Mascha Kaléko

Verse für Zeitgenossen

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Mascha Kaléko

Mascha Kaléko, geboren am 7. Juni 1907 als Tochter jüdischer Eltern in Galizien, fand in den 1920er Jahren in Berlin Anschluss an die intellektuellen Kreise des Romanischen Cafés. Sie veröffentlichte zunächst Gedichte in Tageszeitungen, bevor sie 1933 mit ›Das lyrische Stenogrammheft‹ großen Erfolg hatte. 1938 emigrierte sie mit ihrer Familie in die USA und siedelte 1959 von dort nach Israel über. Sie starb 1975 nach schwerer Krankheit in Zürich. Heute gilt Mascha Kaléko als eine der bedeutendsten deutschen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts.

www.maschakaleko.de

Über das Buch

Von den Nationalsozialisten ins Exil gezwungen, verlor Mascha Kaléko nicht nur ihre Heimat, sondern auch ihre Sprache und damit ihr Publikum. Melancholisch, oft sehnsüchtig, aber pointiert und mit dem ihr eigenen Witz thematisiert sie in diesem Band Heimat und Fremde und setzt wie nebenbei dem New Yorker Künstlerviertel Greenwich Village, in dem sie mit ihrer Familie lebte, ein literarisches Denkmal. ›Verse für Zeitgenossen‹ war eines der wenigen Bücher, die in den USA in den Vierzigerjahren in deutscher Sprache veröffentlicht wurden.

Impressum

Originalausgabe 2017

© für die Texte: 1958 Mascha Kaléko

1975, 2012 Gisela Zoch-Westphal

© für diese Ausgabe:

2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: Irmela Schautz

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

eBook-Herstellung im Verlag (01)

eBook ISBN 978-3-423-43252-8 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-28139-3

 

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ISBN (epub) 9783423432528

Verse für Zeitgenossen

Statt eines Vorworts

Quasi ein »Januskript«

Wie Janus zeigt zuweilen mein Gedicht

Seines Verfassers doppeltes Gesicht:

Die eine Hälfte des Gesichts ist lyrisch,

Die andere hingegen fast satirisch.

Zwei Seelen wohnen, ach, in mir zur Miete

– Zwei Seelen von konträrem Appetite.

Was ich auch brau in meinem Dichtertopf,

Stets schüttelt Janus einen halben Kopf;

Denn, was einst war, das stimmt uns meistens lyrisch,

Doch das, was ist, zum großen Teil satirisch.

Die Zeit steht still

Alle sieben Jahre

In den weisen Büchern habe ich gelesen:

Alle sieben Jahre wandelt sich dein Wesen.

Alle sieben Jahre, merket, Mann und Weib,

Wandelt sich die Seele, wandelt sich der Leib.

Wandelt sich dein Hassen, wandelt sich dein Lieben.

Und ich zählte heimlich: drei Mal, vier Mal sieben.

Ach, die Geister kamen. Und mein Ohr vernimmt:

Alle sieben Jahre … Siehe da, es stimmt.

Sorgenvoll betracht ich alle Liebespaare.

Ob sie es wohl wissen: Alle sieben Jahre …

Selbst in deinen Armen fragt mein Schatten stumm:

Wann sind wohl, Geliebter, unsre sieben um?

Memento

Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,

Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.

Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

Allein im Nebel tast ich todentlang

Und laß mich willig in das Dunkel treiben.

Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;

– Und die es trugen, mögen mir vergeben.

Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,

Doch mit dem Tod der andern muß man leben.

Ein welkes Blatt …

Ein welkes Blatt – und jedermann weiß: Herbst.

Fröstelnd klirren die Fenster zur Nacht.

O, grüne Welt, wie grell du dich verfärbst!

Schon raschelt der Winter im Laube.

Und die Vögel haben, husch, sich aus dem Staube

Gemacht.

Wie letzte Früchte fielen ihre Lieder vom Baum.

Nun haust der Wind in den Zweigen.

Die Alten im Park, sie neigen

Das Haupt noch tiefer. Und auch die Liebenden

Schweigen.

Bald sind alle Boote im Hafen.

Die Schwäne am Weiher schlafen

Im Nebellicht.

Sommer – entflogener Traum!

Und Frühling – welch sagenhaft fernes Gerücht!

… Ein welkes Blatt treibt still im weiten Raum,

Und alle wissen: Herbst.

Wo sich berühren Raum und Zeit …

Wo sich berühren Raum und Zeit,

Am Kreuzpunkt der Unendlichkeit,

Ein Pünktchen im Vorüberschweben –

Das ist der Stern, auf dem wir leben.

Wo kam das her, wohin wird es wohl gehn?

Was hier verlischt, wo mag das auferstehn?

– Ein Mann, ein Fels, ein Käfer, eine Lilie

Sind Kinder einer einzigen Familie.

Das All ist eins. Was »gestern« heißt und »morgen«,

Ist nur das Heute, unserm Blick verborgen.

Ein Korn im Stundenglase der Äonen

Ist diese Gegenwart, die wir bewohnen.

Dein Weltbild, Zwerg, wie du auch sinnst,

Bleibt ein Phantom, ein Hirngespinst.

Dein Ich – das Glas, darin sich Schatten spiegeln,

Das »Ding an sich« – ein Buch mit sieben Siegeln.

… Wo sich berühren Raum und Zeit,

Am Kreuzpunkt der Unendlichkeit –

Wie Windeswehen in gemalten Bäumen

Umrauscht uns diese Welt, die wir nur träumen.

Gebet

Herr: unser kleines Leben – ein Inzwischen,

Durch das wir aus dem Nichts ins Nichts enteilen.

Und unsre Jahre: Spuren, die verwischen,

Und unser ganzes Sein: nur ein Einstweilen.

Was weisst du, Blinder, von des Stummen Leiden.

Steckt nicht ein König oft in Bettlersschuhn?

Wer sind wir denn, um richtend zu entscheiden.

Uns ward bestimmt, zu glauben und zu tun.

Lass du uns wissen, ohne viel zu fragen,

Lehr uns in Demut schuldlos zu verzeihn.

Gib uns die Kraft, dies alles zu ertragen,

Und lass uns einsam, nicht verlassen sein.

Herbstabend