Francois-René de Chateaubriand

ATALA

Aus dem Französischen von
Cornelia Hasting

DÖRLEMANN

Die Übersetzung folgt der Ausgabe:
Chateaubriand, Œuvres romanesques et voyages, Tome I, Texte établi, présenté et annoté par Maurice Regard, Éditions Gallimard, 1969.



eBook-Ausgabe 2018
Alle Rechte vorbehalten.
© 2018 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf
Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-03820-953-9
www.doerlemann.com

François-René de Chateaubriand

Vorwort

Ich war noch sehr jung, als ich auf den Gedanken kam, ein Epos des Naturmenschen zu schreiben oder das Leben der Eingeborenen darzustellen und dafür an bekannte Geschehnisse anzuknüpfen. Vor allem für Franzosen sah ich nach der Entdeckung Amerikas keinen interessanteren Stoff als das Massaker in der Siedlung der Natchez in Louisiana im Jahre 1727. Dass sich nach zwei Jahrhunderten der Unterdrückung alle Indianerstämme miteinander verschworen, um der Neuen Welt die Freiheit zurückzugeben, schien mir ein fast ebenso glückliches Thema für die Feder wie die Eroberung Mexikos. Ich brachte einige Einzelteile dieser Arbeit zu Papier; doch ich merkte bald, dass mir die echten Farben fehlten und dass ich, wenn ich ein der Wirklichkeit entsprechendes Bild schaffen wollte, nach dem Beispiel Homers die Völker aufsuchen musste, die ich beschreiben wollte.

Im Jahre 1789 teilte ich Monsieur de Malesherbes mit, dass ich die Absicht hatte, nach Amerika zu fahren. Da ich meiner Reise aber einen nützlichen Zweck geben wollte, beschloss ich, auf dem Landweg die Passage zu finden, nach der so sehr gesucht wird und die selbst Cook noch angezweifelt hat. Ich zog los, ich sah die amerikanische Wildnis und fuhr mit Plänen für eine weitere Reise heim, die neun Jahre dauern sollte. Ich nahm mir vor, den ganzen nordamerikanischen Kontinent zu durchqueren, dann im Norden Kaliforniens die Küste hinaufzufahren und unterhalb des Nordpols durch die Hudson-Bucht zurückzukommen. Sollte ich diese zweite Reise überleben, würde ich Entdeckungen machen können, die wichtig für die Wissenschaft und nützlich für mein Land wären. Monsieur de Malesherbes übernahm es, der Regierung meine Pläne zu unterbreiten; und damals hörte er die ersten Teile des kleinen Werkes, das ich heute der Öffentlichkeit vorlege. Man weiß, wie es Frankreich erging, bis die Vorsehung einen jener Männer auf den Plan treten ließ, die sie als Zeichen der Versöhnung schickt, wenn sie des Strafens müde ist. Blutüberströmt mit dem Blut meines einzigen Bruders, meiner Schwägerin und dem ihres berühmten greisen Vaters, und nach dem Erlebnis des Todes meiner Mutter und einer anderen hochtalentierten Schwester infolge der Behandlung, die sie in den Kerkern erfuhren, bin ich durch fremde Lande geirrt, wo sich der einzige mir verbliebene Freund in meinen Armen den Dolch in die Brust stieß.

Von all meinen Manuskripten über Amerika habe ich nur einige Fragmente gerettet, besonders Atala, die nur eine Episode der Natchez war. Atala wurde in der Wildnis in den Hütten der Eingeborenen geschrieben. Ich weiß nicht, ob das Publikum diese Geschichte schätzen wird, die alle bekannten Wege verlässt und eine Natur und Lebensformen darstellt, die Europa gänzlich fremd sind. In Atala gibt es keine Abenteuer. Es ist eine Art Poem, halb deskriptiv, halb dramatisch: Alles besteht in der Darstellung der beiden Liebenden, die durch die Wildnis laufen und miteinander sprechen; alles liegt in dem Bild des Aufruhrs der Liebe in der Stille der Einöde und der Stille der Religion. Ich habe dieser kleinen Arbeit die ältesten Formen verliehen; sie ist in Prolog, Bericht und Epilog eingeteilt. Die Hauptteile des Berichts tragen je eine Bezeichnung, wie »Die Jäger«, »Die Ackerbauern« etc.; denn so erzählten die Rhapsoden unter verschiedenen Überschriften die einzelnen Teile der Ilias und der Odyssee. Ich verhehle nicht, dass ich mich, mit Ausnahme der Beschreibungen, inhaltlich und stilistisch um äußerste Schlichtheit bemüht habe; dabei ist selbst die Beschreibung zugleich prächtig und schlicht gestaltet. Indem ich sage, was ich versucht habe, sage ich nicht, was ich geschafft habe. Seit Langem lese ich nur noch Homer und die Bibel; ein Glück, wenn man das merkt und wenn ich in den Farbtönen der Wildnis und in den tiefsten Gefühlen meines Herzens die Farben dieser beiden großen und unvergänglichen Vorbilder des Schönen und Wahren vereint habe.

Wie Philoktetes hat Atala nur drei Personen. Vielleicht wird man in der Frau, die ich darzustellen versucht habe, eine recht ungewohnte Gestalt entdecken. Die Widersprüche des menschlichen Herzens sind etwas, das bisher nicht ausreichend dargelegt wurde: Sie verdienten es umso mehr, als sie in der alten Tradition eine ursprüngliche Abstufung erfuhren und daher tiefe Einsichten in alles Großartige und Geheimnisvolle im Menschen und seiner Geschichte eröffnen.

Chactas, Atalas Geliebter, ist ein Eingeborener, der mit besonderen Begabungen geboren scheint und überdurchschnittlich zivilisiert ist, da er nicht nur die lebenden, sondern auch die toten Sprachen Europas kennt. Er muss sich also in einem gemischten Stil ausdrücken, entsprechend der Grenzlinie zwischen Gesellschaft und Natur, auf der er wandelt. Es bot mir große Vorteile, ihn in der Darstellung seiner Lebenswelt als Eingeborenen und in dem Drama und der Erzählung als Europäer sprechen zu lassen. Sonst hätte ich auf das Werk verzichten müssen: Hätte ich ständig indianischen Stil benutzt, wäre Atala ein böhmisches Dorf für den Leser gewesen.

Was den Missionar angeht, so glaubte ich bemerkt zu haben, dass die, welche bisher den Priester in seinem Tun darstellten, entweder einen fanatischen Schurken oder eine Art Philosoph aus ihm gemacht haben. Der Père Aubry ist nichts von alledem. Er ist ein einfacher Christ, der ohne zu erröten vom Kreuz, vom Blut seines göttlichen Herrn, vom schwachen Fleisch etc. spricht, kurz, er ist der Priester, so wie er ist. Ich weiß, dass es nach Ansicht gewisser Leute schwierig ist, eine solche Gestalt darzustellen, ohne die Grenze zum Lächerlichen zu streifen. Wenn ich nicht zu Herzen gehe, reize ich zum Lachen: Man wird darüber urteilen.

Wenn man schließlich prüft, was ich in einen so kleinen Rahmen eingebracht habe, wenn man bedenkt, dass es keinen Lebensumstand der Eingeborenen gibt, den ich nicht berührt hätte, keinen Eindruck der Natur, keinen schönen Ort Neufrankreichs, den ich nicht beschrieben hätte; wenn man betrachtet, dass ich neben das Volk der Jäger ein vollständiges Bild des Volkes der Ackerbauern gesetzt habe, um die Vorteile gesellschaftlichen Lebens über das Leben der Eingeborenen aufzuzeigen; wenn man die Schwierigkeiten beachtet, die mir die Wahrung der Dramatik zwischen nur zwei Gestalten in einem langen Sittengemälde und zahlreichen Landschaftsbeschreibungen bereiten musste; wenn man schließlich bemerkt, dass ich mir selbst in der Katastrophe jedes Hilfsmittel versagt und wie die antiken Dichter versucht habe, lediglich mit der Kraft des Dialogs auszukommen: dann werden mir diese Überlegungen wohl einige Nachsicht seitens des Lesers eintragen. Nochmals, ich bilde mir keineswegs ein, dass mir alles gelungen ist; man muss jedoch einem Schriftsteller dankbar sein, der sich darum bemüht, die Literatur an jenes antike Dichten zu erinnern.

Vorbemerkung zur dritten Ausgabe

(1801)

Ich habe alle Einwände genutzt, um dieses kleine Werk der Erfolge, die es hatte, würdig zu machen. Ich hatte das Glück zu erleben, dass wahre Philosophie und wahre Religion ein und dasselbe sind; denn sehr achtbare Menschen, die über das Christentum nicht wie ich denken, waren die Ersten, die Atalas Glück bereitet haben. Allein dieser Umstand steht denen entgegen, die dem Publikum weismachen wollten, dass die Beliebtheit dieser indianischen Anekdote eine Sache der Parteilichkeit sei. Ich bin indessen scharf, um nicht zu sagen grob gerügt worden; man ist so weit gegangen, sogar folgende an die Indianer gerichtete Rede lächerlich zu machen:

»Unglückliche Indianer, die ich mit den sterblichen Resten eurer Ahnen durch die Wildnis der Neuen Welt irren sah, ihr habt mir trotz eures Elends Gastfreundschaft geschenkt, und doch könnte ich sie heute nicht erwidern, denn wie ihr bin ich der Willkür der Menschen ausgesetzt und irre umher, dabei noch unglücklicher in meinem Exil, denn ich trage sie nicht bei mir, die Gebeine meiner Väter.«

Die Bemerkung des Kritikers betrifft den letzten Satz dieser Rede. Die sterblichen Überreste meiner Familie samt derer von Monsieur de Malesherbes, sechs Jahre Exil und Unglück boten ihm lediglich einen Anlass zum Spott. Möge er nie die Gräber seiner Väter vermissen müssen!

Im Übrigen ist es nicht schwer, die verschiedenen Urteile, die über Atala gefällt wurden, zu versöhnen: Die, die mich getadelt haben, dachten nur an mein Talent; die, die mich gelobt haben, dachten nur an mein Unglück.

Vorwort zur Edition von 1805

Atala ist elf Mal neu aufgelegt worden: fünf Mal für sich allein und sechs Mal im Génie du Christianisme; wenn man diese elf Editionen vergleicht, wird man kaum zwei identische finden.

Die zwölfte, die ich jetzt herausbringe, wurde mit größter Sorgfalt durchgesehen. Ich habe Freunde gefragt, die bei mir um keinen Tadel verlegen sind; ich habe jeden Satz erwogen, jedes Wort geprüft. Befreit von Adjektiven, die ihn behinderten, ist der Stil vielleicht flüssiger und schlichter. Einige Gedanken habe ich besser geordnet und folgerichtiger ausgeführt; selbst die kleinsten sprachlichen Ungenauigkeiten habe ich getilgt. Monsieur de la Harpe sagte mir zu Atala: »Wenn Sie sich nur ein paar Stunden mit mir in Klausur begeben, wird uns diese Zeit genügen, um die Makel zu beseitigen, gegen die Ihre Kritiker so lautstark zu Felde ziehen.« Ich habe vier Jahre damit verbracht, diese Geschichte durchzusehen, nun ist sie so, wie sie bleiben soll. Dies ist die einzige Atala, zu der ich mich zukünftig bekennen werde.

Und doch gibt es Punkte, in denen ich der Kritik nicht gänzlich nachgegeben habe. Man hat behauptet, dass einige der von Père Aubry angesprochenen Gefühle eine grässliche Lehre enthielten. Man war zum Beispiel empört über folgenden Absatz (wir sind ja heutzutage so empfindlich!):

»Was sage ich? o Eitelkeit der Eitelkeiten! Was rede ich über die Macht der irdischen Freundschaften! Wollt Ihr wissen, wie weit sie reichen, meine liebe Tochter? Käme ein Mensch ein paar Jahre nach seinem Tod wieder ans Licht der Welt, bezweifle ich, ob gerade die, die ihn am meisten beweint haben, ihn mit Freuden wiedersähen: so schnell geht man andere Beziehungen ein, so leicht nimmt man andere Gewohnheiten an, so sehr gehört die Unbeständigkeit zur Natur des Menschen, so unwichtig ist unser Leben gerade im Herzen unserer Freunde!«

Es geht nicht darum, zu erfahren, ob man dieses Empfinden schwer zugeben kann, sondern darum, ob es echt ist und allgemeiner Erfahrung entspricht. Es wäre schwer, dem nicht zuzustimmen. Vor allem bei den Franzosen, aber nicht nur bei ihnen, findet man die Einbildung, nichts zu vergessen. Ohne von den Toten zu reden, derer man sich kaum erinnert, wie viele Lebende sind nicht in ihre Familien zurückgekehrt und haben dort nur Gleichgültigkeit, Missgunst und Abneigung angetroffen! Was ist im Übrigen das Ziel des Père Aubry? Will er nicht Atala alle Sehnsucht nach einem Leben nehmen, aus dem sie sich gerade freiwillig gerissen hat und in das sie vergeblich zurückkehren möchte? Indem er dieser Unglücklichen die Übel des Lebens übertrieben darstellt, vollbrächte der Missionar in solcher Absicht immerhin einen Akt der Menschlichkeit. Auf diese Erklärung zurückzugreifen ist jedoch unnötig. Père Aubry spricht etwas unseligerweise allzu Wahres aus. Man soll die Natur des Menschen nicht verleumden, aber es ist auch ganz nutzlos, sie besser zu machen, als sie tatsächlich ist.

Derselbe Kritiker hat noch gegen folgenden anderen Gedanken als einen falschen und widersinnigen aufbegehrt:

»Glaubt mir, mein Sohn, der Schmerz hält nicht ewig an; früher oder später muss er enden, denn das Herz des Menschen hat seine Grenzen; das gehört zu unserem größten Elend: wir sind nicht einmal in der Lage, lange unglücklich zu sein.« Der Kritiker behauptet, diese Art Unvermögen des Menschen zur Trauer sei im Gegenteil einer der großen Vorzüge des Lebens. Ich entgegne nicht, dass diese Überlegung, wenn sie richtig ist, die Anmerkung aufhebt, die er zum ersten Absatz der Rede des Père Aubry gemacht hat. In der Tat würde man damit behaupten, dass man einerseits seine Freunde nie vergisst und andererseits das große Glück hat, nicht mehr an sie zu denken. Ich weise nur darauf hin, dass der tüchtige Grammatiker mir hier die Begriffe zu verwechseln scheint. Ich habe nicht geschrieben: »Das gehört zu unserem größten Unglück«, was sicher falsch wäre, sondern: »Das gehört zu unserem größten Elend«, was sehr richtig ist. Diese Schwäche des menschlichen Herzens, kein Gefühl lange Zeit hegen zu können, selbst das der Trauer nicht, ist der vollständigste Beweis seiner Sterilität, seiner Dürftigkeit und seines Elends, wer spürte das nicht? Monsieur l’Abbé Morellet scheint mit gutem Grund unendlichen Wert auf gesunden Menschenverstand, Urteilskraft und Naturgegebenheit zu legen. Aber folgt er in der Praxis immer der Theorie, die er lehrt? Es wäre recht seltsam, wenn seine heiteren Ideen über den Menschen und das Leben mir das Recht gäben, ihn wiederum zu verdächtigen, in seine Ansichten die Schwärmerei und die Illusionen der Jugend zu legen.

Die unbekannte Natur und die unbekannten Sitten, die ich beschrieben habe, haben mir noch einen anderen wenig reflektierten Vorwurf eingetragen. Man hat mich für den Erfinder einiger außergewöhnlicher Details gehalten, als ich nur an Dinge erinnert habe, die jedem Reisenden bekannt sind. Fußnoten in dieser Ausgabe von Atala hätten mir leicht Recht gegeben; wenn sie jedoch an alle Stellen gesetzt hätten werden müssen, wo jeder einzelne Leser sie gebraucht hätte, wäre das Werk bald zu lang geworden. Ich habe also auf Fußnoten verzichtet. Ich beschränke mich darauf, hier einen Absatz aus der Défense du Génie du Christianisme zu übertragen. Es handelt sich um von Trauben trunkene Bären, welche die gelehrten Kritiker für eine Laune meiner Phantasie hielten. Nachdem ich achtbare Autoritäten und das Zeugnis von Carver, Bartram, Imley und Charlevoix zitiert habe, füge ich hinzu: »Findet man bei einem Autor eine Begebenheit, die nicht für sich genommen schön ist und bloß dazu dient, das Bild echter zu machen, ließe sich, wenn dieser Autor im Übrigen einigen gesunden Menschenverstand bewies, recht selbstverständlich annehmen, dass er diese Begebenheit nicht erfunden hat und nur etwas Wahres berichtet, selbst wenn es nicht sehr bekannt ist. Nichts hindert daran, in Atala ein übles Machwerk zu sehen, ich wage jedoch zu behaupten, dass die amerikanische Natur hier mit peinlichster Genauigkeit dargestellt wurde. Diese Gerechtigkeit lassen ihr alle Reisenden widerfahren, die Louisiana und Florida besucht haben. Die beiden englischen Übersetzungen von Atala sind nach Amerika gelangt; die Zeitungen haben außerdem eine erfolgreich in Philadelphia veröffentlichte dritte Übersetzung angekündigt; hätte es den Bildern dieser Geschichte an Echtheit gefehlt, wären sie dann gut angekommen bei einem Volk, das an jeder Stelle hätte sagen können: ›Das sind nicht unsere Flüsse, unsere Berge, unsere Wälder‹? Atala ist in die Wildnis zurückgekehrt und anscheinend hat ihre Heimat sie als wahres Kind der Einöde wiedererkannt.«