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ÜBER DEN AUTOR

Pedro Lenz, geboren 1965, ist Dichter, Schriftsteller, Kolumnist und Mitglied des Bühnenprojektes Hohe Stirnen und der Spoken-Word-Gruppe Bern ist überall. Er schreibt auf Berndeutsch und hat bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht. Sein Roman Der Goalie bin ich gewann den Schillerpreis für Literatur, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und erfolgreich verfilmt (Schweizer Filmpreis 2014). Pedro Lenz lebt in Olten.

ÜBER DAS BUCH

Drei Künstler und Tagediebe stolpern in dieser tragikomischen Geschichte durch die Kleinstadt: Jackpot, der erfolglose Schriftsteller, der auf Hunde und Pferde wettet und verzweifelt den roten Faden für seinen Roman sucht, und die beiden Maler Louis und Grunz, die das Leben und die Schönheit lieben. Ihre Hingabe zur Kunst und zu den kleinen Freuden des Alltags scheint die drei Freunde zu erfüllen, denn das Schicksal meint es gut mit denen, die wenig verlangen und viel geben. Doch dann tritt die schöne Fanny in ihr Leben. Allein durch ihre Präsenz bringt sie das scheinbar stabile Gleichgewicht der Männerfreundschaft ins Wanken. Mit der Leichtigkeit des Seins ist es nicht mehr ganz so weit her. Jeder begehrt Fanny, aber keiner scheint zu verstehen, was Fanny begehrt.

»Pedro Lenz ist der Sherwood Anderson der Schweiz – ein wahrer Poet und Menschenfreund, und ein großer Erzähler.«

Alex Capus

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1

Weshalb ich genau an diesem Tag, genau um diese Zeit, genau bei Louis klingelte, möchte ich manchmal gerne selber wissen.

Auf jeden Fall tat ich es. Hätte ich damals all das gewusst, was ich heute weiß, hätte ich es möglicherweise bleiben lassen. Nun ja, hätte, würde, könnte … Kann man sagen im Nachhinein. Hätte, hätte, Fahrradkette … Entschuldigung fürs Abschweifen. Bin wegen »hätte« draufgekommen. Hätte, hätte, hätte, nützt mir jetzt so viel wie ein alter Hut. Und Fahrrad fahre ich schon gar nicht. Ich war damals dort, wo ich meistens rumschleiche, in Olten, Jurasüdfuss, Mittelland, Unterland, Hochnebelland, Eisenbahnerland, Postindustrieland, Aggloland, Zwischenland, Heimatland. Montagabend nach sechs, hinten in der Von-Roll-Straße, klingelte ich bei Louis.

Gut. So fing das an. Ich klingelte. Wartete. Klingelte erneut. Wartete weiter. Wollte schon aufgeben. Und in dem Moment kommt diese Frau zur Tür raus. Es war, als hätte jemand irgendwo ein Licht angeknipst. Ich musste einen Schritt zurücktreten, damit es mich nicht zu sehr blendete. Ohne Quatsch. So eine Frau war mir in meinem Leben noch nie begegnet, und ganz sicher nicht in Olten. Ich glaubte zu träumen. Auch wenn es solche Träume gar nicht gibt. Sie schaute mich kurz an, sagte »Sorry« und ging an mir vorbei Richtung Bahnhof.

Wahrscheinlich steht mein Mund noch immer offen, als Louis endlich an die Tür kommt, in einer Hand ein Tuch, in der anderen ein paar Pinsel, zwischen den Zähnen eine krumme Zigarre.

Jackpot! Was machst du hier, an einem Montag?

Nichts. Wollte bloß mal fragen, was bei dir so läuft. Machst du einen Kaffee?

Klar. Natürlich. Komm hoch. Erzähl, erzähl.

Ich gehe hinter Louis ein paar Schritte die Treppe hoch. Seine Lunge rauscht und pfeift wie ein Teekocher, wenn das Wasser siedet. Aber die Zigarre nimmt er trotzdem nicht aus dem Mund. Rauchen kann ihr ungeborenes Kind töten. Sag das mal Louis. Über ungeborene Kinder hat er noch nie groß nachgedacht. Er raucht, seit er denken kann, und führt mich nun in sein Atelier, nicht zum ersten Mal. Keine großen Gesten. Keine Fanfaren. Nur ein Scharnier, das einen Tropfen Öl brauchen könnte, und ein Raum voller Papier, Leinwände, Bleistifte und Farben.

Warte, ich mach Platz. Schau, setz dich hier aufs Sofa, sagt er.

Ich strecke die Nase in die Luft.

Riech mal, Louis, riech. Riechst du es auch? In diesem Atelier riecht es nach einer schönen nackten Frau.

Louis hustet nur, während er ein paar Blätter in eine Pappmappe legt und diese an die Wand lehnt.

Weißt du was, Jackpot? Das mit der nackten Frau sagst du jedes Mal, wenn du hier reinkommst. Dabei habe ich eben erst gelüftet. Aber wer weiß, vielleicht stimmts ja. Naked women and beer. We got it all in here.

Hank Williams Junior.

Bravo, Jackpot! Der ists, ganz genau der. Hank Williams Junior himself, sagt Louis und macht Kaffee auf dem Campinggasherd, der nur zu diesem Zweck im Atelier steht. Dann scheucht er mit einer Zeitung die Katze vom Sessel.

Putz dich, blödes Viech!

Die Katze protestiert, aber das interessiert im Moment keine Sau.

Jetzt nimmt Louis, zum ersten Mal seit ich da bin, die krumme Zigarre aus dem Mund und legt sie auf einen flachen Porzellanteller. Sieht schön aus, wie das Räuchlein fadengerade hochsteigt.

Also, leg los, sagt er zu mir und stellt zwei Tassen und Zucker auf einen Salontisch neben dem Sofa.

Doch ich sage noch nichts, tue erst so, als hätte ich ewig Zeit. Schaue mir Skizzen an, die überall herumliegen, nehme eine Gipsfigur in die Hand, die auf einem Tisch steht, halte sie gegen das Licht, als hätte ich irgendwann im Leben irgendwas von Gipsfiguren verstanden. Dann gehe ich etwas auf und ab. Und als ich das Gefühl hab, ich hätte lange genug gewartet, sage ich:

Weißt du was, ich habe den roten Faden gefunden. Ich weiß jetzt haargenau, wie der Roman werden soll.

Dann mache ich eine Pause, eine rhetorische Pause, wie Fachleute sagen würden, eine schön pointierte Kunstpause, gut gesetzt. Ich will sehen, wie Louis reagiert. Hab aber das Gefühl, er reagiert gar nicht. Er steht einfach bei der Gasflamme und wartet auf den Moment, in dem der Kaffee in den oberen Teil der Kanne hinaufkocht. Er ist ganz bei der Kaffeekanne und sonst nirgends. Ich versuche, irgendetwas aus diesem verlebten Gesicht zu lesen, sehe ihn aber nur von der Seite und im Schatten. So kann ich wenig herauslesen.

Sagst du nichts, Louis?

Was soll ich sagen? Erzähl doch erst mal von diesem roten Faden.

Also, hör zu. Es geht um ein paar Freunde, genauer gesagt drei. Sie verbringen viel Zeit miteinander. Sie kennen sich gut, und wenn es sein muss, sind sie füreinander da. Meistens haben sie keine oder fast keine Kohle. Doch das stört sie nicht, sie kennen nichts anderes. Sie wetten oft, sind Teil einer Wettgesellschaft. Sportwetten. Alles einigermaßen legal. Unter anderem sind sie an einem Wettzirkel in Deutschland beteiligt, der von Kroatien aus organisiert wird. Hohe Einsätze und so. Am Anfang läuft es ganz und gar nicht. Die Freunde warten auf die ganz große Glückssträhne. Und später, als sie die Hoffnung schon fast aufgegeben haben, geschiehts! Eine unverhoffte Anhäufung unwahrscheinlicher Resultate in der englischen Premier League, unglaubliche Quoten, riechst du’s? Und wer hatte die Nase dafür? Wer hat alles vorhergesehen und darauf gewettet, dass am gleichen Spieltag fast alle großen Mannschaften verlieren und fast alle kleinen gewinnen? Wer hat es vorhergesehen? Die drei Helden des Romans, die ewigen Verlierer, die, welche den Glauben ans Glück nie aufgegeben haben!

Louis unterbricht mich und sagt fast gelangweilt:

Ich seh schon, ich seh schon, es wird ziemlich autobiografisch.

Was denn sonst?

Du musst mehr Fantasie reinbringen, Jackpot! Mehr Fiktion. Musst dich lösen von dir selbst. Sonst wird das wieder nichts.

Warum sagst du das? Meine Literatur lebt von der Wirklichkeit. Ich hab was gegen Fantasie. Fantasie wird überschätzt. Fantasie ist für die, die nicht hinschauen wollen, was wirklich ist. Schau doch bei dir selbst. Du malst ja auch die Realität.

Ja, aber ich verwandle sie. Das hab ich dir doch schon oft erklärt. Die Realität an sich ist nicht genug. Kunst muss die Realität verwandeln, Jackpot, sonst braucht es sie nicht.

Ich blicke einen Moment zu Boden, als müsste ich über etwas nachdenken, doch eigentlich studier ich schon längst an was anderem herum.

Sag mal, Louis, wer war eigentlich die junge Frau, die vorhin das Haus verlassen hat?

Fanny. Warum fragst du? Hat sie dir gefallen?

Hab nicht so genau darauf geachtet.

Hättest du aber tun müssen. Hättest sie studieren müssen. Sie ist wie der Himmel im Winter. Augen wie ein Kälbchen, und dann diese Ausstrahlung, dass einem Glatzkopf die Haare zu Berge stehen. Das glaubst du mir kaum, aber ich habe noch nie eine so schöne Frau gemalt, jedenfalls nicht in den letzten zwanzig Jahren. Ehrenwort. Die hat alles, die Fanny, die hat Grazie, Tiefgang, Humor, die hat etwas Geheimnisvolles, die hat Wärme, Stil …

Style, meinst du.

Nein, Stil. Das ist nicht dasselbe!

Heutzutage sagt man zu Stil Style. Kannst du mir glauben, Louis. Stil sagt schon lange keiner mehr.

Weil eben fast niemand mehr Stil hat. Fast niemand außer Fanny! Die hat mehr als Stil. Die hat alles, was innere und äußere Schönheit ausmacht. Fanny spielt in einer Liga für sich. Verstehst du?

Darf ich mal schauen?

Was willst du schauen?

Na, wie du sie gemalt hast.

Bin noch nicht so weit, habe nur mal ein paar Skizzen gemacht. Du weißt doch, dass ich nicht gerne Bilder zeige, die noch nicht fertig sind.

Ich hätte Louis gerne noch weiter über diese Fanny ausgefragt. Doch gleichzeitig wollte ich nicht, dass er bemerkt, wie sehr sie mich beeindruckt hat. Also hab ich ein wenig um den Brei herumgequasselt und gefragt, ob es eigentlich schwierig sei, Modelle zu finden, die was hergeben.

Louis’ Zigarre brennt nicht mehr. Er zündet sie noch einmal an und sagt dann, jedes Modell gibt etwas her. Man muss nur herausfinden, was und wie man es umsetzen kann. Verstehst du, wie ich meine? Das ist die Kunst an der Kunst, glaub mir das, die Kunst ist das Herausfinden und das Umsetzen. Viele können etwas herausfinden und viele können etwas umsetzen, aber nur die wenigsten können beides.

Bei der von vorhin musst du aber nicht wahnsinnig viel rausfinden. Da siehst du auch mit geschlossenen Augen und im Dunkeln, dass sie was hat.

Du hast sie also doch studiert!, sagt Louis.

Sag, was ist sie für eine?

Sie hat diesen Zauber, den nur die wenigsten haben. Ich meine gleichzeitig Zauber und Natürlichkeit. Sie kommt aus Zofingen, studiert Kunst in Bern und ist immer ganz bei sich. Viel mehr kann ich dir auch nicht sagen.

Verdammt, Louis, hast du nicht mit ihr geredet? Könntest doch wenigstens herausgefunden haben, wo sie sich so rumtreibt. Mir ist sie jedenfalls bis eben noch nie über den Weg gelaufen.

Ich hab sie gemalt, nicht ausgefragt, sagt Louis und lächelt ein wenig, aber nur mit den Augen.

Wenn er ausnahmsweise mal nichts sagen will, dann sagt er auch nichts. Und am Tonfall, wie er gesagt hat, er habe sie nur gemalt und nicht ausgefragt, höre ich raus, dass der Alte nichts Näheres erzählen will. Deshalb wechsle ich das Thema und frage, wann genau er jetzt also diese Ausstellung habe und ob ich was helfen könne.

Ich hab dir doch eine Einladung geschickt, hast du sie nicht erhalten? Die Vernissage ist am Samstag in einer Woche.

Deshalb frage ich ja, ob du Hilfe benötigst. Ich hätte Zeit.

Und ich hab gemeint, du hättest den Faden bei deinem Roman gefunden. Dann wäre es doch besser, diesen Flow auszunutzen und jetzt endlich mal zu schreiben.

Keine Angst, ich schreibe, ich schreibe jeden Tag. Aber ich kann dir trotzdem helfen.

Ja klar, warum nicht?

Wir trinken Kaffee, sehr langsam, beinahe tröpfchenweise. Er ist gut, ein guter Kaffee. »Kaffee, seit 1925 Kernkompetenz der Migros«, steht auf der Packung. Und Louis erzählt noch ein bisschen von der Ausstellung. Der Typ vom Tagblatt, der von der Kultur, hält eine Ansprache. Und Geri spielt vorher und nachher Jazz, einfache Sachen, nicht zu viel, denn die Leute kommen ja an eine Vernissage, um Bilder anzuschauen, und nicht, um Musik zu hören. Und außerdem gibt es sicher genug Prosecco, weil gewisse Leute eher Bilder kaufen, wenn sie in diese alkoholbedingte Großzügigkeit hineingeraten.

Zugegebenermaßen, Louis versteht sein Handwerk in allen Facetten. Auch in finanzieller Hinsicht. Ob er nun ein guter oder sehr guter oder halbguter Maler ist, kann ich nicht beurteilen. Was ich auf jeden Fall weiß, Louis liebt Farben und Erotik. Natürlich ist damit noch nicht gesagt, was er als Maler draufhat. Klar ist jedenfalls, dass er weiß, wem und wie er seine Bilder verkaufen kann.

Louis, erzähl mir bitte noch einmal das mit der Kundschaft.

Was mit der Kundschaft?

Das, was du mir kürzlich erzählt hast, an welche Kundschaft man als Künstler gelangen muss und wie man das macht.

Weshalb soll ich dir das erzählen? Hast ja selbst gesagt, ich hätte es dir eben erst erzählt, wahrscheinlich sogar schon mehr als einmal.

Ich höre gerne mehr als einmal dasselbe. Bin das Gegenteil von den wohl meisten Leuten, die immer sagen, das und das hab ich schon mal gehört, oder das und das hast du mir schon mal erzählt, du musst es mir nicht noch mal erzählen. Wenn mir jemand eine Geschichte erzählt, und ich merke, ich kenne sie schon, freue ich mich fast noch mehr.

Wieso das denn?

Ich weiß es auch nicht genau. Einfach so. Ich höre am liebsten Dinge, die ich schon mal gehört habe. Es langweilt mich nie. Und die, die sagen, zweimal dieselbe Geschichte sei langweilig, sind oft selbst die größten Langweiler. Achte mal darauf. Es ist wirklich so. Die, die Wiederholungen nicht ertragen, sind auch die, die nie richtig hinschauen. Deshalb gibt es kaum etwas, das sie im Kopf abgespeichert haben. Schau dir die Welt an. Sie ist voller Wiederholungen. Entweder es freut dich oder du leidest darunter.

Louis denkt einen Moment lang darüber nach. Das ist wohl nicht ganz falsch, sagt er. Die Welt ist zyklisch. Die Wiederholung solltest du nie unterschätzen, die kommt immer wieder.

Darum heißt sie ja auch Wiederholung, weil sie wieder und wieder kommt. Weil man sie immer wieder holen kann oder sie sich selbst immer wieder holt.

Voilà, ein weises Wort. Bravo, Jackpot. Und jetzt willst du also das über die Kundschaft noch mal hören?

Genau das. Bitte schön.

Eben, man muss an die gelangen, die zwar viel Kohle, aber trotzdem noch einen Rest Menschlichkeit haben. Das linke Bürgertum, das ist meine Zielgruppe, empfindsame Seelen mit stabilem Einkommen, zum Beispiel Museumsleiter, Mittelschullehrer, Architekten, Ärzte, Yogalehrerinnen, Psychologen, wohlhabende Aussteiger oder sozial eingestellte Juristen.

Du hast die erfolgreichen Werber vergessen.

Die hab ich nicht vergessen, Werber habe ich einfach mitgemeint.

Und was ist sonst noch wichtig?

Was meinst du jetzt?

Du hast mal gesagt, dass man der potenziellen Kundschaft nie das Gefühl geben dürfe, man sei einer von ihnen. Also keine Anbiederung bei der Kundschaft. Man dürfe nicht dieselben Hobbys haben wie die Kundschaft, nicht dieselben Kleider tragen, nicht die gleiche Lebensart haben. Wer ein Bild kaufe, wolle das Exotische, wolle, dass der Künstler einen ungesunden Eindruck mache, komplizierte Frauengeschichten habe, spät in die Falle gehe, immer genug saufe und finanziell knapp dran sei.

Ja, klar, das ist auch entscheidend. Der Künstler muss lauter Dinge verkörpern, die die Kundschaft an die eigene Jugend erinnern, die sie aber hinter sich gelassen haben, weil es ihnen zu anstrengend wurde.

Oder weil sie beruflich vorwärtskommen wollten.

Sehr richtig: Oder weil sie beruflich vorwärtskommen wollten. Du checkst es, Jackpot. Ich darf festhalten, dass du es fast noch besser im Kopf behalten hast, als ich es dir erzählt habe.

Und das ist schon alles?

Mir jedenfalls fällt nichts Weiteres ein.

Gut, dann erzähl doch noch etwas über dieses Modell, das vorher hier im Atelier war.

Meine Güte, du bist wirklich ein hartnäckiger Starrkopf. Ich hab dir doch schon gesagt, was ich weiß, dass sie aus Zofingen kommt, wohl noch bei ihren Eltern wohnt, dass ihre Eltern und mindestens ein Großvater Lehrer sind und dass sie in Bern Kunst studiert.

Siehst du! Das mit den Eltern und dem Großvater, also dass sie alle Lehrer sind, hast du mir zum Beispiel noch nicht erzählt!

Na, jetzt weißt du’s. Und sag mal, ist der Kaffee doch nicht so gut? Vorher warst du noch voll des Lobes, doch seitdem hast du keinen Tropfen mehr zu dir genommen.

Der Kaffee ist eins a, nichts zu bemängeln, gar nichts. Aber weißt du, ich kriege ihn besser runter, wenn er etwas kühler ist.

Ich kann dir sonst auch ein Schlückchen Gebranntes reinschütten, dann kühlt er relativ schnell ab.

Genau das meinte ich eigentlich.

Dann sags doch!

Ich mags halt, wenn jemand anderes draufkommt. Direkte Aussagen sind etwas für Menschen, die wenig Freude am Austausch haben.

Louis nickt und sagt, da hätte ich wohl nicht unrecht, und holt die Flasche mit Pflaumenschnaps, die ziemlich weit oben neben den Goya-Bänden im Bücherregal steht. Ich schaue ihm zu, er kann sie kaum erreichen und muss sich auf einen Hocker stellen. Auf dem Buchrücken neben der Flasche steht: Goya im Madrider Prado.

He, Louis, warst du auch schon mal in Madrid im Prado?

Klar. Mehr als einmal. Musst du unbedingt auch mal hin. Im Prado kannst du schauen, bis dir die Augen übergehen.

Wenn ich Geld hätte!

Kein Geld gilt nicht als Ausrede. Grunz und ich sind auch mal hin, als wir etwa in deinem Alter waren. Und damals hatten wir weniger Geld, als du dir überhaupt vorstellen kannst. Glaub mir, wir waren abgebrannt bis auf die Strümpfe. Wir sind trotzdem losgezogen. Grunz hatte damals eine Freundin, die ihm die Bahnkarte bezahlt hat. Und ich fuhr mit Santillana, der hier in Olten Trödler war. Er machte mit Antiquitäten und allem Möglichen Geschäfte und musste ab und an nach Granada, um Ware zu holen oder zu bringen. Ein Schlitzohr erster Güte, dieser Santillana damals, ich sags dir, der hätte wohl auch seine Mutter verkauft, wenn ihm jemand ein anständiges Angebot gemacht hätte. Und wie gesagt, der musste in dieser Zeit oft nach Granada runter. Also nahm er mich in seinem Lieferwagen mit.

Hab gemeint, Madrid.

Jetzt warte doch! Nicht vorgreifen! Geduld! Grunz fuhr also mit seiner damaligen Freundin nach Granada. Iris war ihr Name. Sehr lieb, doch etwas zu anhänglich für Grunz. Und ich, ich wusste nicht so genau, wann Santillana fahren würde. Er sagte immer, gleich fahren wir, gleich, gleich. Aber gleich, das kann einiges heißen, vor allem bei einem wie diesem Santillana. Also sagte ich zu Grunz, er solle jeden Tag um vier in Granada zum Eingang der Alhambra kommen, um nachzusehen, ob ich bereits dort sei. Nachdem er ungefähr eine Woche lang jeden Tag vergebens dort hingegangen war, glaubte er nicht mehr, dass ich jemals auftauchen würde.

Da hätte ich schon viel früher nicht mehr daran geglaubt.

Bitte unterbrich mich nicht. Die Ferientage von Iris waren aufgebraucht, sie musste wieder arbeiten gehen. Sie sagte zu Grunz, er solle doch mit ihr zurück in die Schweiz fahren, noch länger zu warten sei sinnlos. Doch Grunz überredete sie, noch ein Mal zur Alhambra hochzugehen und Ausschau zu halten. Ein allerletztes Mal, dann könnten sie nach Hause fahren. Und tatsächlich sah er mich dort im Schatten sitzen. Grunz und ich begrüßten uns wie zwei Brüder, die sich ein halbes Leben nicht gesehen hatten. Dann brachten wir seine Braut zum Bus. Und danach befeuchteten wir uns die Kehlen. Damals war alles noch billig in Spanien, vor allem im Süden.

Natürlich. Billig für euch, nicht für die Spanier.

Ja, klar. Okay, am nächsten Tag hatten wir die Idee, zu Fuß nach Madrid zu gehen, um Kohle zu sparen. Das Problem war das Wetter. Andalusien im Juli und ohne Schatten, da machst du nicht viele Kilometer pro Tag, glaub mir. Wir verwarfen diesen Plan und versuchten es mit Autostopp. Entgegen jeder Prognose erreichten wir tatsächlich irgendwann Madrid, suchten uns eine billige Pension, ließen uns die Hemden bügeln, die Schuhe putzen und gingen dann geduscht, rasiert und gekämmt wie zwei frisch geölte Gigolos ins Prado-Museum. Ich sag dir, Grunz kriegte feuchte Augen, als er den Goya-Saal betrat.

Und du nicht?

Klar, ich auch, ich auch, aber er noch mehr.

Und wann genau war das?

Weiß doch nicht mehr, vielleicht dreiundsiebzig oder vierundsiebzig, jedenfalls lange her. Franco lebte noch, weißt du, der Diktator, aber wer für gesellschaftliche Fragen einen Riecher hatte, der merkte bereits, dass eine neue Epoche anbrach. Seit damals fahre ich immer wieder hin. Deshalb sage ich ja, du solltest auch mal hin, es würde dir guttun.

Aber heute ist Spanien nicht mehr wie damals, ich meine, nicht mehr so exotisch.

Sei froh!

Nein, ich bin nicht froh, ich mags gerne etwas exotisch, ich mag Gegenden, die möglichst anders sind als das, was ich kenne.

Manchmal allerdings wärst du froh, wenn du wüsstest, wie’s läuft. Grunz und ich zum Beispiel kannten nicht alle Spielregeln auf unserer Tour. Da stehen wir am Anfang ein paar Kilometer außerhalb von Granada vor einem Haus und hören laute Gitarrenmusik. Wir schauen rein und sehen, dass es eine Kneipe ist, voller Publikum, drei Typen spielen Flamenco und die anderen klatschen im Rhythmus der Musik und stampfen mit den Füßen. Genial!, sagt Grunz, da geht die Post ab, komm, gehen wir rein!

Wir gehen also rein, und am Eingang der Kneipe liegt auf der Hutablage so ein Dreispitz, weißt du, so ein lackierter Hut mit drei Ecken, wie sie damals die Polypen der Guardia Civil getragen haben. Grunz nimmt den Hut und setzt ihn mir auf. Einfach so, aus Blödsinn. Der Hut passt wie angegossen, sieht fantastisch aus. Ich also mit dem Dreispitz auf dem Kopf rein in die Gaststube, klatsche flamencomäßig in die Hände, stampfe auf den Boden und rufe: Olé, olé, amigos! In dem Moment friert die ganze Szenerie ein. Alles erstarrt. Die Gitarren verstummen. Die Leute hören auf zu klatschen. Von einer Sekunde zur nächsten ist es totenstill im Raum. An einem Tisch steht einer langsam auf, ein Uniformierter, offensichtlich der Besitzer des Dreispitzes. Er kommt auf mich zu, immer noch langsam, fast in Zeitlupe. Dreißig oder vierzig Augenpaare starren abwechselnd mich und den Polypen mit dem schwarzen Schnauzer an. Man hört keinen Laut. Gespenstische Stille. Ich spüre, jetzt gibt es jeden Moment Saures, und ich sehe uns schon in einem dunklen, feuchten Rattenloch bei Wasser und Brot verrotten. Der Guardia-Offizier kommt immer näher. Und als ich glaube, er will den Gummiknüppel ziehen, mache ich eine theatermäßige Verbeugung und ziehe den Hut, dann strecke ich mich durch, drehe mich wie ein Tänzer um die eigene Achse, halte den Hut in die Höhe und rufe mit viel theatralischem Pathos: Viva España, viva la Virgen María, viva la Guardia Civil! Der Polizist muss lachen. Und wie die Leute sehen, dass er lacht, fangen alle zu lachen an, die Spannung ist verflogen, die Gitarristen beginnen wieder zu spielen, ich verbeuge mich noch einmal, setze dem Polyp den Hut feierlich auf, und alles ist wieder gut.

Grunz, der wahrscheinlich noch mehr Angst hatte als ich, war dermaßen erleichtert, dass er der Guardia Civil und den Musikern je eine Flasche Sherry offerierte.

Das ist ja der Wahnsinn!

Sag ich doch, sei froh, dass Spanien nicht mehr so ist wie damals.

Ist das wahr?

Frag den Grunz.

Du, Louis, sag mal, sind der Grunz und du immer noch so befreundet wie damals, als ihr diese Reise gemacht habt?

Klar.

Aber ihr seid doch Konkurrenten? Als Maler, meine ich. Ihr fischt doch beide im gleichen Teich.

Grunz und ich, wir sind Gegner, aber keine Feinde. Das musst du unterscheiden.

Gibts noch Kaffee?

Klar, bedien dich nur.

Während ich mir Kaffee nachschenke, nimmt Louis noch mal die Flasche vom Regal und dazu das Buch, Goya im Madrider Prado. Er schlägt es auf, bei einem Bild, wo ein paar Typen auf dem Boden knien, andere sind schon tot, und die, die knien, werden gerade mit langen Gewehren füsiliert.

Siehst du das Licht?

Ich sehs, natürlich seh ich’s, warum fragst du?

Woher kommt das Licht?

Ich habe keine eine Ahnung. Wahrscheinlich von dieser Laterne.

Vielleicht, vielleicht auch nicht. Du kannst nicht sagen, wo es herkommt, und vor allem kannst du nicht sagen, wie er es gemacht hat, ich meine, wie er es gemalt hat. Aber es ist dort, bei dem mit dem weißen Hemd, und dahinter ist es ebenfalls, und jeder siehts und spürts. So ein Licht in so eine Szene hineinbringen, so viel Licht mitten in diesem brutalen Elend, das kann nicht jeder, glaub mir.

Aber du könntest es, da bin ich mir sicher.

Louis schaut mich beinahe traurig an, lächelt müde und sagt, es sei Zeit für einen Aperitif.

Wir gehen ins Galicia. Es sind noch nicht viele Leute da. Rita ist hinter der Bar.

Hallo Rita.

Hallo zusammen. Was darfs sein?

Was darfs sein? Bei diesem staubtrockenen Wetter darf es fast alles sein, ich meine alles, was gut die Kehle runterrutscht.

Sehr witzig.

Was meinst du, Jackpot, nehmen wir eine Flasche weißen Ribeira?

Das ist wohl kein dummer Plan.

Also eine Flasche weißen Ribeira?

Du sagst es Rita, du sagst es. Ein schöner, schmackhafter weißer Ribeira. Gut runtergekühlt. Und ein paar schwarze Oliven oder etwas, um den Magen zu schonen, sei so gut.

Jeannette kommt herein, eine, die man öfters im Galicia antrifft. Sie sieht Louis dort stehen, geht zu ihm und legt ihm von hinten eine Hand auf die Schulter. Er dreht sich um.

Schau an, hallo Jeannette. Das ist aber schön.

Grüß dich, Louis. Sieht man dich auch mal wieder? Könntest ruhig mal etwas von dir hören lassen. Hab dich vermisst.

Du hast mich vermisst? Eine Klassefrau wie du vermisst eine Ruine wie mich? Mach bitte nicht, dass ich hier vor allen Leuten verlegen werde, liebe Jeannette. Siehst du, wie rot ich werde? Du hast mich vermisst? So was geht mir zu Herzen. Aber du weißt es ja. Ich bin selten unterwegs, da ich fast die ganze Zeit arbeite. Ich bin eine Art Akkordarbeiter im Bergwerk der Kunst. Die Arbeit gibt mir Struktur und rettet mich vor dem moralischen Zerfall.

Und mich brauchst du nicht mehr? Der große Künstler ist meiner überdrüssig?

Jeannette, sag so was bitte nicht! Im Moment male ich eben mehr Landschaften und Blumensträuße, sagt Louis und muss selbst lachen über den Spruch.

Jeannette ist auch ein Modell von Louis. Eine ziemlich interessante Frau, aber kein Vergleich zu jener, die vorher aus seinem Haus gekommen ist. Als Jeannette sich zu jemand anderem gesellt, frage ich bei Louis nach:

Sag mal, wie hieß die noch gleich?

Jeannette.

Nein, nicht die, die kenne ich, ich mein die andere.

Wer? Von wem redest du?

Ich mein die aus Zofingen, die heute bei dir war, die Schöne.

Die lässt dir wirklich keine Ruhe, ich staune, Jackpot. Fanny meinst du. Du musst dir auch den Namen merken, nicht nur den Augenaufschlag. Soll ich dich ihr mal vorstellen?

Ich sage ihm, lass mal gut sein. Louis zwinkert mir zu. Wir stoßen an und werfen eine Münze in den Billardtisch.

Jeannette kommt zum Tisch und schaut zu. Ich bin kein besonders guter Billardspieler. Und wenn jemand zuschaut, werde ich auch nicht besser. Aber es ist mir egal. Ich spiele, um zu spielen, ohne Ehrgeiz oder so.

Hey, Jackpot, was macht eigentlich dein berühmter Roman?

Das ist Otto, dieser ewige Holzkopf. Sitzt immer im Galicia, immer am selben Tisch, hinten am Fenster, gibt manchmal stundenlang keinen Ton von sich und plötzlich ganz viele Töne auf einmal. Aber was muss mich dieser Obersimpel gerade jetzt in einer Lautstärke, die in der ganzen Kneipe zu hören ist, nach meinem Roman fragen? Nicht, dass ich selbst nicht auch manchmal davon rede, aber doch nicht hier und jetzt und vor allen Leuten! Zum Glück dreht sich niemand um.

Alles Klarschiff, Otto, kommt gut. Aber warum fragst du?

Warum sollte ich nicht fragen? Hast mir ja letztens selbst erzählt, dass du immer noch nach dem Faden suchst. Weißt du nicht mehr, damals mit dem Claudio, als wir zu dritt vier Pullen Rotwein erledigt haben und erst danach klar wurde, dass keiner genug Geld im Sack hatte, um zu bezahlen.

Klar, bei diesen Preisen!

Genau, und der Claudio musste zum Automaten bei der Post, hatte aber nicht mehr genug auf dem Konto. Eine Riesensache, bis wir das Geld für die vier Flaschen zusammenkriegten. Und als wir endlich zahlen konnten, hast du mir erzählt, dass du noch immer nach dem Faden für deinen Roman suchst.

Ja, da hab ich sicher noch so manches erzählt, jeder von uns hat manches erzählt. Das ist ja das Schöne an gutem Rotwein, dass er die Menschen zusammenführt und zum Erzählen bringt. Und am nächsten Tag kann man alles vergessen und wieder von vorne anfangen.

Das hab ich aber nicht vergessen, das mit dem Faden, den du suchst.

Weil du eben ein schlechter Rotweintrinker bist. Wärst du ein guter Rotweintrinker, dann hättest du das schon lange von der Festplatte gelöscht und den Speicherplatz im Gedächtnis für Wichtigeres aufgespart, das kannst du mir glauben, Otto.

Bei mir bleibt eben fast alles gespeichert, ob ich nun will oder nicht. Zum Beispiel das mit deinem Roman und dem roten Faden, den du suchst.

Ich hab ihn, ich hab ihn, kannst dich beruhigen, Otto, ich hab den Faden. Jetzt hab ich eingefädelt. Von jetzt an läufts mehr oder weniger am Schnürchen. Nähen und singen, sagen sie dazu in Spanien, wenn etwas ganz von selber läuft.

Otto wollte noch mehr wissen, aber Louis sagte ihm, er soll mir nicht auf den Senkel gehen, das mit dem Roman sei eine ernsthafte Sache. Kunst sei immer ernst, viel zu ernst, als dass man diese Angelegenheit zwischen Billard und Weißwein abhandeln könne. Ich war Louis echt dankbar. Besser und deutlicher hätte er es dem Otto nicht klarmachen können. Und Otto zog sich wieder in seine Welt zurück. Schaute auf den Tisch und konzentrierte sich, damit er endlich dieses blöde Sudoku im Tagblatt beenden konnte.

Ist das wirklich wahr, Jackpot? Du schreibst an einem Roman?, fragt jetzt Jeannette.

Jeannette, bitte fang nicht auch noch damit an!, sagt Louis sofort und versenkt über zwei Banden die letzte Kugel.

Voilà. Willst du eine Revanche?

Wir spielten noch etwa vier oder fünf Partien, bis der Wein leer war. Ich verlor jede, weil Billard, das ist das Spiel von Louis, war es schon immer. Niemand weiß, warum, aber nur Louis hat für diese Kugelei den nötigen Ehrgeiz und die nötige Konzentration. Andere wie ich zum Beispiel verheddern sich mit dem Stock und treffen die Kugel immer genau dort, wo sie sie nicht treffen wollten.

Wir redeten wenig, und als wir uns einig waren, dass wir genug gespielt hatten, machte ich einen ruhigen Abgang. Schönen Abend, bis bald. Louis blieb noch. Er wartete noch auf jemanden oder etwas. Das ist mehr oder weniger der Normalzustand von Louis. Aber ich hatte eine wunderbare Bettschwere, und zu Hause schlief ich schneller ein als ein alter Mann vor dem Fernseher.