Siemens, Carl von Der Tempel der magischen Tiere

PIPER

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Abdruck des Zitats von Claude Lévi-Strauss aus »Traurige Tropen«, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1978.

Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag, Berlin.

 

Über einige Passagen der Australien-Reise hat der Autor bereits in Lettre International, Nr. 97 geschrieben.

 

Meinen Eltern

 

ISBN 978-3-492-99041-7

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Redaktion: Matthias Teiting, Leipzig

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Covermotiv: istock

Litho: Lorenz & Zeller, Inning a.A.

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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»Il resta là tout en larmes; priant et gémissant. Et cependant,

il n’entendit aucun bruit mystérieux, pas davantage

ne fut-il endormi pour être transporté

dans son sommeil au temple des animaux magiques.

Il ne pouvait pas subsister pour lui le moindre doute:

aucun pouvoir, de personne, ne lui était échu …«

Claude Lévi-Strauss

 

»Dort blieb er stehen, in Tränen aufgelöst; er betete und stöhnte.

Und dennoch hörte er keine geheimnisvollen Geräusche,

und keiner schläferte ihn ein, um ihn im Schlaf

zum Tempel der magischen Tiere zu tragen.

Es konnte für ihn nicht den geringsten Zweifel geben:

keine Macht war ihm zugefallen, von niemand …«

Claude Lévi-Strauss

Erster Teil

in dem der Autor vom Ursprünglichen erfährt und zu den Aborigines nach Australien aufbricht

We live in a single constricted space

resonant with tribal drums.

Marshall McLuhan

1

Auf einem Festival in Ungarn begegnete ich einem Anthropologen, der Techno-Hippies mit der Akribie eines Schmetterlingssammlers verfolgte. Sein Name war Graham St. John, er hatte sich das Feiern sozusagen zum Beruf gemacht, und jeder beneidete ihn um seinen Job.

Das Festival hieß O.Z.O.R.A. und dauerte eine geschlagene Woche. Ich hatte mich einer Gruppe angeschlossen, die sich einmal im Jahr zusammentat, um in den Büschen über die Stränge zu schlagen. Seitdem wir unter einem Schild mit der Aufschrift »Welcome to Paradise« das Gelände betreten hatten, liefen die Dinge schrecklich schief.

Sechsunddreißig Stunden später war das Camp noch immer nicht aufgebaut worden, der erste Kreislaufkollaps schien nur eine Frage der Zeit, und ein Schreihals hatte mich die ganze Nacht lang durch ein Megafon angebrüllt. Bei Sonnenaufgang stand ein Unternehmensberater in Lederhosen zwischen davondriftenden Plastiktüten und spielte ein Lied auf einem Akkordeon, während ihm die Tränen unter den geweiteten Pupillen über die Wangen strömten.

Ich packte meine Siebensachen und ging stiften.

 

Zwischen Obststand und Bar stach ein Hohlweg durch einen bewaldeten Hügel. Jenseits des Hügels gab es weitere Wälder und Wiesen und bemalte Kleinbusse und noch mehr Zelte, doch keine Musik wummerte herüber, und das Grün der Pflanzen war rein und frisch.

Es begann zu regnen. Am nächsten Morgen zogen Wolken über die Zeltstadt. Vor den Fressbuden und Kleiderständen des Hippiemarkts flappten Plastikplanen im Wind. Dahinter stand der Main Floor unter Wasser. Ein Traktor kippte Strohballen auf die Erde, die wie ein Dunghaufen stank.

Mit Blaulicht schaukelte ein Krankenwagen heran.

Einige Versprengte kurvten um die Müllsäcke auf der Tanzfläche. Sie hatten ihre Dreadlocks zu fantastischen Aufbauten gesteckt, und die Trugbilder der Nacht hatten sich wie Holzschnitte in ihre Gesichter eingegraben.

Ich breitete meine tibetische Wolldecke aus und wärmte mich an einem Becher Tee. Seit Jahren hatte ich jede Gelegenheit genutzt, um unter Sonne und Mond bis zur Erschöpfung zu tanzen; nun fragte ich mich, was ich in dieser Welt verloren hatte. Ich beneidete die Vagabunden, die von Festival zu Festival zogen wie früher die Fans der Grateful Dead. Sie hatten sich von der Zivilisation verabschiedet, für einen Sommer oder auf länger; ich selbst hatte niemals meine Leinen gekappt. An Nachmittagen wurde die Haut der Mädchen golden, und ihre pastellfarbigen Lumpen leuchteten in einem besonderen Licht. Sie waren wild und schön wie ein Nomadenstamm, der sich in den heulenden Böen der Steppe verlor. Doch sie waren naiv, und ihre Sprachlosigkeit machte mich hilflos.

Seit drei Tagen hatte ich keine zusammenhängende Unterhaltung geführt.

Ich sehnte mich nach einem Gespräch.

Einen Wimpernschlag später setzte sich ein blonder Mann in einem grünen T-Shirt an meine Seite. Er frühstückte mit einer Dose Bier und kam aus Australien.

 

Ich setzte zu einem längeren Vortrag über einen Holzschnitt von Hans Baldung Grien an, auf dem vier nackte Frauen unter einem Baum in ihrem Kessel rührten, aus dem eine Dampfwolke unmissverständlich in den Himmel zischte.

Der Holzschnitt war in einem Buch aufgetaucht, das mir vor Jahren zwischen die Finger geraten war, »Traumzeit« des Ethnologen Hans Peter Duerr. Im Mittelalter, schrieb er, hätten die Hexen am Dorfrand gelebt, wo nur eine Hecke oder ein Zaun noch Zivilisation von Wildnis getrennt habe. Wildnis sei das, was unter den Regeln der Ordnung nicht erfahrbar sei. Man müsse Wildnis erlebt haben, denn nur, wer mit den Wölfen geheult habe, werde lernen, woher er komme. Nachtfahrende Weiber seien die Mittler zwischen den Welten gewesen; dabei hätten sie mit einer Salbe nachgeholfen, die aus Fliegenpilz und Stechapfel bestanden habe.

»Die Paste muss so stark gewesen sein, dass selbst eine Wildsau davongeflogen wäre …«

Der Australier nippte an seiner Dose. »Ganz wie wir.«

Hand in Hand patschten zwei Mädchen in zerlöcherten Tanktops vorbei. Sie hatten ihre Gesichter bemalt, trugen Federn im Haar, schwere Nasenringe aus Gujarat und selbst gebastelten Körperschmuck aus Leder und Hanf. »With the help of two concepts, which are traditionally opposed, science and spirituality«, bellte es aus den Lautsprechern herüber, »we humbly reintroduce: psychedelics!«

»Wir betreiben einen Riesenaufwand, um uns als Indianer und Steinzeitmenschen zu verkleiden«, grollte ich, während es wieder zu nieseln begann. »Was für ein Schwindel! Und wozu überhaupt? Warum?«

Ich hatte wirklich einen sehr schlechten Tag erwischt.

»Du musst Graham kennenlernen.«

»Wer ist Graham?«

»Ein Landsmann von mir. Er schreibt über solche Sachen«, sagte der Australier, zerquetschte seine Bierdose und verschwand in der Menge.

 

Es dauerte vier Tage, bis ich Graham fand. Das Festival war gelaufen, die Musik am Main Floor verstummt, und ein Bienenschwarm gebräunter Körper drängelte sich um die Essenstände beim Chill-out-Zelt. Neben dem Australier wiegte sich ein untersetzter Mann in Weihrauchschwaden hin und her, der sich am Ende seiner Feldforschungen mit einem tropfenden Stück Pizza belohnte. Er trug olivgrüne Shorts mit Seitentaschen, Trekkingsandalen und hatte sich ein violettes Tuch zum Schutz vor der Sonne um den Kopf gewickelt.

»Du musst Graham sein.«

»Das bin ich in der Tat«, sagte er langsam und sah mich über den Rand seiner Lesebrille hinweg an, als wäre ich das letzte Hindernis, das zwischen ihm und dem Schlafsack stand.

Ich war voller Fragen. Er seufzte auf; dann setzten wir uns auf einen Strohballen und begannen zu reden.

Er erzählte von England am Ende der Achtzigerjahre, als sich Kleinkollektive um Soundsysteme gebildet hatten, die auf Lastwagen über die ländlichen Idyllen hereingebrochen waren. Er erzählte von Netzwerken kostenloser Partys, deren »temporäre autonome Zonen« die Freiheit von Leben und Kunst zelebrierten. Alle teilten ein dystopisches Verständnis der Gegenwart, nach jedermanns Ansicht kontrolliert, kommerzialisiert, militarisiert und ruiniert durch Kapitalismus, Industrie, das System und die Regierung Margaret Thatchers.

Das einflussreichste Musikkollektiv nannte sich »Spiral Tribe«; ähnlich wie Le Corbusier betrachtete es das Schneckenhaus als Sinnbild für die fraktale Geometrie des Universums. Seine kahl geschorenen Mitglieder ließen Zuckerwürfel mit kalifornischem LSD in ihren Mündern zergehen und starrten auf das Gewinde eines versteinerten Ammoniten, bis es vor ihren Augen zu rotieren begann. Wie in einer Zeitmaschine sogen sie seine konzentrischen Kreise zurück zu Sommern, in denen das Land noch nicht von der Krone beschlagnahmt worden war, zu mittelalterlichen Jahrmärkten und fahrendem Volk; zurück und zurück, zu Druiden, Kreidezeichnungen auf den Flanken weicher Hügel und den Tempeln von Stonehenge, wo sich eine ganze Zivilisation an Sonne und Mond ausgerichtet hatte. Im Zentrum der Spirale, vor ihrer Nasenspitze und gleichzeitig unendlich weit entfernt, stand das Natürliche, das Unverfälschte und das Ursprüngliche, der Garten Eden und in ihm die besondere Wahrnehmung der lebendigen Welt.

Von dem Natürlichen, dem Unverfälschten und dem Ursprünglichen war auf der O.Z.O.R.A. nur eine Simulation geblieben. Es erstaunte mich, dass ausgerechnet durch Chemie und elektronische Musik zum Angriff auf die Moderne geblasen werden sollte. Doch ich wurde belehrt, dass es sich dabei nur um Methoden handele, mit deren Hilfe von einer Realität in eine andere gewechselt werde. Wie sibirische Schamanen oder die Zaunhexen des Mittelalters verstanden sich auch die Discjockeys als Reiseführer zu einer Erfahrung an besonderen Orten in der Natur; eine Erfahrung, die aus Licht, Schmuck und trommelnden Rhythmen bestand. Dieses Versprechen reichte aus, um Leute aus der ganzen Welt für eine Woche nach Ungarn zu locken. Dabei produzierten sie mehr Abfall und CO2, als wenn sie daheim in Melbourne oder Tokio geblieben wären.

»Habt ihr solche Festivals nicht auch in Australien?«, wollte ich wissen.

»Es gibt eins im Januar: Rainbow Serpent.«

»Rainbow Serpent?«

»Die Regenbogenschlange. Eine Gestalt aus der Mythologie unserer Ureinwohner.«

Ich war elektrisiert. »Werden da Aborigines sein?«

»Vielleicht«, sagte er müde. »Ich würde es als einen Ort bezeichnen, an dem das Alte und das Neue einander überlappen.«

 

Lange nach Mitternacht machte ich mich auf den Rückweg zu meinem Zelt. Der Lichtkegel meiner Taschenlampe leitete mich in den Hohlweg, wo ein Künstler die Gesichter irgendwelcher Mayagötter aus der Flanke des Hügels geschabt hatte. Ich war glücklich wie ein Erdferkel, und unter der Wolldecke war mir angenehm warm. Um mich herum schlief ein Paralleluniversum seinen Rausch aus. Kein Geräusch war zu hören außer dem Tapsen meiner Füße auf dem glatten Lehm und dem Nachklang der Musik in meinen Ohren.

Dann gab meine Lampe ihren Geist auf. In der einsetzenden Nachtsicht gewann der Wald an Tiefe und füllte sich, wie eine aufatmende Lunge, mit dem Gesang unzähliger Grillen und Insekten. Vor mir, auf dem Kamm des Hügels, rahmten schwarze Zweige den Himmel ein, und über meinem Kopf begannen Millionen von Sterne zu leuchten.

So musste sich der erste Mensch auf diesem Planeten gefühlt haben, als er allein die Wälder der Vorzeit durchstreifte. Von den Aborigines wusste ich wenig, doch ich hatte gehört, dass ihre Kultur die älteste überlebende Kultur außerhalb Afrikas sei. Vielleicht würde sich die Möglichkeit ergeben, ihr im Busch zu begegnen. Ich würde erfahren, was an dem Natürlichen, dem Unverfälschten und dem Ursprünglichen das wirklich Besondere war. Das Rainbow Serpent Festival könnte der Spalt in der Tür sein, durch den ich schlüpfen würde, um die Welt mit anderen Augen zu sehen.

2

Sechs Monate später lichtete sich der Regen über den Southern Highlands vor Sydney. Ein kobaltblauer Rolls Royce Silver Cloud III glitt durch die Himalajazedern einer Auffahrt im Golden Vale, und eine alte Dame saß an seinem Steuer.

Astrid Baum war vor dem Krieg als Kind einer Diplomatentochter und des Vertreters der IG Farben in Teheran geboren worden. Zwei Neuseeländer betrieben damals einen Busdienst von Bagdad nach Damaskus. Der Wagen hatte einen großen Tank, Ballonreifen, um es durch die Wüste zu schaffen, und fuhr wegen der Hitze nur in der Nacht. Da es keine Straße gab, orientierte sich der Fahrer an den Sternen. Astrids Familie folgte im Auto dahinter.

Als ihr Vater hinter vorgehaltener Hand erfuhr, dass die Alliierten sich anschickten, das neutrale Persien zu besetzen, setzte er Frau und Kinder in den Zug und schickte sie über den Balkan nach Bayern. Dann versteckte er seine Teppiche, kehrte zu seinen Pflichten zurück, ergab sich den Engländern, als diese kamen, und wurde in Australien interniert.

Am anderen Ende der Welt, erzählte er später, habe es hinter dem Stacheldraht immer genügend zu essen gegeben. Die Wachen hätten die Insassen gut behandelt, da für sie selbst ein Leben in Gefangenschaft nicht vorstellbar gewesen sei.

Astrid trug eine Streifenbluse mit einer dicken Kette über dem Kragen und Hosen, die sie über den Bauchnabel hochgezogen hatte. An diesem Tag feierte sie ihren zweiundsiebzigsten Geburtstag und befand sich auf dem Weg zu einem Picknick im Busch.

 

Als der Krieg vorbei war, wanderte ihre Mutter mit den Kindern zum Vater nach Australien aus.

Astrid behielt den Pass, als die Familie, wenig später, nach Teheran zurückkehrte. Der Emu und das Känguru auf dem Einband erinnerten sie noch heute an die Jahre, als die Familie in Sydney vereint gewesen war.

Aus Persien schickten ihre Eltern sie nach Deutschland auf ein Internat, Schloss Salem. Die Ferien verbrachte sie bei ihren Eltern im Orient. Sie tanzte den Charleston im Golestanpalast, sah Frauen im Schutz von Gartenmauern ihre Schleier ablegen und ritt ein Pferd durch die Wüste.

Der Traum von Australien blieb ihr erhalten.

Danach ließ sie sich zur Fremdsprachensekretärin ausbilden. In Genf lernte sie meine Mutter kennen, die auf der Dolmetscherschule war. Sie besuchten den Autosalon und wiesen auf Sportwagen; obwohl sie kaum Geld in den Taschen hatten, wurden sie von den Verkäufern hofiert, da sie Pelzmäntel trugen, die ihnen ihre Mütter geschenkt hatten.

Auf der Winterolympiade in Garmisch-Partenkirchen traf ihre Tante die australische Flugpionierin Nancy Bird. In ihrem zweisitzigen Doppeldecker, einer de Havilland Gipsy Moth, hatte sie in den Dreißigerjahren einen Notfalldienst für Kinder im Outback eingerichtet.

Die Farmen waren so abgelegen, dass sie von den Flying Doctors nicht versorgt wurden.

»Meine Nichte ist zurück nach Sydney gezogen«, gestand Astrids Tante, während einige Biathleten knirschend über die Loipe schossen.

»Oh, das ist ganz wunderbar. Mögen Sie mir ihre Telefonnummer geben?«

Mit der Großherzigkeit der Neuen Welt wurde Astrid Baum in die feine Gesellschaft Sydneys eingeführt. Am 15. Dezember 1973 brachte sie ein Sportflugzeug zu einer Hochzeit in die Southern Highlands. Das Gras stand kniehoch im Golden Vale, und ihr braunes Kleid mit den orangenen Blumen wehte im Wind, als sie mit dem Piloten aus der Maschine stieg.

 

Jonathan Bradley stammte aus einer Familie von Textilfabrikanten, die aus dem englischen Yorkshire nach Australien gezogen war, das Land der Merinoschafe. Während Nancy Bird ihre ersten Flugstunden nahm, kauften die Bradleys Farmen und gründeten eine Firma, die alle sehr reich machte.

Jonathan war in Eton und Oxford erzogen worden, am Trinity College, genauso wie eine Generation später auch ich. Nach dem Krieg hatte er die Wolken über einer Anwaltskanzlei in London gegen die Sonne und die Freiheit des Farmers getauscht. Seine Wangen waren glatt wie poliertes Holz, und die Augenbrauen erinnerten an die Porzellanfiguren der Commedia dellArte. Er war Mitglied des Parlaments, ritt, spielte Kricket, fuhr Ski, hatte sich von seiner Frau getrennt und lud Astrid am nächsten Mittwoch zum Abendessen ein.

Vor ihrer Hochzeit kaufte er ein neues Flugzeug, eine Beechcraft Duke, die er vom Hersteller in Kansas nach Australien überführte. Irgendwo über Grönland lernte er von dem Piloten, die komplizierte Maschine zu bedienen.

In Zürich stieg der Pilot aus und Astrid zu. Für die einhundert Flugstunden nach Sydney nahm sich das Paar drei Wochen lang Zeit.

Über Anatolien sahen sie den Berg Ararat, dessen Gipfel über die Wolken ragte. Sie landeten in Teheran, besuchten die Orte ihrer Kindheit und machten Spaziergänge in Isfahan.

Eine Weile lang folgte ihr Flugzeug dem Verlauf der alten Opium-Seidenstraße nach Osten. Jenseits von Karatschi, im Anflug auf Delhi, wurde der Himmel grau. Wie jedes Jahr hatte sich das tibetische Hochplateau erhitzt und saugte den Dampf der Meere in den asiatischen Kontinent. Wolken stiegen über dem indischen Subkontinent auf. Es war der Monsun, und er brachte Gewitter und Sturm.

Unversehrt landeten sie in Burma und sahen das Gold auf den Dächern der Pagoden von Rangun. Der Treibstoffmangel nach der Ölkrise verschlug sie bis nach Borneo. Auf der Rollbahn von Kuching kauften sie Benzin von dem Mitarbeiter einer Helikopterfirma; er hatte sich als ein alter Bekannter erwiesen, der Jonathans Flugzeug gewartet hatte.

Die zweimotorige Maschine hatte sechs Sitze und eine Druckkabine. Jonathan war ein waghalsiger Pilot, doch Astrid hatte sich niemals so sicher gefühlt wie nun an seiner Seite. Wenn es ernst wurde, fluchte er zwischen den Zähnen, während sie die Worte der Fluglotsen dechiffrierte, die aus der Funksprechanlage durch das Cockpit knackten.

Sie hatten einen Picknickkorb, den sie bei jeder Zwischenlandung auffüllten, und waren sehr verliebt.

 

Das Paar bezog ein historisches Anwesen im Golden Vale mit Land für Herefordrinder und einige Schafe. Das Grundstück hatte einem ehemaligen Pferdedieb gehört, der während des Wiener Kongresses außer Sichtweite nach Australien verschifft worden war und nach seiner Entlassung prosperierte.

Ein wohlhabender Bürger kaufte das Grundstück und baute 1867 das Haus; wie die Bradleys waren seine Vorfahren als freie Siedler gekommen, allerdings ein Jahrhundert früher. Die Fassade war aus demselben Sandstein wie die Klippen über Sydney, unter denen sich der Pazifik in einem weißen Band brach.

Nach meiner Landung hatte ich einen Tag lang auf die Wellen gestarrt und versucht, mit der Zeitverschiebung klarzukommen. Danach hatte es wie aus Kübeln geschüttet.

Astrid holte mich in einem Buchladen in der Nachbarschaft ab. Die Scheune war bis unter das Dach mit Büchern über das »Australian and New Zealand Army Corps« gefüllt, ANZAC, das bei Gallipoli gekämpft hatte.

Eric Hobsbawms »Banditen« lag neben der Kasse.

Ihr Haus umgab eine breite Veranda; ebenso wie das Dach war sie mit Wellblech gedeckt. Petrolblaue Fensterläden reichten bis zum Boden. In den Salons lagen Perserteppiche, Jonathans Aquarelle des Okawangodeltas hingen an den Wänden, es gab die Memorabilia unzähliger Reisen, signierte Fotos der Flugpionierinnen Nancy Bird und Elly Beinhorn und Spitzendeckchen auf den Wasserkrügen zum Schutz vor Kakerlaken.

In der Bullenhitze schlichen zwei Riesenschnauzer durch den Garten und ignorierten die Schreie der Pfaue, die gelangweilt ihre Räder schlugen. Papageien mit scharlachroter Brust fraßen von den Rosen.

Dahinter stand Jonathans Asche in einer Urne über dem Pool.

 

»A gentleman explorer of another age, riding through these less mannerly, less attractive times«, lautete der Epitaph auf einer der Bronzeplaketten, mit denen Jonathan Bradleys Gedenkstele behängt war wie die Brust eines Generals. »He was a quite outstanding and most attractive cricketer at the very top level«, war auf einer anderen Plakette zu lesen, oder: »Erected in memory of Jonathan Bradley 1925 to 2005 and his horse Hannibal 1979 to 2001 who both loved this spot.«

Die Stele stand auf einem Feld mit gemähtem Roggen, Süßgras und Klee. Von den Bäumen aus Übersee, die Astrid gepflanzt hatte, um sich an die europäischen Jahreszeiten zu erinnern, hatten nur die Birken überlebt. Die Ahorne waren eingegangen. Die Eichen auch, als Wombats ihre Wurzeln fraßen.

Die einheimischen Eukalyptusarten benötigten kein Wasser. Sie waren immergrün und verloren Blätter und Rinde in einem steten Schauer, der wie der Inhalt einer Sanduhr auf den Boden rieselte.

In dem silbergrauen, zu dieser Stunde leicht gespenstischen Licht, das die Blätter reflektierten, wurden Tische aneinandergestellt und mit deutschen Schnittchen, Häppchen und Aufschnitt gedeckt.

3

In der sinkenden Sonne war es noch immer sehr heiß. Ein stämmiger Professor in Bootsschuhen, der Wolltechnologie unterrichtet hatte, lud Tablett um Tablett aus dem Wagen. Sein anthrazitfarbiges Hemd war schwarz unter den Achseln.

Die Gäste küssten einander auf die Wangen, während Buschfliegen in Schwärmen von ihren Rücken aufstiegen.

Da war seine Frau, eine Künstlerin, die patriotische Aufträge erhielt. Sie erzählte vom 19. Jahrhundert, in dem die Kinder europäischer Einwanderer sich einiges darauf einbildeten, nicht mehr das Pfund Sterling in den Taschen zu haben, sondern Papiergeld, das vor Ort gedruckt worden war.

In der ehemaligen Strafkolonie schien Emanzipation eine komplexe Sache zu sein.

Da waren der ehemalige Investmentbanker und seine Frau; sie hatten zweitausendvierhundert tasmanische Eichen gepflanzt und ihre Wurzeln mit Trüffelsporen geimpft.

»Die Erde hier ist so fett«, riefen sie, »dass man sogar Babys darin wachsen lassen könnte!«

Da war das Paar mit den roten Wangen, das einen Reitstall besaß. Es sei der Traum jedes Siedlers gewesen, klagten sie, vom Land zu leben; nun werde es überall an die Chinesen verkauft. Der Doppelname der Frau neben ihnen hätte perfekt an den Londoner Sloane Square gepasst. Und da war der junge Mann, von dem die Schnauzer sich nicht streicheln ließen und auf den die Fliegen sich nicht setzten. Er spielte in einem Orchester für Barockmusik.

»Ein großes Talent«, flüsterte mir die Frau des Professors über den Rand ihrer Lesebrille zu. »Astrid hat ihm sein Cello finanziert. Seine Mutter war Köchin auf einer Farm. Den Vater hat er nicht gekannt.«

Ich versuchte, ein Gespräch über das Ursprüngliche vom Zaun zu brechen. Der Cellist sah mich feindselig an, als ob ich ihn für einen Dörfler, einen zurückgebliebenen Hinterwäldler hielte. »Ich liebe Europa!«, zischte er. »Vor allem Venedig. Und Florenz vor der Degeneration der Medici.«

Er schüttelte einen großen Kopf auf schmalen Schultern. Dann wurde er bleich. »Ich hasse Wien.«

 

Die Farben wurden golden, die Schatten länger. Die Fliegen attackierten Augen, Ohren und Nasen. Der Ruf der Frösche erinnerte an ein Maschinengewehr. Das Jazzorchester der Grillen fiel ein. In den Bäumen lachte ein Eisvogel.

Der Professor beschrieb sein Land als eine geologische Arche Noah, die sich vor ich weiß nicht wie vielen Millionen Jahren vom Superkontinent Gondwana gelöst hätte. Die Schnittstellen der Kontinentalplatten hätten den pazifischen Feuerring aufgeworfen, ein Band aus Vulkanen irgendwo zwischen Australien und Südamerika. Hier jedoch sei man von weiteren tektonischen Aktivitäten verschont geblieben.

Eigentlich habe sich seit damals nicht viel getan. Die Gebirge im Landesinneren hätten ihre Masse lediglich an die Erosion verloren; übrig geblieben seien abgeschliffene Felsen wie Ayers Rock, der Berg Uluru, der den Aborigines heilig sei. Überhaupt, der Kontinent sei flach wie ein Teller, öde, eben, brach, weshalb der Regen nicht ablaufe, sondern zu Überschwemmungen führe. Wenn die Überschwemmungen kamen, verließen Termiten ihren Bau und Skorpione den Boden, um sich, kirre vor Angst, auf Wanderschaft zu begeben.

»In diesen Tagen sehen wir Wasserfälle an Ayers Rock«, sagte seine Frau.

»Und gleichzeitig ist die Straße nach Melbourne wegen Buschfeuern gesperrt.«

Das Land war so groß, dass mich schon der Anblick des tausendseitigen Reiseführers deprimierte.

Der Professor, der mich offensichtlich ins Herz geschlossen hatte, überschüttete mich mit einem Schwall von Todesszenarien.

Australien war das Land mit den meisten Gifttieren der Welt. Eigentlich sollten Menschen sich hier gar nicht aufhalten. Das Innere des Landes war so karg, dass man wegen einer Reifenpanne verdursten konnte.

Kängurus hoben sich auf ihrem Schwanz in die Luft, um die Läufe zum Kickboxen frei zu haben; die Hinterbeine waren kräftig genug, um die Windschutzscheibe eines Autos zu durchschlagen.

Krokodile fraßen Menschen beim Baden auf.

In einem tragischen Prozess war eine Frau des Mordes an ihrem Baby beschuldigt worden, das in Wahrheit ein Dingo genommen hatte, unweit von Ayers Rock, einer jener Hunde, die von den Aborigines zusammen mit der Brandrodung nach Australien gebracht worden waren.

Ivan Milat, der Rucksackmörder, hatte sieben junge Menschen in sein Nest gelockt, mit allen erdenklichen Waffen getötet und anschließend die Leichen im Wald verscharrt. Seine Opfer waren ahnungslose Touristen gewesen. Anscheinend hatte er sie wegen ihres Gepäcks ausgesucht.

Leider stimmte die Geschichte.

Und dann waren da noch die Plumpskoalas.

»Was, bitte schön«, fragte ich, »sind Plumpskoalas?«

»Koalabären, die sich aus Eukalyptusbäumen auf Menschen fallen lassen, um ihnen mit ihren Klauen die Kehle durchzuschneiden.«

Er sah mich mit der Miene eines Fernsehmoderators an, der jemandem einen Streich mit der versteckten Kamera spielte.

»Vor allem auf Deutsche.«

 

Ich erzählte von dem australischen Anthropologen, der mich auf ein Festival eingeladen hatte.

»Wo findet das Festival statt?«, wollte man wissen.

»Auf dem Land, nördlich von Melbourne.«

»Ist es ein Literaturfestival? Oder ein Jahrmarkt?«

»Ähem … es geht um elektronische Musik.«

»Oh.«

»Man fährt auf eine Wiese und zeltet.«

Die Techno-Hippies unterschlug ich.

Astrid lächelte fein. »Du gehst auf das, was wir eine ›Buschparty‹ nennen.«

Ich sagte, ich sei nach Australien gekommen, um mehr über die Ureinwohner zu erfahren. Das Festival sei nach der Regenbogenschlange benannt; ich hoffte, ihnen dort zu begegnen.

»In Afrika hatten wir die San, die Buschmänner. Sie verständigen sich mit Klicklauten.«

Außerhalb Afrikas, sagte ich, sei die Kultur der Aborigines die älteste überlebende Kultur auf der Welt. Das Natürliche, das Unverfälschte und das Ursprüngliche übe doch immer eine eigentümliche Anziehungskraft auf uns aus; ich wolle erfahren, wie es sich in der Begegnung anfühle.

»Dann musst du nach Norden fahren, in den Kakadu-Nationalpark«, sagte Astrid. »Dort gibt es noch Aborigines, die traditionell leben. Der Sohn einer Freundin macht dort gerade eine Ausbildung zum Ranger –«

»Nach dem Festival möchte ich ins Zentrum des Landes, nach Alice Springs.«

»Alice ist eine gewalttätige Stadt«, sagte die Frau des Professors. »Kürzlich habe ich in der Zeitung gelesen, dass betrunkene Australier in einem Garten Striptease gemacht haben. Sie wurden von Aborigines mit Känguruschwänzen durch die Gegend gepeitscht.«

»Gibt es hier Aborigines?«, wollte ich wissen.

»Angeblich«, sagte Astrid, »befindet sich da oben, hinter dem Hügel, ein Massengrab. Es hat ein Massaker gegeben.«

»Was genau ist geschehen?«

»Darüber sprechen die Leute nicht.«

 

Die Geschichte der Aborigines nach Landung der Briten begann mit einer Mischung aus gescheiterten Kontaktversuchen, Unverständnis, eingeschleppten Krankheiten, Patronatsversuchen und schneller gegenseitiger Verachtung.

Während die kriminelle Klasse Großbritanniens Bekanntschaft mit der neunschwänzigen Katze, Einzelhaft, Zwangsarbeit und anderen Methoden der staatlich verordneten Besserung machte, standen die nackten Schwarzen offiziell unter dem Schutz der Krone. Zudem musste jeder Ausbrecher damit rechnen, von den Speeren der Ureinwohner aufgespießt zu werden, sobald er ihre Schweifgebiete betrat.

Die ersten Siedler in Sydney fühlten sich kaum besser als die Gefangenen. Sie starrten auf einen sechsundzwanzig Pfund schweren Kohlkopf, welche die Erde am anderen Ende der Welt hervorbrachte, sonst aber vor allem auf Missernten und schwindende Rationen. Die Aborigines, die Übung darin hatten, sich von dem schönen, aber rätselhaft spröden Land zu ernähren, litten keine Not.

Mit der Einführung von Vieh wendete sich das Blatt. In der seltsamen Symbiose von Mensch und Tier schwappten Welle um Welle versklavter Rinder, Schafe und Schweine mit den Siedlern in das Landesinnere hinein. Importierte Kamele folgten. Die freigelassenen Sträflinge, Schäfer und Robbenfänger setzten alles daran, einander zu beweisen, dass sie nicht mehr das letzte Glied in der Nahrungskette waren.

An der unkontrollierbaren Grenze, im Wilden Westen Australiens, hieß es bald, man könne einen Aborigine erschießen wie einen Hund. In Tasmanien wurden die Ureinwohner bis auf den letzten Mann ausgerottet. Auf dem Festland verhinderten nur die Wüsten des Outback einen Völkermord von ähnlicher Dimension.

Für die Weißen war das Outback das »tote Herz« des Kontinents.

Erst 1984 kontaktierte die letzte Gruppe der Aborigines die westliche Zivilisation. Sie gehörten zum Stamm der Pintupi. Er war durch Raketentests aus seinem angestammten Territorium vertrieben worden.

»Natürlich, es ist ihr Land«, sagte der Professor zu mir, »aber …«

Das »Aber« des weißen Australiens kannte kein Ende.

 

Man habe den Aborigines ihr Land weggenommen, aber sie hätten einiges davon zurückbekommen.

Ihre Kultur sei famos, sie malten Bilder mit bunten Punkten, weigerten sich ansonsten aber, nach modernen Regeln zu spielen.

Es sei unmenschlich gewesen, bis in die Siebzigerjahre ihre Kinder den Eltern wegzunehmen, um sie an westlichen Schulen zu erziehen, aber auch alle anderen Angebote, sich in die Gesellschaft zu integrieren, hätten sie abgelehnt.

Der Staat habe Unsummen in Sozialprogramme investiert, aber noch immer gebe es keine schwarze Mittelklasse, praktisch keine Ärzte, Anwälte oder Geschäftsleute indigenen Ursprungs.

Man habe alles versucht, aber es habe nichts genutzt.

Das Leben der Aborigines bleibe gekennzeichnet von Alkohol, Drogenmissbrauch, Sozialhilfe, verwahrlosten Kindern, häuslicher Gewalt und einer fast unterirdischen Behandlung der Frau.

»Wenn du das Outback sehen möchtest«, sagte Astrid, »dann musst du nach Broken Hill.«

»Broken Hill?«

»Eine Bergbaustadt.«

»Eine Bergbaustadt?«

»Ein faszinierender Ort. Ich bin sicher, dass er dich interessieren wird.«

Der Cellist wurde nervös.

»Er wird für Astrid ein Geburtstagsständchen im Haus geben«, raunte die Frau des Professors in mein Ohr.

»Was wird er spielen?«

»Die erste Suite von Bach.«

4

In Broken Hill beschloss ich, meinen Rucksack durch ein unauffälligeres Gepäckstück zu ersetzen.

Ich hatte Gepäck nie gemocht.

Das Beste, was man über einen Rucksack sagen konnte, war, dass er einem das beruhigende Gefühl verlieh, wieder unterwegs zu sein.

Als Teenager hatte mich der Traum begleitet, einen Sommer lang durch die Wärme Südeuropas zu schweifen. Wie ein indischer Brahmane würde ich wenig mehr mit mir führen als ein härenes Beinkleid, ein Leibchen und einen Beutel mit einem Buch, einer Zahnbürste und einer Decke für die Nacht.

Später, als ich auf Festivals ging, packte ich meinen Beutel und zog los.

Diese Form der Freiheit war der Luxus meiner Zivilisation. Kabel lieferten Strom, DJs die Musik. In den Cafés brodelten vegane Woks, die öffentlichen Verkehrsmittel funktionierten, das Klima war mild, und im Notfall gab es immer einen Arzt an der nächsten Ecke.

In Australien musste ich umdenken.

Bereits in einer der ersten Nächte hatte mich irgendein Insekt, vielleicht eine Spinne, in die Armbeuge gebissen. Die beiden Einstiche waren zu nässenden Kratern angeschwollen. Die Entzündung klang erst ab, als man mir in einer Notaufnahme in den Blue Mountains ein Antibiotikum verschrieb.

»Outback Whips and Leather« klang wie ein Fetischklub, war jedoch ein weitläufiger Laden, der einen halben Kontinent mit Ausrüstung für die Knochenarbeit der Cowboys versorgte. Es gab Hüte, Sattel, Messertaschen, Feldflaschen, Bullenpeitschen, Stahlkappenschuhe und »Chaps« zum Schutz der Reithosen vor dem Unterholz.

Ich trug Flipflops, ein kaputtes Hemd und ein sehr sichtbares Pflaster auf dem Arm.

Der Verkäufer trug Hosenträger und nannte alle Männer »Sir«.

Anderthalb Stunden später schulterte ich meine neue Ripstop-Tasche, die wahrscheinlich auch eine Mondlandung überlebt hätte, und trat hinaus auf die Straße.

 

Die Temperatur war auf einundvierzig Grad gestiegen. Mit geöffnetem Schnabel und ausgebreiteten Flügeln hechelten Vögel auf der Straße im Luftzug der Klimaanlagen.

Während des Blei- und Silberrauschs hatten Desperados unter dieser Sonne Löcher in den Boden geschaufelt. Sie schliefen darin im Sitzen, eine Opiumpfeife im Mund. Einmal im Monat krabbelten sie heraus und rannten Kilometer um Kilometer zum nächsten Saloon, um eine Lady reden zu hören.

Die Lady hatte sich mit Tollkirschen angehübscht, da aufgequollene Lippen und Augen als Zeichen von Schönheit galten.

Heute schlossen die wenigen Restaurants schon um acht Uhr. Im Waschsalon erzählten die Leute von drei Sandstürmen im vergangenen Jahr.

Wie aus einem Ofenrohr fuhr die Hitze durch das Gitternetz der Straßen, die nach Mineralien, Metallen und chemischen Elementen benannt worden waren. Tiefergelegte Autos bretterten über die Kreuzung von Sulphide und Argent Street und setzten auf den Bodenwellen auf.

Das einzige Restaurant, das zu einer zivilisierten Zeit noch geöffnet hatte, stand am Stadtrand auf einem Hügel aus Schotter.

Die untergehende Sonne senkte sich über das Panoramafenster, schwefelgelb wie in einem Science-Fiction-Film.

 

Draußen spien Geröllbrocken die gespeicherte Hitze wie Bunsenbrenner in die Luft. Im Inneren des klimatisierten Kubus war es eisig kalt. Zwei Tische weiter traf sich eine Gruppe runder Farmer und ebenso runder Farmerinnen am Vorabend einer Beerdigung. Ein Schulfreund war gestorben und wurde mit einem Halleluja unter die Erde gebracht.

 

Sie erzählten von einsam gelegenen Häusern mit schmiedeeisernen Balkonen, dem Pianoforte aus Kanada im Wohnzimmer, von Stehuhren, Puppen und verstaubten Sherrygläsern neben Großmutters Tellern im Regal.

Im Dezember, wenn südlich des Äquators der Sommer begann, schützten die Spitzengardinen nicht mehr vor der Sonne. Der Weihnachtsmann kam über die rote Wüste und schwitzte in seinem Kostüm, während ein Schwein mit einem Apfel im Mund zwei Tage im Ofen schmorte.

So weit das Auge reichte, gab es keine andere Farm, geschweige denn ein Dorf. Bis sie auf Internate geschickt werden konnten, wurden die Kinder über das Radio unterrichtet. Früher hatte der Arzt auch Krankheiten über das Funkgerät behandelt. Waren die Unfälle schwer, hatte es manchmal zu lange gedauert, bis eine kleine de Havilland Gipsy Moth am Himmel erschien.

Manche Gegenden waren so trocken, dass siebenjährige Kinder in ihrem Leben noch keinen Regen gesehen hatten und beim ersten Gewitter vor Schreck in Ohnmacht fielen.

Sie hatten sich daran gewöhnt, dass ihre Väter jedes Jahr den Ruhestand und die Europareise verschoben, da die Ernten schlecht waren und die Preise auf dem Weltmarkt im Keller. Von ihnen hatten sie gelernt, mit einem Brandeisen umzugehen. Sie hatten gelernt, dass Salz gegen Blutegel half und dass man zumindest die Kaninchen nicht schießen sollte, die sich mit der Staupe infiziert hatten.

Dem verseuchten Bau gab ein Bulldozer den Rest.

An den Abenden musizierten sie auf selbst gebauten Instrumenten, während Kängurus das Gras fraßen und Vögel über Nacht das Obst von den Bäumen.

Wenn die Papageien die Stromleitung durchbissen, was öfters geschah, saß die Familie im Dunkeln.

Es war ein Wunder, dass die Aborigines in einer solchen Umgebung hatten überleben können.

 

Sie waren in der Steinzeit über das Wasser von Neuguinea gekommen, als der Meeresspiegel tiefer stand als heute. Danach wurde es wärmer, das Eis schmolz an den Polen, und die Aborigines hatten ein Problem.

Abgeschnitten vom Rest der Welt, fanden sie sich auf einem Kontinent wieder, wo es wenig gab, was es ihnen ermöglicht hätte, sesshaft zu werden. Es gab nichts, worin sie sich hätten kleiden können, kein Leder, kein Leinen, keine Wolle, keine Seide. Es gab keine Kamele, keine Pferde, Esel, Ochsen, Lamas oder Yaks, die ihnen hätten helfen können, Zelte oder einen Hausstand zu tragen.

Sie verbrachten die nächsten fünfzigtausend Jahre damit, nackt im Busch herumzulaufen und nach Essen zu suchen.

Die Aborigines reisten leicht. Irgendwie brachten sie das Kunststück fertig, auf einem Land, das für weiße Australier später eine Todeszone darstellen würde, ohne materiellen Besitz zu bestehen.

Ihre matte Haut schluckte das Licht. Manchmal war sie mit Ocker bemalt. Außerhalb der Küsten mieden sie das Wasser und wuschen sich mit der Sonne und dem Sand.

Sie kannten wenig Gemachtes, mit dem sie die Natur hätten beherrschen können. Sie kannten keine Metalle, kein Rad, nicht einmal die Töpferei, obwohl genügend Ton in der Erde war. Was die Frauen sammelten, legten sie in eine Schale aus Rinde. Die Männer trugen Speere, die länger als ihre Körper waren, Holzwaffen und Federn auf ihren Festen.

Trotz dieser Reduktion stand ihre Kultur für mehr als nur das nackte Leben.

Wie Zugvögel hatten sie gelernt, sich im Lauf der Zeit auf bewährten Pfaden zu bewegen, von Wasserloch zu Wasserloch. Um sich an diese Pfade zu erinnern und die Erinnerung weitergeben zu können, bedienten sie sich keiner Schrift. Stattdessen beseelten sie Merkmale in der Landschaft mit Geschichten über die Wanderungen mythischer Vorfahren und machten Lieder daraus.

Die Pfade, die ihre Lieder beschrieben, wurden »Songlines« genannt.

Mit den Songlines überzogen sie einen Kontinent.

Die Lieder spiegelten das Land. Zusammen mit den Geschichten vermittelten sie Anleitungen zum Überleben, einen moralischen Kodex und eine Mythologie von verblüffender Komplexität. Das System erwies sich als so erfolgreich, dass die Aborigines keinen Grund sahen, es zu verändern.

Bei Ankunft des weißen Mannes war ihr poetischer Minimalismus eine der radikalsten Lebensformen der Welt.

 

»Wenn du das Ursprüngliche kennenlernen möchtest«, sagte eine Farmerin mit Rotweinflecken auf der Bluse, »dann musst du auf einer Schaffarm arbeiten.«

Ich schreckte aus meiner Tagträumerei auf. Tatsächlich hatte ich die Beerdigungsgesellschaft in Broken Hill ein wenig aus dem Fokus verloren.

»Auf meiner Schaffarm.«

»Erwarte keinen großen Komfort, aber die Erfahrung ist es wert«, sprang ihr der Ehemann zur Seite. »Wir haben immer wieder Touristen, die ein paar Tage oder Wochen bei uns bleiben.«

Ich steckte ihre E-Mail-Adresse ein, während Gläser und Stühle zu Boden gingen. Die Gäste des Restaurants verschmolzen zu einer dröhnenden Party. Die Farmerin entdeckte einen Bekannten, der mit einem Mann und einer brünetten jungen Frau die Köpfe zusammengesteckt hatte. An den Schläfen stand sein weißes Haar wie bei einem Kobold in die Luft.

Wir teilten uns ein Taxi zurück in die Stadt.

 

»Und du bist also am Backpacken.« Der Kobold sah durch die Windschutzscheibe auf die Straße. Der Taxifahrer fuhr zu schnell. Mit rotierendem Blaulicht stand ein Polizeiauto vor einem Pub an der Ampel.

»Ich bin auf dem Weg zu einem Festival.«

»Wie heißt es?«

»Rainbow Serpent.«

»Ich glaube, ich habe davon gehört«, sagte Stephanie, die Frau.

»Das ist eine Gestalt aus der Mythologie der Aborigines«, sagte der andere Mann. Er musste Mitte fünfzig sein und war fast kahl auf dem Kopf. Der runde Bart um den Mund erinnerte an einen Deutschlehrer, doch sein Körper war hart wie der eines Fallschirmjägers. Ich spürte, dass er mich vom Scheitel bis zur Sohle einer Prüfung unterzog.

»Ich hoffe, auch welche dort zu treffen«, sagte ich, hatte meinen Optimismus jedoch verloren. Von allen Optionen schien die Schaffarm die beste zu sein.

»Ist es ein Aborigines-Festival?«

»Nein. Elektronische Musik.«

»Vielleicht werden einige von ihnen vorbeischauen, um sich die Sache anzusehen«, sagte der kahle Mann mit dem Bart. »Aber sie gehen dann auch wieder. Sie haben ihre eigenen Lieder und Tänze.«

»Ich arbeite mit Aborigines«, sagte der Kobold und machte ein Gesicht, als ob ich den Sechser im Lotto gezogen hätte. Wie alle war auch er sternhagelvoll.

»Hier, in Broken Hill?«

»Nein, in Alice Springs.«

»Alice ist meine nächste Station.«

»Ruf mich an. Ich zeige dir eine Woche lang ihre Siedlungen.«

Es war ein langer, heißer Tag gewesen. Für Jägerlatein und falsche Versprechungen hatte ich keinen Platz.

Ich glaubte dem Kobold kein Wort.

5

»Wie hast du uns gefunden?«, fragte Stephanie im Türrahmen. Mit ihrer Eskimobluse und dem Delfin-Tattoo sah sie wie eine Folksängerin aus.

»Eine der Farmerinnen in Broken Hill hat mir ihre E-Mail-Adresse aufgedrückt. Sie wollte, dass ich bei ihr arbeite.«

»Hat sie?«

»Ich habe sie kontaktiert. Irgendwie hat sie Eds Telefonnummer herausgefunden. Und ich habe ihn angerufen.«

»Der Plan ist«, hatte Ed per E-Mail seine Einladung bestätigt, »dass eine kleine Gruppe aus dem Volk der Pitjantjatjara, meist weibliche Stammesälteste, Stephanie und mich in der nächsten Woche besuchen kommt. Sie stammen aus einer kleinen Gemeinde im äußersten Nordwesten von Südaustralien, leben nun aber aus den verschiedensten Gründen in Adelaide. Sie sprechen vor allem ihre eigene Sprache und etwas Englisch. Sie werden andere Aborigines aus der Region treffen und mit einigen Leuten sprechen, da sie später im Jahr eine größere Gruppe für einen Kulturaustausch zu uns bringen wollen. Alle werden bei uns wohnen, ein geräumiges Haus am Stadtrand von Mildura. Bring deinen Schlafsack mit. Wir kümmern uns um den Rest.«

Stephanie schien meinen Besuch nicht ansatzweise auf dem Schirm zu haben.

»Ich dachte, dass ihr in Alice Springs wohnt«, sagte ich. Das Ganze kam mir inzwischen recht fragwürdig vor.

»Ed arbeitet manchmal da.«

Meine Ripstop-Tasche stand bei der Tür neben einem Berg aus Trekkingschuhen. »Wo soll ich schlafen?«