»Er erkannte die Leiche sofort, verlor aber im ersten Moment kein Wort darüber.« Avi Avraham, soeben zum Leiter des Ermittlungsdezernats von Cholon-Ayalon ernannt, weiß, dass es sich bei der Toten um die etwa sechzigjährige Lea Jäger handelte. Sie war vor ein paar Jahren in ihrer Wohnung vergewaltigt worden, der Täter hatte sich gestellt und sitzt im Gefängnis. Jetzt lenkt der einzig verwertbare Hinweis den Verdacht auf einen Mann in Polizeiuniform.

Trotz heftiger Widerstände in den eigenen Reihen sucht Avi weitere Frauen, die nach einer Vergewaltigung erneut von einem Polizeibeamten vernommen wurden. Bei seinen Ermittlungen stößt er auf die junge Bankangestellte Mali Bengtson, die einige Jahre zuvor bei einem Betriebsausflug nach Eilat von einem Unbekannten brutal misshandelt wurde. Als er sie und ihren Mann zu einer Befragung aufs Revier bittet, kommt es zur Tragödie.

 

Zsolnay E-Book

DROR MISHANI

 

DIE SCHWERE HAND

 

AVI AVRAHAM ERMITTELT

 

Roman

 

Aus dem Hebräischen von Markus Lemke

 

 

Paul Zsolnay Verlag

 

 

Dem Gedenken an meinen Vater Mordechai Mishani gewidmet

(10.4.1945 bis 9.4.2013)

 

 

Auf halbem Weg des Menschenlebens fand

Ich mich in einen finstern Wald verschlagen,

Weil ich vom rechten Weg mich abgewandt.

Wie schwer ists doch, von diesem Wald zu sagen,

Wie wild, rauh, dicht er war, voll Angst und Not;

Schon der Gedank’ erneuert noch mein Zagen.

Nur wenig bitterer ist selbst der Tod;

Doch um vom Heil, das ich drin fand, zu künden,

Sag ich, was sonst sich dort den Blicken bot.

 

Dante Alighieri, Die Hölle

(in der Übersetzung von Carl Streckfuß)

 

 

PROLOG

 

Anfang Dezember landete eine Boeing 737 auf dem Flughafen Ben Gurion, unter den Passagieren eine junge Frau mit Kurzhaarschnitt und großen, braunen Augen. Oberinspektor Avraham Avraham beobachtete sie von seinem Versteck hinter einer der dicken Betonsäulen, als sie die Milchglastüren passierte und die Ankunftshalle betrat, einen Gepäckwagen mit drei Koffern vor sich herschiebend. Bis zuletzt hatte er nicht geglaubt, dass sie kommen würde, und war sich sicher gewesen, allein nach Hause zurückzukehren. Er betrachtete sie noch einen Augenblick lang aus der Entfernung, ehe er aus seinem Versteck trat und seine Augen den ihren begegneten, die in der Menge der Abholenden nach ihm suchten.

Sie hatten keine großen Pläne für die Zukunft, wollten nur einige Monate zusammenleben. Einander neu entdecken und erst danach darüber nachdenken, was weiter sein würde. Und tatsächlich entdeckten sie einander, langsam und behutsam, mit den verstohlenen Blicken von Menschen, die es gewohnt sind, aufmerksam zu beobachten. Er entdeckte, dass Marianka morgens gerne duschte – und das ausgiebig. Wenn sie herauskam, hinterließ sie auf dem Boden im Badezimmer einen kleinen See, führten nasse Spuren ins Schlafzimmer. Und sie fand heraus, dass Avraham sich nach dem Abendessen unbemerkt in die Küche stahl, um allein für sich hinter geschlossener Tür noch weiterzuessen. Die Koffer versuchte Avraham, nachdem sie deren Inhalt über die Wohnung verteilt hatten, auf dem Kleiderschrank im Schlafzimmer zu verstauen, aber da dort nicht genug Platz war, blieb einer der Koffer den ganzen Winter über neben ihrem Bett stehen.

Marianka wollte sein neues Büro sehen, und früh an einem Freitagmorgen, als noch keiner auf dem Revier war, nahm er sie mit dorthin. Im Unterschied zu seinem Kämmerchen im ersten Stock war das Büro des Leiters der Ermittlungsabteilung großzügig geschnitten und bot vom dritten Stock aus den Blick auf die Fichman-Straße, auf der Wohntürme aus altem Sand wuchsen. Er konnte durch das Fenster die grauen Morgen oder die kühlen Abende mitverfolgen, die die Stadt, in der er geboren war, bedeckten. Und zum ersten Mal überhaupt hätte er sich in seinem Büro auch eine Zigarette anzünden können, aber ausgerechnet da hatte er das Rauchen gerade aufgegeben.

Der Winter war launisch, und als Avraham feststellte, dass das Wetter Einfluss auf Mariankas Stimmung hatte, begann er, jeden Morgen die Wettervorhersage bang zu studieren. Wenn die Temperaturen zurückgingen und es regnete, war sie glücklich. Wenn der Himmel klar und die Luft lau, schon fast angenehm warm war, erzählte sie ihm vom Schnee in Brüssel und vermochte nicht, die Sehnsucht auf ihrem Gesicht und in ihrer Stimme zu verbergen. Das war das Einzige, was seine Freude trübte. Stundenlang stand er in seinem Büro am Fenster und wartete für sie auf den Regen.

Als es Ende Februar in den Nachrichten hieß, ein letzter Wintersturm nahe, beschlossen sie, einen Tag freizunehmen und die Kaltfront gemeinsam zu begrüßen. Was sie tatsächlich auch taten, doch nur wenige Stunden nach Beginn des stürmischen Wetters ereignete sich der Mord, der ihre Pläne zunichtemachte.

 

 

TEIL I

 

DAS OPFER