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Manchmal erfordert schon das Leben an sich Mut.

Seneca

vignLondon, Holland Park, November 2014

Dan streckte die Hand aus und nahm dem Kellner zwei Champagnergläser ab. Eins davon reichte er Alice und schenkte ihr dabei ein aufmunterndes Lächeln, dann klopfte er an sein eigenes Glas, um die Aufmerksamkeit aller zu erlangen. Er räusperte sich und verkündete: »Ich freue mich so sehr, dass heute Abend meine engsten Freunde hier versammelt sind, um Alice endlich richtig kennenzulernen. Meine Geschichte kennt ihr alle, und ihr wisst von mir auch, dass Alice sehr schwere Zeiten hinter sich hat. Deshalb war ich überglücklich, als ich ihr begegnet bin. Im Leben bekommt man nur selten eine zweite Chance, und ich habe diese sofort ergriffen. Also, lasst uns auf meinen Neuanfang mit der wunderbarsten Frau der Welt anstoßen!«

Unter dem Johlen und Klatschen seiner Freunde zog er Alice zu sich heran und küsste sie.

Alice sah zu ihren beiden Mädchen hinüber, die mit Dans Tochter Stella in einer Ecke standen. Jools schenkte ihrer Mutter ein schiefes Lächeln, während Holly beide Daumen in die Luft reckte. Alice lächelte zurück und atmete endlich auf. Sie hatte die richtige Entscheidung getroffen, es würde alles gut werden.

Dann lehnte sie sich zu Dan und sagte: »Danke für … na ja, für alles. Dafür, dass du mich gerettet und mir gezeigt hast, dass ich wieder glücklich werden kann …« Sie verstummte, weil ihre Stimme nachzugeben drohte.

Dan küsste ihr die Hand. »Du bist diejenige, die mich glücklich gemacht hat. Und ich möchte allen von unserer Verlobung erzählen.« Alice versuchte zu protestieren, aber da rief Dan schon laut: »Und noch etwas, ich habe Alice gebeten, meine Frau zu werden.«

Stille breitete sich im Raum aus. Damit hatten Dans Freunde offenbar nicht gerechnet. Irgendwann begann dann endlich jemand zu klatschen, und alle anderen fielen mit ein.

Alice runzelte die Stirn. »Dan, ich hab dir doch gesagt, dass die Mädchen und ich erst einmal Zeit brauchen, um uns an den Gedanken zu gewöhnen, bevor wir das öffentlich machen.«

»Entspann dich, mein Schatz. Ich habe vorhin mit den beiden gesprochen, und sie haben mich darin bestärkt, es zu verkünden.« Dan strahlte.

Bevor Alice noch etwas entgegnen konnte, erschien die Eventmanagerin neben Dan und meldete sich mit einem Hüsteln zu Wort. »Entschuldigen Sie bitte die Unterbrechung, Mr Penfold, aber ich wüsste gerne, wann wir das Essen servieren sollen.«

Dan gab Alice noch einen Kuss und machte sich auf den Weg in Richtung Küche. Nun kam der Bruder von Alice, Kevin, zu ihr herüber und drückte ihr die Hand. »Jetzt bleib mal ganz locker, das wäre sowieso bald rausgekommen.«

»Ich weiß, aber solche Überraschungen mag ich einfach nicht. Ich mache mir eben Sorgen um die Mädchen.«

»Die kommen damit schon klar, schließlich mögen sie Dan wirklich. Jetzt lächel doch, Alice, du vergraulst ja eure Gäste.«

Alice lachte und entspannte sich endlich.

»Du hast ja recht. Vermutlich muss ich mich einfach nur noch an die Vorstellung gewöhnen, jemand anderen zu heiraten.«

»Alice, du musst jetzt nach vorne schauen. Du hast es verdient, glücklich zu werden, und Dan ist ein guter Mann.«

Tränen stiegen Alice in die Augen. »Danke, Kevin, du bist einfach toll. Ich liebe Dan ja wirklich, und genau wie er es gesagt hat, will ich diese zweite Chance unbedingt nutzen.«

»Gut«, Kevin nickte. »Wenn sein Bruder doch nur schwul wäre … an diesen Luxus könnte ich mich glatt gewöhnen.« Er deutete auf das edle Mobiliar und die riesigen Kronleuchter.

»Du findest eines Tages auch noch deinen Märchenprinzen«, neckte Alice ihn.

»Und wann bitte schön? Ich werde nicht jünger, und es will doch niemand eine alte Schwuchtel. Vor allem nicht eine ohne Kohle.«

»Wenn das mir passieren konnte, dann kann es auch dir passieren.« Alice küsste ihren Bruder auf die Wange.

»Übrigens solltest du vielleicht auch noch ein paar Worte sagen. Ich habe zufällig einen von Dans Freunden brummeln hören, er hoffe, Dan habe die richtige Entscheidung getroffen. So nett die alle auch sein mögen, dass er sich für eine Witwe mit zwei Kindern entschieden hat, hat schon für einiges Stirnrunzeln gesorgt.«

Alice seufzte. Dan und sie hatten während ihrer stürmischen Romanze die meiste Zeit allein verbracht, daher kannte sie seine Freunde kaum. Sie wollte aber unbedingt von ihnen akzeptiert werden. Sie hatte sich bemüht, mit jedem der etwa zwanzig Gäste zu reden, und sie schienen auch wirklich alle sympathisch zu sein. Trotzdem war die Situation ziemlich einschüchternd. Alice beschloss, auf ihren Bruder zu hören, den Stier bei den Hörnern zu packen und sich an die ganze Runde zu wenden.

Als Dan jetzt zurückkam, griff sie nach seiner Hand und flüsterte: »Ich würde auch gern etwas sagen, wenn das in Ordnung ist.«

Er sah erfreut aus. »Natürlich, mein Schatz.«

Also klopfte nun Alice an ihr Glas, bis die Unterhaltungen im Raum nach und nach verstummten. »Tut mir leid, dass ich die Sache mit den Reden so in die Länge ziehe. Aber ich würde gern noch schnell etwas hinzufügen. Ich habe nie geglaubt, dass ich so großes Glück haben und noch mal jemanden kennenlernen würde. Aber dann ist Dan in mein Leben getreten und hat mir gezeigt, dass es tatsächlich so etwas wie eine zweite Chance gibt. Ich …«

In diesem Moment wurde sie von Mrs Jenkins unterbrochen, Dans Haushälterin, die sie sanft am Arm berührte. Sie hielt ein Telefon in der Hand. »Verzeihen Sie bitte, Alice«, flüsterte sie, »aber da will Sie jemand dringend sprechen, ein Mr Jonathan Londis vom Außenministerium. Es handelt sich wohl um einen Notfall.«

Alice entschuldigte sich, griff nach dem Telefon und ging hinaus in das riesige Foyer.

»Hallo?« Im weitläufigen Eingangsbereich rief ihre Stimme ein seltsames Echo hervor.

»Hallo, Mrs Gregory, ich hab eine wirklich unglaubliche Neuigkeit für Sie.« Der Mann am anderen Ende klang ganz außer Atem. »Hier ist jemand, der gern mit Ihnen sprechen würde.«

Alices Herz fing heftig zu klopfen an. Ihr Mund wurde ganz trocken. Was war denn los? Ihre Hände begannen unkontrolliert zu zittern.

»Hallo? Wer ist denn da?«

vign

Teil 1

London, Oktober 2012

vignAlice

Kevin schloss die Praxistür ab und reichte Alice die Schlüssel.

»Mann, bin ich jetzt müde.« Seine Schwester gähnte. »Heute hatten wir wirklich keine Verschnaufpause.«

»Gott, ist es nicht furchtbar, so heiß begehrt zu sein«, sagte Kevin mit einem Grinsen.

Alice lächelte. »Ich bin ja froh, dass es gut läuft, aber jetzt würde ich mir zu Hause gern ein heißes Bad einlassen, statt mich mit Jools und ihren Hausaufgaben herumzuschlagen. Außerdem hat Ben für morgen Abend David und Pippa zum Essen eingeladen, also muss ich auf dem Heimweg noch einkaufen.«

»Vielleicht kommt er ja morgen mal früher von der Arbeit und hilft dir beim Kochen für seine Freunde.«

»Das glaubst du doch selbst nicht!« Alice seufzte. »Und so gern ich David und Pippa auch habe, dienstags um neun zum Abendessen passt mir gar nicht. Ich bin immer fix und fertig, nachdem ich mich mit Jools rumgeschlagen habe.«

»Dann hättest du eben Nein sagen sollen.«

Alice musste lächeln. Dass Beziehungen Kompromisse erforderten, hatte Kevin noch nie wirklich verstanden, wahrscheinlich dauerten seine Beziehungen auch deshalb nie lange. »Die Einladung war Ben unheimlich wichtig, außerdem sind wir doch ständig auf irgendwelchen Dinnerpartys bei den beiden. Also war das langsam mal fällig.«

»Dann hol einfach irgendwo etwas und tu so, als hättest du es selbst gezaubert. Problem gelöst.«

Alice schüttelte den Kopf. »Nein, ich komm schon klar. Am besten schau ich jetzt kurz bei M & S vorbei. Ignorier mein Gejammer einfach, ich musste mich gerade nur ein bisschen auskotzen.«

»Tja, dann denke ich im Flieger nach New York an dich in deiner Küchenschürze.«

Spielerisch knuffte ihm Alice den Arm. »Ich wünsche dir wirklich ganz viel Spaß, aber geh nicht mit fremden Männern mit, okay? New York ist ein gefährliches Pflaster.«

Kevin schnaubte. »Ehrlich gesagt plane ich ja gerade, mit so vielen fremden Männern wie möglich mitzugehen.«

Alice rollte mit den Augen. »Wie gesagt, amüsier dich schön, aber sei auch vorsichtig, und pass gut auf dich auf.«

»Du wirst mich vermissen.«

»Das tue ich doch immer, selbst wenn du nur eine Woche weg bist.«

»Ich bin eben die beste Sprechstundenhilfe weit und breit.«

»Allerdings.« Alice küsste ihren Bruder. »Wir sehen uns, wenn du wieder da bist. Viel Spaß!«

»Den werd ich haben!« Kevin zwinkerte ihr zu. »Und jetzt geh nach Hause zu deinen Mädchen.«

Alice mochte den fünfzehnminütigen Fußmarsch nach Hause, weil sie dabei ordentlich Dampf ablassen konnte. An manchen Tagen war ihre Arbeit als Hausärztin echt hart – heute hatte sich ein Dreijähriger mit einer Mandelentzündung auf ihren Kittel übergeben, ein Patient mit heftigen Rückenschmerzen hatte sie angeschrien, und ein achtzigjähriger Lustmolch hatte um ihre Hand angehalten.

An solchen Tagen beneidete sie Ben um seinen spannenden Job. Auch für Ben selbst spielten Chirurgen in einer völlig anderen Liga als Hausärzte, das wusste Alice, auch wenn er das natürlich nie so sagen würde. Stattdessen sagte er abends manchmal Sachen wie: »Mann, das war heute vielleicht ein Tag. Ich hab einen Leistenbruch operiert, eine Gallenblase und eine Cervixdrüse entfernt und zwei Brustbiopsien vorgenommen. Und wie war’s bei dir so?«

Manchmal hätte sie ihm gerne ins Gesicht gebrüllt, dass sie a) fast genauso lange studiert hatte wie er und sich b) für diese Arbeit entschieden hatte, damit sie wegen der Kinder früher zu Hause sein konnte. Denn irgendwer musste ja für sie da sein. Letztlich betrieb sie daher nicht nur eine florierende Praxis, sondern kümmerte sich auch noch um fast alles, was mit ihren beiden Töchtern zu tun hatte. Als sie nun die Marks & Spencer-Filiale betrat, spürte Alice, wie der Neid auf ihren Ehemann an ihr nagte: Er war ein gefragter Chirurg, musste sich keine Gedanken um Hausarbeit machen und konnte außerdem einfach so Leute zum Abendessen einladen, ohne sich um die Organisation zu kümmern. Es muss wirklich toll sein, in Bens Haut zu stecken, dachte sie grimmig.

Sie entschied, was sie am nächsten Tag kochen würde, kaufte die entsprechenden Zutaten und machte sich dann mit schnellen Schritten auf den Heimweg. Sie wollte früh genug zu Hause sein, um für die Mädchen zu kochen. Nora, ihre Haushälterin und Kinderfrau, die manchmal auch als Ersatzmutter herhalten musste, war zwar wunderbar, aber ihre Kochkünste waren eher beschränkt. Als die Mädchen noch klein gewesen waren, hatte Alice das nicht gestört, aber jetzt, da sie schon größer waren, wollte die Ärztin sie auch gerne mal etwas Neues probieren lassen.

Als Alice nun den Flur ihres Hauses in Kensington betrat, hörte sie Jools bereits maulen: »Ich esse keinen Reis mehr, Nora, nur noch Quinoa.«

»Kin… was?«, knurrte Nora. »Nie davon gehört.«

»Das ist jetzt neu. Gwyneth Paltrow isst das ständig, und sie ist total gesund. Kannst du mir das nicht auch kochen?«

»Die ist doch bestimmt die reinste Bohnenstange und braucht mal ordentlich was zwischen die Zähne. Und dieses Kin-irgendwas ist sicher irgendwas Künstliches, von dem man am Ende dann doch nur Krebs kriegt. Was du brauchst, ist ein vernünftiges Stück Fleisch mit Gemüse.«

Alice bog um die Ecke in die Küche, wo die fünfzehnjährige Jools saß und ziemlich missmutig dreinblickte. Diese Schnute kannte ihre Mutter nur zu gut – darauf würde gleich ein Temperamentsausbruch folgen, den die Haushälterin mit Sicherheit nicht tolerieren würde.

»Quinoa halte ich für völlig unbedenklich, Nora, aber die kann gerne ich für sie kochen, keine Sorge. Warum machst du dich nicht auf den Heimweg?«

»In Ordnung«, Nora nickte. »Bei mir zu Hause wartet sicher schon jemand auf sein Schweinekotelett mit Kartoffeln. Der kommt mir nicht mit Kin-irgendwas.«

Alice lachte bei der Vorstellung von Noras Ehemann, einem pensionierten Klempner aus Yorkshire, vor einem Teller Quinoa. Die beiden waren ein bodenständiges Paar. Nora stammte aus dem tiefsten Irland und war auf einem Bauernhof aufgewachsen. Als Alice nach Jools’ Geburt wieder zu arbeiten angefangen hatte, hatte sie es toll gefunden, für ihr Baby eine irische Kinderfrau gefunden zu haben.

Die Kinder von Nora waren damals schon flügge gewesen, und sie hatte ein wenig Geld dazuverdienen wollen. Sie war für Alice da gewesen, als deren Eltern bei einem Autounfall umgekommen waren, und so war sie für ihre Arbeitgeberin in vielerlei Hinsicht zur Ersatzmutter geworden.

Als Alice Nora nun zur Tür brachte, fiepte ihr Handy. Es war Ben: Ich drehe nach der Arbeit noch eine Runde mit dem Rad. Wir sehen uns gegen neun.

Alice fluchte. Dieser Egoist! Er hatte doch versprochen, Jools heute bei den Hausaufgaben zu helfen, und jetzt gab er dem verdammten Drahtesel den Vorzug. Sie hätte ihn umbringen können!

»Was ist denn?«, fragte Nora.

»Ben geht nach der Arbeit Rad fahren. Mal wieder.«

»Das machen heutzutage scheinbar alle Männer über vierzig, die sehen in ihren engen Höschen ganz schön albern aus. Keine Sorge, das ist nur die Midlife-Crisis. Soll er seinen Willi doch besser in Lycra stecken als in irgendeine junge Krankenschwester.«

»Nora!«

»Ich mein ja nur …«

Alice seufzte. »Hoffen wir bloß, dass er nicht beides macht …«

Nora gab ihr einen Klaps auf den Arm. »Na, jetzt hör aber auf. Ben vergöttert die Mädchen und dich, er ist ein guter Mann, Alice. Lass ihn doch ein bisschen Fahrrad fahren, das langweilt ihn auch irgendwann. Spätestens, wenn ihm die engen Höschen das Blut abschnüren, hat er die Nase voll davon.«

Alice lachte und winkte zum Abschied. Als es nun zu regnen anfing, hoffte sie, Ben würde seine Radfahrpläne doch noch aufgeben und früh genug zu Hause sein, um mit Jools Hausaufgaben zu machen.

Als Alice zurück in die Küche kam, blätterte Jools gerade in dem Kochbuch von Gwyneth Paltrow. Alice hatte es vor ein paar Wochen gekauft, weil sie gesünder essen und mal ein paar neue Rezepte ausprobieren wollte. Bislang hatte sie nur ein Gericht daraus gekocht und danach eine ganze Packung Schokoriegel verspeist, was den gesunden Effekt wieder zunichtegemacht hatte. Na ja, wenigstens waren all die Fotos von Gwyneth und ihren Kindern mit im Sonnenschein leuchtenden Haaren hübsch anzusehen.

Jools klappte laut das Buch zu. »So, wir müssen über meine Party reden.«

Alice lächelte. Aus irgendeinem Grund schien Jools zu glauben, dass der sechzehnte Geburtstag mit einer riesigen Feier begangen werden musste.

»Also, ich hab ja gesagt, dass ich gesünder leben will«, fuhr Jools fort, »aber für meine Party will ich ein richtiges Schokogelage. Ich will …«

»Ich möchte gern«, berichtigte sie Alice.

»Okay. Also, ich möchte gern einen Schokoladenkuchen mit einem Bild von Harry Styles und eine Pyjamaparty mit meinen sieben besten Freundinnen. Ich hab mir überlegt, dass ich Harriet auch einlade, die ist zwar ein echter Nerd, aber ziemlich witzig. Und wir wollen uns nicht irgend so einen lahmen Film angucken, sondern Blutgericht in Texas, und mir ist ganz egal, was du davon hältst.«

Alice lehnte sich über den Tisch zu ihr vor und erklärte: »Moment, Moment, ihr guckt euch mit Sicherheit nicht Blutgericht in Texas an, das ist nämlich ein wirklich brutaler und gruseliger Film, der für dich und deine Freundinnen nicht geeignet ist.«

Jools schlug mit der flachen Hand auf die Arbeitsplatte aus Marmor. »War ja klar, dass du das sagen würdest. Ich wusste, dass du mir die Party ruinieren willst. Dann frag ich eben Daddy – der erlaubt mir das sicher.«

Ja, sicher wird er das, dachte Alice. Seine Nachgiebigkeit Jools gegenüber war einer der Hauptgründe für ihre häufigen Streitereien. Ben verwöhnte seine älteste Tochter total, und das machte Alice wahnsinnig.

Vermutlich hatte das damit zu tun, dass Jools ihr erstes Kind war und dann auch noch ein Mädchen. Und sie sah genauso aus wie er. Er hatte sich auf den ersten Blick in sie verliebt, und als er sie nach der Geburt im Arm gehalten hatte, hatte er geweint. Die Liebe in seinem Blick war überwältigend gewesen.

Damals schon hatte Alice gewusst, dass er ein toller Vater sein würde, aber sie hatte auch bereits geahnt, dass es Probleme geben könnte. Ein Mann, der so hingerissen von seiner Tochter war, würde bei Disziplinfragen wohl kaum einen ernst zu nehmenden Gegner darstellen. Ben fiel es schwer, Jools etwas abzuschlagen, also war Alice die Rolle des »bösen Cops« zugefallen. Sie liebte ihre Große über alles, aber sie wollte nicht, dass sie ein verzogenes Miststück wurde. Stattdessen wünschte sie sich, dass ihre Tochter die Dinge zu schätzen wusste und ihren Wert kannte, sie sollte nichts als selbstverständlich hinnehmen.

Holly hatten sie vier Jahre später bekommen, und sie hatte sich von Anfang an als perfektes Kind gezeigt. Jools hatte erst mit drei Jahren nachts durchgeschlafen, Holly bereits mit zehn Wochen. Selbst als Baby hatte Jools immer die Aufmerksamkeit aller gefordert, Holly hingegen konnte sich schon von Anfang an allein beschäftigen. Oft vergaßen Alice und Ben beinahe, dass sich Holly im Zimmer befand, weil sie immer so ruhig und konzentriert war.

Alice wusste, dass es falsch war, Kinder miteinander zu vergleichen. Aber wenn sie ganz ehrlich war, fand sie Jools furchtbar anstrengend, und Holly war … na ja, eben pflegeleicht.

Nun holte sie tief Luft und versuchte sich erst einmal zu beruhigen. Sie wollte nicht mit Jools streiten. »Was hättest du an deinem Geburtstag denn gern zum Frühstück? Du weißt ja, dass ich dir an deinem Ehrentag mache, was du willst.«

Jools zögerte nicht eine Sekunde: »Pfannkuchen mit Nutella und Sahne.«

»Ich glaube nicht, dass du zu Nutella noch extra Sahne brauchst – davon wird dir doch nur schlecht.«

Jools blickte ihre Mutter böse an. »Du hast doch gesagt, ich darf mir wünschen, was ich will.«

»Ja, aber ich dachte auch, dass du jetzt gesünder essen willst.«

Jools schnaubte. »Ich will bestimmt keine Quinoa in meinen Geburtstagspfannkuchen.«

Alice beschloss, ihr das durchgehen zu lassen. »Okay, aber komm bloß nicht angerannt und heul dich bei mir aus, weil du dich nach dem ganzen Zucker in der Schule übergeben musstest.«

»Mach dir da keine Sorgen, ich heul mich nicht bei dir aus. Wenn irgendwas ist, red ich sowieso lieber mit Daddy.«

Alice versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr diese Bemerkung sie traf. Sie war streng, aber nicht lieblos. Ben hingegen war neuerdings kaum zu Hause, und wenn er sich mal blicken ließ, schlug er sich immer sofort auf Jools’ Seite. Alice hatte die Nase voll davon, dauernd als Böse dazustehen. Ben musste ihr wirklich mehr helfen, in letzter Zeit kam sie sich fast wie eine alleinerziehende Mutter vor.

»Das war gemein von dir, Jools«, sagte Holly, die mit einem Buch in der Hand ins Zimmer trat. »Schließlich hat Mummy dir gerade angeboten, dir ein superleckeres Frühstück zu machen. Dafür solltest du dankbar sein, es gibt auf diesem Planeten nämlich fast achthundertsiebzig Millionen Menschen, die nicht genug zu essen haben. Das ist einer von acht Menschen.«

»Halt du bloß den Mund mit deinen blöden Fakten! Du wandelnder Taschenrechner!«

»Lass deine Schwester in Ruhe!«, warnte Alice. »Ehrlich gesagt könnte es dir auch nicht schaden, dich ein bisschen mit Fakten zu beschäftigen – und den Mund nicht so voll zu nehmen«, fügte sie hinzu.

»Nee, klar, als wollte ich mich in so eine Streberin wie Holly verwandeln«, fauchte Jools.

»Holly ist keine Streberin, sie ist ein schlaues Mädchen.«

»Miss Robinson sagt, es ist eine Freude, mich zu unterrichten«, verteidigte sich Holly.

»Das ist doch schön, da hat sie bestimmt recht.« Alice küsste ihre Jüngste.

Jools war so gar nicht beeindruckt. »Niemand mag das Schoßhündchen der Lehrerin, Holly. Irgendwann stehst du ohne Freunde da.«

»Sie hat doch jede Menge Freunde!«, warf Alice ein.

»Wen denn zum Beispiel?«, erkundigte sich Jools.

»Jackie«, antwortete Holly.

»Ist das die Streberin mit den dicken Brillengläsern?«

»Ja.«

»Mal im Ernst, Holly, du musst damit aufhören, immer so langweiliges Zeug in die Welt hinauszuposaunen, und dir dringend ein paar richtig coole Freunde suchen, bevor es zu spät ist und du auf ewig als Nerd abgestempelt bist. Ich hab nun wirklich keinen Bock darauf, dass meine Schwester als die größte Loserin der Schule gilt.«

»Du tust mir echt leid, Jools.« Holly legte ihr Buch auf den Tisch. »Weil dir die Meinung anderer einfach viel zu wichtig ist. Miss Robinson sagt immer, dass man sich selbst treu bleiben und sich keine Sorgen darum machen soll, was die anderen denken.«

»Miss Robinson ist eindeutig verrückt. Mum, red doch mal mit ihr, damit sie diesen armen Kindern nicht weiter das Leben ruiniert.«

An dieser Stelle beschloss Alice einzugreifen. »Okay, ihr beiden, jetzt ist es mal gut mit der Zankerei. Beim Essen möchte ich wirklich keinen Streit. Jools, du kannst für dein Geburtstagsfrühstück gerne Pfannkuchen mit Nutella und Sahne haben, aber davon isst du höchstens zwei. Ich mach auch die großen.«

»Drei.«

»Zwei.«

»Drei.«

»Wie wär’s denn mit zweieinhalb?«, schlug Holly vor.

»Eine gute Idee«, befand Alice.

»Na schön«, lenkte Jools ein.

»Lecker!«, rief Holly begeistert aus. »Ich halt es fast nicht aus bis nächsten Montag. Darf ich denn zwei essen, Mummy?«

»Natürlich, Liebes.«

»Krieg ich dazu wenigstens noch eine heiße Schokolade?«, drängte Jools.

Alice wusste, dass sie sich nicht auf jeden Streit einlassen konnte, und ließ sich dieses Mal erweichen: »Okay.«

Jools’ Gesichtsausdruck konnte man beinahe als Lächeln interpretieren. »Danke.«

Alice ging zum Kühlschrank und begann sich um das Abendessen zu kümmern, während Jools und Holly am Küchentisch ihre Hausaufgaben machten.

Alice entdeckte Jools’ Ausgabe von Betty und ihre Schwestern. »Bist du damit jetzt fertig?«

Ihre Tochter wurde rot. »Nein, noch nicht.«

»Sollst du nicht nächste Woche schon die Zusammenfassung abgeben?«

»Ja, aber das geht klar, das krieg ich hin.«

Alice runzelte die Stirn. Jools hatte Probleme mit Rechtschreibung und las auch sehr langsam. Mit sieben hatten Alice und Ben sie auf Legasthenie testen lassen, das Ergebnis war jedoch negativ ausgefallen. Sie tat sich einfach nur schwer mit dem Lesen und Schreiben. Alice hatte alles in ihrer Macht Stehende getan, um Jools zum Lesen anzuregen, weil sie wusste, dass damit auch ihre Orthografie besser werden würde. Aber Jools las einfach nicht gerne, und sie dazu zu bewegen war ein ewiger Kampf.

»Kein Fernsehen heute Abend, stattdessen möchte ich, dass du dich eine Stunde hinsetzt und darin liest, Jools. Das ist ein toller Roman. Wenn du erst einmal reingekommen bist, gefällt er dir bestimmt.«

»Das hast du bei dieser albernen Hanni-und-Nanni-Serie auch gesagt, dabei geht’s darin nur um lauter Streberinnen in einem Internat. Mitternachtspartys, lahme Stinkbomben-Streiche und eine alberne Französischlehrerin – das war alles so was von langweilig.«

»Wenn du mehr als nur die ersten zwanzig Seiten gelesen hättest, hätten dir die Bücher am Ende bestimmt gefallen.«

»Ich fand sie super, genau wie die Lissy-Reihe«, erklärte Holly. »Auf so ein Internat würde ich auch gern gehen.«

Jools schnaubte. »Gute Idee, da würdest du wirklich gut hinpassen, du Streberin!«

»Ruhe jetzt!«, fauchte Alice. »Holly ist keine Streberin, sie ist einfach klug und fleißig.«

»Ja, und ich bin dumm«, murmelte Jools.

»Nein, bist du nicht. Du müsstest dich bloß vernünftig konzentrieren.«

»Nee, klar. Das ist schon in Ordnung, Mum. Ich weiß doch, wie schlecht ich in der Schule bin. Aber ich bin auch beliebt und sehe gut aus, deshalb juckt mich das nicht. Du musst dich nicht um mich kümmern, ich heirate nämlich später mal einen Millionär und wohne dann in L A.«

»Ich kümmere mich aber gerne um dich. Außerdem hoffe ich wirklich, du heiratest mal jemanden, den du liebst, unabhängig von seinem Bankkonto. Und ich fände es ganz schrecklich, wenn du nach L. A. ziehen würdest – das ist doch viel zu weit weg und voll von blasierten Menschen, die sich zu oft unters Messer gelegt haben.«

»Heißt ›blasiert‹ so was wie ›aufgespritzt‹?«

Alice verkniff sich ein Lachen. »Nein.«

»Das hat also nichts mit Botox zu tun?«

»Wo hast du bloß solche Sachen her?«

Jools zuckte mit den Achseln. »Von den Kardashians. Die lassen so was machen und sehen einfach toll aus.«

Alice runzelte die Stirn. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst diesen Mist nicht mehr gucken.«

»Und wieso hast du es dir dann letzte Woche selbst angeschaut?«

Jools hatte Alice auf frischer Tat ertappt – ihre Mutter liebte nämlich Keeping Up With The Kardashians, das war ihr schmutziges kleines Geheimnis. Nachdem sie sich den ganzen Tag mit Patienten herumgeschlagen hatte, lehnte sie sich einfach gern zurück und schaute trashige Realityshows.

»Ich wollte eben wissen, ob das wirklich so schlimm ist, wie ich dachte«, improvisierte Alice.

»›Blasiert‹ bedeutet ›snobistisch, herablassend‹.« Holly schaute von ihrem Wörterbuch auf.

»Und dafür sind die Kardashians ein gutes Beispiel«, merkte Alice an.

»Ich find die total super, die führen so ein cooles Leben.«

»Ich wäre gern Malala Yousafzai«, warf Holly ein.

Alice zögerte. »Also ja, Malala ist unglaublich mutig, aber mir wäre es doch lieber, wenn du für deine Überzeugungen nicht dein Leben in Gefahr bringen würdest.«

Jools fiel die Kinnlade runter. »O mein Gott, ist das etwa das Mädchen, das angeschossen wurde, weil es unbedingt zur Schule gehen wollte? Als Miss Kent uns davon erzählt hat, hab ich das erst für einen Witz gehalten. Und dann hab ich gedacht, dass mit der irgendetwas nicht stimmt, dass sie vielleicht geisteskrank ist oder so. Warum sollte denn irgendjemand in den blöden Schulbus steigen wollen, wenn er stattdessen zu Hause bleiben kann? Ich hab dann zu Miss Kent gesagt, dass ich am liebsten nach Pakistan ziehen würde. Keine Schule für Mädchen – wie cool ist das denn?«

Alice schlug sich die Hand vor die Augen. »Und was hat Miss Kent geantwortet?«

»Die ist ganz rot geworden und hat eine wütende Moralpredigt runtergeleiert über Frauenrechte, das Wahlrecht für Frauen und Gleichheit, blablabla.«

Alice wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

Holly konnte es nicht glauben. »Ehrlich gesagt ist es mir gerade peinlich, deine Schwester zu sein. Malala Yousafzai ist das mutigste, couragierteste Mädchen auf der ganzen Welt. Sie hat für ihre Bildung ihr Leben riskiert. Und du, du bist einfach nur …«

»Was denn? Dumm? Beschränkt?«, provozierte sie Jools.

»Eine Ignorantin«, schnaubte Holly.

»Ich wusste wenigstens, dass Flo Rida ein Rapper ist und nicht ein Ort in Amerika.«

»Florida ist aber ein Ort in Amerika, das ist einer der fünfzig US-Bundesstaaten. Dieser Rapper hat einfach nur den Namen geteilt«, konterte Holly.

»O mein Gott, du bist wie eine alte Frau aus dem finstersten Mittelalter«, stöhnte Jools. »Du solltest wirklich weniger lesen, dafür mal ein bisschen fernsehen, damit du endlich mitkriegst, was auf der Welt so läuft.«

»Klar, zu wissen, dass Flo Rida ein Loser ist, der nicht einmal richtig singen kann, macht mein Leben ja so viel besser.«

»Wenn man mit dir über normale Sachen reden könnte, hättest du vielleicht auch ein paar echte Freunde.«

»Du …«

Alice legte jeder Tochter eine Hand auf die Schulter.

»Das reicht jetzt, hört auf, so gemein zu sein. Ihr könnt euch glücklich schätzen, eine Schwester zu haben, ich hab mir immer eine gewünscht. Und deshalb find ich eure Streitereien ganz furchtbar.«

»Aber Kevin ist doch so was wie eine Schwester«, murmelte Jools.

Holly kicherte.

Grinsend wandte sich Alice wieder dem Abendessen zu.

vignBen

Mit gesenktem Kopf stemmte Ben dem prasselnden Regen die Schultern entgegen. Er fuhr weiter, obwohl ihm die Beine wehtaten und das Herz in seiner Brust raste. Es tat gut, mal an seine Grenzen zu stoßen. Bei einem Blick auf die Uhr stellte er fest, dass er im Vergleich zu letzter Woche zwei Minuten schneller war. Wenn er dieses Tempo die letzten acht Kilometer beibehalten konnte, würde er noch unter seiner Bestzeit liegen.

Während er durch die regennassen Straßen von London sauste, ignorierte er ganz bewusst sein klingelndes Handy. Das war bestimmt nur Alice, die ihm Vorwürfe machen würde, weil er zu spät kam. Sie begriff es einfach nicht – nach all den Operationen musste er an einem langen Tag erst einmal Dampf ablassen. Und ehrlich gesagt konnte sie sich ja glücklich schätzen – viele seiner Kollegen gingen vom Krankenhaus aus direkt rüber in die Bar und tranken dort bis zur Bewusstlosigkeit, oder sie stiegen mit jungen Schwestern oder Assistenzärztinnen ins Bett.

Aber Ben fuhr lieber Fahrrad. Die Vorstellung von einem Abend in der Bar oder von heißem Sex mit einer jungen Schwester war zwar verführerisch, Ben nahm seine Ehe jedoch ernst. Natürlich hatten sich ihm im Laufe der Jahre Gelegenheiten geboten, aber bis jetzt war er immer standhaft geblieben.

Er wünschte wirklich, Alice würde ihn wegen des Fahrrads in Ruhe lassen. Sie sagte immer, dass es ein Zeitfresser war und ihn außerdem in Gefahr brachte. Ihrer Meinung nach war er ohnehin schon viel zu oft in der Klinik statt zu Hause, und da musste er nicht auch noch sechs oder sieben Stunden pro Woche im Sattel vergeuden.

Das wahre Problem bestand darin, dass ihr Job so einfach war. Ben wollte ihre Leistung wirklich nicht kleinreden, aber so verhielt es sich nun mal. Sie gab Antibiotika aus und hörte alten Leuten zu, die über ihre Zipperlein klagten, besonders anspruchsvoll war das ja nun nicht. Alice machte ihre Arbeit gut, und Ben war stolz auf ihre florierende Praxis, aber sie verstand einfach nicht, unter welchem Druck ein Chirurg stand. Bei Ben ging es jeden Tag um Leben und Tod. Okay, er nahm auch viele Standardeingriffe vor, aber gerade die schwierigeren OPs gaben ihm einen Kick. Manchmal zogen sie ihn auch echt runter, denn jeder Patient, den er verlor, belastete ihn schwer. Den Tod eines Patienten verdaute man eben nicht so leicht. Die Leute beschwerten sich immer über die viel zu hohen Gehälter von Chirurgen, hatten aber keine Ahnung, wie furchtbar ein schlechter Tag in diesem Beruf sein konnte.

Zum Glück machten die guten Tage alles wieder wett, und davon gab es viele. Ben liebte die Action im Operationssaal. Er fand es toll, in diese Trance einzutauchen, in der man nichts mehr mitbekam und es nur noch einen selbst und den Körper auf dem OP-Tisch gab.

Nichts war mit dem ungeheuren Adrenalinschub während einer schwierigen Operation vergleichbar. Chirurgen hatten einen schlechten Ruf, und die Leute warfen ihnen vor, dass sie sich für Götter in Weiß hielten. Wie ein Gott kam sich Ben nie vor, aber es fühlte sich schon fantastisch an, einem anderen das Leben zu retten. Der Moment der Euphorie, in dem man wusste, dass dieser Mensch durch die Arbeit der eigenen Hände leben würde, war wie eine Droge.

Alice konnte das einfach nicht begreifen, das konnte niemand, dafür musste man selbst dabei sein. Ben wusste, dass er jetzt ganz oben war, aber er wollte noch mehr. Er sehnte sich nach einer Herausforderung.

Als er nun aufschaute, entdeckte er unter einem Baum David in seiner grellgrünen Jacke.

»Ich hatte ja gehofft, dass du absagst«, seufzte sein Kumpel.

»Auf gar keinen Fall. Das brauche ich zum Abschalten, bevor ich wieder in das Chaos zu Hause zurückkehre. Mal im Ernst, Pippa und du, ihr macht das meiner Meinung nach genau richtig – nur ein Kind, das auch noch aufs Internat geht. Dein Privatleben muss das reinste Paradies sein.«

David trat in die Pedale und passte sich Bens Rhythmus an. »Zu uns passt dieser Lebensstil, aber im Ernst, Ben, du vergötterst deine Mädchen doch. Für dich wäre es furchtbar, sie wegzuschicken.«

Ben lächelte. Sein Freund hatte ja recht, es wäre schlimm, die beiden in weiter Ferne zu wissen. Ben freute sich abends immer auf sie, in letzter Zeit waren sie aber auch schrecklich anstrengend. Es ging nur noch um Hausaufgaben und Hormone, die Dinge änderten sich eben.

»Und, hast du dir überlegt, ob du dich für die Stelle im Addenbrook’s bewerben willst?«, fragte David.

»Ich denke darüber nach, hab mich aber noch nicht bei denen gemeldet. Die Versuchung ist allerdings groß. Mir ist die Arbeit zu routiniert geworden, immer nur Blinddärme und Leistenbrüche.«

»Tja, eine große Unfallklinik wie Addenbrook’s würde da auf jeden Fall für Abwechslung sorgen. Aber nach Cambridge kann man nicht einfach so pendeln«, bemerkte David.

Ben wischte sich den Regen aus den Augen. »Ich weiß. Wenn ich die Stelle da kriege, wird Alice total ausflippen, aber ich brauche eben eine Herausforderung. Sonst hab ich nämlich das Gefühl, dass das Leben an mir vorbeifliegt.«

»Überleg dir das bitte gut. Weißt du noch, was passiert ist, als ich vor zwei Jahren in die Midlife-Crisis gerutscht bin? Beinahe hätte ich Pippa verloren.«

Damals hatte David sich an seinem Arbeitsplatz in einer Privatklinik mit einer Krankenschwester eingelassen, was seine Frau dann irgendwann herausgefunden hatte. Sie hätte ihn fast verlassen, David hatte jedoch gebeten und gebettelt und ihr eine Paartherapie angeboten, und schließlich hatte sich die Lage wieder beruhigt. Ben war froh, dass sie sich noch einmal zusammengerauft hatten, denn Pippa war eine wundervolle Frau, und die beiden passten super zusammen.

»Ihr führt eine fantastische Ehe«, sagte David. »Nimm jetzt nicht Hals über Kopf einen Job an, der das kaputt machen könnte. Pippa bezeichnet euch gerne als das tollste Paar in unserem Bekanntenkreis, weil ihr immer noch Spaß zusammen habt. Der Rest unserer Freunde streitet sich eigentlich ständig.«

»Bei uns gibt es in letzter Zeit auch mehr Zoff, aber ich weiß schon, was du meinst. Alice ist wunderbar, und ich will ja auch keine Krise heraufbeschwören. Vielleicht muss ich mir meine Herausforderung irgendwo anders suchen.«

»Solange du nicht dasselbe machst wie ich«, warnte David. »Lass bloß die Finger von den Krankenschwestern, das rate ich dir.«

Ben wusste, dass Alice völlig durchdrehen würde, wenn er eine Stelle in Cambridge annahm. Die Arbeit in der Unfallklinik würde noch längere Arbeitszeiten bedeuten, und er würde oft über Nacht bleiben müssen. Alice würde sich niemals zu einem Umzug bereit erklären, immerhin hatte sie hier ihre gut laufende Praxis, und die Mädchen fühlten sich an ihrer Schule wohl. Außerdem hatten sie das Haus erst vor drei Jahren gekauft, und Alice hatte sich damit einen Traum erfüllt. Es lag als eines von nur acht Gebäuden in einem kleinen Innenhof in unmittelbarer Nähe zur Kensington High Street.

»Ich glaube, mein fünfundvierzigster Geburtstag hat mich aus der Bahn geworfen«, gab Ben nun zu. David war der einzige Mensch auf der Welt, zu dem er das ganz unbefangen sagen konnte. Der Chirurg wusste, dass sein Freund ihn verstehen würde. »Da ist mir plötzlich klar geworden, dass die Hälfte meines Lebens vorbei ist. Jetzt mal ehrlich, ganz oben kann ich nur noch zehn Jahre mitmischen, höchstens fünfzehn, wenn ich Glück habe.«

»Aber schau dir doch mal an, was du schon alles erreicht hast«, mahnte David.

»Trotzdem gibt es noch so viel mehr, was ich machen und lernen will. Plötzlich hab ich das Gefühl, als würde da in meinem Ohr eine Zeitbombe ticken.«

»Das verstehe ich ja. Manchmal muss man sich aber auf das konzentrieren, was man hat, und nicht auf das, was man nicht hat. Glaub mir, Ben, ich hab diesen Fehler gemacht und hätte beinahe meine Familie verloren.«

Ben kam völlig durchweicht und erschöpft nach Hause. Als er auf nassen Socken durch den Flur tapste, konnte er in der Küche Alice und ihre älteste Tochter streiten hören.

»Komm schon, Jools, nun konzentrier dich mal. Es ist schon nach neun, du bist müde und ich auch. Wir müssen das jetzt irgendwie fertig kriegen.«

»Ich versuch’s ja«, murrte Jools, »aber ich versteh diese blöde Frage einfach nicht.«

»So schwer ist das doch nicht, mein Schatz. Du sollst bloß erläutern, warum Heinrich der Achte mit Rom gebrochen hat.«

»Der blöde olle Heinrich der Achte und seine tausend Weiber interessieren mich einfach nicht. Der war doch nur ein fetter alter Loser, der Frauen geheiratet hat, um sie zu schwängern. Und dann hat er sie getötet, wenn sie bloß Mädchen gekriegt haben. Wenn du mit dem verheiratet gewesen wärst, wärst du jetzt auch einen Kopf kürzer.«

»Tja, wenn du das jetzt ein bisschen schöner ausdrücken könntest, hätten wir es doch fast. Also, komm schon, warum hat Heinrich Rom den Rücken gekehrt?«

»Weil er Anne of Cleves heiraten wollte.«

»Nein, nicht Anne of Cleves.«

»Na schön, aber das war irgendwas mit C«

»Nein, Jools, es war Anne Boleyn. Das haben wir doch schon hundertmal durchgekaut.«

»Tja, wenn der nicht so ein Widerling mit zig Ehefrauen gewesen wäre, dann würde ich die auch nicht ständig durcheinanderwerfen.«

Ben wusste, dass dieser Spruch zu einem neuen Streit zwischen seiner Frau und seiner Tochter führen würde. Die beiden gerieten ständig aneinander. Seit sich bei Jools die Hormone gemeldet hatten, war sie zwar schwierig im Umgang, aber Alice war mit ihr auch einfach zu ungeduldig. Ben fand Jools genauso anstrengend, er kam jedoch viel besser mit ihr klar. Er dachte sich Merksprüche für sie aus und half ihr spielerisch. Deshalb ließ Alice bei einer anstehenden Klassenarbeit lieber ihn mit Jools pauken. Ihm tat seine Große leid, sie hatte es wirklich nicht leicht. Für ihn und Alice war die Schule ein Klacks gewesen, und Holly war immer eine der Besten in ihrer Klasse, aber die gute Jools hatte einfach keinen Kopf für Bücherwissen. Ben wünschte sich lediglich, dass sie glücklich wurde, die Schule hinter sich brachte und dann etwas fand, was ihr im Leben Spaß machte.

Alice und er legten Geld zurück, um beiden Töchtern später mal beim Kauf einer Wohnung unter die Arme zu greifen. Abgesehen davon war Jools hübsch und pragmatisch, die würde seiner Meinung nach schon klarkommen. Holly hingegen war zwar unglaublich clever, machte ihm aber eigentlich mehr Sorgen, weil sie vom Leben da draußen einfach keine Ahnung hatte. Bei ihr würde es ihn nicht wundern, wenn sie ihre Nase noch jahrelang in Bücher stecken würde, nur um sich dann mit vierzig als alleinstehende Frau ohne Kinder wiederzufinden, die im Leben nichts hatte außer ihrem Job.

Alice fand das albern: Holly würde irgendwann einem ebenso intelligenten jungen Mann begegnen und mit ihm glücklich werden. Und nebenbei würde sie forschen oder ein Mittel gegen Krebs entdecken. Ihr machte vielmehr Jools große Sorgen. Ohne eine vernünftige Ausbildung würde sie Jobs ohne Perspektive annehmen, sich mit den falschen Typen einlassen und mit achtzehn schwanger werden.

»Hallo, alle zusammen! Wie ich höre, amüsiert ihr euch gerade mit den Tudors.« Ben drückte Jools einen Kuss auf den Scheitel.

»Ih, du bist ja ganz nass und eklig.« Sie rückte von ihm ab.

Ben küsste auch seine Frau.

»Du bist wirklich völlig durchweicht, Ben.« Alice wischte sich die Regentropfen von der Wange. »Könntest du dich bitte abtrocknen und dann Jools bei den Hausaufgaben helfen?«

»Gib mir fünf Minuten, ich springe nur eben unter die Dusche und bin gleich wieder da.«

Als Ben aus dem Bad kam, saß Alice auf der Bettkante. »Gott sei Dank hast du uns in diesem Moment unterbrochen, sonst hätte ich ihr noch das Geschichtsbuch in den Rachen gestopft. Dieses Kind hat die Konzentrationsspanne einer Stechmücke!«

Ben schlüpfte in Jeans und Sweatshirt. »Ich weiß, aber du musst mit ihr einfach mehr Geduld haben, mein Schatz.«

Alice war sofort auf hundertachtzig. »Das sagt sich leicht, wenn man hier um neun Uhr abends reingeschneit kommt. Ich hab schon seit zwei Stunden mit ihr an den Hausaufgaben gesessen, also komm mir jetzt bitte nicht damit, dass ich keine Geduld habe.«

Ben lehnte sich vor und küsste sie auf die Wange. »Nun reg dich nicht auf. Ich weiß ja, dass es nicht leicht ist. Aber jetzt übernehme ich, und du kannst dich endlich entspannen.«

»Klingt gut.« Alice lächelte.

Ben ließ seine Frau mit einem Buch zurück und ging hinunter zu Jools. Als er in die Küche kam, stand seine älteste Tochter mit dem Rücken zu ihm und sprach gerade über FaceTime mit ihrer Freundin Chloë. »Ich weiß, oder? Der ist echt superniedlich«, schwärmte sie.

»Und er steht total auf dich!«, antwortete Chloë.

»Ach, Quatsch«, protestierte Jools wenig überzeugend.

Ben lächelte. Seine Tochter wusste ganz genau, wie gut sie aussah.

»Und ob. Sicher wird das auf Amelias Party was mit euch beiden.«

»Er kommt also auf jeden Fall?« Jools versuchte, ganz locker zu klingen.

»Bestimmt. Das hat er zu Jeremy gesagt, und der hat es Alex erzählt, der dann Jude und der mir.«

»Okay, super. Echt cool.«

»Was ziehst du denn an?«

Jools zuckte mit den Achseln. »Das hab ich mir noch gar nicht überlegt. Vielleicht mein rosa Kleid von Topshop.«

»O mein Gott, ja, mach das! Darin siehst du so super aus. Ollie wird sterben, wenn er dich damit sieht!«

Na, hoffentlich nicht, dachte Ben. Er wollte nicht, dass seine Tochter für das Ableben von irgendjemandem verantwortlich war.

»Meine Mutter findet es aber zu kurz. Und mein Dad hat es noch gar nicht gesehen, der flippt bestimmt total aus. Der ist so ein Hinterwäldler, wenn es nach ihm ginge, würde ich lange Röcke tragen, wie diese Sektenfreaks aus Amerika. Du weißt schon, wo ein Mann so zwanzig Frauen hat und die sich alle mit Schwester anreden. Echt bekloppt.«

Ben räusperte sich vernehmlich. »Wie kurz genau ist dieses Kleid denn, Jools?«

Jools quiekte und legte auf. »Mein Gott, Daddy, du hast mich zu Tode erschreckt. Wie lange stehst du denn schon hinter mir?«

»Lange genug, um mitzukriegen, dass dich ein Typ namens Ollie mag, dass ihr auf Amelias Party zusammenkommen werdet und dass du vorhast, deshalb ein unanständig kurzes Kleid zu tragen.«

Seine Tochter lief rot an. »Du solltest wirklich nicht lauschen, das macht man nicht.«

»In einem zu kurzen Kleid gehst du nirgendwohin. Du bist wunderschön, Jools, du hast es wirklich nicht nötig, so viel Haut zu zeigen.«

»Bitte sei still, das ist ja so peinlich.«

»Das mein ich ernst. Ich weiß, dass du mich für einen alten Mann hältst. Aber ich war auch mal ein Teenager, und ich fand damals nicht das Mädchen mit dem kürzesten Kleid am attraktivsten, sondern das mit dem schönsten Lächeln.«

»Mum hat ein schönes Lächeln, wenn sie es denn mal zeigt«, murmelte Jools und kritzelte auf ihrem Block herum.

»Mum hat ein fantastisches Lächeln, das bringt den ganzen Raum zum Leuchten.«

Jools gähnte, offenbar ödete diese Unterhaltung sie an. Ben klatschte in die Hände. »Also, was steht noch an?«

»Ich soll dieses langweilige Gedicht auswendig lernen.« Jools reichte ihrem Vater das Buch und deutete auf die entsprechende Stelle.

»Ah, Die Dame von Shalott, von Alfred, Lord Tennyson. Daran erinnere ich mich noch gut. Na, dann mal los.«

Angestrengt runzelte Jools die Stirn. »An beiden Stromesufern ziehn sich … Wiesen hin

»Nein, es heißt An beiden Stromesufern ziehn sich Gerst- und Roggenfelder hin