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Alpenvereinsjahrbuch

Berg 2018

Zeitschrift Band 142

Herausgeber
Deutscher Alpenverein, München
Österreichischer Alpenverein, Innsbruck
Alpenverein Südtirol, Bozen

Redaktion
Anette Köhler, Tyrolia-Verlag · Innsbruck-Wien

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Tiefblick vom Glocknerleitl auf die Adlersruhe mit der Erzherzog-Johann-Hütte, der Blick geht hinaus zur Schobergruppe. Zu sehen sind der Hochschober und der Glödis sowie die Goldberggruppe mit dem Sonnblick.

© H. Raffalt

Inhalt

Editorial: Von wegen Erholung >> Anette Köhler

BergWelten: Großglockner

Die große Glocknerrunde. Sieben Tage im Banne des Königs der Hohen Tauern >> Josef Essl

A wie Ameisenstraße. Kleines Glockner-Glossar >> Dominik Prantl

Glockner-Ansichten >> Christian Riepler

„Als Naturschutzpark der Zukunft erhalten“. Albert Wirth und die Naturschutzidee >> Ute Hasenöhrl

„Der Wirklichkeit abgelauscht“. Die Glocknerkarten des Alpenvereins >> Johannes Fischer

Ein sagenhafter Schatz. Die Kristalle vom Großglockner >>Susanne Gurschler

Chronisten des Wandels. Baumfunde im Bereich der Pasterze >> Andreas Hauser

Welterbe-Skitouren. Im Einzugsbereich der Großglockner Hochalpenstraße >> Thomas Neuhold

Die vertagte Seelenrevolution. Szenen unterm Glockner, 1799/1800 >> Martin Scharfe

BergFokus: Bergsport und Gesundheit

Heilsames Bergsteigen >> Eva Maria Bachinger

„Die Stängelchen dem Wind aussetzen …“ Was Kinder gesund und stark macht >> Sybille Kalas

Berg-High. Bergsport und Rauschkultur >> Georg Bayerle

Berge als Anti-Depressivum? >> Franziska Horn

„Nach einem Jahr gehört sie dir!“ Hüft- und Knieprothesen: Kein Grund zur Angst >> Andi Dick

Kann das noch gesund sein? Klettern als Leistungssport >> Isabelle und Volker Schöffl

„Der Tod am Berg ist männlich“. Wie sich geschlechtstypisches Verhalten beim Bergsteigen auswirkt und warum uns Klischees trotzdem nicht weiterbringen >> Stephanie Geiger

BergSteigen

New Kids on the Wall – Alpinismus 4.0. Internationale Highlights 2016/2017 >> Max Bolland

Olympia im Blick. Die wichtigsten Ereignisse und Ergebnisse in den alpinen Wettkampfdisziplinen Klettern und Skibergsteigen >> Matthias Keller

Schallmauer im Hirn. Die Erstbegehung der Pumprisse 1977 – 40 Jahre alpiner 7. Grad >> Malte Roeper

Nicht ohne mein Duschhandtuch. Die „neuen“ Hüttenwanderer und der gesellschaftliche Klimawandel >> Axel Klemmer

Interkulturelle Seilschaften. Bergsport als Integrationshelfer? >> Gaby Funk

BergMenschen

Dienst in den Wolken. Als Wetterwart auf dem Hohen Sonnblick >> Robert Demmel

The Good Bad Boy. Der amerikanische Bergsteiger John Roskelley >> Jochen Hemmleb

Zwischen Kathmandu, Bern und Duschanbe. Billi Bierling im Porträt >> Karin Steinbach Tarnutzer

Interview: Bergführerin Lisi Steurer im Gespräch >> Anette Köhler

Seilerste in Sachen soziale Gerechtigkeit. Hanniah Tariq engagiert sich für die Bergregionen ihrer pakistanischen Heimat >> Vanessa Beucher

BergWissen

Ewige Berge? Der Blick eines Geologen auf die Lebenserwartung von Gebirgen >> Mark Keiter

Den Fels begreifen. Zur Geologie von Klettergesteinen >> Tobias Ibele

Alpine Artenvielfalt in Gefahr? Die Vegetation der Berggipfel in Zeiten des Klimawandels – Untersuchungen in den Südtiroler Dolomiten >> Brigitta Erschbamer

Wird Biken das neue Skifahren? Die Zukunft des Rad-Tourismus in den Alpen >> Andreas Lesti

Skischaukel in der Tabuzone. Der Konflikt um den Alpenplan am Riedberger Horn >> Gerhard Fitzthum

BergKultur

Offene Geheimnisse. Vom Dachstein >> Bodo Hell

Wo Grenzbeamte zu Bergsteigern wurden. Vor 250 Jahren wurde die Grenze zwischen Werdenfels und Tirol neu vermessen >> Christian Rauch

Begehrte Objekte. Die politische Auseinandersetzung um die Schutzhütten in Südtirol >> Florian Trojer

Autorinnen und Autoren

Impressum

Von wegen Erholung

Zur 142. Ausgabe des Alpenvereinsjahrbuches

>> Anette Köhler

So, wie wir unsere Museen, Konzerthallen und Orchester schätzen, so schätzen wir auch unsere Naturräume. Nicht nur wegen der „Erholung“ – niemand geht ins Museum, nur um sich zu erholen.

Und ebenso ist es im Gebirge: Es geht nicht nur um Erholung, es geht darum, den Alltag zu transzendieren, zu überschreiten, ihm ein Licht aufzusetzen. Insofern ist der Erholungsraum Alpen des Alpenplans auch ein „Bereicherungsraum“ – ganz ohne Heller und Pfennig.

Rudi Erlacher

Gesundheit gilt den meisten Menschen als ihr höchstes Gut. „Hauptsache gesund“, heißt es, „dann kommt alles andere von allein“. Gerade für uns Bergsportler ist das Thema zentral und es steht außer Frage, dass ein aktiver Lebensstil ganz wesentlich zu Fitness und Wohlbefinden beiträgt. Bewegung ist die beste „Firewall“ gegen die Zumutungen und Übergriffe des digitalen Lebensstils, der uns grenzenlose Freiheit verspricht und dabei zum Stillsitzen und immer schnellerem Funktionieren und Konsumieren zwingt. Wer sich hingegen regelmäßig bewegt, hat beachtliche Chancen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und anderen Zivilisationskrankheiten davonzulaufen. Aber mal ehrlich: Pflegen nicht gerade wir Bergsportler oft einen kompromisslosen, narzisstischen Lebensstil, der die Konzepte von Wachstum (schneller, höher, schwieriger) und Endloskonsum längst verinnerlicht hat? Der Fokus Bergsport und Gesundheit dieser Jahrbuchausgabe widmet sich diesem komplexen Themenfeld, das die vielfältigen Tätigkeitsbereiche des Alpenvereins wie eine Klammer umfasst und uns alle betrifft. Genau deshalb hatte der Österreichische Alpenverein in den letzten drei Jahren hier seinen Arbeitsschwerpunkt gesetzt, der mit dem Fachsymposium „Bergsport & Gesundheit“ im November 2016 seinen Abschluss fand.

Doch was ist eigentlich Gesundheit? Und wie wird und bleibt man gesund? Fest steht, dass Gesundheit mehr ist als die bloße Abwesenheit von Krankheit. Nach dem Konzept der Salutogenese (das – im Gegensatz zur Pathogenese – Gesundheits- und nicht Krankheitsprozesse beschreibt) ist Gesundheit ein lebenslanger dynamischer Prozess, der zwischen den Polen Krankheit und Gebrechen einerseits sowie dem erstrebenswerten Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens verläuft. Für Aaron Antonovsky, der den Begriff der Salutogenese prägte, ist dabei der „Sense of Coherence“ ein wesentlicher Aspekt: das „Sinnesorgan“ für Stimmigkeit, Verbundenheit, ja Sinnhaftigkeit, das jeder Mensch von Geburt an hat.

Neben allen positiven Auswirkungen auf unsere Physis ist es wohl gerade das Stärken dieses „Sense of Coherence“, das Aktivitäten in der Natur so besonders macht: Wenn wir während eines fordernden Tages in den Bergen uns selbst in einer anderen Weise spüren, als es uns die modernen Arbeits- und Lebenswelten oft auferlegen; spüren, dass wir die Herausforderungen, die der Weg mit sich bringt, aus eigenen Kräften meistern können, uns auf ein Ziel hin anstrengen und es erreichen können und uns angesichts der Größe der Natur gleichzeitig in unserer Bedeutung relativiert und als Teil von etwas Größerem empfinden dürfen.

Bergsport in all seinen Spielarten fördert Selbstwahrnehmung, Selbstwirksamkeit und Resilienz entscheidend und kann uns ein Gefühl der Verbundenheit schenken (siehe Beitrag Seite 72): Aspekte eines gesunden, gelingenden Lebens, die kein Fitnessstudio bieten und die man nirgendwo sonst kaufen kann – und welche die Funktion der „Erholung“ weit überschreiten. Deswegen ist es von entscheidender Bedeutung, gerade Kindern von Anfang an die Möglichkeit zu geben, sich selbst in der Natur erfahren zu können (siehe Beitrag Seite 80).

Untersuchungen zeigen deutlich, dass sich körperliche Aktivität positiv auf die psychische Belastbarkeit auswirkt und dass dieses Zusammenspiel positiv verstärkt wird, wenn die Bewegung draußen – in der Natur – stattfindet. In der Therapie von Depressionen zeigt regelmäßiges Wandern nachweislich eine Wirkung, die mit der konventionellen medikamentösen Behandlung vergleichbar ist (siehe Beitrag Seite 94).

Natur tut uns gut, in einem tiefen, komplexen Sinn, den DAV-Vizepräsident Rudi Erlacher in seiner sehr lesenswerten, eingangs zitierten Stellungnahme zum Alpenplan1 anklingen lässt, um dessen Fortbestand derzeit stellvertretend – und mit einer Bedeutung, die weit über die unmittelbar betroffenen Bayerischen Alpen hinausgeht – am Riedberger Horn im Allgäu gerungen wird (siehe Beitrag Seite 226). Diese Naturbeziehung, die Erlacher anspricht, ist ein gewachsener Teil unserer Kultur, verwurzelt im Geist der Romantik. Die Transzendierung des Alltags, das außerordentliche, ja rauschhafte Erlebnis ist dabei von Anfang an ein elementarer Aspekt dessen, warum Menschen Berge besteigen (siehe Beitrag Seite 86).

Mit dem BergWelten-Schwerpunkt Großglockner begeben wir uns in das flächenmäßig größte Naturschutzgebiet in den Alpen und in den ältesten Nationalpark in Österreich – wobei dieses Prädikat durchaus relativ ist: Erst gut hundert Jahre nach dem ersten Nationalpark in den USA und mehr als sechzig Jahre nach der grundlegenden Gebietsschenkung an den Alpenverein durch den Kärntner Holzindustriellen und Naturliebhaber Albert Wirth (siehe Beitrag Seite 32) konnte in Österreich die Nationalparkidee in die Tat umgesetzt werden. Im Kern dieser Schutzzone verdichten sich die verschiedensten geologischen, geographischen und alpinhistorischen Phänomene, daher ist der Glockner für viele Superlative gut: Der höchste Gipfel der Alpenrepublik wird – dramatischer Gletscherschwund hin oder her – vom nach wie vor längsten Gletscher der Ostalpen umflossen, der wiederum den Ötzi unter den Bäumen freigegeben hat: eine rund 9000 Jahre alte Zirbe, deren Erforschung das Wissen um die klimatischen Bedingungen im Holozän grundlegend verändert hat (siehe Beitrag Seite 52). In den Flanken der Glocknerwand wurde vor einigen Jahren einer der größten Kristallschätze der Ostalpen gefunden und unter dramatischen Umständen geborgen (siehe Beitrag Seite 44). Und natürlich ist der Großglockner vor allem einer der begehrtesten und beliebtesten Gipfel. Wenn dann einer wie Dominik Prantl mit dem Auftrag auszieht, den alltäglichen Wahnsinn an Österreichs höchstem Berg zu beschreiben, mit der Botschaft zurückkommt, dass er einen „Wahnsinn“ trotz Ameisenstraße im Gipfelbereich (siehe Titelbild) nicht finden könne, dürfen wir das als eine gute Botschaft betrachten – zumal sein amüsantes Glockner-Glossar (Seite 22) die geplante Reportage mehr als ersetzt.

In Sommern wie diesem, wo die Gletscher nahezu komplett ausapern und die Temperaturen über Wochen ungewöhnlich hoch sind – der August 2017 liegt laut Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik um 1,9 Grad über dem vieljährigen Mittel und gilt als der fünftwärmste seit Beginn der Messgeschichte –, werden klassische hochalpine Gipfelanstiege wie der auf den Glockner allerdings zunehmend gefährlich (siehe Beitrag Seite 28): die Gletscher blank, die Spalten offen, erhöhte Steinschlaggefahr und der Übergangsbereich von Fels und Eis ein undefinierbares, kaum sicherbares Gekrümel. Laut dem österreichischen „Sachstandsbericht Klimawandel“ wandert mit jedem Grad Temperaturanstieg die Permafrostgrenze um 200 Meter nach oben: ein Phänomen, das uns noch vor ganz andere Fragen stellen wird als die, wie wir zum Gipfel kommen.

Während der Arbeit an diesem Text hat sich am Piz Cengalo im Schweizer Bergell ein Bergsturz von gewaltigem Ausmaß ereignet: Rund vier Millionen Kubikmeter Fels brachen zusammen, stürzten ins Tal und schoben sich als verheerende Mure talaus. Blickt ein Geologe wie Mark Keiter auf die Berge (siehe Beitrag Seite 200), mag dies in Anbetracht der „Lebenszeit“ von Gebirgen ein unbedeutender Rülpser sein – uns lässt er jedoch deutlich spüren, wie klein und machtlos wir sind gegenüber dieser unfassbar großen Naturgewalt.

An was werden wir uns erinnern, wenn wir rückblickend an das Jahr 2017 denken? An diesen Bergsturz am Cengalo? Den Tropensturm Harvey? An das Freerider-Solo von Honnold (siehe Chronik Seite 128) oder die Auftritte von US-Präsident Trump? – Vermutlich an nichts von all dem, wenn wir nicht eine auf ganz realem Erleben beruhende, persönliche Beziehung dazu hatten. Ein Grund mehr, den sich spiegelnden Touchscreenwelten immer wieder adieu zu sagen und sich von der Wirklichkeit der Natur und unseres Gegenübers berühren zu lassen: in den Bergen oder anderswo.

1 Der komplette Text ist nachzulesen unter www.alpenverein.de/stellungnahme-alpenplan-erlacher

BergWelten

Wo Österreich mit 3798 Metern am höchsten ist, kulminieren auch geologische, geographische und historische Phänomene und sorgen für spannende Themen und Geschichten – ganz abgesehen davon, dass der Großglockner nach wie vor ein großartiges Bergerlebnis ist. Mehr als genug Stoff also für ein vielseitiges Gebiets-Portfolio. Im Bild: Großglockner mit Stüdlgrat (rechts) und Glocknerwand vom Großen Muntanitz aus gesehen. Darunter die weiten Gletscherflächen von Fruschnitzkees (links) und Teischnitzkees.

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© H. Raffalt

Die große Glocknerrunde

Sieben Tage im Banne des Königs der Hohen Tauern

>> Josef Essl

Wer den Großglockner umrundet, wird die ganze Schönheit und Wildheit des Nationalparks Hohe Tauern erleben. Wie kein anderer Hüttentrekk in Österreich bietet die Glocknerrunde unverwechselbare Eindrücke, die vom Kontrast zwischen der vergletscherten Hochgebirgs- und der traditionell gepflegten, bergbäuerlichen Kulturlandschaft lebt.

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© H. Raffalt

Die Hohen Tauern gehören inmitten Europas wohl zu den imposantesten Gebirgslandschaften, reichen sie doch von den von eiszeitlichen Gletschern geformten Tallandschaften mit ihren seit Jahrhunderten in mühsamer Handarbeit bewirtschafteten Bergwiesen bis hinauf in das alpine Urland mit seinen sich über 50 Quadratkilometer erstreckenden Tauerngletschern, zwischen denen mehr als 250 über 3000 Meter hohe Bergspitzen in den Himmel ragen. Unter ihnen bildet der 3798 Meter hohe Großglockner den Höhepunkt.

Prinzipiell ist der Einstieg in die Glocknerrunde in jedem Teil des Nationalparks möglich: ob von Kärnten über Heiligenblut, von Osttirol über Kals am Großglockner oder auf Salzburger Seite von Kaprun. Dieser Einstieg von Norden her hat den Vorteil, dass hier mit Zell am See die beste verkehrstechnische Anbindung, auch an ein internationales Bahnverbindungsnetz, besteht.

Von Kaprun zum Berghotel Rudolfshütte

Die Fahrt hinauf zum Stausee Mooserboden (2040 m) und damit zum Einstieg in die Glocknerrunde erfolgt von Kaprun aus mit dem Bus über das Kesselfall-Alpenhaus. Anschließend werden 431 Höhenmeter mit dem Lärchwand-Schrägaufzug überwunden. Man kann die beiden Stauseen Wasserfallboden und Mooserboden des Speicherkraftwerks Glockner-Kaprun, dessen Bau bereits Ende der 1930er-Jahre begonnen wurde, durchaus als technische Meisterleistung betrachten, dennoch trüben sie mit ihren mächtigen Staumauern den Blick auf die Berg- und Gletscherwelt. Der Kontrast zwischen Technik und Natur könnte nicht größer sein. Nur Wenige wissen, dass das Wasser in den Stauseen nur zu einem kleinen Teil von den umliegenden Gletschern stammt. Vor allem wird das Wasser der Pasterze, im Stausee Margaritze in Kärnten gesammelt, von dort über einen Überleitungsstollen in den Mooserboden geleitet.

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© J.Essl

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Sieben Tage lang steht seine Majestät im Zentrum des Geschehens: Großglockner und Glocknerwand von Nordosten gesehen, darunter das zerrissene Glocknerkees. Auch in Zeiten des Schwunds bleiben die Gletscher die prägende und formende Kraft im Nationalpark Hohe Tauern.

© Ch. Riepler

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Im Antlitz des Karlingerkeeses führt der Anstieg der ersten Etappe über den Stausee Mooserboden hinauf zum Kapruner Törl.

© J. Essl

Doch mit dem Beginn der Bergwanderung über die Staukrone lässt man Technik und Trubel schnell hinter sich und taucht langsamen Schrittes, begleitet von einer zunehmenden Stille und mit Blick auf einen Perlenkranz vergletscherter Dreitausender, in den Nationalpark ein. Am Wegesrand zaubert eine bunte Alpenflora mit Silberwurz, Alpen-Leinkraut, Fetthennen-Steinbrech, Tauerneisenhut, Stengellosem Leimkraut, Wundklee, Traubensteinbrech, Rotem Steinbrech und vielem mehr wunderschöne Farbtupfer in den dunklen Fels. Nach einigen leichten Auf- und Abstiegen ist bald das Ende des Stausees erreicht. Gut 600 Höhenmeter sind nun durch das ausladende Kar der „Wintergasse“ bis zum Kapruner Törl zu überwinden. Nach einigen steilen Kehren führt der Steig direkt auf der Schneide einer markanten Ufermoräne entlang, die erahnen lässt, mit welcher Mächtigkeit sich das ehemalige Törlkees den Weg durch die „Wintergasse“ während des letzten Gletscherhochstandes um 1850 gebahnt hat. Mit dem Rückzug des Gletschers hat sich in einer Mulde ein kleiner Bergsee gebildet, der sich kontrastreich von der zunehmend kargen Landschaft abhebt.

Mit dem Erreichen der Scharte des Kapruner Törls (2639 m) über Geröll und lose Steinplatten öffnet sich der Blick auf die wilde Bergszenerie des schuttbedeckten Torkeeses, des Oberen und Unteren Rifflkeeses sowie der Nordabbrüche zwischen Totenkopf, Hoher Riffl und Torkopf. So unnahbar und gefährlich diese Fels- und Eiswelt auch erscheint: die gut einsehbare und markante Nordwand der Hohen Riffl ist eine beliebte Eistour unter erfahrenen Alpinisten.

Angenehm geht es nun unter den Felsfluchten der Törlköpfe knapp 400 Höhenmeter ins Übelkar, wo sich der Steig durch vier Meter hohe Felsblöcke windet, die das schuttbedeckte Torkees einst ins Tal transportiert hat. Dazwischen schlängelt sich in zahlreichen Mäandern der Gletscherbach hinunter in den Speicher Tauernmoossee. Nach einer Geländekante und einem weiteren Abstieg durch die Hintere Ochsenflecke erreicht man den Gaulmöselsteg (2028 m).

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Wie ein Adlerhorst thront die Sudetendeutsche Hütte über dem Steinertal mit Blick auf Venediger- und Lasörlinggruppe.

© J. Essl

Vor 150 Jahren reichte das Ödenwinkelkees weit herab. Heute zeugen noch der Name „Eisboden“ und ein eingerichteter Gletscherlehrweg von diesem ehemals mächtigen Eisstrom, der sich gerade in den letzten Jahren stark zurückgezogen hat. Unter den Nordwänden des Eiskögele scheint er regelrecht Schutz vor den Sonnenstrahlen zu suchen.

Der letzte Anstieg von gut 300 Höhenmetern zum Berghotel Rudolfshütte (seit 2004 in Privatbesitz) führt entweder über die alpinistisch etwas fordernde „Steinerne Stiege“ oder, durchwegs unschwierig, über den Hinteren Schafbichl. Auch hier tritt die Natur wieder in den Hintergrund, denn Speicherseen, Seilbahnanlagen und Skipisten dominieren die Landschaft.

Über den Kalser Tauern zur Sudetendeutschen Hütte

Sobald die ersten Sonnenstrahlen die umliegenden Bergspitzen mit Stubacher Sonnblick und Granatspitze berühren, sollte man seine Bergschuhe für diese zweite Etappe schnüren, denn der Weg entlang des Silesia-Höhenweges zur Sudetendeutschen Hütte ist weit. Dafür zählt dieser Abschnitt zu den herausragendsten der gesamten Runde. Einsamkeit und Stille werden zum Begleiter und der Blick auf den Großglockner mit seinen eisgepanzerten Trabanten schafft fesselnde Momente. Nach einer guten Stunde ist der Kalser Tauern (2518 m) erreicht, wo die wärmenden Sonnenstrahlen die noch müden Glieder zum Leben erwecken. Das ist auch notwendig, denn nun folgt ein steiler Abstieg hinunter zum „Erdigen Eck“ (2213 m), einem wichtigen Kreuzungspunkt entlang der Glocknerrunde. Hier kann die Route mit dem weiteren Abstieg zum wunderschönen Dorfersee und durch das Dorfertal zum Kalser Tauernhaus und weiter nach Kals am Großglockner abgekürzt werden.

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Am Gradetzsattel, dem höchsten Punkt der Runde: Auf dem Silesia-Höhenweg hat man den Großglockner stundenlang im Blick.

© Ch. Klocker

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Das Zwerg-Seifenkraut ist sehr eng auf die Ostalpen begrenzt. In den Hohen Tauern hat es als subendemische Pflanze eine Heimat gefunden.

© J. Essl

Der Silesia-Höhenweg, der bereits in den 1960er-Jahren von der damaligen schlesischen Sektion Silesia-Troppau in mehrjähriger Bauzeit errichtet wurde, führt hingegen zur westlichen Hangschulter von Seetrog und Spinnevitrol aufwärts. Dabei passiert er zahlreiche Bäche und Gräben, wandelt durch Kare und Tröge und überquert bis zur Sudetendeutschen Hütte zahlreiche Gratschneiden und Sättel. Der Blick auf die atemberaubende Landschaft mit dem Glocknerkamm vom Eiskögele über Romariswandkopf, Glocknerwand bis zum Großglockner und zu den darunter liegenden Gletscher- und Eisströmen mit Kastenkees, Lapperwitzkees, Fruschnitzkees und Teischnitzkees fesselt, die seltsamen Bergnamen wecken die Neugierde: Wo sie wohl herstammen?

Den steilen, kurzen Anstieg zum Spinnevitrol hat man bald hinter sich gelassen und gelangt am Fuße des Äußeren Knappenkopfes zum Inneren Knappentrog. Ein schmales Steiglein zweigt hier rechter Hand ab und führt über Bergwiesen in 20 Minuten in den Schoß der Aderspitze zum Schwarzsee (2602 m), einem der schönstgelegenen Bergseen in den Hohen Tauern. Nur schwer wird man sich vom glasklaren Wasser und vom Blick auf den Dom des Großglockners mit seinem Langschiff der Glocknerwand trennen und seine Bergwanderung fortsetzen, aber es ist erst gut die Hälfte der heutigen Etappe geschafft.

Es folgen steilere Abschnitte bergauf und bergab, immer wieder trifft man dabei auf Geländepunkte mit romanischen Namen, wie etwa Bloibalfelen („steiles Grundstück“) oder Gradetzsattel (von Gradötz, „hoher Felsen“).

Den Gradetzsattel schmückt ein mächtiger Steinmann, mit 2826 Metern ist er der höchste Punkt der gesamten Glocknerrunde. Von hier schweift ein letztes Mal der Blick auf die dunkle Felspyramide des von Kargletschern umrahmten Glocknergipfels, bevor der Abstieg zur Sudetendeutschen Hütte erfolgt. Das Gradetzkees hat sich in den letzten Jahren stark zurückgezogen, doch die mächtigen Seitenmoränen bezeugen beim Durchwandern des Gletschervorfeldes mit seinen zwei Bergseen, wie weit sich die Gletscherzunge noch vor gut 150 Jahren ausgedehnt hat. Nach bald neun Stunden Gehzeit ist die hoch über dem ursprünglichen Steinertal gelegene Sudetendeutsche Hütte (2650 m) mit ihrem kleinen Bergsee erreicht.

Über die Dürrenfeldscharte und das Hohe Tor nach Kals

Von der kleinen und feinen Sudetendeutschen Hütte mag man sich womöglich nur schwer trennen, denn nicht nur die aussichtsreiche Lage und die besondere Stille laden zu einem längeren Aufenthalt ein, es sind auch die umliegenden über 3000 Meter hohen Berggipfel, wie Großer und Kleiner Muntanitz, Gradetzspitze oder Vordere Kendlspitze, die mit einsamen Anstiegen und großartigen Ausblicken locken.

Unterhalb der steilen Westhänge der Gradetzspitze zieht, mitunter seilversichert, der bereits im Jahre 1930 errichtete Sudetendeutsche Höhenweg hinauf zur Dürrenfeldscharte (2823 m). Hier hat man die Qual der Wahl: Will man gleich den Abstieg nach Kals am Großglockner fortsetzen oder vielleicht doch die 265 Höhenmeter hinauf zur 3088 Meter hohen, aussichtsreichen Kendlspitze „mitnehmen“? Bis auf den Übergang vom Grat zum Gipfel beherbergt dieser Anstieg keine besonderen Schwierigkeiten.

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Die Gelbe Hauswurz gehört zu den Raritäten in den Hohen Tauern.

© J. Essl

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Hoch über dem Peischlachbach führt der Anstieg zum Peischlachtörl.

© J. Essl

Der Abstieg durch die „Mondlandschaft“ des weitläufigen, von Schutt bedeckten Dürrenfeldes führt die vielfältige Geologie der Hohen Tauern vor Augen. Es sind Gesteine der Oberen Schieferhülle mit Kalkglimmerschiefer und Prasinite, die hier in Erscheinung treten. Unterhalb des Tschadinhörnls bricht das Gelände steil ab und wird von zahlreichen schuttbedeckten Rinnen durchzogen. Trittsicherheit ist in diesem labilen Gelände ein wichtiger Begleiter. Doch nach wenigen Kehren wird das Gelände wieder etwas flacher, die karge Landschaft tritt in den Hintergrund und weicht den üppigen, mit Edelweiß-Sternen eingesprenkelten Bergwiesen bis zum Hohen Tor (2477 m). Hier sollte man innehalten, denn mit dem Blick auf die Schobergruppe und ihre von dunklem Gestein geprägten Berg- und Felsspitzen öffnet sich eine weitere vielfältige Berglandschaft der Hohen Tauern, die wir noch kennenlernen werden. Von tief unten grüßt bereits Kals herauf. Unmittelbar nach dem Hohen Tor baut sich der aufgrund seines Serpentingesteins grünblau schimmernde Gipfel der Blauspitze (2575 m) auf. Der abweisend wirkende Berg ist über einen markierten Steig zwar steil, aber ohne technische Schwierigkeiten erreichbar. Allein wird man hier sehr wahrscheinlich nicht sein, denn viele Touristen, die sich mit der Seilbahn von Kals aus bis auf über 2300 Meter in die Höhe transportieren lassen, wählen die Blauspitze als Gipfelziel.

Aufgrund des reichen Vorkommens von Serpentin wurde östlich am Fuße der Blauspitze bereits im 15. Jahrhundert nach Kupfererz geschürft. In der Umgebung befinden sich mehrere Knappenlöcher, wobei die allermeisten nur sogenannte „Hoffnungsstollen“ waren. Das Knappenloch unterhalb der Blauspitze dient mittlerweile als frei zugängliches kleines Schaubergwerk.

Der weitere Abstieg über den Aussig-Teplitzer Weg nach Kals führt am Ganotzegg (2055 m) zur Kapelle der verunglückten Bergsteiger, anschließend entlang öder Skipisten und unter Seilbahnen hindurch. In Kals, das gern als die Wiege des Alpinismus bezeichnet wird (siehe auch Seite 25), lohnt sich der Besuch des Bergsteigerfriedhofes sowie die Ausstellung im Glocknerhaus, wo man unter anderem die prächtigsten Exemplare des sensationellen Kristallfunds in der Glocknerwand (siehe Seite 44) bewundern kann.

Über die Tschadinmähder und das Peischlachtörl zur Glorer Hütte

Nach dieser kurzen Rückkehr von der Bergeinsamkeit in die „Zivilisation“ geht es anderntags bereits früh am Morgen hinaus in die Natur, denn beim Anstieg über die Tschadinmähder bis zur Glorer Hütte gilt es doch beinahe 1600 Höhenmeter zu überwinden. Knorrige Lärchen, üppig blühende Bergwiesen, kleine Almhütten, rauschende Bäche und neue Ausblicke auf den Großglockner entschädigen für den mehrstündigen Aufstieg. Gleich zu Beginn zieht sich der Steig steil in zahlreichen Kehren hinauf zur Glorergartenalm (1804 m). Nur wenige Lücken lassen Blicke durch den dunklen Fichtenwald auf den Talboden von Kals und die gegenüberliegenden Berge der Granatspitzgruppe zu. Doch mit zunehmender Höhe beginnt sich das Bild der Landschaft immer mehr zu ändern. Eine kleine Unterstandshütte bietet mit einem grandiosen Blick auf das tief eingeschnittene Ködnitztal und den dahinter steil aufragenden Großglockner mit seinem markanten Stüdlgrat einen guten Rastplatz.

Am Fuße der Nordwesthänge des Tschadinhorns folgt ein kurzer Abstieg bis zum Peischlachbach, der eine Trennlinie zwischen Schober- und Glocknergruppe bildet. Hier treffen unterschiedliche Gesteinsschichten aufeinander, die beim Anstieg zum Peischlachtörl mit einer unbeschreiblich bunten und vielfältigen Blumenpracht überzogen sind. Am Peischlachtörl (2490 m) mit seiner Unterstandshütte öffnet sich nach Süden hin eine weite, tundraartige Moorlandschaft, die von ausgeprägten Bültenböden begrenzt wird. Darüber thront das Böse Weibl. Gute eine Stunde sind es noch bis zum Berger Törl, in dessen Einsattelung – der Grenze zwischen Tirol und Kärnten – seit 1887 die Glorer Hütte steht. Man folgt dabei dem seit 1934 bestehenden Wiener Höhenweg, der seinen Ausgangspunkt im wilden Herzen der Schobergruppe hat. Das Steiglein führt mitten durch die steile, schuttbedeckte Nordflanke des Kastenecks, die ständig in Bewegung zu sein scheint, und erfordert erhöhte Konzentration. Auch auf herabstürzende Steine ist zu achten! Doch schon bald sind diese heiklen Passagen gemeistert und die Glorer Hütte liegt in Sichtweite.

Auf den Spuren der Erstbesteiger zwischen Salmhütte und Glocknerhaus

Folgt man am nächsten Morgen in aller Stille dem Steig zur Salmhütte, betritt man schon nach wenigen Minuten das weitläufige grüne Becken des Glatzbachtales, das von unzähligen Bächen und Rinnsalen wie von Adern durchzogen wird. Nur wenige Meter abseits versteckt sich in einer Mulde mit dem Oberen Glatzsee ein wunderschönes, von Wollgraswiesen umrahmtes Kleinod. Neben dem majestätischen Großglockner fesselt besonders der Blick auf das mächtige Schwerteck und den Schwertkopf mit den von Eis und Wind geformten scharfen Graten und den tief eingeschürften Karen. Aus der Ferne grüßt bereits die kleine Salmhütte herüber, doch muss bis dorthin noch der steile und seilversicherte „Glatzgang“ überwunden werden, denn der Leiterbach hat sich hier tief in den Berg eingegraben. Sollte für diesen Abschnitt eine gewisse Unsicherheit bestehen, so gibt es auch die Möglichkeit, die einfachere Route über die „Erdstellen“ zur Salmhütte zu wählen.

Die Salmhütte hat eine lange und ereignisreiche Geschichte, denn sie wurde anlässlich der geplanten Erstbesteigung des Großglockners (siehe dazu Seite 64) durch Fürstbischof Franz Xaver von Salm-Reifferscheid errichtet und gilt als die erste Schutzhütte in den Ostalpen. Der erste Bau erfolgte im Jahre 1799, gut 200 Höhenmeter oberhalb der jetzigen Schutzhütte. Diese erste Schutzhütte wurde aber durch das vorstoßende Hohenwartkees gänzlich zerstört. 1883 erfolgte die Eröffnung der zweiten Salmhütte am Fuße des Schwertecks auf 2753 Metern Höhe. Auch diese Schutzhütte, deren Schlaf- und Essräume in den Fels gehauen wurden, war nicht lange von Bestand, und so erbaute die ÖAV-Sektion Wien am heutigen Standort die dritte Salmhütte. Sie bietet sich auch heute noch als ruhigere Alternative zur Stüdlhütte an, um den Großglockner über die Hohenwartscharte zu besteigen. Von hier besteht auch die Möglichkeit, direkt durch das Leitertal nach Heiligenblut abzusteigen, von wo einst die Erstbesteiger ihre Expedition auf den höchsten Berg Österreichs unternahmen.

Nach einer ausgiebigen Rast auf der Salmhütte folgt man der Glocknerrunde entlang des Wiener Höhenweges talauswärts zur Stockerscharte. Sanft geneigt führt der Steig unterhalb des Schwertecks mit seiner mächtigen, nach Süden ausgerichteten Felswand und dem „Eiskeller“ vorbei, dem Rest eines Kargletschers, der vor nicht allzu langer Zeit noch als „Kühlschrank“ für die Lebensmittel der Salmhütte gedient hatte. Auch wenn die Bergwelt überaus beeindruckend ist, sollte man den Nahblick in die umliegenden Bergwiesen nicht vergessen, denn dort wird man immer wieder die weißfilzigen Edelweiß-Sterne erblicken. Begleitet vom Rauschen des Leiterbaches geht es steil und teilweise seilversichert hinauf zur Stockerscharte (2501 m). Das Gelände bricht hier steil in die Tiefe, ein Fehltritt wäre fatal.

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Der von Wollgras umgebene Obere Glatzsee bildet ein besonderes landschaftliches Kleinod im Antlitz des Großglockners. Rechts die kargen Flanken des Schwertecks.

© J. Essl

Die Stockerscharte bietet dann genügend Platz für eine Rast. Auf diesem exponierten Punkt fühlt man sich angesichts der grandiosen Aussicht wie in einem Freiluftkino: Aus der Goldberggruppe grüßen Sonnblick und Hocharn herüber, zur Linken blickt man auf die Pasterze und die umliegenden Gipfeltrabanten mit Freiwandeck, Fuscherkarkopf, Johannisberg und Großglockner. Die Pasterze, noch immer der längste Gletscher der Ostalpen, ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie stark die Gletscher, nicht zuletzt aufgrund des Klimawandels, zurückgegangen sind: Vor gut 170 Jahren floss der mächtige Eisstrom bis unterhalb des heutigen Margaritzenspeichers in die Möllschlucht. Heute erinnern nur mehr der Untere Pasterzenboden mit dem Sandersee und die immer noch gut sichtbare Ufermoräne an dieses mächtige Ausmaß. Nur mehr knapp 400 Höhenmeter tiefer liegt bereits das Glocknerhaus, das Ziel der heutigen Etappe.

Zu Beginn führt der Abstieg durch das Schrofengelände des Mittleren Leiterkopfes, wo Trittsicherheit unerlässlich ist. Es sind aber nur wenige Schritte, bis das Grün der Bergwiesen dominiert und das Gelände sanftere Formen zeichnet. „Am Seele“ hat man schließlich einen freien Blick über die Pasterze bis zum Oberen Pasterzenboden mit dem Gipfel des Johannisbergs, dem Nährgebiet des Gletschers. Dabei sind die aus dem Eis herausragenden drei Burgställe, die auch als „Nunatak“ bezeichnet werden, wahre naturkundliche Besonderheiten, denn selbst beim Gletscherhochstand der Pasterze um 1850 waren diese Felsinseln immer eisfrei. Dadurch konnte sich dort eine ganz spezielle, einzigartige Vegetation ausbilden.

Über sanfte Bergwiesen erreicht man den Margaritzenspeicher, der im Jahre 1953 fertiggestellt wurde. Damit wurde die Entwässerung der Pasterze in die Möll unterbunden und über einen Druckstollen nach Norden in den Stausee Mooserboden auf Salzburger Seite entwässert. Nach Überqueren der zwei Talsperren folgt ein letzter Anstieg hinauf zum 1875 errichteten Glocknerhaus (2132 m), das heute an der Großglockner Hochalpenstraße liegt.

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Großglockner mit Johannisberg und Pasterze gelten als das Herz des Nationalparks.

© J. Essl

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Entlang der Glocknerrunde hört man oft die Warnschreie der Murmeltiere, die bis zu neun Monate Winterschlaf in ihren Bauen halten.

© J. Essl

Über die Pfandlscharte bis nach Fusch an der Glocknerstraße

Bevor die Sonne ihre ersten wärmenden Sonnenstrahlen zum Glocknerhaus schickt, wird es Zeit, dem Schutzhaus auf Wiedersehen zu sagen. Angenehm still ist es noch, wenn man vor die Tür tritt. Keine Hektik, kein Lärm vom Ausflugsverkehr, der sich an schönen Sommertagen hinauf zur Franz-Josefs-Höhe wälzt. Die ersten Schritte hinauf zu den Bergwiesen der Trögeralm werden womöglich noch ungelenk sein, denn das Gelände ist zu Beginn etwas steil und lässt den Puls gleich ein wenig nach oben schnellen. Ein guter Grund, hin und wieder innezuhalten und den Blick zum Großglockner mit seinem Gletscher- und Eismantel des Hofmannskeeses zu richten. Schärft man dabei seinen Blick, wird man wahrscheinlich sogar Glocknerbesteiger als kleine schwarze Punkte am Glocknerleitl erkennen. Genießen wir den Anblick noch einmal in vollen Zügen, denn der „König“, der in den letzten Tagen in unterschiedlicher Erscheinung immer im Mittelpunkt stand, wird mit dem Überqueren der Unteren Pfandlscharte zum letzten Mal auf dieser Runde zu sehen sein. An seine Stelle treten nun andere, kaum weniger imposante Tauern-Bergriesen.

Vor dem Übertritt von Kärnten nach Salzburg über die Untere Pfandlscharte durchquert man ein weitläufiges Kar zwischen Spielmann und Racherin. Nach dem Abschmelzen des Südlichen Pfandlschartenkeeses hat sich bis auf einen kleinen Gletscherrest ein großer Bergsee gebildet. Hochalpine Pflanzenspezialisten, wie Gletscherhahnenfuß, Alpenleinkraut, Alpenmannschild oder auch die Kriechende Nelkenwurz, haben das karge Gletschervorfeld in eine bunte Blütenpracht verwandelt. Auch die unscheinbare Stumpfblättrige Weide, gern auch als „kleinster Baum der Welt“ bezeichnet, bildet kleine Teppiche und festigt mit ihren meterlangen Wurzeln den Boden.

Der Steinbock hat in den Hohen Tauern wieder ein Zuhause gefunden und mit etwas Glück wird man diesem stattlichen, wenig scheuen Wildtier hier begegnen. Im 18. Jahrhundert wäre das Steinwild aus den Alpen beinahe verschwunden, hätte es nicht im oberitalienischen Gran-Paradiso-Gebiet eine Zufluchtsstätte gefunden. Von dort erfolgte die alpenweite Wiederansiedlung. Heute leben im Nationalpark Hohe Tauern an die 1000 Exemplare.

Mit dem Erreichen der Unteren Pfandlscharte (2663 m), die zwischen Schartenkopf und Spielmann regelrecht eingezwängt ist, folgt nun ein langer Abstieg von über 1400 Höhenmetern in das Ferleitental. Noch vor wenigen Jahren füllte das Nördliche Pfandlschartenkees das gesamte Becken aus, doch mit dem Zurückschmelzen dieses nur mehr kleinen Gletschers erfolgt der Abstieg mittlerweile eisfrei linksseitig, entlang von Markierungsstangen. An den Gletscherkörper sollte man sich aus Sicherheitsgründen nicht zu nah heranwagen, denn die Steinschlaggefahr aus den Nordwänden des Spielmanns ist groß. Ein besonderes Naturschauspiel sind die Gletschertische, die das gesamte Pfandlschartenkees zieren. Diese entstehen durch Abschattung des Eises unterhalb des Steines, wodurch ein langsamer Abschmelzprozess stattfindet.

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Das typische Zick-Zack-Band verrät die Kreuzotter. Sie ist die einzige Giftschlange in den Hohen Tauern.

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Ein Kreuz ziert den Übergang der Unteren Pfandlscharte mit Blick ins Fuschertal und zum Großen Wiesbachhorn.

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Die Zeit, als das Nördliche Pfandlschartenkees und das Spielmannkees noch vereint waren, ist schon lange vorbei. Heute führt der Steig durch ein von Schutt bedecktes Gletschervorfeld, das insbesondere vom weiß blühenden Einblütigen Hornkraut und dem Gelben Steinbrech besiedelt wird. Die Überwindung des Pfandlbaches ist in den Morgenstunden noch einfach, aber mit der Tageserwärmung wird der Gletscherbach durch den ausgeprägten Tagesgang zunehmend rauer und wilder – ein Umstand, der Schwierigkeiten bereiten könnte.

Mit Tiefblick auf das von den eiszeitlichen Gletschern ausgeschürfte Fuschertal steigt man zur Trauneralm (1522 m) ab. Beim Abstieg fällt der schöne Blaue Eisenhut auf, der zu den giftigsten Pflanzen im Alpenraum gehört, gleichzeitig aber auch eine große Heilwirkung besitzt. Direkt an der Hangkante, wo die Berghänge steil ins Fuschertal hinabgleiten, weist eine Bronzetafel auf das „Späherbrünnl“ hin, eine kleine Quelle. Beim Blick über das gesamte Tal wird einem die gewaltige Reliefenergie zwischen Talboden und den höchsten Gipfeln der nördlichen Glocknergruppe besonders bewusst. Nirgendwo im Nationalpark ist der Höhenunterschied – beinahe 2500 Höhenmeter – so groß wie hier. Lange Zeit war man deshalb der Meinung, dass das Große Wiesbachhorn (3564 m) der höchste Berg in Österreich sei.

Die Gletscherlandschaft rund um Wiesbachhorn, Fuscherkarkopf, Hohe Dock und Klockerin ist faszinierend. Noch in den 1970er-Jahren ereigneten sich gewaltige Eisstürze vom Bockkarkees mit über einer Million Kubikmeter Eis. Dabei drangen die Eislawinen bis ins Innere Fuschertal auf knapp 1300 Meter Seehöhe vor. Mit dem Boggeneikees, das von Lawinen gespeist wird, ragt dieser Gletscher noch immer bis auf knapp 1900 Meter hinunter. Der Talschluss beherbergt mit dem Rotmoos ein besonderes Naturjuwel. In zahlreichen Mäandern durchfließen kleine Bäche diese Moorlandschaft mit ihren zahlreichen Tümpeln und einer vielfältigen Flora: Der fleischfressende Rundblättrige Sonnentau, Fieberklee, verschiedene Enzian- und Seggenarten, Breitblättriges Knabenkraut oder auch wunderschöne Wollgraswiesen haben hier ihre Heimat.

Doch dieses Tal hat auch eine Seite, die so gar nicht zur Philosophie eines Nationalparks passt: Lärm! Hunderttausende befahren jährlich in den Sommermonaten mit ihren Pkws und Motorrädern die Großglockner Hochalpenstraße und verursachen dabei mitunter eine ohrenbetäubende akkustische Umweltverschmutzung, die sich weithin in den Nationalpark ausbreitet.

Die Trauneralm (1522 m), die zu einer Rast und Stärkung einlädt, ist nun nicht mehr weit. Mit dem Erreichen des Talbodens des Fuschertales ändert sich auch die Landschaft, denn hier wurde in jahrhundertelanger Bauernarbeit eine ausgedehnte Kulturlandschaft mit besten Weidegründen für das Almvieh geschaffen. Gut erhaltene Klaubsteinmauern erinnern noch an vergangene Zeiten ohne Stacheldraht. Der Blick bleibt immer wieder am spaltenzerrissenen Hängegletscher des Sandbodenkeeses hängen, der bedrohlich seine Gletscherzunge über die dunklen Felswände ins Tal schiebt. In Ferleiten bei der Mautstelle angekommen, herrschen hektisches Treiben und Lärm. Von hier aus besteht die Möglichkeit, bequem mit dem Linienbus nach Fusch an der Glocknerstraße zu fahren.

Die Wanderung nach Fusch (813 m) hat aber durchaus auch ihren Reiz, da sich Schluchtwälder mit steilen Almwiesen und ausgedehnten Laubwäldern abwechseln. Nach über neun Stunden Gehzeit ist schließlich die Nationalparkgemeinde als Ziel dieser sechsten und längsten Etappe erreicht.

Von Fusch ins Kapruner Tal

Mit der letzten Etappe um den Großglockner geht eine eindrucksvolle Woche in dieser grandiosen Hochgebirgswelt der Hohen Tauern dem Ende zu. Zum Abschied erwarten den Bergwanderer auf dem Weg über die Brandlscharte bis ins Kapruner Tal nochmals eine unvergessliche Berg- und Gletscherszenerie, traditionell bewirtschaftete und blumenreiche Bergwiesen sowie eine gemütliche und aussichtsreiche Schutzhütte. Der Beginn des Aufstieges zur Gleiwitzer Hütte sollte keinesfalls zu spät erfolgen, denn der Anstieg verläuft über einen Osthang, der sich sehr rasch erwärmt. Am Beginn schützt noch der Laubwald mit seinem schattenspendenden Blätterdach, wenn es dann doch heiß werden sollte, sorgen entlang des Weges sprudelnde Bächlein mit glasklarem Quellwasser für Abkühlung und Erfrischung. Die Überquerung des vom Hirzbach- und Brachkees gespeisten Hirzbaches, der zwischen großen Gesteinsblöcken ungezähmt und tosend ins Tal rauscht, signalisiert, dass die Waldgrenze bald erreicht ist. Daran an schließt sich ein wunderschöner Blick über die weiten Bergwiesen der Hirzbachalm, die im Schutz steil aufragender Berggipfel, wie Kempsenkopf, Bauernbrachkopf, Schneespitze, Kleiner und Hoher Tenn, Zwingspitze und Lorenzkopf, liegt. Besonders der Hohe Tenn (3368 m) ist ein unter erfahrenen Bergsteigern geschätztes hochalpines Bergziel. Im Reigen dieser herrlich kontrastreichen Berglandschaft sind die 400 Höhenmeter bis zur Gleiwitzer Hütte, die bereits in Sichtweite ist, bald geschafft. Wie ein Adlerhorst wacht die kleine Schutzhütte auf 2174 Metern Höhe über dem Hirzbach- und Fuschertal.

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Großglockner und Glocknerwand von Norden. Links das Hofmannskees, in der Mitte das innere Glocknerkar und rechts, unter der Glocknerwand, das Glocknerkees.

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Die Glocknerrunde in Zahlen

Dauer: 7

Tage Gesamtgehzeit: etwa 50 Stunden, Tagesetappen von bis zu 9 Stunden.

Höhenmeter: insgesamt 7120 Hm im Aufstieg, 8265 Hm im Abstieg.

Gesamtlänge: 100,2 km.

Höchster Punkt: Gradetzsattel, 2826 m

Der Alpenverein bietet einen Folder zur Glocknerrunde in deutscher und englischer Sprache zum Download an: http://www.alpenverein.at/portal/berg-aktiv/wege-touren/trekkingrouten/index.php

Nach einer guten Jause inmitten blumenreicher Bergwiesen folgt ein genussreicher Anstieg, vorbei am tiefblauen Brandlsee, zum Sattel der Brandlscharte (2371 m). Mächtig erhebt sich auf der anderen Talseite die Pyramide des Kitzsteinhorns, das für den Gletscherskilauf erschlossen ist. Kontrastreich ist der Blick nach Norden zu den durchwegs sanften Grasbergen der Kitzbüheler Alpen sowie zu den schroffen und wuchtigen Felsgipfeln der Loferer und Leoganger Steinberge. Von der Brandlscharte würde die Möglichkeit bestehen, zwei schöne Berggipfel in unmittelbarer Nähe zu besteigen: den einsamen Rettenzink (2510 m) oder das äußerst beliebte und leicht erreichbare Imbachhorn (2470 m), das über dem Zeller Becken thront und Tiefblicke auf den Zeller See ermöglicht.

Nach dem langen Aufstieg von Fusch zur Brandlscharte weiß man, dass die Glocknerrunde in gut zweieinhalb Stunden zu Ende sein wird. Deshalb sollte man sich auf dem Weg durch das Falkenkar bis zum Rosskopf (1999 m) an den herrlich blühenden Bergwiesen erfreuen, auch wenn sich Serpentine an Serpentine legt. Zumeist ist es in diesem Abschnitt heiß und deshalb bietet der Eintritt in die schattenspendenden Nadel- und Mischwälder eine angenehme Abkühlung. Auffallend sind beim weiteren Abstieg die gewaltigen Kahlschläge an der gegenüberliegenden Talseite – Folgen des orkanartigen Sturms mit dem Namen „Uschi“ aus dem Jahre 2002, der vor allem im Salzburger Pinzgau, Pongau und Lungau schwere Schäden anrichtete.

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Tritt man aus dem Wald im Hirzbachtal heraus, bauen sich zahlreiche Berggipfel, wie der Kleine Tenn oder die angezuckerte Schneespitze, zu einer imposanten Naturkulisse auf.

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Erfrischendes Wasser war beim Abstieg lange Zeit rar, doch je näher man dem Talboden kommt, desto mehr vereinigen sich die Rinnsale des Schwarzenbaches zu einem erfrischenden Nass im Schutz eines schattenspendenden Laubwaldes mit Grauerlen und Bergahorn. Mit dem Erreichen des Parkplatzes der Gletscherbahnen tritt man in die Welt des Massentourismus ein. Technik, Hektik und Lärm bestimmen hier das Geschehen. Man sollte es in diesem Moment ausblenden und vielmehr im Erlebten der letzten Tage schwelgen, wo Ruhe, Stille und Einfachheit in einer atemberaubenden Hochgebirgslandschaft ständige Begleiter waren.

Die Glocknerrunde im Internationalen Jahr des Nachhaltigen Tourismus

Die Glocknerrunde wurde im Jahre 2002, dem Internationalen Jahr der Berge, vom Österreichischen Alpenverein in Zusammenarbeit mit dem Nationalpark Hohe Tauern umgesetzt. Die hochalpine Trekkingroute verbindet nicht nur die drei Bundesländer Kärnten, Salzburg und Tirol im gemeinsamen Anliegen für den Nationalpark Hohe Tauern, sie ist auch ein Beweis dafür, wie durch die enge Zusammenarbeit von Gemeinden, NGOs und Wirtschaftsbetrieben der Alpintourismus und Naturschutz in einer engen Koexistenz harmonieren können. Diese Form des landschaftsschonenden Tourismus bedeutet Wertschätzung und Respekt gegenüber einem sensiblen Ökosystem und reiht sich damit als gelungenes Beispiel auch in die Umsetzung der Alpenkonvention zur Förderung eines nachhaltigen Tourismus ein. Gerade im Jahr 2017 – dem Internationalen Jahr des Nachhaltigen Tourismus – bleibt es zu hoffen, dass derartige Initiativen noch viele Nachahmer finden.

A wie Ameisenstraße

Der Großglockner ist ein Berg voller Mythen, Anekdoten und Absurditäten. Höchste Zeit also, ein paar Begriffe zu klären.

>> Dominik Prantl

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© D. Prantl