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© Piper Verlag GmbH, München 2017

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Covergestaltung und -motiv: FAVORITBUERO, München

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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»Alles in der Welt dreht sich um Sex.

Außer Sex.

Bei Sex geht es um Macht.«

Alter Witz unter amerikanischen Psychoanalytiker*innen

Inhalt

Motto

Spoilerwarnung: Dieses Buch kann Widerstand auslösen

Einleitung

Eins
Weibliche Lust und männliche Normen oder sie will, was er will

Die Krux mit der Lust – Die gebremste Frau

Die Matrix der Lust – Wie Lust entsteht und wie sie vergeht

Das Tier in ihr – Die hysterische Frau

Die Gebärmutter auf Abwegen

Der große Auftritt der Hysterie: Charcot lässt die Puppen tanzen

Trauma und Tabu – Vom verführten Kind zur hysterischen Lügnerin

Die frigide Nymphomanin – Der Feind in seinem Bett

Miley Cyrus’ freche Zunge oder wozu die ganze Hysterie?

Freud und Leid des weiblichen Orgasmus – Die unreife Frau

Die richtige Mischung – Als der weibliche Orgasmus noch dem Erhalt der Menschheit diente

Sünde Selbstbefriedigung – Vom peinlichen Gefühl, Genitalien zu haben

Good Vibrations – Warum Ärzte vor der Entdeckung des Vibrators mit hysterischen Frauen alle Hände voll zu tun hatten

Von Penislosigkeit zu Penisneid – Wie Freud den reifen Orgasmus erfand und eine Prinzessin ihre Klitoris versetzte

Vaginal, klitoral, egal – Hauptsache, Happy Ending

Von Dornröschen zu Tinderella – Die sexuell befreite Frau

»Mein Bauch gehört mir!« – Das Recht auf Verhütung und Abtreibung oder die Wiederaneignung des weiblichen Körpers

»Untenrum« oder Viva la Vulva! – Worte für das Unaussprechliche finden

Es hinter sich bringen – Der Hype um die Jungfräulichkeit

Friends with benefits und Booty Calls – Die neue Art zu lieben

Zwei
Pornografie und Prostitution oder der Traum von der immergeilen Frau

Die Frau als Ware oder die Geschichte der Pornografie – Die gefickte Frau

»Porno ist die Theorie, Vergewaltigung die Praxis« – Wie gefährlich ist Pornografie?

Voll Porno! Was Pornografie mit Jugendlichen macht und umgekehrt

»Igitt« oder »Oh Gott« – Frauen und Porno

Sexuelle Befreiung oder Erniedrigung – Zwischen Sasha Grey und »Shades of Grey«, oder gibt es feministische Pornografie?

Das älteste Gewerbe der Welt – Die »andere« Frau

Die dreckige Hure – Das notwendige Übel

Geiz ist geil oder Straßenstrich und Flatrate-Bumsen – Die billige Frau

Sterne oder Staub? Die Illusion der Wahl – Die (ohn)mächtige Frau

Ein Beruf wie jeder andere? Der schmale Grat der Freiwilligkeit

Sex oder Gewalt, Unterdrückung oder Ermächtigung, verbieten oder legalisieren?

Drei
Sexualisierte Gewalt oder warum Frauen eigentlich selbst schuld sind

Die Hexe soll brennen – Die böse Frau

Sei still, sei still – Die verstümmelte Frau

Die Weitergabe der Gewalt – Wenn Traditionen traumatisieren

Die Beschneidung der Lust – Die Beschneidung des Willens – Die Beschneidung der Freiheit

Kavaliersdelikt Vergewaltigung – Die aufreizende Frau

Vergewaltigung – Die doppelte Gewalt

Das risikolose Delikt und das männliche Gesetz

»Manche Männer sind einfach rabiater« – Sexuelle Gewalt in der Ehe

»Triebgesteuert« und andere Tätermythen – Die aggressive Tat mit sexuellen Mitteln

Cybergewalt, Sexting und Revenge-Porn – Die bloßgestellte Frau

Nein heißt Nein oder das Ende des Schweigens – Die beschützte Frau

Vier
Zwischen Sexobjekt und Sexgöttin – Subjekt des Begehrens werden

Schönheit ist Macht - Die normierte Frau

Schau! Mich! An! – Warum sexy wichtiger ist als lustvoll

Scham & Haare – Die Banalität der Normalität

Unfuckable wegen Falten – Die alternde Frau

Feministin klingt mir zu ungebumst – Die bedrohliche Frau

Wer F… sein will, muss freundlich sein – Das unbeliebte F-Wort

»Du läufst wie ein Mädchen« – Alltäglicher Sexismus oder die Geschichte der minderwertigen Frau

Das unsolidarische Geschlecht – Frauen gegen Frauen und den Rest der Welt

Fünf
Was will das Weib? Zwischen sexueller Freiheit und Selbstbestimmung

Von männlicher Herrschaft zu weiblicher Selbstbeherrschung

Das Diktat der sexuellen Freiheit oder der große Bluff

Danksagung

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Spoilerwarnung: Dieses Buch kann Widerstand auslösen

»Let’s talk about sex, baby

Let’s talk about you and me

Let’s talk about all the good things

And the bad things that may be.«

Salt-N-Pepa, »Let’s talk about Sex«

»Weibliche Sexualität – wie spannend!«, war eine typische Reaktion auf dieses Buchprojekt. In der Tat stieß ich sowohl bei meinen Interviews mit jungen Frauen als auch bei meiner historischen Recherche auf interessante Anekdoten und haarsträubende Fakten. Wussten Sie zum Beispiel, dass man lange Zeit davon ausging, dass die Gebärmutter bei sexuell wenig aktiven Frauen im Körper umherwandert und dabei gesundheitliche Probleme verursacht? Dass Frauen jahrhundertelang ganz offiziell von Ärzten zum Orgasmus massiert wurden? Dass man vor nicht allzu langer Zeit allen Ernstes zwischen einem reifen und einem unreifen weiblichen Orgasmus unterschied oder dass Ärzte Frauen während ihrer Menstruation für nicht zurechnungsfähig hielten?

Weibliche Sexualität ist ein Partythema, aber sie kann einem auch die Stimmung verderben. Denn die schönste Sache der Welt hat auch dunkle Seiten und tiefe Abgründe. Lust kann in Frust, Begierde in Hass, Dominanz in Gewalt umschlagen. Der weibliche Körper kann liebkost, aber auch benutzt oder verletzt werden. Die Frau kann idealisiert oder erniedrigt werden, wo Heilige sind, sind Huren nicht weit entfernt. Bei aller Liebe gab es gesellschaftlich gesehen stets eine Hierarchie zwischen Männern und Frauen – es waren Männer, die über die Sexualität der Frau bestimmten.

»Ich bestimme nicht über meine Frau. Wenn sie Nein sagt, dann haben wir keinen Sex. Bestimmt sie da nicht eher über mich?«, witzelte ein Bekannter.

»In intimen Beziehungen können sowohl Männer als auch Frauen die Hosen anhaben, das stimmt«, räumte ich ein. »Aber gesellschaftlich gesehen hatten Männer seit jeher mehr Macht als Frauen. Männer hatten jahrhundertelang mehr Rechte und mehr Freiheiten, auch in sexueller Hinsicht. Und ich versuche herauszufinden, wie es heute ist. Wie frei Mädchen und Frauen im 21. Jahrhundert sind.«

»Total frei!«, vermuteten viele. Und dann geschah etwas Seltsames: Während ich aktuelle und historische Beispiele aus der rund 2000-jährigen Geschichte der Beherrschung der Frau aufzählte, kam es immer wieder zu Protest. Es gab Frauen, die jegliche Ungerechtigkeit und Unfreiheit zunächst heftig abstritten. Bis ich sie fragte, warum es uns allen so wichtig ist, möglichst schlank zu sein? Warum Falten und graue Haare bei Frauen eine Katastrophe sind, während wir ähnliche Alterungsmerkmale bei Männern attraktiv finden? Ob der Übergang vom Paar zu Eltern in ihren Beziehungen so reibungslos und gleichberechtigt verlaufen war, wie sie es sich vorgestellt hatten, ob also ihre Partner den gleichen Anteil am Haushalt und der Kindererziehung übernahmen. Ob sie schon einmal einen Orgasmus vorgetäuscht hatten und warum. Ob sie schon einmal eine sexuelle Grenzverletzung erlebt und sich nicht lautstark gewehrt hatten. Ob sie schon einmal eine abwertende, sexistische Zuschreibung erfahren hatten. Ob sie ihre Söhne und Töchter in jeder Hinsicht gleich behandelten. Und ob sie sich außerhalb einer verbindlichen, geborgenen Liebesbeziehung sexuell wirklich so frei fühlten, wie es das Bild in den Medien vermittelt. Der Protest ebbte ab. Das Nachdenken setzte ein. Aus Widerstand wurde widerwillige Zustimmung: »Das gefällt mir zwar nicht, aber da ist was dran.«

Die Realität im 21. Jahrhundert ist ernüchternd: Das jugendliche, schöne Aussehen einer Frau, der Rückfall in alte Rollenmuster nach der Geburt eines Kindes, latenter bis offensichtlicher Alltagssexismus, die häufige Erfahrung von sexuellen Übergriffen, die damit verbundene Ohnmacht und Scham sowie der Anspruch, grundsätzlich nicht zu unbequem zu werden – all das ist für viele Frauen heute immer noch »ganz normal«.

Männer jedoch waren oftmals nicht ganz so einfach davon zu überzeugen, dass bis heute ein gesellschaftliches Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen besteht. Je mehr Fakten ich lieferte, um die Geschlechterdiskrepanz zu verdeutlichen, desto mehr Nachdruck, Wut oder auch Überheblichkeit wurde in die Gegenargumente gelegt. Dass Frauen in ihrer Sexualität und vielen anderen Rechten beschnitten wurden, dass ihnen Bildung und außerhäusliche Erwerbstätigkeit bis ins 20. Jahrhundert verweigert wurden, dass es noch heute verachtende weibliche Zuschreibungen und starre Rollenvorgaben gibt, unter denen beide Geschlechter leiden – all das verpuffte oft ungehört. Stattdessen erfuhr ich von meinen männlichen Gesprächspartnern, dass es neben dem Patriarchat auch Matriarchate gegeben habe und am Amazonas immer noch gäbe. Dass Frauen in Russland und sogar in der Türkei innerhalb der Familie schon immer mehr zu sagen hatten als Männer. Überhaupt: Dass Männer in der Geschichte mehr Macht als Frauen hatten, sei eine Legende, ich solle bitte Kleopatra, Maggie Thatcher, Königin Elizabeth und natürlich Frau Merkel nicht vergessen. Und was die Rechte von Frauen anginge, da bestünde heute ja wohl eher eine Ungerechtigkeit den Männern gegenüber. »Wo?«, fragte ich nach. »Na, beispielsweise bei rein weiblichen Saunatagen, an denen Männern verboten wird, die Sauna zu betreten, oder bei Ladies Nights in Clubs, bei denen Frauen keinen Eintritt zahlen müssen, Männer aber schon. Bei Frauenparkplätzen. Oder bei der Frauenquote, durch die Frauen bevorzugt werden.«

Es wurde aufgerechnet. Es wurde verleugnet. Aus Paaren und Freunden wurden plötzlich gegnerische Geschlechter, aus kerzenbeleuchteten Wohnzimmern wurden Arenen, in denen Männer gegen Frauen kämpften. Es gab Abende, an denen ich mich innerlich aus der Diskussion zurückzog und staunte, welche Dynamik entstehen konnte, wenn es um (weibliche) Sexualität und die damit verbundenen Macht- und Ohnmachtsgefühle ging. Das, was ich psychologisch und historisch untersuchen wollte, entfaltete sich im Hier und Jetzt mit voller Wucht – trotz aller Fortschritte ging es in Sekundenschnelle nur noch darum, wer recht hatte, wer das Sagen hatte, kurzum, wer die Deutungshoheit, also die Macht besaß.

Ich verstand anfangs nicht, warum, aber ich spürte, dass sich einige Männer schon bei der bloßen Aufzählung von Fakten persönlich angegriffen fühlten. Was hatten sie mit den hexenjagenden Schergen des Mittelalters, mit vergewaltigenden Kriegshorden, mit frauenfeindlichen Internetstalkern oder prügelnden Unterdrückern zu tun? Nichts. Anstatt die Geschichte der weiblichen Sexualität interessiert, entsetzt oder meinetwegen auch gleichgültig zur Kenntnis zu nehmen, unterstellten sie mir eine Verdrehung, zumindest aber eine Hervorhebung bestimmter historischer und aktueller Fakten.

War die stoische Leugnung unbequemer Tatsachen ein Resultat der unbewussten Identifikation mit den männlichen Vorfahren? Auch ich spürte sie ja, eine Verbindung zu meinen Geschlechtsgenossinnen der letzten Jahrhunderte: Ich fühlte mit ihnen, ich empörte mich für sie, ich ärgerte mich über sie und trauerte um das, was ihnen zugefügt worden war. Aber ich denke nicht grundsätzlich in männlichen und weiblichen Kategorien, und so mag ich nicht grundsätzlich von weiblichen Opfern und männlichen Tätern sprechen, auch wenn diese Dichotomie in der Geschichte oft zu finden ist. Frauen sind keine besseren Menschen als Männer. Macht kann von jedem Geschlecht missbraucht werden. Wer allerdings die Macht hat, ohne sie an sich gerissen zu haben, möchte nicht dafür kritisiert werden. So erklärt sich, warum auch Männer, die sich selbst nicht für frauenfeindlich halten, empfindlich oder genervt reagieren auf die Kritik am Status quo. Wir alle übersehen es leicht: Man braucht sich nicht privilegiert zu fühlen, um privilegiert zu sein.

»Was kann ich tun, damit du ruhig bleibst und mir zuhörst?«, fragte ich einmal einen langjährigen Freund von mir, der seit einer halben Stunde versuchte, mich vom Gegenteil der Faktenlage zu überzeugen. Er überlegte eine Weile und schlug dann vor: »Du könntest einige Punkte sanfter verpacken.« Ein Mann verlangt von einer Frau, Ungerechtigkeiten, die zu Lasten der Frau gehen, sanfter zu verpacken – ich wurde so wütend, dass ich keine Lust mehr hatte, das Gespräch mit ihm fortzusetzen. Am nächsten Tag aber, als ich mich wieder beruhigt hatte, konnte ich meinen Freund wider Willen verstehen. Er zeigte die gleiche Reaktion, die wir haben, wenn wir eine Dokumentation über Massentierhaltung sehen, umschalten und denken: »So schlimm geht es den Tieren nicht überall, das ist ein schrecklicher Ausnahmebetrieb«, damit es uns möglich ist, am nächsten Morgen wieder Milch in unseren Kaffee zu gießen und Käse zu essen. Es ist die gleiche Reaktion, wie wenn wir günstige Klamotten kaufen und verdrängen, dass es irgendwo auf der Welt Menschen gibt, die sie unter unsäglichen Bedingungen hergestellt haben.

Es kann sehr unangenehm sein, mit den hässlichen Auswüchsen der Realität konfrontiert zu werden. Wir möchten uns schützen. Wir möchten uns abwenden. Wir möchten nichts damit zu tun haben. Aber je mehr wir uns abwenden, desto leichter setzt sich das fort, was uns zu schaffen machte, sähen wir hin. Der Wunsch, keine Schuld zu tragen, erfüllt sich nur, wenn wir Verantwortung übernehmen und ihr nicht ausweichen.

Ich bin der tiefen Überzeugung, dass starre, unbewusste Rollen uns einengen, beide Geschlechter, Männer wie Frauen. Ein Beweis dafür sind die Abende mit meinen Freunden, wo ein paar Sätze genügten, um die Geschlechter gegeneinander aufzubringen und jeden Einzelnen mit seiner Ohnmacht ringen zu lassen. Was ich in diesen aufgeheizten Diskussionen erlebte, war eine Spaltung, die im Inneren des Einzelnen begann und sich dann in der Polarisierung Mann gegen Frau fortsetzte. Spaltung bedeutet, einen Teil von etwas nicht mehr zu sehen und nicht mehr zu fühlen. Wir spalten etwas ab, wenn es bedrohlich ist, wenn wir es nicht ertragen können, wenn es uns in unseren Grundfesten erschüttern könnte. Für niemanden ist es leicht, vielleicht ist es sogar unmöglich, das ganze Bild in allen Farben zu sehen. Weil wir immer eine vorgeprägte Sichtweise mitbringen: durch unsere Familie, die Gesellschaft, die Zeit, in der wir leben, und auch aufgrund unseres Geschlechts.

Es gab viele, die nach einer Weile bereit waren, mir zuzuhören, und die ich berühren konnte mit den Geschichten, die ich gehört oder gelesen hatte. Die verstanden, dass es mir nicht um eine Hassschrift gegen Männer, sondern um eine geschichtliche und gesellschaftspsychologische Aufarbeitung von Ungerechtigkeiten geht, die Männer per se zu Mittätern macht, ob sie wollen oder nicht. Dass ich in diesem Buch historische und aktuelle Missstände – unter denen beide Geschlechter noch immer leiden – und ihre Verbindung zueinander aufzeige, damit wir uns bewusst davon verabschieden können.

Einleitung

»Ich handle, und ich werde behandelt.

Ich erfahre, und ich werde erfahren.«

Catherine Angel

Im 21. Jahrhundert haben Frauen in der westlichen Welt Freiheiten, von denen ihre Vorfahrinnen nur träumen konnten. Sie können verhüten und somit Sex ohne Angst vor einer Schwangerschaft genießen. Sie können ihre Partner*innen frei wählen. Sie müssen nicht heiraten. Sie können über Sex sprechen, Sex haben oder Sex ausschlagen, wenn sie keine Lust haben. Sie sind, wie man so schön sagt, »sexuell befreit«. Aber was bedeutet das genau? Haben Frauen sich selbst befreit, oder wurden sie befreit, und ist die Befreiung überhaupt schon abgeschlossen? Kamen mit der Freiheit nur Vorteile oder auch Nachteile? Und wie frei sind Frauen heute wirklich – neigen sie nicht nach wie vor dazu, sich unterzuordnen und männliche Werte zu akzeptieren, ohne diese zu hinterfragen?

»Ich finde nicht, dass ich mich irgendwo unterordne«, sagt die 33-jährige Sonja. »Ich mache doch genau das, worauf ich Lust habe!« Die attraktive Lehrerin hat eine Affäre nach der anderen. Sie reist viel, hat einen großen Freundeskreis und geht mindestens dreimal die Woche zum Sport, nicht, weil es ihr Spaß macht, sondern weil sie fit, schlank und straff bleiben will. »Noch ist der Richtige ja nicht gefunden«, scherzt sie. Sie hat mit über 50 Männern geschlafen, was außer mir nur ihre beste Freundin weiß, weil Sonja die Erfahrung gemacht hat: »Man wird da sehr schnell abgestempelt.« Trotzdem will sie sich ihre sexuelle Freiheit nicht nehmen lassen, und das heißt im Klartext: »Mich sexuell auszutoben und mich wie ein Mann zu verhalten, also nicht zu emotional zu werden.«

Obwohl Sonja mit ihrer Definition von sexueller Freiheit (promisk ohne Bindungswünsche) gerade voll im Trend liegt, ist sie sich des Abgrunds aus Scham und Beschämung bewusst, in den Frauen noch immer leicht abrutschen können, denn über weibliche Sexualität wird nach wie vor hart geurteilt. Selbst wenn man sich als Frau theoretisch sexuell befreit fühlt, lauern doch oft unbewusste und deshalb umso tiefer verankerte gesellschaftliche Werturteile über weibliche Sexualität in den meisten von uns: Schlampig, prüde, nuttig, verklemmt – es gibt viele Adjektive, die Frauen in ihrer Sexualität diskriminieren, hemmen oder ausbeuten und sie unmissverständlich in ihre Schranken weisen.

Bis zur sexuellen Revolution in den 1960er- und 70er-Jahren war klar, was von einer Frau erwartet wurde: Sie sollte passiv und empfangend sein, ihrem Mann treu ergeben und darüber hinaus eine brave Hausfrau und Mutter. Weibliche Sexualität war ein Tabu, die Geschlechtsorgane einzig zur Fortpflanzung gedacht. Heute ist alles anders, heute dürfen, nein, sollen Frauen sexuelle Wesen sein. Enttabuisierung lautet das Zauberwort; »Alles kann, nichts muss« das Motto der neuen Konsensmoral, die ehemalige Perversionen normalisiert und entdramatisiert, denn erlaubt ist, was beiden gefällt.

So weit, so gut. Jedenfalls, wenn die Frau wirklich wüsste, was ihr gefällt. Wenn sie wirklich frei wäre in ihren Wünschen und ihren Äußerungen. Wenn nicht die Angst, kritisiert und beschämt zu werden, viele Frauen einschränken würde. Auch heute noch. Sexuelle Freiheit, so stellte ich fest, hat viele Schattierungen, gegensätzliche Strömungen und wird – obwohl sie eigentlich etwas sehr Privates ist – nach wie vor stark von gesellschaftlichen Normen geprägt.

»Am Wochenende habe ich das erste Mal mit meinem neuen Freund geschlafen, und er hat mir, als er gekommen ist, ins Gesicht ge–« – sie stockt – »na ja, du weißt schon, was ich meine.«

Die 21-jährige Lara wird rot und senkt den Blick. Ich lasse ihr Zeit, um sich zu sammeln und den Anflug von Scham vergehen zu lassen. Scham ist ein unlogisches Gefühl. Manchmal schämen wir uns für etwas, das uns widerfahren ist, das wir nicht kontrollieren konnten, dessen Opfer wir wurden. Besonders in der Sexualität, die heute laut und offen daherkommt und in der alles erlaubt scheint, sitzt immer noch viel Scham. Weibliche Scham.

»Macht man das so? Ist das normal?«, fragt Lara mich nach einer Weile.

»Normal«, antworte ich langsam, »ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, was normal ist. Ich weiß auch nicht genau, wer bestimmt, ob etwas normal ist. Und ob normal gut oder schlecht ist. Deshalb finde ich es eigentlich viel wichtiger, wie du etwas findest, als wie andere etwas finden.«

Sie überlegt eine Weile. »Ich war total geschockt. Ich fand es eklig. Aber ich hab mich nicht getraut, ihm das zu sagen.« Sie schlägt die Hände vors Gesicht. »So hatte ich mir das nicht vorgestellt.«

Der unrühmliche Coitus interruptus ihres Freundes wird Lara wahrscheinlich für immer im Gedächtnis bleiben, aber sie wird viele andere Erfahrungen machen, die diese unangenehme Erinnerung verblassen lassen. Ihr Freund wird verstehen, dass er Szenen, die er in Pornofilmen gesehen hat, nicht ohne das Einverständnis seiner Partnerin in die Realität übertragen kann. Lara wird immer mehr herausfinden, was sie will, und sich idealerweise immer freier machen von dem, was gerade als normal gilt. Denn Normalität ist ein dehnbarer Begriff. Gerade im Bezug auf menschliche, vor allem aber auf weibliche Sexualität.

Was ist heute normal? Und inwieweit bestimmen Frauen diese Normalität mit, wenn sie sich ihre Brüste operieren lassen, ihren Intimbereich wie den einer Pornodarstellerin enthaaren, sich in Frauenzeitschriften über die »schärfsten Stellungen und die besten Blowjob-Techniken« informieren, Pole-Dance und Striptease in Fitnessstudios üben und sich auf unverbindliche, oftmals unbefriedigende Sexualkontakte einlassen?

Sonja und Lara sind zwei der über 70 Frauen (im Alter zwischen 18 und 45), die ich im Laufe der letzten Jahre über ihre Sexualität befragt habe, um der Kernfrage dieses Buches nachzugehen: Wie frei und selbstbestimmt sind Frauen heute wirklich?

Wie ist es, in einer Zeit zu leben, in der Pornografie der Aufklärung dient, man sich (über Dating-Apps) zum unverbindlichen Sex verabredet, in der der Körper das Maß aller Dinge ist und in der Sexualität zwar eine hohe, aber oftmals keine emotionale Bedeutung mehr beigemessen wird?

Wie ist es, in einer Kultur aufzuwachsen, in der Frauen zwar alles dürfen, aber auch alles mitmachen sollen, und welchen Einfluss hat es auf uns, wenn Unterwerfung und Sexualisierung als Emanzipation gefeiert werden?

Wie ist es für Frauen, in einer sicheren Umgebung zu leben und trotzdem zu wissen, wie sich Angst anfühlt, einfach nur, weil sie einen weiblichen Körper haben, der gegen ihren Willen entkleidet, begrapscht und penetriert werden kann?

Was macht es mit Frauen, wenn Gleichberechtigung ausgerufen wird, während Sexismus, Frauenfeindlichkeit und sexualisierte Gewalt gegen Frauen nach wie vor an der Tagesordnung sind und Begriffe wie »Emanze« und »Feministin« als Schimpfwort und Beleidigung gelten?

Woran liegt es, dass viele Frauen sich so bereitwillig gängigen Normen unterwerfen, ohne sie zu hinterfragen? Hat weibliche Sexualität sich etwa nicht emanzipiert, sondern lediglich maskulinisiert?

Ohne Zweifel hat die sexuelle Selbstbestimmung der Frau einen weiten Weg zurückgelegt, aber wo genau stehen wir heute?

Auf diese Fragen habe ich versucht Antworten zu finden – in Gesprächen mit jungen Frauen des 21. Jahrhunderts, in der sexualwissenschaftlichen Forschung und mithilfe einer psycho-historischen Analyse der weiblichen Sexualität. Denn um die Frau und ihre Sexualität in der Gegenwart verstehen zu können, müssen wir einen Blick in die Vergangenheit werfen. Sexualität – die vermeintlich natürlichste Sache der Welt – hat sich historisch entwickelt: Sexualität ist nicht nur Biologie, Lust und/oder Liebe, sondern immer auch Ausdruck der jeweiligen Gesellschaft. Schon immer war Sexualität mehr als nur Sex – es geht um Rollenzuschreibungen, Regeln und Rechte. Es geht um Verschmelzung und Abgrenzung. Es geht um Lust und Liebe und viel zu oft um Gewalt. Es geht um Macht und Ohnmacht: um männliche Herrschaft und weibliche Beherrschung.

Aufgrund des Mann-Frau-Machtgefälles zieht sich eine versteckte bis offensichtliche Doppelmoral wie ein roter Faden durch die Geschichte der Sexualität. Die Frauen, die gegen Ungerechtigkeiten aufbegehren, werden oft bekämpft – von Männern und von Frauen. Warum sind Frauen häufig so wenig solidarisch miteinander, warum unterstützen sie Verhältnisse, unter denen sie selbst leiden, oft sogar über Generationen hinweg? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, müssen wir weit zurückschauen, denn der Ursprung dieser Dynamik liegt in weiter Vergangenheit, und wir spüren ihre Auswirkungen bis heute.

Sie werden auf den folgenden Seiten erfahren, was Macht mit Lust und Sex zu tun hat und wie aus männlicher Herrschaft weibliche Selbstbeherrschung wurde; warum sich um das weibliche Geschlecht bis heute Mythen ranken und immenses anatomisches Unwissen herrscht; woher Schönheitsideale und Normen stammen, die Frauen bis heute schwächen; warum Sexismus und sexuelle Gewalt nicht nur von Männern, sondern oft auch von Frauen bagatellisiert wird; wieso die Sexindustrie so erfolgreich damit ist, mittels Pornografie und Prostitution eine Parallelwelt zur Gleichberechtigung zu schaffen; und warum männliche und weibliche Sex-Fantasien in ihrer politischen Inkorrektheit gar nicht so weit voneinander entfernt sind; wie beide Geschlechter mit unterschiedlichen Mitteln versuchen, ihre Ohnmacht abzuwehren, und dass es einen entscheidenden Unterschied zwischen sexueller Freiheit und sexueller Selbstbestimmung gibt.

»Man wird nicht als Frau geboren, man wird es«, schrieb Simone de Beauvoir 1949.1 Wie die Frau über Jahrtausende hinweg zu der wurde, die sie heute ist, davon handelt dieses Buch: Wie das sogenannte schwache Geschlecht unterdrückt und geformt wurde, aber auch, wie Frauen bis heute dazu beitragen, dass alte Strukturen unangetastet oder sogar begeistert unter dem trügerischen Deckmantel der sexuellen Befreiung übernommen werden. Zweitausend Jahre Ungleichgewicht lassen sich nicht einfach so ausradieren. Aber es lässt sich erzählen, erinnern, herausstellen: wie das weibliche Geschlecht beherrscht wurde und wie es sich heute noch beherrscht.

Eins

»Und dein Verlangen soll nach deinem Mann sein,
aber er soll dein Herr sein.«

Altes Testament, Das erste Buch Mose, Genesis,
Der Sündenfall