Mensch schwerverletzt und aus dem geplanten Überraschungscoup ein Mordversuch geworden war, flüchteten die Akteure in diese Wohnung.

Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite klingelte an der Haustür. Die Freundin öffnete.

»Wir brauchen deine Solidarität«, sagte Ulrike der völlig ahnungslosen Frau. Die Frau war dazu bereit.

»So könnt ihr draußen nicht herumlaufen«, erklärte die 32-jährige Schauspielerin den Befreiern. Andreas BaaderBaader, Andreas durchgängig erwähnt setzte sich auf den Klodeckel und ließ sich die Haare schneiden. Die Frauen wurden geschminkt und kostümiert. Ulrike MeinhofMeinhof, Ulrike Marie durchgängig erwähnt bis Seite, die mit offenen Haaren und in Jeans und Pullover an der Aktion teilgenommen hatte, wurde in das feinste Kleidungsstück der Schauspielerin gesteckt, ein blaues Kostüm mit engem Rock, taillierter Jacke und weißer Bluse. Am Nachmittag sollte sie im Bus nach Charlottenburg fahren. Dort wollte sich die Gruppe in der Wohnung des Kabarettisten Wolfgang NeussNeuss, Wolfgang treffen, der mit einer Fotografin zusammenlebte, der Schwester von Ulrike Meinhofs Anwalt Kurt GroenewoldGroenewold, Kurt. Beide waren die Erben eines Hamburger und Berliner Immobilien-Imperiums. Während die Polizei eine der größten Fahndungsaktionen der Nachkriegszeit einleitete, saßen fast alle Gesuchten in einer Wohnung, nur wenige hundert Meter entfernt von dem durch Polizei abgeriegelten InstitutInstitut für Soziale Fragen.

 

In den Ermittlungsakten der Berliner Kriminalpolizei findet sich dazu ein höchst sonderbarer Vermerk vom 26. Mai 1970: »Dienstlich wurde hier bekannt, dass am 14.5.1970 – dem Tage der gewaltsamen Befreiung Baaders – in der Cunostraße in Berlin 33, etwa in