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Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage Oktober 2017)

 

© 2017 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Stephan Naguschewski

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © Hanne Beinhofer

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

ISBN 978-3-86913-865-7

 

 

 

Susanne Reiche

 

Fränkisches Sushi

 

Kriminalroman

 

 

 

ars vivendi

 

Inhalt

Prolog

Mittwoch, 14. Dezember – Stumm wie ein Fisch

Donnerstag, 15. Dezember – Fakten

Freitag, 16. Dezember – Lady Gaga

Samstag, 17. Dezember – Yellowstone

Sonntag, 18. Dezember – Wie läuft’s mit Fritz?

Montag, 19. Dezember – Kaspar Hauser 2.0

Dienstag, 20. Dezember – Schafspudel

Mittwoch, 21. Dezember – Level 30

Donnerstag, 22. Dezember – Zweitwilli

Freitag, 23. Dezember – Unsere kleine Farm

Samstag, 24. Dezember – Pfandflaschenschlangendilemma

Sonntag, 25. Dezember – Ein kreatives Element

Montag, 26. Dezember – Die Morlocks

Dienstag, 27. Dezember – Ralf

Mittwoch, 28. Dezember – Ein Schritt ohne Schatten

Donnerstag, 29. Dezember – Pokerface

Freitag, 30. Dezember – Buddhistische Erleuchtung

Samstag, 31. Dezember – Kinderüberraschung

Die Autorin

 

Prolog

Böiger Wind zerrte an der Aufhängung des Kettenstegs und trieb einen leeren Pappkaffeebecher über das Kopfsteinpflaster am Maxplatz. Die tief hängenden Wolken drohten mit Regen oder Graupel – bisher hatte der Dezember nur trübe Regentage und klare, frostige Nächte gebracht, keinen Schnee. Manuel Matzke war das ganz recht. Über naive Romantiker, die auf weiße Weihnachten hofften, konnte er nur den Kopf schütteln. Als Straßenreiniger des Servicebetriebs Öffentlicher Raum wusste er, dass eine Großstadt wie Nürnberg Schnee unverzüglich in Dreck und Matsch verwandelte.

Er zog den Reißverschluss seiner orangefarbenen Arbeitsjacke zu und fing, von einer fröstelnden Möwe misstrauisch beäugt, den tanzenden Pappbecher mit dem Müllgreifer ein, ehe er seinen Weg in Richtung Hallerwiese fortsetzte. In der Unterführung, die unter dem Westtorgraben hindurchführte, studierte er en passant die neuesten Graffiti auf den gekachelten Wänden, dann schob er seinen Tonnenwagen über den holprigen Fußweg zwischen Pegnitz­ufer und Wiese. Er leerte die Abfalleimer, angelte mit dem Greifer nach Kippen und Papiertaschentüchern und wies, aus gegebenem Anlass, eine Dame mit Pelzmantel und Langhaardackel darauf hin, dass Hundekot vom Tierhalter zu entsorgen sei. Sie starrte ihn grantig an.

Im regennassen Gras um den Schnepperschützenbrunnen lagen einige Bierdosen und ein Pizzakarton, an den sich mithilfe eines Käsefadens ein Rest Salamipizza klammerte. Matzke bückte sich gerade danach, als etwas in dem trockengelegten Brunnenbecken seine Aufmerksamkeit ­erregte – ein brauner Herrenschuh und ein toter Fisch lagen einträchtig beieinander. Der Schuh hatte schwarze Schnürsenkel.

Das ist doch mal was, fand Matzke. Seine Arbeit barg die Gefahr einer gewissen Eintönigkeit, und deshalb dachte er sich dabei gerne Geschichten aus – Geschichten über den Abfall, den er einsammelte. Müllgeschichten. Schon als Schulkind hatte er viel Fantasie gehabt, und einmal hatte die Deutschlehrerin einen seiner Aufsätze laut vorgelesen, als positives Beispiel. Dass die meisten Müllgeschichten trivial waren, lag also nicht an ihm, sondern an der Einfallslosigkeit der Bürger. Dramatischer Szenarien um leere Wodkaflaschen und Dönerverpackungen war er schon lange überdrüssig … Dies hier versprach wieder einmal Abwechslung!

Er beugte sich über das runde Becken und nahm das Arrangement in Augenschein. Der gut handlange, silbrig geschuppte Fisch formte mit dem Herrenschuh einen spitzen Winkel in Richtung der Pegnitz. Mit Fischen kannte Matzke sich nicht aus, zoologisch, und kulinarisch nur bedingt: Karpfen und Forellen waren stets frittiert, blau oder Müllerin, wenn er ihnen begegnete. Aber die Art der Anordnung rief scheue Assoziationen hervor: ein mathematisches Symbol, eine nordische Rune, ein archaischer Wegweiser?

»Hallo! Hallo? Sie da drüben, Sie sind doch von der Stadt? Hallo!«

Matzke hob unwillig den Kopf von seinem anregenden Fund. »Kommen Sie schnell!«, schrie ein junger Mann, der ihm vom Pegnitzufer her aufgeregt zuwinkte. »Da schwimmt einer!«

Schwimmen? In der Pegnitz? Mitte Dezember?

Der junge Mann lief Matzke entgegen, packte ihn am Arm und zerrte ihn durch das Ufergebüsch bis zum Fluss. »Da! Sehen Sie’s?«

Manuel Matzke sah es und wünschte sich sofort, er hätte es nicht gesehen. Zwischen sparrigen Ästen, die weit in den Fluss hineinragten, hatte sich ein blaues Kleidungsstück verfangen, ein Parka oder Anorak, in dessen Ärmeln die ausgestreckten Arme eines menschlichen Körpers festsaßen. Es schien, als krallte sich der Tote verzweifelt an den Ästen fest, um von der Strömung nicht mitgerissen zu werden. Sein bleiches, aufgedunsenes Gesicht tauchte im bedächtigen Wogen des Flusses auf und wieder ab, seine weit aufgerissenen Augen starrten blicklos in den bewölkten Himmel. Die schwarzbesockten Füße der Leiche zeigten flussabwärts, nach Fürth.

 

Mittwoch, 14. Dezember – Stumm wie ein Fisch

»Nun mal ganz ruhig«, sagte Kastner zu dem jungen Mann, der die Leiche gefunden hatte. »Bitte noch mal langsam und der Reihe nach, Herr …«

»Thiesfeld.«

»Herr Thiesfeld. Sie waren also mit dem Fahrrad stadteinwärts unterwegs?«

»Richtig«, nickte Thiesfeld und wischte sich verstohlen die laufende Nase mit den Fingern ab. »Ich hab heut früher Feierabend gemacht und wollte heim, bevor es wieder regnet. Aber dann musste ich mal dringend und hab mich da drüben in die Büsche geschlagen.« Er zeigte zum Fluss, wo Martina Götz, die Chefin des Erkennungsdienstes, mit ihren Kriminaltechnikern hinter rot-weißem Absperrband die Spuren sicherte. »Und da hab ich dann die Leiche gesehen und gleich dem Müllmann hier Bescheid gesagt.«

Kastner nickte und nahm den Mann in der orangefarbenen Arbeitskleidung ins Visier. »Und Sie haben dann sofort die Polizei gerufen, Herr Matzke?«

Matzke nickte.

»Arbeiten Sie öfter hier an der Hallerwiese?«

»Ich mache diese Runde jeden Tag, Herr Kommissar«, erklärte Matzke und fügte, mit einem strengen Seitenblick auf den Wildpinkler Thiesfeld, hinzu: »Und ich bin kein Müllmann, sondern Straßenreiniger.«

»Natürlich«, sagte Kastner. »Äh … ist Ihnen hier in den letzten Tagen vielleicht etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

Matzke dachte eine Weile nach. »Hm. Also heute … Ja. Im Schnepperschützenbrunnen liegt ein toter Fisch …«

»Kastner?« Martina Götz winkte vom Ufer her. »Kommst du mal eben?«

Kastner bat Matzke um etwas Geduld und bahnte sich einen Weg durch die Schaulustigen auf dem Fußweg, die aufgeregt tuschelten und sich die Köpfe nach der Bahre mit dem schwarzen Leichensack verrenkten. Der Tote sei ein junger Mann, die Leiche habe schon ein paar Tage im Wasser gelegen, hatte Frau Dr. Rendlick, die Rechtsmedizinerin, Kastner erklärt. Ob der Mann ertrunken sei oder ein Fremdverschulden vorliege, könne sie vor der forensischen Untersuchung nicht sagen.

Vor dem Absperrband blieb Kastner stehen, aber Martina Götz hob es einladend hoch und winkte ihn weiter. »Immer hereinspaziert. Das musst du dir ansehen«, sagte sie und führte ihn ein Stück flussaufwärts, näher ans Ufer. Einer ihrer Mitarbeiter stand vornübergebeugt vor einem dichten Gestrüpp und sprach scheinbar mit sich selbst.

»Was ist? Habt ihr etwas gefunden?«, erkundigte sich Kastner.

Martina nickte nachdrücklich, und Kastner trat einen Schritt vor und beugte den Rücken, um unter die Äste des Gebüschs zu spähen.

 

***

 

»Wie, ein Kind?«, wollte Mirjam abends wissen. Sie hatte geduscht und rubbelte sich die blonden Haare mit einem Frotteehandtuch trocken, ehe sie sich mit einer Flasche Rotwein und einem Glas an den Küchentisch setzte und in der Schublade nach dem Korkenzieher kramte.

»Na ja, ein Kind halt«, erklärte Kastner seiner Lebensgefährtin. »Ein Junge, vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Da war so eine Art Unterschlupf in dem Gestrüpp, eine Plastikplane, ein paar Decken auf dem Boden, Konservendosen …«

»Und der war da ganz alleine?! Das ist ja nicht zu fassen!« Mirjam entkorkte die Flasche und schenkte sich ein. »Da kommen doch jeden Tag zig Leute vorbei – das muss doch jemandem mal aufgefallen sein, dass da ein Kind im Gebüsch sitzt!«, sagte sie kopfschüttelnd. »Kennt der Junge den Toten? Vielleicht haben die beiden zusammen da gehaust …«

»Möglich«, nickte Kastner, »aber es hat wenig Sinn, die Spekulationen ins Kraut schießen zu lassen. Wir wissen noch gar nichts – weder der Tote noch der Junge hatten irgendwelche Papiere bei sich, und der Junge hat kein Wort gesagt. Der arme Kerl saß auf den zerlumpten Decken und hat uns angestarrt wie die ersten Menschen, die er je zu Gesicht bekommen hat. Stumm wie ein Fisch.«

Mirjam schüttelte sich. »Eine Plastikplane und ein Schlafsack, Mitte Dezember! Das blanke Grauen … Apropos Grauen – du erinnerst dich, dass meine Eltern an Weihnachten kommen und die Spülmaschine hin ist?«

»Äh ja. Natürlich«, behauptete Kastner. »Das kriegen wir schon geregelt, Hase. Bis Weihnachten sind ja noch ein paar Tage.«

»Ach. Und bis dahin hoffst du wohl auf eine Wunderheilung? Was ist denn mit diesem Dings, der muss sich doch mit Spülmaschinen auskennen – Harald? Stefan? Peter? Du weißt schon, der AEG-Heini.«

Der Mann, den Mirjam meinte, hieß Peter. Kastner hatte ihn im Café Kraft kennengelernt, vor einem oder zwei Jahren, als der Streifenbeamte Felix Wernreuther ihm so lange zugesetzt hatte, bis er ein paarmal mit ihm klettern gegangen war. Es war keine schöne Erinnerung. Nicht ­wegen ­Peter – der war ein netter Kerl und hatte ihm ein paar Tricks gezeigt, ohne ihn vorzuführen. Er sei Ingenieur und entwickle Spülmaschinen, hatte Peter erzählt, früher sei er bei der AEG gewesen, dann sei er, mitsamt der AEG, an Electrolux verkauft worden, und jetzt arbeite er für eine chinesische Firma. Unangenehm war die Erinnerung deshalb, weil Kastner wie ein nasser Mehlsack an der Kletterwand gehangen hatte, während Wernreuther ihm von unten launige Tipps zugerufen hatte: Das Seil ist nur die Sicherung, Kastner, ich kann dich daran nicht hochziehen!, oder: Du darfst nur die Griffe derselben Farbe benutzen, sonst gilt es nicht!

»Der Kletterfuzzi«, half Mirjam ihm auf die Sprünge.

»Ja, ich weiß, wen du meinst. Peter. Aber ich kenne ihn wirklich nur flüchtig, und ich hab ihn auch schon ewig nicht mehr gesehen – genau genommen, seit ich das letzte Mal klettern war …« Kastner holte sich ein Landbier aus dem Kühlschrank, der außer dem Bier und ein paar ältlichen Toastscheiben nichts Nennenswertes enthielt. Mit zunehmender Besorgnis fragte er sich, was er zu Abend essen sollte. In der Regel kochte Mirjam abends, aber heute hatte sie an einer Fortbildungsmaßnahme teilgenommen – sie war Verwaltungsangestellte der Stadt Nürnberg beim Service Öffentlicher Raum, kurz: SÖR, also gewissermaßen eine entfernte Kollegin von diesem Herrn Matzke – und war selbst erst spät nach Hause gekommen.

»Wie war eigentlich deine Schulung?«, fragte er mit einem Anflug schlechten Gewissens.

»Man hat mir die Software erklärt, die ich privat schon seit fünf Jahren benutze … aber danke, dass du danach fragst.«

Kastner zog den Toastbeutel aus dem Kühlschrank und kniff die Augen zusammen, um das Haltbarkeitsdatum zu entziffern. Je wichtiger die Informationen auf Lebensmittelverpackungen waren, desto kleiner schienen sie gedruckt zu werden.

»Was machst du da, Kastner? Du willst doch nicht etwa die Toastmumien essen?«, erkundigte sich Mirjam belustigt. »Ich hab uns was beim Chinesen bestellt, das müsste bald kommen.«

»Ich liebe dich, Hase!«, sagte Kastner, wahrheitsgemäß und aufrichtig erleichtert, ehe er den Toast wieder zurück in den Kühlschrank legte.

Wenig später saßen sie am Küchentisch und verzehrten gebratene Ente und Gemüse mit Reis direkt aus den Styroporschalen. Danach entsorgte Kastner, auf Mirjams sanftes Drängen hin, zunächst vorschriftsmäßig den Toast und rief dann bei Peter an. Offensichtlich erhielt der arme Mann mehr solcher Anrufe, als ihm lieb war, denn seine Freude über das Wiederhören nach so langer Zeit wurde merklich verhaltener, als Kastner nach kurzem Small Talk mit seinem Anliegen herausrückte. Trotzdem versprach er, am nächsten Abend vorbeizukommen und sich die Spülmaschine mal anzusehen – ein guter Mensch.