Väter und Söhne

Iwan Turgenjew

Väter und Söhne

Roman

Herausgegeben und
aus dem Russischen übersetzt
von Ganna-Maria Braungardt

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Iwan Turgenjew

Iwan Turgenjew (1818‒1883) wollte kein politischer Schriftsteller sein, eher sah er sich als heimlichen Psychologen. Er suchte seine Leser nicht zu erziehen, sondern begegnete ihnen weltoffen und neugierig. Er gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des russischen Realismus. ›Väter und Söhne‹ ist sein berühmtester Roman.

 

Ganna-Maria Braungardt, geboren 1956, war Lektorin für russische Literatur, ehe sie sich dem Übersetzen zuwandte. Zuletzt übertrug sie u.a. die Werke der Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, von Wladimir Jabotinsky und Ljudmila Ulitzkaja ins Deutsche. Sie lebt in Berlin.

Über das Buch

Wozu festhalten an Idealen, an Werten? Ist doch alles falsche Romantik ‒ also weg damit! Basarow, Medizinstudent aus Petersburg, ist Nihilist und als solcher Teil einer radikal-liberalen Jugendbewegung. Als er seinen Freund Arkadi auf dessen Heimreise zum väterlichen Gut begleitet, verliebt er sich in die junge Witwe Anna ‒ was ihn existenziell erschüttert. Sollten die alten Wahrheiten, die Wahrheiten der Väter, etwa doch noch gelten? Dies herauszufinden, offenbart sich Basarow nur ein einziger vernünftiger Weg: erst Konfrontation, dann Kollision. In Russland Mitte des neunzehnten Jahrhunderts löste ›Väter und Söhne‹ bei Erscheinen ein regelrechtes Erdbeben aus. Die Leibeigenschaft war gerade abgeschafft worden, das ganze Land befand sich im Umbruch. Turgenjew traf damals den Nerv der Zeit, weil er mit großer Leichtigkeit und philosophischem Temperament von den Sehnsüchten und Ängsten der Menschen in Zeiten des Übergangs erzählt. Dank Ganna-Maria Braungardts poetisch- präziser Neuübersetzung erstrahlt einer der wegweisenden Romane der Weltliteratur nun in vollem Glanz.

Impressum

Neuübersetzung

2. Auflage 2018

© 2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlag: Katrin Engelking

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43302-0 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-28138-6

 

Gefördert von der Autonomen NPO »Institut für Übersetzung«, Russland.

 

 

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ISBN (epub) 9783423433020

Fußnoten

(frz.) Er ist ein frei, in der Tat.

(frz.) Ist aufgelebt.

(frz.) Ihr habt das alles verändert.

(frz.) Ich kann Ihnen Geld geben.

(frz.) veraltet

(frz.) Energie ist die erste Eigenschaft eines Staatsmannes.

(frz.) Seine Zeit ist vorbei.

russ. Aussprache des dt. Wortes »Herr«, im Russischen gibt es kein »H«.

(frz.) wie ein echter französischer Ritter.

(frz.) Zum Teufel, Ach, verdammt, pst, pst, mein Liebling.

(frz.) hätte ich

(frz.) hatte ich

(frz.) gehobener Stil

lange türkische Tabakspfeife mit kleinem Kopf.

(frz.) richtiger Mann

(lat.) Jedem das Seine.

(russ.) Gesundheitsfreund; Ärztezeitung, erschien 18331869 in Sankt Petersburg.

Entstelltes Französisch: voilà tout – das ist alles.

(lat.) in Kräutern, Worten und Steinen …

entstelltes Französisch: en amateur, »als Amateur«.

(frz.) Wie es sich gehört.

(frz.) Wer Ohren hat, der hört!

(lat.) Nützliches

(lat.) Angenehmes

(frz.) Schwindel

(frz.) Legen Sie sich hin.

(frz.) Das ist die gleiche Art.

(frz.) Schwägerin

(frz.) im neunzehnten Jahrhundert

(frz.) Was für eine Idee!

Hier und im Folgenden im Orig. deutsch.

(lat.) Er stirbt schon.

(frz.) sehr vornehm

Bei den kursiv gesetzten Zitaten handelt es sich um Stellen aus den auf Deutsch geschriebenen Briefen von Iwan Turgenjew.

Endnoten

Wissarion Grigorjewitsch Belinski – Wissarion Belinski (18111848), russischer Literaturkritiker und Publizist, revolutionärer Demokrat, wichtigster Kritiker der Zeitschrift Otečestvennye zapiski (»Vaterländische Notizen«), für die Turgenjew 1846 die erste Skizze der Aufzeichnungen eines Jägers schrieb. Zwischen B. und Turgenjew entwickelte sich eine enge Freundschaft, Turgenjew schätzte Belinskis Treffsicherheit, seinen untrüglichen Geschmack und seinen Instinkt als Kritiker: »Sein ästhetisches Empfinden war fast unfehlbar, sein Blick drang tief ins Innere und blieb immer ungetrübt. Belinski ließ sich durch keinerlei Äußerlichkeiten, durch keinerlei Umstände täuschen, er unterwarf sich keinerlei Einflüssen und Tendenzen; sofort unterschied er das Schöne vom Hässlichen, die Wahrheit von der Lüge.« (Turgenjew, Erinnerungen an Belinski, zitiert nach: Iwan Turgenjew, Literaturkritische und publizistische Schriften, deutsch von Walter Schade, Aufbau Verlag, Berlin 1979, S. 33.)

Werst – altes russisches Längenmaß, entspricht ca. 1,07 km.

seit er Land an seine Bauern abgegeben hat – Die Landzuteilung an die Bauern war ein erster Schritt zur Beendigung der Leibeigenschaft – Kirsanow kam damit der Regierungsrefom zuvor. Das Land wurde vermessen, die Bauern erhielten Land zur Nutzung, das durch Ableistung von Frondiensten oder durch finanzielle Auslösung ihr Eigentum werden konnte.

1857, ein Jahr nach der russischen Niederlage im Krimkrieg, wurde unter Zar Alexander II. ein »Geheimes Komitee« zur Bauernbefreiung gegründet, das Konzepte für die Aufhebung der Leibeigenschaft ausarbeitete.

Das Manifest »Über die allergnädigste Gewährung der Rechte freier Landbewohner für die Leibeigenen« wurde am 5. März 1861 in den beiden Hauptstädten, St. Petersburg und Moskau, verkündet. Die Bauern erhielten persönliche Freiheit und Bürgerrechte, außerdem das Eigentumsrecht an ihren Häusern und Wirtschaftsgebäuden sowie an ihrem Mobiliar, das Land blieb allerdings Eigentum der Gutsherren. Diese mussten den Bauern Land zur Verfügung stellen, im Austausch gegen dieselben Leistungen wie früher. Die Bauern waren nun keine Leibeigenen mehr, sondern »zeitweilig Verpflichtete«. Sie konnten das Land, das sie nutzten, erwerben, worauf ihre zeitweilige Verpflichtung erlosch und sie dem Gutsherrn keine Leistungen mehr schuldig waren. Das entsprechende Verfahren legte der Gutsherr in einer Sonderbestimmung fest, die Ablösungssumme wurde weitgehend von ihm selbst bestimmt, je nach Rentabilität des Landguts. 20 Prozent der Ablösungssumme hatte der Bauer sofort zu bezahlen, die restlichen 80 Prozent erhielt der Gutsherr vom Staat. Diese Summe mussten die Bauern innerhalb von 49 Jahren in Jahresraten an den Staat zurückzahlen. Die Ablösungszahlungen wurden erst nach der Revolution von 1905 eingestellt.

Desjatine – altes russisches Flächenmaß, entspricht 10.925,3975 m² – ca. 1,1 ha.

Feldzug von 1812 – Vaterländischer Krieg gegen Napoleon.

Kandidat – Erster akademischer Titel, vergleichbar dem Diplom, verliehen bei Abschluss eines Studiums; Voraussetzung war die Verteidigung einer schriftlichen Arbeit.

Englischer Klub – Die ersten Englischen Klubs entstanden 1770 in Sankt Petersburg auf Initiative englischer Kaufleute und Unternehmer. Dort trafen sich Adlige, Diplomaten, Offiziere, wohlhabende Kaufleute und im 19. Jahrhundert viele Schriftsteller, u. a. Puschkin, Karamsin, Lew Tolstoi, Nekrassow, Gogol zu geistigem Austausch, Kartenspiel und anderer abendlicher Unterhaltung.

Apanagendepartement – Das 1791 gegründete Amt verwaltete den Besitz der Zarenfamilie, also deren Grundbesitz und Güter, bis 1863 auch deren Leibeigene. Die Einnahmen waren für den Unterhalt der nicht regierenden Mitglieder der Zarenfamilie gedacht.

doch da brach das Jahr 1848 an – Nach der Revolution im Februar 1848 und dem Juniaufstand in Frankreich erließ der russische Zar Nikolai I. drastische Vorsichtsmaßnahmen, darunter ein Ausreiseverbot.

Tarantas – oft ungefederter vierrädriger, dreispänniger Reisewagen, dessen Korpus auf zwei langen Stangen ruhte, meist ohne Sitze, mit Stroh ausgeschlagen, mit einem Tuchdach und festen, rundum zuknöpfbaren Lederdecken.

»Es glaube aber Niemand, daß ein derartiges Gefährt auf der obersten Staffel der Wagenbaukunst stehe. Federn z. B. gehen ihm ebenso ab, wie dem Teleg; wegen Mangels an Eisen ist auch bei ihm das Holz nicht gespart; aber seine am Ende jeder Axe acht bis neun Fuß von einander entfernten Räder sichern ihm wenigstens auf den holperigen und oft sehr unebenen Straßen ein gewisses Gleichgewicht. Ein Schirm schützt die Insassen vor dem aufspritzenden Kothe des Weges, eine starke Lederdecke, welche herabgezogen das Gefährt fast hermetisch verschließt, vor dem Sonnenbrande und den nicht seltenen Windstößen im Sommer. Im Uebrigen ist der Tarantaß ebenso solid gebaut und leicht reparirbar, wie der Teleg, und andererseits weniger dem Unfall ausgesetzt, einen Theil im Schlamme stecken zu lassen.«

Aus: Jules Verne, »Tag und Nacht im Tarantaß«, in ders., Der Courir des Czaar, Bd. 1, Kap. 9, Hartleben’s Verlag Wien, 1876

Mann im langen, weiten Bauernmantel – Basarows äußere Erscheinung verweist sowohl auf seine nichtaristokratische Herkunft als auch darauf, dass er sich über Konventionen hinwegsetzt. Sein Mantel ist ein Balachon, ein weites, langes Gewand aus grobem Stoff, wie es von Bauern getragen wurde. Die »bloße rote« Hand zeugt davon, dass er körperliche Arbeit nicht scheut.

Jewgeni Wassiljew – Basarow stellt sich mit seinem Vor- und Vatersnamen vor, wobei er Letzteren auf Bauernart abkürzt, die volle Form lautet Wassiljewitsch, bei vertrautem Umgang werden oft auch Kurzformen gebraucht – hier Wassiljitsch, Prokofjitsch, Niklajitsch usw.

Kalesche – leichte, zweisitzige Kutsche, offen oder mit Faltverdeck, zwei- oder vierrädrig.

Barin – (russ.) »Herr«, »gnädiger Herr«, gebräuchlich als Anrede der Domestiken für einen Adligen. Hier im Original belassen, wenn damit der soziale Abstand markiert wird.

Sie zahlen ihren Zins nicht – die aus der Leibeigenschaft entlassenen Bauern mussten an ihren einstigen Herrn Abgaben zahlen.

Mein neuer Verwalter stammt aus der Stadt – Nikolai Petrowitsch sagt, sein Verwalter stamme aus dem Kleinbürgertum, und meint damit den untersten Stand der Stadtbevölkerung, der sich juristisch nur unwesentlich vom Bauernstand unterschied. Kleinbürger waren an ihren Wohnort gebunden, unterlagen der Militärpflicht, mussten Abgaben zahlen und konnten bis Mitte des 19. Jahrhunderts körperlich gezüchtigt werden. Dazu gehörten kleine Handwerker, Hausbesitzer und Händler; später auch die gebildeten sogenannten »Rasnotschinzen« (wörtl. »Angehörige verschiedener Stände«) – Ärzte, Anwälte, Lehrer usw.

Katharinas Zeiten – gemeint ist die Regierungszeit von Katharina II. (17291796), die von 1762 bis zu ihrem Tod Kaiserin von Russland war, bekannt als Katharina die Große.

Dörfchen mit niedrigen Katen unter dunklen, häufig halb abgedeckten Dächern – Die Hütten waren mit Stroh gedeckt, und nicht der Wind deckte die Dächer ab, sondern die Bauern selbst: Wenn im Winter nicht genug Futter für das Vieh vorhanden war, plünderten sie die Dächer ihrer eigenen Hütte und verfütterten das Stroh an ihr Vieh.

Wie traurig-trüb stimmt mich dein Kommen – aus Jewgeni Onegin, Siebentes Kapitel, deutsch von Wolf-Dietrich Keil, zitiert aus Alexander Puschkin, Jewgeni Onegin, Insel Verlag 1999, S. 175.

Nikolai Kirsanow stellte ihn Basarow vor: Sein Bruder beugte leicht den geschmeidigen Leib und lächelte schwach, gab Basarow jedoch nicht die Hand, steckte sie sogar wieder zurück in die Tasche – der konservative Aristokrat Pawel Kirsanow zeigt Basarow von Anfang an seine Geringschätzung.

sprach über die bevorstehenden Regierungsmaßnahmen, über Komitees, über Deputierte – Das unter der Leitung von Alexander II. am 3. Januar 1857 gegründete »Geheime Komitee« zur Bauernfrage (s. Anm. zu S. 9) wurde am 8. Januar 1858 zur »Hauptkommission« ernannt, und nach ihrem Vorbild wurden in ganz Russland Gouvernementskomitees gebildet, gewählte Organe aus adligen Grundbesitzern, die unter anderem die Bauernbefreiung vorbereiten sollten.

Gambs-Sessel – ein Sessel aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts sehr populären Möbelfirma Gambs.

Galignani – Galignani’s Messenger – vom italienischen Verleger Giovanni Antonio Galignani (17571821) gegründete englischsprachige Tageszeitung, erschien von 1814 bis 1904 in Paris.

Gott schenke euch Gesundheit und einen Generalsrang – paraphrasiertes Zitat aus dem Stück Verstand schafft Leiden von Alexander Gribojedow (17951829), einer satirischen Komödie über die Aristokratie, die von der Zensur verboten und erst 1833, nach Gribojedows Tod, veröffentlicht wurde.

Dieser Arztsohn – Pawel Kirsanows geringschätzige Haltung gegenüber dem Arztberuf beruht auf dem geringen Ansehen und der niedrigen sozialen Stellung dieses Berufsstandes in Russland im 19. Jahrhundert. Noch im 18. Jahrhundert waren die meisten Ärzte in Russland Ausländer, meist Deutsche, die auf Vertragsbasis nach Russland kamen und meist die russische Staatsbürgerschaft annahmen. Ihre soziale Herkunft war bunt gemischt – es waren Söhne von niederen Offizieren, Kaufleuten, Beamten, Kleinadligen oder Ärzten. 1827 wurde die Rekrutierung ausländischer Ärzte per Dekret unterbunden. Die nun ausgebildeten russischen Ärzte begannen ihre Tätigkeit obligatorisch beim Militär, wo sie oft bis zu 20 Jahren dienten, bis sie im Rang eines Stabsarztes in den Zivilstand versetzt wurden. Eine lange Dienstzeit konnte einem Arzt zum Adelstitel verhelfen – wie dem alten Basarow. Da sie keine Rente bekamen, praktizierten sie nach dem Ruhestand meist privat weiter. Durch ein 1830 von Nikolai I. erlassenes Dekret erhielten zivile Ärzte Beamtenränge, was das Prestige des Arztberufes erhöhte, weil damit der Aufstieg in den Adelsstand möglich wurde. Die Bezahlung war dennoch schlecht, und auch die russischen Ärzte stammten selten aus dem Adel, sondern ebenso wie ihre ausländischen Kollegen aus ärmeren Schichten. Wegen ihrer sozialen Zwischenstellung als »Rasnotschinzen« gehörten junge Ärzte oft zu den Kritikern der politischen Verhältnisse in Russland (wie Basarow). Auch deshalb spielten sie in der russischen Literatur (z. B. bei Tschechow, Bulgakow, die beide selbst Ärzte waren) eine wichtige Rolle.

Von den russischen Deutschen rede ich gar nicht erst – Peter I. und Katharina II. hatten viele Deutsche nach Russland geholt, vor allem Handwerker, Gelehrte, Ärzte und Offiziere; durch besondere Verdienste konnten sie auch den Adelstitel erlangen. Konservative russische Adlige betrachteten diese Deutschen oft mit Herablassung – wie hier Pawel Kirsanow.

Die Kunst, Geld zu machen, oder Keine Hämorrhoiden mehr! – Diese verächtliche Replik ist eine Anspielung auf zwei im 19. Jahrhundert in Russland sehr populäre Broschüren: Die erste mit dem Titel Die Kunst Geld zu machen – auf einfache, angenehme und jedermann zugängliche Art erschien 1849 in Sankt Petersburg, deklariert als aus dem Französischen übersetztes Werk eines Autors namens Rothschild, die zweite, Keine Hämorrhoiden mehr, mit dem Untertitel Erfahrungen über das eigentliche, bisher nicht erkannte Wesen und den Grund der Hämorrhoidalkrankheit, nebst Angabe des einzigen Mittels, durch welche dieselbe auf die sicherste, völlig unschädliche und schnellste Weise geheilt und verhütet werden kann (Original: Nordhausen, Ernst Friedrich Fürst, 1841), erschien 1846 als Übersetzung aus dem Deutschen und stammt von dem englischen Arzt Stephen Mackenzie. Basarow (und mit ihm der Autor Turgenjew) verspottet derartige pseudowissenschaftliche Handbücher und Ratgeber, die er als Scharlatanerie betrachtet. Der Literaturhistoriker Wladimir Melnik verweist in einem 1977 in der Zeitschrift Literaturnaja Rossija erschienenen Aufsatz darauf, dass in den 60er- und 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts sechs weitere Broschüren mit reißerischen Titeln wie »Kein …. mehr« erschienen und zitiert aus einer Rezension zu einem Büchlein Keine unglückliche Liebe mehr: »Ein unbekannter Wohltäter der Menschheit hat eines der schlimmsten Übel abgeschafft, eine Art Stein der Weisen gefunden. Dieser Stein ist beim Buchhändler Sorokin zu haben und heißt Kein Liebeskummer mehr! Als ich diesen Titel sah, dachte ich: Mein Gott! Mit welch gigantischen Schritten die Wissenschaft vorankommt! Erst kürzlich erschien das Buch Keine Hämorrhoiden mehr!, und nun bereits das nächste Kein Liebeskummer mehr! Für einen halben Rubel können Sie sich von sämtlichen Leiden befreien, während man früher allein in der Apotheke mitunter hundert Rubel zahlte!«

Ratgeber dieser Art für alle Lebenslagen erfreuen sich bis heute großer Beliebtheit.

Pagenkorps – Militärbildungsanstalt in Sankt Petersburg, in die nur Söhne hoher Beamter aufgenommen wurden.

fuhr nur zu den Wahlen aus – gemeint sind die alle drei Jahren stattfindenden Versammlungen der Ständevertretung, auf der die Adligen eines Kreises bzw. eines Gouvernements die Vertreter ihrer Selbstverwaltung wählten – den Adelsmarschall, die Abgeordneten der Adelsversammlung, den Sekretär u. a. administrative Personen. Der Adelsmarschall stand zugleich dem jeweiligen Semstwo vor, der gewählten lokalen Verwaltung von Kreis bzw. Gouvernement und war direkt dem Gouverneur unterstellt.

Wellington – Arthur Wellesley, 1. Duke of Wellington (17691852), Feldmarschall der napoleonischen Zeit, siegte in der Schlacht bei Waterloo über Napoleon.

Louis-Philippe – Louis-Philippe I. (17731850), der sogenannte »Bürgerkönig«, in der Julimonarchie von 1830 bis 1848 der letzte König von Frankreich, wurde durch die bürgerliche Revolution von 1848 entmachtet.

Whist – Kartenspiel für 4 Personen. Ursprünglich aus England stammend, verbreitete sich im 19. Jahrhundert auf der ganzen Welt und wurde vor allem in Klubs und in vornehmen Gesellschaften gespielt.

Jermolow – Alexej Jermolow (17771861), russischer General und Diplomat; Mitstreiter von Alexander Suworow (s. Anm. zu S. 177) und Michail Kutusow, Held des Vaterländischen Krieges 1812 gegen Napoleon, von 18161827 Kommandeur des Kaukasuskorps und Generalgouverneur in Georgien.

Massalskis Strelitzen – Roman von Konstantin Massalski (18021861), einem populären russischen Autor unterhaltsamer, vor allem historischer Romane.

Büchners Kraft und Stoff – Die 1855 erschienene Schrift Kraft und Stoff [bei Turgenjew umgekehrt, Stoff und Kraft] des deutschen Arztes, Naturwissenschaftlers und Philosophen Ludwig Büchner (18241899), des Bruders von Georg Büchner, war ein populäres Werk des philosophischen Materialismus; nach seiner Veröffentlichung wurde dem Autor die Lehrbefugnis in Tübingen entzogen; Büchner popularisierte naturwissenschaftliche Erkenntnisse seiner Zeit, unter anderem Darwins Evolutionstheorie, und nahm an der 1848er-Revolution teil.

darum nennt man mich im ganzen Gouvernement sogar einen Roten – Zur Farbe der linken Opposition gegen die Herrschenden wurde die Farbe Rot während der Französischen Revolution (17891794), durch die roten Mützen der Jakobiner, rot waren später auch die Fahnen in den Revolutionen von 1848 in Frankreich und Deutschland.

denn sie vertreten die Zivilisation, nicht die grobe mongolische Kraft – Anspielung auf die Unterjochung der russischen Fürstentümer durch die mongolisch-tatarischen Invasionen im 13. Jahrhundert und die bis ins 15. Jahrhundert andauernden äußerst grausamen Kriegszüge der Goldenen Horde, die Russland kulturell und ökonomisch weit zurückwarfen.

hat eine kleine Kerze ganz Moskau in Brand gesetzt – Anspielung auf den großen Brand vom 14.–18. September 1812. Als Napoleon am 15. September in den Kreml einzog, standen bereits große Teile der Stadt in Flammen, am Ende hatte der Brand drei Viertel von Moskau vernichtet. Über die Ursachen sind sich die Historiker nicht einig – die Hypothesen reichen von organisierter Brandstiftung durch die russischen Truppen bei ihrem Rückzug über unkontrollierte Aktionen der französischen Besatzer bis zu einem zufällig ausgebrochenen Feuer. Da es mehrere Brandherde gab, ist womöglich an allen Hypothesen etwas Wahres.

Mir wurde berichtet, in Rom setzten unsere Künstler keinen Fuß in den Vatikan – In einem Brief an den Publizisten Pawel Annenkow (18131887) vom 21. Oktober (2. November) 1857 schrieb Turgenjew nach einem positiven Urteil über das Gemälde Christus erscheint dem Volk von Andrej Iwanow (18061858): »Die übrigen russischen Maler hier sind schlecht. Sorokin schreit, Raffael sei Plunder und »alles« sei Plunder, aber er selbst malt dummes Zeug; dieses scheußliche russische Gebaren kennen wir ja. Die Ignoranz ist ihr Verderben.«

Dorfgemeinschaft – eine Art Selbstverwaltungsorgan der Bauern, eingeführt zunächst nur in Dörfern, die dem Zaren gehörten und in denen die Bauern keine Leibeigenen waren, nach der Aufhebung der Leibeigenschaft auf alle ländlichen Gebiete übertragen. Die Dorfgemeinschaft (auch mir, wörtlich »Welt«) wählte auf ihren Versammlungen einen Starosta (Dorfältesten) und andere Amtspersonen mit polizeilichen und juristischen Befugnissen, regelte die Verteilung des Bodens und andere die gesamte Gemeinschaft betreffenden Aufgaben.

Schwiegervater-Recht – Im russischen Dorf unterhielt das männliche Oberhaupt einer großen Familie, die in einer Hütte zusammenlebte, oft sexuelle Beziehungen mit allen jungen Frauen der Familie, meist mit den Schwiegertöchtern. Diese Praxis verbreitete sich besonders im 18.–19. Jahrhundert, zunächst infolge der Rekrutierung der jungen Männer zum Militärdienst, später, weil die jungen Männer zum Arbeiten in die Städte gingen und ihre Frauen im Heimatdorf zurückließen.

Adelsmarschall – in Russland Vorsteher der adligen Ständevertretung im Kreis bzw. im Gouvernement (s. Anm. zu S. 49).

links und rechts auf der Brust je einen Stern – silberne oder goldene Sterne waren Abzeichen für die jeweils höchste Stufe einiger Orden.

François Guizot – François Pierre Guillaume Guizot (17871874) französischer Politiker und Schriftsteller, Anhänger der konstitutionellen Monarchie und strenger Reglementierung der Presse.

Swetschina – Sophia Swetschina (17821857), bekannt als Madame Swetchine, russische mystische Schriftstellerin, berühmt für ihren Salon in Paris.

Condillac – Étienne Bonnot de Condillac (17141780) französischer Geistlicher, Philosoph und Logiker im Zeitalter der Aufklärung, sein Hauptwerk war die Abhandlung über die Empfindungen (Traité des sensations).

Bourdaloue – Louis Bourdaloue (16321704), französischer Jesuit und Prediger.

endlich habe ich einen Menschen gefunden! – ironische Anspielung auf den berühmten Satz von Diogenes: »Ich suche einen Menschen.«

lebt Ihr Vater noch immer von der Branntweinlizenz – Im 16. Jahrhundert führte Iwan der Schreckliche das staatliche Branntweinmonopol ein und ließ erste Schenken eröffnen, in denen Wodka ausgeschenkt, aber keine Speisen serviert wurden. Der Verkauf von Hochprozentigem außerhalb dieser staatlich betriebenen Schenken war verboten, durch das Branntweinmonopol wurde ein großer Teil der Staatseinnahmen erwirtschaftet. Unter Katharina II. wurden Branntweinlizenzen vergeben, zunächst nur an Adlige, später auch an Kaufleute, die nun die Schenken als Pächter führten und dafür enorme Pachtzinsen an den Staat zahlten. Unter Alexander II. wurde das staatliche Branntweinmonopol aufgehoben, die staatliche Kontrolle beschränkte sich fortan auf das Erheben von Steuern auf die Produktion und den Verkauf von Alkohol. Im ganzen Land entstanden Hunderte neue Schenken. Hatte der Pro-Kopf-Verbrauch an Wodka in Russland Mitte des 19. Jahrhunderts 45 Liter betragen, hatte er sich 1867 verdoppelt. (Heute sind es rund 1520 Liter.) Zur selben Zeit begann der Kampf gegen die Trunkenheit, 1858 gab es »Anti-Alkohol-Aufstände«, in 32 Gouvernements wurden Schenken gestürmt; Ende des 19. Jahrhunderts entstanden erste »Nüchternheitsgesellschaften«.

Kisljakows Aufsatz über die Frauenarbeit – laut Kommentar der russischen Originalausgabe vermutlich ein von Turgenjew erfundener Autor.

Emerson – Ralph Waldo Emerson (18031882), amerikanischer idealistischer Philosoph und Schriftsteller.

einen wunderbaren Aufsatz darüber von Jelissewitsch – laut Kommentar der russischen Originalausgabe spielt Turgenjew hier ironisch auf die Mitarbeiter der Zeitschrift Sowremmenik (Zeitgenosse) Grigori Jelissejew (18211891) und Maxim Antonowitsch (18351918) an, die als Anhänger von Belinski und Tschernyschewski revolutionär-demokratische Ansichten vertraten.

Sie teilen also die Meinung von Proudhon – Pierre-Joseph Proudhon (18091865), französischer Ökonom und Soziologe, einer der Begründer des Anarchismus, war ein entschiedener Gegner der Frauenemanzipation.

Macaulay – Thomas Babington Macaulay (18001859), britischer Historiker, Dichter und Politiker, Gegner der Sklaverei, trat für politische Reformen ein.

Sie sind ein Slawophiler – Der Streit zwischen Slawophilen, Anhängern der traditionellen Werte und Verfechtern eines eigenen russischen Weges, und Westlern, die eine Europäisierung Russlands anstrebten, begann 1836 mit Pjotr Tschaadajews Erstem Philosophischen Brief, in dem er negative Seiten Russlands kritisierte und das Land als rückschrittlich bezeichnete. Turgenjew als entschiedener Gegner der Leibeigenschaft und Kritiker der russischen Verhältnisse plädierte für gemäßigte Reformen und bezeichnete sich als Westler. Der Streit zwischen diesen beiden Richtungen dauert in Variationen bis heute an – Alexander Solshenizyn war einer der prominentesten Vertreter der slawophilen Geisteshaltung in der Gegenwart.

Domostroi – (Hausordnung) eines der populärsten russischen Volksbücher aus dem sechzehnten Jahrhundert, Apologie der patriarchalen Ordnung, die auch die körperliche Züchtigung von Frau und Kindern bei Ungehorsam einschloss; verweist die Frau auf einen Platz, der in etwa den berühmten deutschen drei »K« entspricht.

Michelet – Jules Michelet (17981874), französischer Historiker des 19. Jahrhunderts, verfasste zahlreiche historische und moral-philosophische Schriften, darunter L’Amour (1859).

Et toc, et toc, et tin-tin-tin! – Zitat aus dem Trinklied L’Ivrogne et sa femme (Der Trinker und seine Frau) von Pierre-Jean de Béranger.

gestatten Sie, dass ich Sie um die Mazurka bitte – Bei einem traditionellen Ball war die Mazurka meist der letzte Kreisreigen vor dem Abendessen. Eine Mazurka-Runde dauerte recht lange, bei den einzelnen Tanzfiguren wechselten die Paare. Der Partner, dem eine Dame die Mazurka gewährte, leistete ihr während der gesamten Mazurka Gesellschaft. Wurde sie von anderen Tänzern zu einzelnen Tanzfiguren aufgefordert, blieb ihr Mazurka-Partner sitzen, und sie kehrte anschließend zu ihm zurück. Die Mazurka auf einem Ball war eine Gelegenheit, sich dem anderen Geschlecht unverfänglich zu nähern, sich durch Plaudereien näher kennenzulernen.

Und durch Posaunen – Anspielung auf das russische Sprichwort: »Man muss Feuer, Wasser und Posaunen bestehen«, das sich auf die in der Offenbarung des Johannes angekündigten Prüfungen bezieht.

sprach ein fehlerfreies Russisch – Das war für russische Adlige nicht selbstverständlich, in ihren Kreisen war Französisch die übliche Umgangssprache, Russisch als Sprache des gemeinen Volkes sprachen sie oft nur unzureichend, mitunter absichtlich mit französischem Akzent.

Ein Musterexemplar fürs anatomische Theater – So wurde im 18. und 19. Jahrhundert ein Hörsaal für Anatomievorlesungen bezeichnet, weil sich die Sitzreihen für die zuschauenden Studenten um den Seziertisch erhoben wie in einem antiken Amphitheater.

Alexandrinischer Stil – auch Alexandrinischer Klassizismus (18001812), Spät- und Blütezeit des Klassizismus in Russland, benannt nach Zar Alexander I. (18011825), der in Frankreich im Geist der Freiheitsideale der Antike erzogen wurde, äußerst gebildet war und Kunst und Wissenschaft förderte. Der Alexandrinische Stil prägte besonders die Architektur von Sankt Petersburg.

Speranski – Michail Speranski (17721839), russischer Staatsmann, Initiator demokratischer Reformen, wurde 1812 unter dem Druck des reaktionären Adels aus dem Staatsdienst entlassen und aus der Hauptstadt nach Perm verbannt.

sie fand Zucker zum Tee sündhaft und zu teuer – Zucker war im 19. Jahrhundert noch teuer, in ärmeren Familie wurde er bei Tisch vom Hausherrn zugeteilt. Dass er zudem sündig sei, meint die alte Fürstin, weil beim Raffinieren von Zucker damals noch Tierkohle verwendet wurde, hergestellt aus tierischem Blut oder Knochen.

Ritter Toggenburg – Titelgestalt einer Ballade von Friedrich Schiller. Als seine Angebetete ins Kloster geht, lässt sich der Ritter als Einsiedler vor ihrer Zelle nieder, um die Geliebte aus der Ferne am Fenster zu sehen, und stirbt dort.

Schmierstiefel – Stiefel, die nicht gewichst, sondern mit Teer geschmiert wurden.

Batjuschka – wörtlich »Väterchen«, ehrfürchtige Anrede; auch offiziell für einen Geistlichen, dessen Frau als Matuschka, also »Mütterchen«, angesprochen wird.

Pelouze et Frémy, Notions générales – Notions générales de chimie, (Grundbegriffe der Chemie), 1853 erschienenes Lehrbuch, verfasst von den französischen Chemikern Edmond Frémy (18141894) und Théophile-Jules Pelouze (18071867).

Ganot – Adolphe Ganot (18041887), französischer Physiker, verfasste populäre Lehrbücher der Physik.

Schließlich brennen nicht Götter die Tontöpfe! – Das russische Sprichwort »Nicht die Götter brennen die Tontöpfe« bedeutet eigentlich etwas anderes, nämlich, dass auch gewöhnliche Sterbliche Schwieriges meistern können, entspricht also etwa dem Deutschen »Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.« Hier bedeutet es eher: Schließlich muss jemand auch die niederen Dinge tun.

ein Mann muss wild sein, lautet ein treffliches spanisches Sprichwort – Dies zitiert Turgenjew auf Spanisch (El hombre debe ser feroz) auch in einem Brief an Gustave Flaubert vom 20. Februar 1870 (zit. nach: Gustave Flaubert, Ivan Turgenev Briefwechsel 18631880, Diogenes, Zürich 2008), es lässt sich aber kein Beleg dafür finden, dass es sich tatsächlich um ein spanisches Sprichwort handelt.

Banja – Die traditionelle russische Banja ist ein separates Haus mit mindestens zwei Räumen. Im mitunter recht komfortabel ausgestatteten Vorraum wurde gegessen und getrunken, im eigentlichen Baderaum steht der Banja-Ofen, der den Wasserkessel beheizt und für Dampf sorgt; wie in der finnischen Sauna gibt es Bänke zum Liegen und Sitzen.

Schönlein – Johann Lukas Schönlein (17931864), deutscher Arzt, begründete die »Naturhistorische Schule«, die auf der Nutzung physikalischer und chemischer Methoden in der Diagnostik (Abhören, Urin- und Blutanalysen) beruhte, und führte die regelmäßige Obduktion zur Klärung von Krankheitsursachen ein.

Rademacher – Johann Gottfried Rademacher (17721849), deutscher Mediziner, Schüler von Paracelsus, entwickelte ein System, das er »Erfahrungsheillehre« nannte. Die Diagnostik erfolgte durch das Ausprobieren wirksamer Heilmittel, und die Krankheiten wurden danach klassifiziert – z. B. als Schellkraut-, Brechnuss-, Terpentin-Krankheit. Seine Lehre von den Universalheilmitteln wie Kupfer, Eisen, Salpeter wurde von der homöopathischen Heilkunde aufgegriffen.

Humoralpathologie – auch Säftelehre, sieht die Ursache aller Krankheiten in einer fehlerhaften Zusammensetzung des Blutes sowie der anderen Körperflüssigkeiten.

Vitalismus – naturphilosophische Richtung, die im Unterschied zum Mechanismus die Gesetzlichkeit der Organismen auf ein selbstständiges Prinzip oder einen eigenen substanziellen Träger alles Lebendigen zurückführt.

Shukowski – Wassili Shukowski (17831852), russischer Dichter und Übersetzer, kämpfte im Vaterländischen Krieg 1812 gegen Napoleon und verfasste zahlreiche patriotische Werke, darunter die Zarenhymne Gott schütze den Zaren! (1833); übersetzte u. a. Gedichte von Schiller.

Fürst Wittgenstein – Pjotr Wittgenstein (17681842), russischer General, berühmter Teilnehmer am Vaterländischen Krieg von 1812.

die Männer des Vierzehnten Dezember – gemeint sind die Dekabristen im Süden Russlands, die nach dem Aufstand vom 14. Dezember 1825 von Nikolai I. vor Gericht gestellt wurden.

die verworrene italienische Frage – Italiens Kampf für die Befreiung von der Fremdherrschaft und für die nationale Einigung stieß in der russischen Gesellschaft in den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts. auf großes Interesse und wurde in der Presse heiß diskutiert.

sie hätte zweihundert Jahre früher leben sollen, in den Altmoskauer Zeiten – Gemeint sind die Zeiten, als Moskau noch Hauptstadt war, vor den Reformen Peters I., der die Hauptstadt 1712 nach Sankt Petersburg verlegte. Die petrinischen Reformen öffneten Russland westeuropäischen Einflüssen, beschnitten die Vormachtstellung des alten Erbadels und der Kirche und trugen zur Modernisierung des Staatswesens, zur Förderung von Kultur, Bildung und Wissenschaften bei.

die Heilkraft von Gründonnerstagssalz – dem in Russland traditionell am Gründonnerstag (russ. Sauberen Donnerstag) hergestellten Schwarzen Salz wurden besondere Heilkräfte zugeschrieben. Für die Herstellung wurde grobes Salz im Mörser zerstampft und anschließend im Ofen gebacken – mit dem Bodensatz von Kwas (oder Roggenbrot) in Leinen gewickelt oder mit Kohlblättern und Gewürzen in Brotteig gefüllt. Das Holz für den Ofen wurde während der Großen Fastenzeit geschlagen, da es dann ebenfalls besondere Kräfte haben sollte.

Alexis oder die Hütte im Wald – sentimentaler erbaulicher Roman des französischen Schriftstellers Dueray-Duminil (17611819). Erschien in russischer Übersetzung 1794, 1800, 1804.

Cincinnatus – Lucius Quincius Cincinnatus, (6.–5. Jh.  v. Chr.), römischer Patrizier und Diktator, bearbeitete selbst den Boden.

Jean-Jacques Rousseau hatte also recht – In seinem 1762 erschienenen Gesellschaftsvertrag begründete der Aufklärer die Verpflichtung jedes Einzelnen gegenüber dem Gemeinwohl, in seiner 1750 erschienenen Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen stellte er den »Naturzustand« des Menschen den herrschenden Verhältnissen seiner Zeit gegenüber und bezeichnete körperliche Arbeit als eine Voraussetzung für ein glückliches Leben.

Robert der Teufel – Oper von Giacomo Meyerbeer, Libretto Eugène Scribe und Germain Delavigne, Originaltitel Robert le diable, Uraufführung 1831 in Paris, danach an vielen europäischen Theatern aufgeführt, eine der populärsten Opern des 19. Jahrhunderts.

Suworow – Alexander Suworow (17301800), russischer Feldherr, verdiente sich erste Sporen im Siebenjährigen Krieg (17561763), spielte als Stratege eine wichtige Rolle in den beiden Russisch-Türkischen Kriegen (17681774 und 17871791). Im Zweiten Koalitionskrieg (17991801), den Russland, Österreich und Großbritannien gegen Frankreich führten, überquerte das russisch-österreichische Kontingent, das er befehligte, die Alpen. Suworow wird bis heute als Nationalheld verehrt.

In den Kampf, in den Kampf! Für die Ehre Russlands! – Hier zitiert Turgenjew fast wörtlich den Schriftsteller Nikolai Uspenski (18371889), der den revolutionären Demokraten nahestand und den er 1861 in Paris traf. Zu dieser Begegnung schrieb er an den Kritiker Pawel Annenkow (18131887): »Dieser Tage war der Menschenhasser Uspenski (Nikolai) hier auf der Durchreise und speiste bei mir. Er hielt es für nötig, lange gegen Puschkin zu wettern, und behauptete, Puschkin habe in all seinen Gedichten unentwegt geschrien: ›In den Kampf, in den Kampf für das heilige Russland.‹«

Die Dioskuren – aus der griechischen Mythologie, wörtlich: »Söhne des Zeus«, gemeint sind die Zwillinge Kastor und Pollydeukes, meist mit ihren lateinischen Namen Castor und Pollux genannt.

Für den du den Wladimir bekommen hast – Der Kaiserliche Orden des Heiligen und Apostelgleichen Großfürsten Wladimir war ein Verdienstorden für Militärs und Zivilpersonen in vier Klassen; Beamte oder Offiziere, die nach 25 Dienstjahren mit dem Orden vierter Klasse ausgezeichnet wurden, erhielten damit einen erblichen Adelstitel.

zwei Rubel und fünfzig Kopeken Papiergeld: in Silber wurde im Haus von Arina Wlassjewna nicht gerechnet – Diese Bemerkung verweist auf die Armut von Basarows Eltern. Papiergeld war von viel geringerem Wert als Silbermünzen. Ein Rubel Silber entsprach etwa dreieinhalb Rubeln Papier. Obwohl ein Gesetz von 1787 die Menge an Papiergeld auf 10 Millionen Rubel begrenzen sollte, führten die hohen Staatsausgaben dazu, dass sehr viel mehr gedruckt wurde, sodass der Wert eines Papierrubels im Jahr 1815 nur noch 20 Kopeken in Silber entsprach. Durch die Finanzreform von 18391840 wurde der Wert eines Papierrubels auf 3,50 Rubel festgeschrieben; die Ausgabe von Kreditscheinen nach dem Krimkrieg führte zu einer weiteren Geldentwertung.

mit einem glimmenden Holzscheit hatte beräuchern wollen – Dem Rauch wurde neben der desinfizierenden Wirkung auch Heilkraft zugeschrieben; Behandlungen mit diversen Räuchermischungen werden in der alternativen Medizin auch heute wieder angeboten.

verlangte der Waisenrat unter Drohungen die unverzügliche und restlose Zahlung der Kreditzinsen – Der Waisenrat leitete das Moskauer Erziehungshaus und verwaltete Banken wie die Darlehens-, die Witwen- und die Depotkasse. Bei der Darlehenskasse konnten Gutsbesitzer Kredite aufnehmen.

Sonderrechte des baltischen Adels – Der baltische Adel in Estland, Livland und Kurland befürchtete, die Gesetze zur Bauernbefreiung in Russland könnten die Gutsbesitzer im Baltikum nötigen, nun auch an ihre Bauern, die bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus der Leibeigenschaft entlassen worden waren, Land abzugeben. Der baltische Adel berief sich auf seine historisch entstandenen Sonderrechte und erklärte, Landbesitz sei ein unantastbares und ausschließliches Recht des Adels. Die Ostseegouvernements hatten im Russischen Reich eine Sonderstellung inne; sie waren infolge der jahrhundertelangen Herrschaft des deutsch-baltischen Adels (der auf den Deutschen Orden zurückging) deutsch und protestantisch geprägt, der deutsch-baltische Adel spielte eine wichtige Rolle in der Politik und im russischen Militär und konnte seine Sonderrechte (Selbstverwaltung, lutherischer Glauben und Unterordnung der Kirchen unter die Gutsherren, eigene Gerichte u. a.) weitgehend bewahren.

Frau Radcliffe – Ann Radcliffe (17641823), englische Schriftstellerin, Autorin von Schauerromanen.

Sir Robert Peel – Sir Robert Peel (17881850), konservativer englischer Politiker.

Gogols Briefe an die Gouverneursgattin – in den Kommentaren der russischen Originalausgabe heißt es, Basarow beziehe sich damit auf Gogols Brief an Alexandra Smirnowa, eine Hofdame der russischen Kaiserin, die mit einigen russischen Dichtern in Kontakt stand, unter anderem mit Puschkin, Lermontow und Gogol, und durch ihre die russische Gesellschaft scharfzüngig charakterisierenden Memoiren berühmt wurde. Dieser Brief an A. Smirnowa vom 6. Juni 1846 wurde von der Zensur aus den Ausgewählten Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden gestrichen und unter dem Titel Was ist eine Gouverneursgattin erst 1860 in der Zeitung Sovremennost i ekonomičeskij listok (Gegenwart und ökonomisches Blatt) veröffentlicht. Gogol bittet A. Smirnowa, deren Mann Gouverneur von Kaluga geworden ist, um ausführliche Schilderungen des Lebens in der Provinzstadt, um genaue Beschreibung des gesellschaftlichen Lebens und seiner Protagonisten, männlicher wie weiblicher, und fordert sie auf, mit ihrem Verhalten ein Beispiel an Einfachheit und Ehrlichkeit zu geben und auch ihren Mann dazu anzuhalten.

Bald nun kommt die neue Zeit, Liebe zieht in unser Herz …‹ Da hast du deinen Fortschritt. – Turgenjew parodiert hier eine typische Form alter Volkslieder; in der Übersetzung habe ich, um die Anspielung auf den »Fortschritt« zu verdeutlichen, die Wendung »rechte Zeit« durch »neue Zeit« ersetzt.

Erklär mir, was ist eigentlich eure Welt? – Diese Frage nach der »Welt« ist doppeldeutig – das russische Wort mir wird auch für die Dorfgemeinschaft verwendet (s. Anm. zu S. 78).

die Welt, die auf drei Fischen ruht – die Vorstellung, dass die Erde auf drei Fischen (Walen) ruht, wurde aus dem heidnischen Glauben der Ostslawen in die christliche Zeit übernommen; in einem apokryphen Gespräch der drei Heiligen wird erklärt, die Erde schwimme auf einem riesigen Meer und ruhe auf drei Walen. Ähnliche Vorstellungen finden sich auch bei anderen Völkern. Die Anhänger der hinduistischen Religion glaubten, die Erde liege auf den Rücken von drei Elefanten, die auf dem Panzer einer riesigen Schildkröte stehen, welche wiederum in einem kosmischen See schwimme.

Schiedsmann – Schiedsleute waren von 1859 bis 1867 vom Gouverneur bestimmte Beamte, die Streitigkeiten zwischen Gutsbesitzern und Bauern schlichteten und die Institutionen der bäuerlichen Selbstverwaltung kontrollierten. Die meisten Schiedsleute vertraten in erster Linie die Interessen der Gutsherren, die wenigen Liberalen, die sich für die Bauern einsetzten und bürgerliche Reformen verlangten, wurden rasch ihres Amtes enthoben.

Manzipation – gemeint ist die Bauernbefreiung, also die Aufhebung der Leibeigenschaft.

»Aus Anlass von Väter und Söhne«, Iwan Turgenjew, Literaturkritische und publizistische Schriften, deutsch von Walter Schade, Aufbau Verlag 1979, S. 100.

Brief an Moritz Hartmann, 15. Mai 1867, zitiert nach: Werther Herr. Turgenevs deutscher Briefwechsel, hrsg. von Peter Urban, Friedenauer Presse Berlin, 2005, S. 46.

Brief an A. P. Filossofowa, 23. September 1874, zitiert nach: Iwan Turgenjew, Briefe, deutsch von Günter Dalitz, Aufbau Verlag, Berlin 1985, S. 296.

Brief an M. N. Katkow, 11. November 1861, Iwan Turgenjew, Briefe, deutsch von Günter Dalitz, Aufbau Verlag, Berlin 1985, S. 133.

Brief an Ludwig Pietsch, 3. Juni 1869, zitiert nach: Werther Herr. Turgenevs deutscher Briefwechsel, hrsg. von Peter Urban, Friedenauer Presse Berlin, 2005, S. 90f.

Zitiert nach: Werther Herr. Turgenevs deutscher Briefwechsel, hrsg. von Peter Urban, Friedenauer Presse Berlin, 2005, S. 275.

Brief an Ludwig Pietsch, 13. April 1875, zitiert nach: Werther Herr. Turgenevs deutscher Briefwechsel, hrsg. von Peter Urban, Friedenauer Presse Berlin, 2005, S. 185f.

Anstelle eines Vorwortes, Baden-Baden 1868, aus: Iwan Turgenjew, Literaturkritische und publizistische Schriften, deutsch von Walter Schade, Aufbau Verlag Berlin, 1979, S. 10.

Brief an Ludwig Friedländer, 26. Oktober 1868, zitiert nach: Werther Herr. Turgenevs deutscher Briefwechsel, hrsg. von Peter Urban, Friedenauer Presse Berlin, 2005, S. 69.

mit Bakunin zugebracht – Michail Bakunin (18141876), russischer Revolutionär und Anarchist.

Brief an Moritz Hartmann, zitiert nach: Werther Herr. Turgenevs deutscher Briefwechsel, hrsg. von Peter Urban, Friedenauer Presse Berlin, 2005, S. 14 f.

 

 

 

»Was ist, Pjotr, noch nichts zu sehen?«, fragte am 20. Mai 1859 ein Herr von etwas über vierzig, der in einem staubigen Mantel, karierten Hosen und ohne Mütze auf die niedrige Vortreppe eines Ausspannhofs an der *** Chaussee trat, seinen Diener, einen jungen Mann mit runden Wangen, weißlichem Flaum am Kinn und trüben Äuglein.

Der Diener, an dem alles einen Mann der neuesten, vollkommeneren Generation verriet – der Türkisring im Ohr, das pomadisierte scheckige Haar, das höfliche Gebaren –, blickte gelassen die Straße entlang und antwortete: »Nein, Herr, nichts zu sehen.«

»Nichts zu sehen?«, wiederholte der Herr.

»Nichts zu sehen.«

Der Herr seufzte und setzte sich auf eine Bank. Machen wir den Leser mit ihm bekannt, solange er dort sitzt, die Beine übereinandergeschlagen, und sich nachdenklich umschaut.

 

Er heißt Nikolai Petrowitsch Kirsanow. Fünfzehn Werst[2] vom Ausspann entfernt besitzt er ein schönes Gut mit zweihundert Seelen, oder – wie er sagt, seit er Land an seine Bauern abgegeben hat[3] und eine »Farm« betreibt – mit zweitausend