Die Kurfürstenklinik – 65 – Marcello, der Magier

Die Kurfürstenklinik
– 65–

Marcello, der Magier

Auch er sucht Hilfe in der Kurfürsten-Klinik

Nina Kayser-Darius

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-368-6

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»Du kannst bei mir wohnen, so lange du willst, Mark«, versicherte Rainer Mutschler. »Das habe ich dir doch schon gesagt. Wofür habe ich schließlich ein Gästezimmer?«

»Etwa für mich, mein weißes Kaninchen und meine beiden Tauben?« fragte Mark Bröker und zeigte auf die Käfige, die zu seinem Gepäck gehörten. »Uns gibt’s nur alle zusammen – das war dir sicher nicht klar.«

Rainer lachte. »Ich habe nichts gegen Kaninchen und Tauben, wenn sie sich anständig benehmen.«

»Ihr habt’s gehört!« sagte Mark und öffnete die Käfige. Das Kaninchen hoppelte sofort heraus und machte zierlich Männchen, während die Tauben sich zunächst einmal nicht rührten.

»Typisch Frau Müller!« stellte Mark fest. »Sie ist immer die Neugierigste.«

»Du hast dein Kaninchen ›Frau Müller‹ getauft?« fragte Rainer ungläubig. »Und wie heißen die Tauben?«

»Eins und Zwei«, antwortete Mark. »So, damit ist die Vorstellung abgeschlossen. Du mußt übrigens wirklich keine Sorgen haben, sie benehmen sich immer anständig.«

»Davon bin ich überzeugt. Ich freue mich auf jeden Fall, wenn ich Gesellschaft habe. Sag mal, Mark: Marcello, der Magier – wann ist dir denn der Name eingefallen?«

Mark zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht mehr genau. Namen von Zauberern – heute spricht man ja eher von Illusionskünstlern – müssen geheimnisvoll und fremdartig klingen. Außerdem wollte ich wenigstens einen Teil von ›Mark‹ retten. So ist ›Marcello‹ entstanden – zum Glück bin ich nicht blond und blauäugig, da hätte der Name weniger gepaßt.«

»Was haben deine Eltern gesagt zu deinen Plänen?«

Über Marks schmales, ausdrucksvolles Gesicht mit den fast schwarzen Augen glitt ein Schatten. »Das kannst du dir doch sicher denken, Rainer, oder nicht? Mein Vater hat ja fest damit gerechnet, daß ich irgendwann doch noch ›vernünftig‹ werde und die Firma übernehme. Dabei habe ich das noch nie vorgehabt und es auch immer gesagt. Aber er hat es einfach nicht glauben wollen.«

»Die Firma – was war das noch mal? Ich habe vergessen, was dort produziert wird.«

»Knöpfe!« antwortete Mark, und allein die Art, wie er dieses eine Wort betonte, ließ erkennen, daß er mit Knöpfen überhaupt nichts anfangen konnte.

»Knöpfe«, meinte Rainer nachdenklich. »Eine ganze Firma nur für Knöpfe?«

Mark nickte. »Ja, und mein Vater liebt seine Arbeit, das kannst du mir glauben. Er kann auch sehr interessant über Knöpfe reden, er hat sich mit der Geschichte befaßt und weiß viel darüber zu erzählen. Aber das ist nicht meine Welt, Rainer, und er kann und will das einfach nicht verstehen.« Er seufzte. »Aber wenn ich daran denke, wie traurig meine Eltern ausgesehen haben, als sie endlich einsehen mußten, daß ich Ernst machen würde – also, das geht mir schon sehr nahe. Sie haben ja nur mich, und nun sieht mein Vater sein Lebenswerk in fremde Hände übergehen. Noch ist er ja fit und macht alles selbst, mit Hilfe meiner Mutter – aber er hat gehofft, sich nach und nach zurückziehen zu können.«

Rainer nickte. Mark und er waren in Süddeutschland zusammen zur Schule gegangen und hatten sich immer gut verstanden. In den vergangenen Jahren war ihr Kontakt nicht mehr allzu eng gewesen, ihre Lebenswege hatten sie in verschiedene Richtungen geführt: Rainer war Ingenieur geworden und lebte nun schon seit Jahren in Berlin, Mark hatte, seinem Vater zuliebe, Betriebswirtschaft studiert, sich nebenbei jedoch immer stärker den magischen Künsten zugewandt. Er trat an kleinen Bühnen und in Varietés im ganzen Lande auf, wann immer er es einrichten konnte. Das hatte zwangsläufig zu Konflikten mit den Eltern geführt, und jetzt endlich hatte er ihnen mitgeteilt, daß sie in der heimischen Knopffabrik nicht mit ihm rechnen konnten.

Er hatte Rainer in Berlin angerufen, und dieser hatte ihm sofort sein Gästezimmer angeboten. »Berlin ist ein guter Platz für Zauberer, Mark!« hatte er gesagt, und das war ganz sicher richtig. Also hatte Mark seine Sachen gepackt und war nach Berlin gefahren.

»Du mußt das machen, was für dich richtig ist«, meinte Rainer nun. »Wenn du so sicher bist, daß die Knopffabrik dich unglücklich macht, dann kannst du dort nicht arbeiten.« Er machte eine Pause und fuhr dann fort: »Komisch, ich stelle mir das eigentlich sehr interessant vor – so einen alten Familienbetrieb zu führen und dafür zu sorgen, daß er konkurrenzfähig bleibt. Das muß doch eine ungeheure Herausforderung sein.«

»Sicher«, gab Mark zu, »aber ich mache eben lieber etwas anderes, das ist nun einmal so.«

»Und wie willst du hier in Berlin anfangen? Bist du hier in der Stadt schon einmal aufgetreten?«

»Einmal, ja. In einem kleinen Club – am besten frage ich zuerst dort nach. Die Konkurrenz ist natürlich groß heutzutage, aber wirklich gute Leute müssen sich nicht um Aufträge sorgen, die Nachfrage ist sehr groß, größer als früher.«

»Und du bist wirklich gut?« fragte Rainer neugierig.

»Ja«, antwortete Mark einfach und ohne eine Spur von Überheblichkeit, »ich bin wirklich gut.«

»Dann mußt du irgendwann hier bei mir mal eine kleine Privatvorführung machen, ja? Ich lade ein paar Freunde ein, und wir machen ein richtig schönes Fest.«

»Gern«, antwortete Mark. »Ich bin dir mehr als eine Privatvorführung schuldig dafür, daß ich erst einmal bei dir wohnen kann, bis ich ein wenig bekannter bin.«

Rainer schüttelte den Kopf. »Du bist mir nichts schuldig, Mark. Ich freue mich wirklich, daß du hier bist. Wir werden eine schöne Zeit haben.«

Sie grinsten einander an und sahen für einen kurzen Augenblick wieder wie die beiden achtjährigen Jungen aus, die sie damals, vor fast zwanzig Jahren, in der kleinen süddeutschen Gemeinde gewesen waren.

*

Stefanie Wagner saß im Büro ihres Chefs Andreas Wingensiefen und wippte ungeduldig mit dem Fuß. Er war Direktor des Hotels King’s Palace in Berlin-Charlottenburg, sie war offiziell seine Assistentin. In Wirklichkeit war es eher so, daß sie den Betrieb leitete, weil sie ihre Arbeit und das Hotel liebte und sich für die Gäste und auch die Angestellten ungeheuer engagierte, während er zwar gern sein Foto in der Zeitung sah und sich auf wichtigen Empfängen sehen ließ, alles andere aber lieber vernachlässigte.

Jetzt hatte er sie rufen lassen, weil wieder einmal eine wichtige ausländische Delegation im Hause erwartet wurde. »Die Damen und Herren möchten, daß wir ihnen einen Abend mit Programm ausrichten, Frau Wagner – ein exquisites Essen und ein wenig Unterhaltung dazu. Die Kosten scheinen keine Rolle zu spielen. Bitte kümmern Sie sich darum! Die Sache eilt, denn wir erwarten die Gäste bereits am Wochenende.«

»Das ist aber knapp!« rief Stefanie erschrocken. »Wie soll ich denn in wenigen Tagen ein anständiges Programm auf die Beine stellen? Warum erfahre ich das erst jetzt?«

»Was weiß ich?« fragte er gereizt. Er würde nicht zugeben, daß er die Sache auf seinem Schreibtisch vergessen hatte und erst jetzt durch Zufall wieder darauf gestoßen war. Seine Sekretärin hatte angenommen, daß die Vorbereitungen längst in die Wege geleitet worden waren.

»Wo kommen die Leute her?« fragte Stefanie, die sich zur Ruhe zwang. Es war sowieso zwecklos, sich aufzuregen. Außerdem kostete es nur ihre Nerven.

»Neuseeland«, antwortete ihr Chef mürrisch.

So reagierte er immer, wenn er ein schlechtes Gewissen hatte, sie kannte ihn. Die knappe Vorbereitungszeit ging also auf sein Konto, das hätte sie sich ja denken können.

»Neuseeländer«, meinte sie nachdenklich. »Haben die Damen und Herren Wünsche geäußert? Möchten sie zum Beispiel musikalisch unterhalten werden? Oder sprechen sie gut Deutsch – so daß man auch ein Wortprogramm machen könnte?«

»Das weiß ich doch nicht.« Andreas Wingensiefen wurde noch ungeduldiger – er interessierte sich für solche Einzelheiten nicht. Wozu hatte er schließlich hochbezahlte Mitarbeiter? »Sie machen das schon, Frau Wagner. Bitte legen Sie mir Ihre Vorschläge bis heute abend auf den Tisch.«

Sie hätte ihm die Augen auskratzen können, weil er sie wie eine dumme Gans behandelte, aber sie blieb völlig ruhig. Normalerweise kamen sie gut miteinander aus, denn Stefanie kannte die Schwächen ihres Chefs und wußte, daß sie ihr sonst immer zugute kamen: Er ließ sie frei arbeiten und redete ihr selten hinein. Nur in Fällen wie diesen neigte er dazu, sich wichtig zu machen – aber das kam zum Glück nicht oft vor.

Sie stand auf. »Dann will ich mal sehen, was ich tun kann in der kurzen Zeit«, sagte sie kühl und ging zur Tür.

Er sah ihr beifällig nach und dachte wieder einmal, daß sie sicherlich die schönste Assistentin weit und breit war: Schlank und gut gewachsen, mit blonden Locken und Augen von einem seltenen Veilchenblau. Leider nicht verführbar. Er unterdrückte einen Seufzer, denn versucht hatte er es schon etliche Male, er war ein großer Frauenheld. Aber sie hatte ihn eiskalt abblitzen lassen, und eine neue Abfuhr wollte er sich nicht holen.

»Frau Wagner?«

Sie war bereits an der Tür. »Ja, bitte?«

»Machen Sie ein wenig Dampf. Wenn ich die Vorschläge bis heute mittag hätte, wäre es noch besser.« Er sah ihr an, was sie dachte und war zufrieden. Immerhin hatte er ihr wieder einmal klargemacht, wer hier der Chef war.

Stefanie rannte auf ihren hohen Absätzen zornbebend zurück zu ihrem Büro. »Irgendwann ist er fällig!« schimpfte sie vor sich hin. »Irgendwann…«

»Oje«, sagte Alice Hübener, ihre Sekretärin, als Stefanie an ihr vorbeistürmte. »Er hat Sie also wieder mal auf hundertachtzig gebracht.«

»Ja, hat er!« fauchte Stefanie. »Aber irgendwann bringe ich IHN auf hundertachtzig, das schwöre ich!«

Alice Hübener lächelte verständnisvoll. Alle Angestellten des Hauses standen uneingeschränkt hinter Stefanie, denn sie war diejenige, die hart arbeitete, und das wußte jeder zu schätzen. Hätte es eine Abstimmung gegeben, wer im Haus das Sagen haben sollte – Andreas Wingensiefen wäre ziemlich verwundert und wohl auch gekränkt gewesen.

*

Die junge Frau mit den roten Haaren hatte einen kleinen Jungen auf dem Arm, der sehr blaß war und vor Schmerzen weinte. Sie war völlig außer Atem und sichtlich erschöpft, als sie die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik betrat und rief: »Kann mir jemand helfen, bitte? Mein Sohn… Er hat schreckliche Schmerzen, bitte, helfen Sie uns doch…«

Dr. Adrian Winter, der junge Chef der Notaufnahme, hörte sie zuerst und lief sofort zu ihr. »Was ist passiert?« fragte er und nahm ihr den Jungen ab. Er war vielleicht fünf Jahre alt und nicht sehr schwer, aber für die zarte Frau mußte er eine Last gewesen sein.

»Er hat schon seit Tagen Bauchschmerzen, und jetzt ist auch noch Durchfall dazu gekommen. Sein Kinderarzt hat gesagt, daß er sich wohl den Magen verdorben hat, aber das glaube ich nicht mehr. Und eben ist es ganz schlimm geworden. Bitte, Herr Doktor…« Sie brach ab, ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Adrian legte den Jungen in einer freien Kabine auf den Behandlungstisch und begann vorsichtig, seinen Bauch abzutasten. Er mußte nicht fragen, ob es dem Kleinen weh tat, denn dieser wimmerte laut vor Schmerzen, als Adrian die rechte Leistengegend untersuchte. »Hat er seinen Blinddarm noch?« fragte er die Mutter.

»Wie? Ja, sicher. Er war noch nie im Krankenhaus.«

»Du liebe Güte«, murmelte Adrian und rief dann laut: »Walli, wir brauchen sofort einen OP! Appendizitis, vielleicht Peritonitis – schnell, der Junge klagt schon seit Tagen über Schmerzen!«

Oberschwester Walli erschien, überblickte die Lage auf Anhieb und griff bereits zum Telefon.

»Was… was bedeutet das, Herr Doktor?« fragte die junge Frau. Sie war jetzt so blaß wie der Junge, ihre Augen spiegelten die Angst, die sie hatte.