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Impressum

Kapitel 1

Mama und ich – in einer Stadt, die in Deutschland kaum einer kennt, irgendwo am Arsch der Welt. Wir sind in Battambang, einer großen Stadt in Kambodscha mit ein paar hunderttausend Einwohnern. Ich sitze auf einem alten Plastikhocker in einem Restaurant. Sonderlich bequem ist er nicht, aber das muss er auch gar nicht sein, denn das würde doch nur das ganze Flair zerstören! Seltsam eigentlich, dass dieses Restaurant zu den gehobeneren der Stadt gehört, wir aber auf Plastikhockern an Klapptischen sitzen.

Es ist Heiligabend. Mein allererstes Mal, dass ich Weihnachten im Ausland verbringe, und mein allererstes Mal, dass ich es ohne den Großteil meiner Familie tue. Lediglich meine Mutter sitzt hier mit mir am Tisch. Wir zwei feiern gemeinsam Weihnachten – und das in einem Land, in dem man das Christentum nicht mal kennt, und von dem niemand in meiner Klasse je gehört hat.

»Kam-Kam-Kampotscha?! Wo soll denn das sein, Marian?«, fragten meine Klassenkameraden, als ich ihnen von meinem Reiseziel erzählte.

»In Asien«, lautete meine Antwort. Um ehrlich zu sein, wusste ich selbst nicht genau, wo ich eigentlich hinreisen würde, denn ich konnte mir diese ungeheuerliche Distanz (etwa 9.200 Kilometer Flugstrecke) einfach nicht vorstellen. Ich glaubte meiner Mutter nicht einmal, als sie mir erzählte, dass das Flugzeug, in dem wir nach Singapur fliegen würden, zwei Gänge habe. Etliche Male hat sie mir das Schema auf ein Blatt Papier gezeichnet: Sitze – Gang – Sitze – Gang – Sitze. Geglaubt habe ich ihr erst, als ich auf einmal mittendrin im Flieger stand.

Das Ganze war übrigens ihre Idee. Unvorstellbar eigentlich, was sie damit ins Rollen gebracht hat. Vor 21 Monaten war mein Bruder Marlon gestorben, und seitdem fehlte etwas so Grundsätzliches in unserem Leben, dass ich nicht vorwärts oder rückwärts wusste, dass ich mir nicht einmal Gedanken darüber machte, wie es eigentlich weitergehen sollte. Mit uns, unserer Familie. Mit mir. Bis meine Mutter diese Reise buchte.

Seitdem weiß ich wieder, wohin es geht: In die Länder und Städte dieser Welt. Ich möchte reisen, möchte viele Menschen kennenlernen, die Naturwunder unserer Erde sehen, die Großstädte der Welt erkunden und fremde Kulturen verstehen – mit dieser Reise hat alles begonnen.

Inzwischen war ich über 280 Tage meines doch noch recht kurzen Lebens auf Achse, bin Hunderttausend Kilometer geflogen und in 31 Ländern auf drei Kontinenten gewesen – to be continued! Ich will mir nicht vorstellen, wie das nun wäre, wenn Mama niemals so aufgeregt ins Haus gekommen wäre, wie an jenem Tag.

Irgendwann im Mai 2013 saß ich am Esstisch und machte meine Deutschhausaufgaben. Es muss ein Dienstag gewesen sein, dann da musste Mama immer lange arbeiten, und ich saß allein zu Hause. Es war zehn nach vier, also würde Mama gleich kommen. Wenige Augenblicke später hörte ich auch schon, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte.

»Marian, huhu! Wo bist du?«, rief meine Mutter. So aufgeregt war sie schon lange nicht mehr gewesen. Ich sprang vom Tisch auf und lief zur Tür, wo ich sie erst einmal umarmte.

»Marian, lass uns zu Petra fahren. Ich habe gerade im Auto mit ihr telefoniert. Komm schon, Deutsch kannst du auch später noch machen!« Meine Mutter drehte sich um und war fast schon wieder an der Tür.

»Mache ich, wenn du mir erzählst, warum du so aus dem Häuschen bist«, sagte ich mit einem Lächeln – meine Mutter so aufgekratzt zu sehen, tat gut –, während ich meine Schulsachen zusammenschob und in den Rucksack stopfte.

»Erklär ich dir alles bei Petra, okay? Hast du Weihnachten eigentlich schon was vor?«

»Äh ... feiern? Kerzen anzünden? Weihnachtsbaum schmücken? Plätzchen essen?« Ich schlüpfte in meine Schuhe und folgte meiner Mutter hinaus zum Auto. Petra, zu der wir offensichtlich fahren würden, ist Mamas Schwester, also meine Tante, die im Nachbarkaff wohnt. Wenige Minuten später standen wir schon in ihrem Wohnzimmer. Sie hatte Kaffee gemacht, und ich naschte von den Keksen, die auf dem Esstisch lagen. Daneben stapelten sich irgendwelche Prospekte, die mich nicht interessierten. Noch nicht.

»Komm, setz dich mal hin, Marian«, forderte meine Mutter mich auf und drückte mich auf einen Stuhl. Sie griff nach den Katalogen, wedelte damit und grinste. »Petra, zeig mal ein paar Bilder!«

Ich war verwirrt. Meine Mutter hatte mir immer noch nicht verraten wollen, warum wir so spontan zu Petra gefahren waren. Wollte sie etwas kaufen? Ein neues Sofa vielleicht?

»Nun sagt schon, was ist denn so spannend?! Ich will auch aufgeregt sein!«, sagte ich. Statt zu antworten hielt Petra mir ihr Handy entgegen. Das Display zeigte mir ein Bild von irgend so einem Tempel aus Gold. Ein paar Elefanten liefen übers Bild, und links war ein Händler mit seinen Waren zu sehen. Mitten im Getümmel entdeckte ich meine Tante, in Rock und Bluse, mit Sonnenbrille.

»Wo ist das?«, fragte ich sie.

»In Kambodscha!«, rief meine Mutter laut. »Und weißt du was? Da fliegen wir auch hin. Ich will dir etwas von der Welt zeigen. Marlon hätte sie bestimmt auch gern gesehen.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war noch nie so richtig im Urlaub gewesen, kannte nur das Kinderhospiz, in das wir immer gefahren waren, weil mit Marlon einfach nichts anderes möglich gewesen war.

»Ja … gut. Okay. Wann willst du denn da hin? Gibt’s da nicht eine Regenzeit?«

»Doch, klar, und deshalb reisen wir im Dezember. Über Weihnachten. Silvester im Ausland, das wird sicher supercool!«, rief meine Mutter immer noch total aufgeregt.

Ich brauchte einen Moment, um diese Neuigkeit zu verdauen. Es ist nicht so, dass ich an Weihnachten oder Silvester unbedingt zu Hause bleiben wollte, im Gegenteil. Seitdem mein Bruder gestorben war, war Weihnachten eh nicht mehr dasselbe. Und einmal so ganz ohne Familie, nur Mama und ich, irgendwo am Ende der Welt? Warum nicht? Das konnte doch nicht schaden. Ich wurde neugierig.

»Aber ist das nicht zu teuer?«

»Ach waaaas!«, sagte meine Tante. »Das Teuerste ist der Flug – wenn ihr erst einmal dort seid, wird es total günstig. Das Herumreisen, das Essen und die Hotels sind spottbillig. Da macht euch mal keine Sorgen.«

Ich zögerte, sagte dann aber schließlich: »Und wann fangen wir mit der Planung an?«

»Also, wir können den Flug gleich buchen, wenn ihr wollt! Ich habe da ein paar Tricks auf Lager«, antwortete meine Tante. Und das war der Beginn einer Ära.

Mama war völlig aus dem Häuschen und so langsam war ich es auch. Ich kann nicht sagen, ob ich richtige Reiselust verspürte. Es war vielmehr die Neugier, die Lust, etwas zu entdecken, das noch nie jemand aus meiner Klasse gesehen hatte. Einen neuen Teil dieser Welt kennenzulernen, und vielleicht auch einfach mal Mama nur für mich zu haben.

Wir fuhren den Laptop hoch, und wenige Minuten später war der Flug gebucht – heute würde ich das nie so spontan machen, heute plane ich meine Reisen Monate im Voraus und recherchiere akribisch durch alle Angebotsseiten, denn es lässt sich doch immer noch ein besserer Preis finden. Aber das war uns in diesem Moment egal. Mama und ich wollten dieses Abenteuer – wir zwei am anderen Ende der Welt!

Kurz darauf hörte ich, wie im Büro meiner Tante, das im zweiten Stock liegt, der Drucker Papier zog. Die Buchungsbestätigungen! Ich rannte die enge Wendeltreppe hoch und starrte gebannt auf das Ausgabefach. Vor mir wurde gerade nicht irgendeine Bestätigung gedruckt – das war mein Ticket in ein neues Leben. Nicht nur eines nach Asien, an einen anderen Flecken der Erde, sondern gleichzeitig das Ticket zu einer neuen Welt von mir selbst. Ich wusste das alles damals natürlich noch nicht, als ich da vor diesem Drucker saß. Doch irgendwie hatte ich es im Gefühl. Und es fühlte sich verdammt gut an.

Noch am selben Tag, als wir abends wieder nach Hause fuhren, ging ich in den Keller. »Marian, kommst du auch mal wieder hoch?!«, hörte ich meine Mutter nach einer Weile rufen.

»Gleich!« – Das sage ich immer besonders gern und, ich fürchte, ein wenig zu oft. Ich kramte zwischen den alten Werkzeugkästen meines Vaters, der zu der Zeit bereits ein paar ­Straßen weiter getrennt von uns lebte. Auch die Schubladen des Werkzeugtisches durchleuchtete ich mit der Taschenlampe. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, fand ich, wonach ich die ganze Zeit gesucht hatte: ein Metermaß. Zollstöcke hatte ich genug gefunden, aber es musste ein Maßband sein. Und es sollte mindestens zwei Meter lang sein.

»Perfekt«, sagte ich, als ich das Drei-Meter-Band in der untersten Schublade entdeckte. Ich trug es in die Küche hinauf, und meine Mutter fragte neugierig: »Wofür in aller Welt brauchst du denn das Maßband? Verschlamp es nicht, vielleicht brauchen wir das noch!« – Ja, ist klar. Da gammelt es jahrelang in einer Schublade unseres Kellers herum, vermutlich ist es älter als ich, und gerade jetzt, wo ich es wiederentdeckt habe, brauchen wir es natürlich ganz dringend.

»Das brauchst du ganz bestimmt nicht mehr«, versicherte ich meiner Mutter. »Außerdem mache ich was Tolles damit. Kannst du mir vielleicht kurz einen Kalender geben?«

Sie reichte mir einen, und dann machte ich mich ans Zählen. Ich zählte die Tage bis zum 21.12, unserem Abreisetag. Der Tag, der mein Leben verändern sollte. Ich konnte es kaum erwarten. Schnell ging ich mit dem Maßband in der Hand die Treppen hoch. Ich befestigte das obere Ende mit der »1« voran an der Decke. Den anderen Teil pinnte ich mit Stecknadeln an der Wand fest und legte eine Schere auf meinen Nachttisch. Von nun an schnitt ich jeden Tag einen Zentimeter ab. Jeden Tag, direkt nach dem Aufstehen. Und so kam ich mit jedem Tag meinem Ziel, der »1«, ein wenig näher. Jeden Tag schrumpfte das Maßband …

... und es kam der Tag, an dem hing nur noch ein einziger Zentimeter an der Wand. Das, was vor einigen Monaten noch ellenlang und schlichtweg hässlich ausgesehen hatte, war nun kaum mehr sichtbar.

Dieser Tag war auch der letzte Schultag vor den Weihnachtsferien, ein Freitag. Samstagmittag würde unser Flieger abheben. Mama machte an diesem Tag früh Schluss bei der Arbeit und wartete zu Hause schon sehnsüchtig auf mich.

»Bist du bereit?!«, rief sie, kaum dass ich in der Tür stand. Ich schmiss meine Schulsachen in die Ecke, sie fasste mich an den Händen, und dann sprangen wir im Kreis herum und schrien »Torööö!« durchs ganze Haus, denn der Elefant war unser Maskottchen für die Reise. Für Außenstehende mag das nicht ganz knusper wirken, aber hat ja auch keiner behauptet, dass wir das sind. Und wenn man nicht sein ganzes Leben lang jeden Urlaub in einem Kinderhospiz in Olpe verbracht hat, kann man vielleicht auch nur schwer nachvollziehen, wie aufgeregt nicht nur ich, sondern auch meine Mutter war.

»Lass uns packen«, rief sie irgendwann lachend, und wir beendeten unseren Tanz und rannten wie kleine Kinder die Treppen hinauf. In meinem Zimmer lag schon der Rucksack.

»Koffer ist was für Anfänger!«, hatte Mama immer gesagt. Sie war zwei Mal in Thailand gewesen. Das war aber schon viele Jahre her, lange bevor sie uns Kinder bekam. Beim Packen halfen wir uns gegenseitig und berieten uns gemeinsam. Erst waren meine Sachen an der Reihe, danach gingen wir zu ihrem Kleiderschrank. Während Mama all unsere Klamotten in den Rucksack stopfte, sah ich auf die Weltkarte, die mir Papa geschenkt hatte, und auf das Maßband (oder das, was davon übrig geblieben war). Mir kam ein Gedanke.

»Mama?«

»Was ist los, Marian?«

»Du, ich würde gern ein Bild von Marlon mitnehmen. Du hast doch gesagt, dass er sicher auch gern mitgekommen wär«, sagte ich ein wenig traurig. »Können wir dann nicht wenigstens ein Bild mitnehmen? Ich will ihm die Welt zeigen. Verstehst du?«

»Ja klar, mein Schatz. Das machen wir«, antwortete sie. Als ich zu ihr aufsah, konnte ich eine Träne in ihren Augen sehen.

»Ich geh eben eins holen«, sagte ich und ging die Treppe hinunter. Wenige Augenblicke später kam ich mit einem eingerahmten Bild in der Hand zurück. Mama war fertig. Auch wenn der Rucksack mehr nach einem prall gefüllten Beutel aussah – er war gepackt. Und das war die Hauptsache. Er wog auch nicht zu viel – sagte zumindest die Personenwaage, auf die wir ihn stellten.

Ganz oben war noch Platz für das Bild. Wir umarmten uns.

»Das ist eine echt schöne Idee«, sagte Mama, und ich konnte sie für einen kurzen Moment schluchzen hören. Auch mir waren die Tränen gekommen. Vielleicht war das alles eine Mischung aus Aufregung, Trauer und Zufriedenheit. Aufregung wegen der großen Reise, meiner allerersten, die anstand. Trauer, weil Marlon nicht dabei sein durfte, und Zufriedenheit, weil ich das Gefühl hatte, dass ich ihm doch noch irgendwie die Welt zeigen konnte.

Am Samstagmorgen fuhren wir frühmorgens mit der S-Bahn nach Stuttgart und von dort mit dem ICE nach Frankfurt – und diese Reise zum Flughafen war schon verdammt aufregend für mich! Ich war elf Jahre alt und fuhr das erste Mal in meinem Leben ICE. Doch in Frankfurt sollte es erst so richtig losgehen. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich das erste Mal vor der schwarzen Abflugtafel stand. Da waren so viele Flüge und Zahlen. Wahnsinn.

»Da ist er!«, sagte Mama und deutete irgendwo auf die Tafel. »Da ist unser Flug!« Jetzt entdeckte ich ihn auch, ganz unten rechts. Wir waren natürlich viel zu früh, aber wir wollten lieber auf Nummer sicher gehen. So hatten wir noch Zeit, uns etwas umzusehen, und seit diesen verschlenderten Stunden liebe ich Flughäfen!

Der in Frankfurt ist wie eine kleine Stadt mit allem, was man zum Leben braucht. Obwohl ich Angst hatte, mich zu verlaufen und nie wieder rauszufinden, war ich schwer begeistert von der Infrastruktur und bestaunte all die kleinen und großen Shops. Als wir schließlich am Gate ankamen, stand unser Flugzeug schon da, und ich presste meine Nase sofort an die Scheibe des großen Fensters, um es standesgemäß zu bewundern.

Als dann endlich das Boarding begann, und ich endlich auf meinem Platz saß, und wir endlich losrollten und endlich am Ende der kilometerlangen Startbahn in Frankfurt, ready for ­take-off, standen, bekam ich plötzlich Bammel.

Mama nahm meine Hand und hielt sie fest – es gab kein Zurück mehr. Jetzt ging es los. Ich hörte, wie die Triebwerke losdonnerten. Ihr Ton war schrill, und ich erschreckte mich und drückte Mamas Hand fester. Das Flugzeug setzte sich in Bewegung.

»Auf geht’s Marian«, sagte meine Mutter und küsste mich auf die Wange. Wir wurden schneller und schneller, der Flügel, den ich durch mein kleines Fenster sehen konnte, vibrierte ein wenig auf und ab. Ich sah in den grauen Himmel. Draußen war es kalt und düster, richtiges Dezemberwetter. Und dann war es so weit. Ich spürte, wie das Flugzeug abhob, und hörte wenige Sekunden später, wie das Fahrwerk eingeklappt wurde. All die anderen Flugzeuge, die auf dem Rollfeld standen und be- oder entladen wurden, waren kaum noch zu sehen. Der riesige Flughafen war schnell nur noch ein winzig kleiner Punkt. Ganz bald war auch Deutschland unter den Wolken verschwunden. Und mit ihm meine Freunde, meine Familie, mein gesamtes Umfeld. All das war nun ganz schön weit entfernt – und es fühlte sich gut an. Gut und richtig.

Vierzehn Stunden später saß ich noch immer in einem Flugzeug. Beziehungsweise schon wieder. Wir waren gerade in Singapur umgestiegen und saßen nun in einer kleineren Maschine (ein »normales« Flugzeug mit nur einem Gang in der Mitte!) von SilkAir. Damit flogen wir nach Phnom Penh, der Hauptstadt von Kambodscha.

Obwohl das Flugzeug ziemlich klein war, gab es eine Art Unterhaltungsprogramm. Oder so ähnlich. Wir schauten gebannt auf die kleinen Monitore über den Sitzreihen und sahen zu, wie Teilnehmer einer Show einen Mud-Run absolvierten, sich also durch einen glitschigen und ekligen Parcours kämpften, der so schlammig war wie ein Wildschweingehege. Die Frau, die die Sendung moderierte, war ganz aufgeregt und voll bei der Sache. Was sie da redete, verstanden wir natürlich nicht.

Noch bevor ich wiederholt einschlafen konnte, rüttelte meine Mutter meinen Arm. »Marian, es ist soweit! Gleich sind wir da!«

Tatsache – wir waren bereits im Anflug. An uns rauschten die Wolken vorbei, und langsam, Stück für Stück, gaben sie Kambodscha für uns frei. Ich blickte auf ein Land, in dem mich viel Neues erwartete. Wenige Minuten landeten wir auf der holprigen Landebahn. Nachdem wir unser Gepäck abgeholt hatten, liefen wir zum Ausgang. Die Schiebetüren gingen auf, und die Mittagshitze der Stadt wehte mir ins Gesicht. Staubig war es auch, und ich kramte sofort meine Sonnenbrille raus.

»Los Mama, holen wir uns ein Taxi!«, rief ich über den Straßenlärm hinweg.

»Nee, nee, du, lass mal. Wir fahren natürlich typisch asiatisch – mit einem TukTuk.«

TukTuks, das sind diese coolen Gefährte, bestehend aus einer Gondel, in der die Passagiere sitzen, und einem Moped, welches vorne dran gespannt ist. Wie eine Kutsche quasi. In Kambodscha gibt es sie an jeder Straßenecke.

Meine Mutter ging zu einem Fahrer und verhandelte den Preis, während ich mir überlegte, ob ich aufgeregt oder nervös sein sollte.

»Sind die Teile überhaupt sicher?!«, war mein erster Gedanke. Mittlerweile schäme ich mich fast für diesen deutschen Gedanken, denn die Antwort darauf liegt auf der Hand: … natürlich nicht! Aber hey, sie fahren trotzdem, und man muss schon ein echter Pechvogel sein, wenn einem etwas zustoßen sollte. Also los, schnell das Gepäck auf die eine Bank geschmissen, aufgestiegen und sich auf die gegenüberliegende Bank gesetzt und los geht’s!

Die Fahrt dauerte etwa dreißig Minuten und war für mich der Kulturschock schlechthin. Ich saß da auf dieser Rückbank des TukTuks, ganz cool die Sonnenbrille auf der Nase, und schaute auf die chaotischen Straßen und die Leute. An uns fuhren Mopeds vorbei, überladen mit Menschen. Eine echte Großfamilie, bestehend aus Vater, größerer und kleinerer Tochter und Mutter, quetschte sich da mal eben auf den Zweisitzer. Ach, und einen kleinen Jungen hatten sie auch noch mit dabei. Hätte ich fast übersehen bei dem Gedränge auf dem Sitz.

Die Menschen drehten sich zu mir und bemerkten, dass ich sie beobachtete. Der Vater lachte, die Mutter grinste und die Kinder winkten und schrien aufgeregt und fröhlich. Ich winkte zurück und musste lachen. Stargast Marian Grau ist soeben in Kambodscha angekommen und nun auf dem Weg ins Hotel. Spaß beiseite! Aber so einen elfjährigen Jungen mit braunen Haaren und noch dazu blauen Augen bekamen die Khmer (so heißen die Einwohner Kambodschas) wohl eher selten zu sehen. Auf der gesamten Reise fragten mich immer wieder Kinder, Jugendliche und Erwachsene, ob sie ein Bild mit uns machen dürften. Einfach, weil sie sich so sehr freuen, dass wir unseren Weg hierher gefunden haben.

Nach zwei Tagen in Phnom Penh entschlossen wir uns zu einer Busreise nach Battambang. Klingt gut? Ja, aber nur nichts Falsches vorstellen, bitte. Denn nix da klimatisierter und komfortabler Reisebus, wir machten natürlich auch das typisch kambodschanisch!

Ein TukTuk brachte uns am frühen Morgen des 24. Dezembers zum Busbahnhof der Stadt. Ich konnte gar nicht glauben, dass Weihnachten vor der Tür stand. Ich meine, dort hatte es dreißig Grad im Schatten, und ich stand mit Flipflops und Basecap auf der Straße.

Der Busbahnhof war dreckig und eher unschön, ganz anders als der Rest der Stadt. Phnom Penh hatte uns beiden wirklich sehr gut gefallen. Vor allem die Tempel (zum Beispiel der Wat Phnom, von dem die Stadt ihren Namen hat) und die Straßenmärkte mit dem leckersten Essen dieser Welt (rotes Curry, grünes Curry, Fischcurry – hmmm!) hatten es mir angetan. Eigentlich wollte ich noch gar nicht gehen, aber es stand noch so viel auf dem Programm!

Bevor der Bus losfuhr, wollten wir beide noch mal aufs Klo, denn man hatte uns gesagt, dass die Busfahrt vier Stunden dauerte. Und wer wusste schon, ob und wann es eine Pause geben würde? Da war ein Klogang sicher keine schlechte Idee.

Ich ging zuerst, betrat das ausgeschilderte Örtchen und schloss die Tür hinter mir, ehe ich bemerkte, was hier passiert war. Denn ich stand (ich wiederhole: stand!) knöcheltief in ... nun ja, einer Brühe. Vor mir war das Klo, aber da war wohl ordentlich was danebengegangen. Und ich Volldepp hatte Flipflops an!

Ich beschloss, es schnell hinter mich zu bringen. Ich hatte ja sowieso keine Wahl. Außerdem hatte ich gelernt, dass das in Asien eben so ist – und irgendwie war das ja auch wieder cool. Nachdem ich ordnungsgemäß die Spülung betätigt hatte, watete ich zurück zur Tür.

»Viel Spaß da drinnen, Mama«, wünschte ich draußen. Sie hatte meine klatschnassen Flipflops nicht bemerkt. Ich setzte mich eine Bank und wartete, bis sie zurückkam. Auch sie hatte nasse Sandalen, als sie Minuten später zu mir hin watschelte.

»Mensch, das waren doch mal tolle Toiletten, nicht wahr?!«, rief sie belustigt.

Ich musste lachen. »Ja, das waren sie. Die sind hier aber echt penibel!«

Schnell schnappten wir uns den Rucksack und die Taschen, die wir so dabei hatten, und gingen zum Bus. Endlich ging es weiter!

Der Bus an sich war weder ein technisches Highlight, noch eine absolute Schrottmühle, und für den lächerlichen Preis von umgerechnet drei Euro sogar recht komfortabel. Allerdings ist Busfahren in Kambodscha anders als in Deutschland. Das stellten wir sehr früh fest, als der Bus die Stadt verließ und übers Land fuhr. Etwa alle zwanzig Sekunden hupte der Fahrer lautstark, um Tiere wie Elefanten von den Straßen zu verscheuchen. Alle zwanzig Sekunden. Lustig ist auch die Art der Gepäckaufbewahrung. Dafür gibt es nämlich keinen Lagerraum oder ähnliches – wozu hat man denn den Gang zwischen den Sitzreihen? Jeder, der etwas dabei hat, das nicht auf seinen Schoß passt, schmeißt es einfach zu den Sachen der anderen in den Gang. Hier sind geschickte Stapelkünste gefragt!

Auch die Haltestellen der Busse sind ein wenig anders als die in Deutschland. Denn es gibt keine Stationen und auch keinen echten Fahrplan. Der Bus fährt, wann er eben fährt, und hält dort, wo Menschen einsteigen möchten. Sie heben die Hand, winken den Fahrer an den Straßenrand, steigen ein und bezahlen das Geld, schmeißen ihr Gepäck in den Gang, klettern darüber und setzen sich schließlich auf einen freien Platz. So geht das immer und immer wieder. Schon irgendwie lustig, oder?

Doch leider dauert es auch. Durch die vielen Stopps verzögert sich die Fahrt, und so werden aus vier Stunden schnell mal sieben und mehr. Schlafen ist unmöglich, dafür ist das Gehupe zu laut, das Szenario im Bus zu aufregend und die Musik zu schrill. Ja, die Musik! Denn auch in den Bussen gibt »Unterhaltungsprogramme«. In diesem Fall war es ein kleiner Monitor, auf dem die kambodschanischen Charts rauf und runter liefen. Das hätte Marlon gefallen! Er liebte Musik. Mein Lieblingslied war ja Knogreturk guhlikru – Chamkata Graktga ist aber auch gut ...

Langweilig wurde es mit der Zeit schon, das gebe ich zu. Zuerst entschlossen wir uns, mit dem Handy eine kleine Bilderserie von Selfies zu machen. Ich bin froh, dass dieses Buch nicht bebildert ist, denn diese gehören absolut in die Kategorie »niemals auch nur einem Menschen zeigen, weil peinlich«.

Als wir sämtliche Grimassen und Schnuten durch hatten, fragte meine Mutter plötzlich: »Marian, hast du ’nen Stift im Rucksack?«

»Bestimmt, warum?«

»Gib mal her, ich hab eine Idee.« Ich reichte meiner Mutter einen Kugelschreiber. »Tu mal dein Knie hier hoch.« Sie deutete auf den Sitz. In Deutschland hätte es keine zwei Sekunden gedauert, bis sich jemand über meinen Fuß auf dem Polster beschwert hätte. Aber hier in Kambodscha juckte das niemanden. Mama zückte den Kugelschreiber und malte auf meinem Knie herum.

»Heyyy, was soll das?!«, sagte ich, ein wenig zu laut vielleicht, aber egal, die Charts übertönten meinen Aufschrei ­bestimmt. Mama gab keine Antwort und malte weiter. Nach einer Weile erkannte ich, dass sie mir einen Weihnachtsbaum aufs Knie zeichnete, voll geschmückt mit Kerzen, Kugeln und Sternen. Ein paar Geschenke drunter. Ich hatte völlig vergessen, dass ja heute Heiligabend war!

»Oh Tannenbaum«, sang ich, und wir lachten laut los.

Nach fast acht Stunden erreichten wir endlich Battambang. Etwa auf der Hälfte hatten wir einen kleinen Zwischenstopp eingelegt, sonst waren wir nonstop hupend über die Straßen gerumpelt. Mann, war ich froh, den Bus verlassen zu können. Also, nachdem alle anderen erst mal ihr Gepäck von unserem genommen hatten.

Mit einem TukTuk fuhren wir zum Hotel, das schlicht, aber dafür billig war und WLAN hatte. Kaum waren wir damit verbunden, klingelten unsere Handys: Weihnachtsgrüße von unseren Lieben. Mama verschickte ein paar Bilder, um meinem Vater und meiner Tante zu zeigen, dass wir noch am Leben waren.

Weil es erst vier Uhr nachmittags war, entschlossen wir uns zu einem kleinen Bummel über den Markt Battambangs. Der lag nämlich quasi um die Ecke. Zwischen all den riesengroßen Ständen, die Fisch, Fleisch und Gemüse jeglicher Art anboten, stießen wir auf eine Frau auf einem Plastikhocker. Sie war sehr klein und schmächtig, hatte einen Zopf aus schwarzen Haaren. Sie trug alte Klamotten und hatte überall kleinere und größere Bläschen im Gesicht. Vor ihr stand ein kleiner Grill, auf dem sie etwas brutzelte, das aussah wie Lángos (ungarische Hefeteigfladen).

»Komm, das probieren wir mal!«, sagte Mama.

Um ehrlich zu sein, hätten wir wohl lieber ein paar gebratene Nudeln oder ein Curry nehmen sollen. Denn das frittierte Teil, das ich kurz darauf in der Hand hielt, hatte viele Blasen und bestand mehr aus Luft als aus Teig und irgendwie ­erinnerten mich diese Blasen im Essen an die Blasen im Gesicht der Frau ...

»Ich glaub, das war doch keine so gute Idee«, murmelte Mama, während sie skeptisch unsere Mahlzeit beäugte. Was hatte im Reiseführer gestanden? Ach ja, dass man Frittiertes nicht unbedingt essen sollte, weil die Fritteusen (wenn man sie so nennen mag) nicht gereinigt werden. Aber nun ja, wir haben es überlebt!

Nach einer guten Stunde kehrten wir ins Hotel zurück. Auf Mamas Handy wartete eine WhatsApp von Tante Petra: Wir sitzen schon unterm Weihnachtsbaum, die Bescherung ist beendet. Ihr müsst unbedingt ins White Rose gehen! Da haben wir auch schon lecker geschlemmt. Ist direkt um die Ecke von eurem Hotel. Bussi ans andere Ende der Welt, Petra.

Gesagt, getan. Gegen halb sieben machten wir uns auf den Weg in das empfohlene Restaurant, um unser ganz eigenes, besonderes Weihnachten zu feiern. Und hier sitzen wir nun, auf den Plastikstühlen des White Rose.

Die Bedienung kommt und bringt das Essen. Wir haben Reis und Nudeln bestellt, einmal mit Fisch und einmal mit Rindfleisch. Das machen wir immer so: zwei Gerichte aussuchen, die uns beiden schmecken, und dann teilen. So hat man mehr davon. Mein Reis mit Fisch ähnelt ein wenig dem Indischen: viel Curry, fischig und sehr scharf. Ich liebe das!

Früher, als Marlon noch lebte, waren wir nie in Restaurants essen, dafür hatten wir gar keine Zeit. Denn ein Besuch in einem Restaurant wäre mit zu viel Arbeit und Vorbereitung verbunden gewesen. Bis meine Eltern all die Medikamente eingepackt, Marlons Rollstuhl im Auto untergebracht und wir irgendwann am Tisch gesessen hätten, wäre die Essenszeit schon lange vorbei gewesen. Und Marlon hätte nicht einmal etwas bestellen können, weil er nur Flüssignahrung bekam.

Hier in Kambodscha essen wir jeden Tag in einem Restaurant, und immer stelle ich mir vor, was sich Marlon wohl ausgesucht hätte. Ich glaube, er hätte Huhn gemocht, weniger scharf als ich, dafür zart und weich, mit einer milden Soße. Dazu ein paar Nudeln oder diesen leckeren, klebrigen Reis.

Kambodscha ist solch ein billiges Reiseland, so etwas habe ich noch nie erlebt. Meine Sprite kostet gerade mal vierzig Cent! Das finde ich so unglaublich, dass ich während unserer Reise unglaublich viel Sprite trinke, und seit Kambodscha ist es zu meinem absoluten Lieblingsgetränk aufgestiegen. Sprite ist essenziell für meine Reisen. Ohne Sprite keine gelungene Reise.

Wir sind in unser Gespräch vertieft. Es geht um die Familie in Deutschland, wie sie Weihnachten feiern, und ob sie wohl so kulant sind, meine Geschenke unterm Baum liegen zu lassen, bis wir zurückkehren. Wir machen Bilder von uns, dem Essen und uns mit dem Essen.

Es ist schon spät, 23 Uhr, aber die Luft ist noch sommerlich warm. Wir sind so sehr in unser Gespräch, das Essen und die Bilder davon vertieft, dass wir von unserer Umgebung nicht viel mitbekommen. Es gefällt mir in diesem Restaurant, und es gefällt mir, genau so Weihnachten zu feiern. Wer braucht schon einen Baum und Weihnachtslieder, wenn er einen Plastiktisch und ein wenig kambodschanisches Gedudel aus dem Kofferradio haben kann?

Obwohl es so lecker ist, kämpfen wir mit unserem Essen, denn die Portionen sind riesig, und ich schaffe es nicht, alles aufzuessen. Meine Mutter hilft mir, aber auch sie schafft es nicht, meinen Teller zu leeren. Wir lassen ihn stehen, halbvoll, und warten, dass die Bedienung ihn abräumt.

Ich nippe an meiner Sprite, als ich eine Bewegung an meinem Ärmel spüre, ein leises Zupfen am T-Shirt. Als ich hinabschaue, sehe ich eine kleine Hand. Zögernd und überrascht, vor allem aber neugierig, drehe ich mich um. Vor mir steht ein Junge, etwa einen Kopf kleiner als ich. Seine Lippen sind schmal und heller als der Rest des Gesichts – im Gegensatz zu meinen. Mama sagt immer, ich hätte Lippen wie Nacktschnecken. Der Junge vor mir hat braune Haare. Sie sind zerzaust und hätten mal eine Wäsche nötig. Mein Blick wandert nach unten. Der Junge trägt eine blaue Jacke mit einem gelben Reißverschluss und ebenfalls gelben Ärmeln. Jeder Designer aus Europa würde wohl die Hände über dem Kopf zusammenschlagen beim Anblick dieser Jacke, aber mir gefällt sie. Die Hose des Jungen ist so dunkel, dass ich nicht viel davon erkennen kann. Auch Schuhe suche ich vergebens, bis ich merke, dass er barfuß ist. Der Junge lebt auf der Straße, da bin ich mir ganz sicher. Ich atme einmal tief durch und bemerke, dass er mich gerade genauso beäugt wie ich ihn. Sicher sind ein paar Sekunden vergangen, in denen wir beide kein Wort gesagt und uns lediglich angestarrt haben.

Er öffnet seinen Mund und spricht leise etwas Unverständliches. Seine Stimme ist rau und kratzig, und weil er so leise spricht, kann ich nicht mal erkennen, ob er Englisch oder ­Khmer spricht. Spätestens, als er mit dem Finger auf meinen halbvollen Teller deutet, weiß ich aber, was er möchte.