Christina Viragh

Eine dieser Nächte

Roman

Dörlemann

Die Autorin dankt der UBS Kulturstiftung, der Stiftung Pro Helvetia und der Zentralschweizer Literaturförderung für die Unterstützung dieser Arbeit.



eBook-Ausgabe 2018
Alle Rechte vorbehalten
© 2018 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf
Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-03820-956-0
www.doerlemann.com

 

Für den Tiger am 7. Januar 2014

1

Das Flugzeug steht am Anfang der Startbahn und scheint sich schon aus dem Stand heben zu wollen, es zittert vor verhaltener Energie, die Flügel wippen. Die Kabinenbeleuchtung ist gelöscht. Ein Moment der geballten Bereitschaft im erwartungsvollen Dunkel. Emma hätte schon Sinn dafür, nur sitzt da einer und stört. Sitzt störend. Dieser Amerikaner, dieser Sextourist. Sicher ein Sextourist. Genau der Typ, groß, schwer, schütteres rötliches Haar, das gelbe Poloshirt über dem Bauch gespannt, unter dem Shirt ein Dokumententäschchen, dunkelgrüne Shorts, Sneakers. Der fiel schon im Abflugbereich auf. Lief mit dem Smartphone am Ohr zwischen den Gates hin und her und redete dauernd. Andere redeten auch in ihre Smartphones, aber nicht so ununterbrochen und so laut. Hörte man auch aus der Distanz. Natürlich, der muss in der gleichen Sitzreihe sitzen. Wenn auch nicht gerade neben Emma. Sie sitzt am Fenster, der Mittelsitz ist leer, der Amerikaner sitzt auf dem Gangsitz. Aber ausgerechnet, bei allen den Sitzreihen, die eine Boeing 777 hat. Man kann ja nicht einmal sagen, dass es ein blöder Zufall ist. Es ist kein Zufall. Es musste so kommen. Wenn man jemanden längere Zeit gereizt beobachtet, lacht man ihn sich an. Man sollte sich im Abflugbereich an niemandem festsehen. Da waren Hunderte von Leuten. Saßen und lagen auch auf dem Boden herum, beim Hin- und Herlaufen stolperte der Amerikaner über ausgestreckte Beine. Dauernd der Amerikaner. Entfernen wir uns aus dem Bild, sagte Emma zu sich. Wenn man etwas nicht mehr sehen mag, entferne man sich aus dem Bild. Es war noch früh genug. Sie fuhr mit der Rolltreppe wieder zu den Läden hinauf, um sich umzublicken und gegen ihr benommenes Gefühl eine Cola zu kaufen. Elend lange Reise. Am frühen Nachmittag in Denpasar auf Bali gestartet, und hier in Bangkok, Suvarnabhumi International Airport, ist es wieder Nacht geworden. Die thailändische Nacht, die ostasiatische Nacht. Wie immer die sein mag. Hinter den Scheiben konkaver Glaswände ein unspezifisches, unverbindliches Dunkel. Wenigstens beim Anflug sah man noch den roten Sonnenuntergang. Und die Skyline von Bangkok. Auf den Antennen von Wolkenkratzern rote Blinklichter im roten Himmel, nicht reizlos, aber sonst kann man Bangkok ruhig auslassen. Bestimmt alles völlig amerikanisiert, ein Abklatsch anderer Abklatsche, hat ja wohl keinen Sinn. Während Emma in der unspezifischen thailändischen Nacht die Rolltreppe zu den Läden hochfuhr, sah sie mitten auf einem endlosen Gang eine Goldpagode. Japanische Touristen machten Fotos von ihr. So much for Bangkok. Emma kaufte die Cola und setzte sich neben eine indische Familie. Sie versuchte zu dösen, aber das ging nicht, aus der Nähe kam Musik, thailändische Songs, Schlager wäre das bessere Wort. Rotplüschige Bars, dachte Emma, im vierzigsten Stock der Wolkenkratzer, dahin passen die, auf einer mit Spiegelrechtecken eingefassten runden Bühne mitten im Raum singen zwei Schwestern aus Udon Thani dieses nasale Lied von der verlorenen Liebe. Oder von der verlorenen thailändischen Nacht. Udon Thani, der Name hatte irgendwo auf einer Display-Tafel gestanden. Keine Ahnung, wo das ist. Irgendwo, verloren in der thailändischen Nacht. Dann klingelte in der Nähe ein Telefon, und statt der indischen Familie saß eine chinesische neben ihr. Sie war doch eingeschlafen. Der chinesische Vater schrie ins Telefon. Wie lange hatte sie geschlafen. Hatte sie den Flug verpasst. Wäre, dachte Emma, ein Zeichen von Schuldgefühl. Sie versuchte, nach der Uhrzeit zu sehen, aber der Akku ihres Telefons war leer. Also doch nach Bangkok hinein, Hotel und Umbuchung, eine Stange Geld, hoffentlich rechnen sie das bezahlte Ticket an, wo ist der Informationsschalter, haben die um diese Zeit überhaupt geöffnet, und dann hinaus in die thailändische Nacht, im Taxi, Preis vorher aushandeln, nach Bangkok hinein, in die amerikanisierte City. Vorbei an da und dort von einer Lampe beleuchteten Vorstädten, vorbei an Plakaten mit dieser verschlungenen Zierschrift, aber die hilft gegen die Amerikanisierung auch nichts mehr. Auch nicht gegen die Verlorenheit der thailändischen Nacht. Emma ging, ohne sich zu beeilen, wenn’s zu spät ist, ist’s zu spät, zum Gate hinunter. Da saßen und lagen noch alle herum. Sie hatte nur kurz geschlafen. Selbstverständlich sah sie auch gleich wieder den hin und her laufenden Amerikaner mit dem Telefon am Ohr.

2

Er heißt Bill. Hi, I’m Bill, nice to meet you. Ist ja bei Amerikanern nicht zu vermeiden. Hello, I’m Emma. Und meinetwegen auch, nice to meet you. Aber sonst kein Wort mehr, schweigen bis Zürich, überhaupt kein Problem. Im Gegenteil, diese Nacht soll ja dazu da sein, die Baligeschichte durchzudenken. Was war das auf Bali.

Das war vorhin, als die Maschine noch am Dock stand.

Jetzt, hier am Anfang der Startbahn im zitternden Flugzeug, hat allerdings auch Bill keine Lust zu plaudern. Er sagt nur, a dark fucking night. Sagt es vor sich hin. Er hat die Augen zu, atmet schwer, sein Kragen ist schweißnass. Und jetzt sagt er noch, N.T., dein Wille geschehe, zwölf Stunden und dann noch einmal zwölf, ein ganzer verdammter Tag, a whole fucking day. Kann mich nicht bewegen, sonst würde ich mein Taschentuch herausziehen, aber in einem solchen Moment soll man sich nicht bewegen. In einer solchen Nacht. Eine dieser Nächte. Und ausgerechnet neben einem leeren Sitz muss ich sitzen. Und die da am Fenster wird eine harte Nuss sein. In ihrer schwarzen Strickjacke.

Lass ihn reden. Emma schaut ins Dunkel hinaus. Sollten da nicht irgendwelche Rollfeldlichter sein. Da ist nichts, nur das Blinklicht am Flügelende.

A dark fucking night, sagt Bill mit geschlossenen Augen.

Cabin crew, two minutes to takeoff.

Die Japaner in der hinteren Sitzreihe, Vater, Mutter, Tochter, setzen sich noch gerader hin.

Der Junge in der gleichen Sitzreihe wie Bill und Emma, aber auf der anderen Seite des Gangs, schreibt two minutes to takeoff auf sein im Dunkeln leuchtendes iPad.

Stefan und Michael in der vorderen Sitzreihe, Gangsitz und Mittelsitz, nehmen sich bei der Hand, Stefan sagt auf Schweizerdeutsch, los, macht schon, ich habe morgen Abend Dienst, wofür ihm Michael dankbar ist, für den Satz, nicht für den Dienst, das mit dem Dienst stinkt ihm, aber das tut jetzt nichts zur Sache.

Walter auf dem Fensterplatz neben ihnen schaut auf den Bildschirm in der Rückenlehne des Vordersitzes, Distance to Destination 9300 km, Ground Speed 0 km/h, Altitude 0 m. Es mussten ja zwei Schwuchteln sein, denkt er. Er möchte es nicht denken, er möchte in seinem eventuell letzten Moment auf der Erde etwas anderes denken als politisch Unkorrektes, aber es fällt ihm sonst nichts ein. Doch, Irina. Irina. Das Licht vom Bildschirm spiegelt sich flackernd in seiner Brille, jetzt geht es aus. Da stimmt was nicht, denkt Walter, hoffentlich weiß der Kapitän davon.

Scheiße, sagt Michael, wieso ist das Ding ausgegangen. Er macht mit der rechten Hand Hörner in Richtung Erde. Mit der linken wäre es besser, aber die hält Stefan. Stefan sagt, was hast du auch, wir können’s doch auswendig, neuntausenddreihundert plus null plus null.

Der Junge mit dem iPad schreibt, das japanische chick sitzt ohne sich anzulehnen halbe minute bis takeoff. Er schreibt es auf Englisch, auch er ist Amerikaner.

Bill hat die Augen nach wie vor geschlossen, aber er hat die Veränderung der Helligkeit bemerkt. N.T., sagt er, der Bildschirm ist ausgefallen, verdammt nochmal. Der Schweiß tropft ihm vom Kinn aufs Shirt.

Emma schaut immer noch zum Fenster hinaus. Sie hat das Dunkelwerden des Bildschirms aus dem Augenwinkel gesehen. Sie denkt, ein Fehler, diese Reise war ein Fehler.

Der Bildschirm geht wieder an, gleichzeitig drehen die Triebwerke auf.

Jetzt.

Die Boeing beginnt zu rollen und beschleunigt in zwanzig Sekunden auf zweihundertfünfzig Kilometer pro Stunde. Es drückt sie alle in die Sitze hinein, auch die Japaner.

3

Distance to Destination 8950 km, Ground Speed 780 km/h, Altitude 5000 m.

Schweigend bringen wir den Steigflug hinter uns. Sechstausend Meter, siebentausend Meter, unter uns Kanchanaburi, achttausend Meter, neuntausend Meter. Unter uns die Grenze zu Burma.

Zehntausend Meter, die Maschine hat ihre Reiseflughöhe erreicht, unter uns die Bucht von Bengalen. Der Kapitän löscht das Anschnallzeichen.

Bill klingelt nach der Flugbegleiterin. Er sagt, was für Träume kommen mögen, schütteln wir die sterbliche Umschlingung ab.

Ein Zitat. Woher schon wieder. Dass man mit neunundvierzig schon Gedächtnislücken hat. Nein, denkt Emma erleichtert, Hamlet. Natürlich. Dieser unmögliche Bill meint offenbar, dass er uns mit seinem Schulwissen beeindrucken kann. Oder er muss sein Redebedürfnis stillen. Soll er halt den ganzen Hamlet zitieren. Auf nichts eingehen, bis Zürich schweigen. Kein Problem, wie gesagt.

Über den leeren Sitz hinweg sagt Bill zu Emma, waren Sie schon mal am Golf von Tonkin.

Emma sagt nichts.

Waren Sie schon mal am Golf von Tonkin.

Diese Amerikaner haben niedrigere Hemmschwellen, besonders solche mit einem Whisky in der Hand. Einem Mekong-Whisky, zu Ehren eures verfluchten Lands, hat Bill zur herbeigeklingelten Flugbegleiterin gesagt. Die zuckte nicht einmal mit der Wimper. Er beklagte sich über die Langsamkeit der Bedienung. You guys, ihr braucht eine Ewigkeit, bis ihr was zu essen serviert, ich kenne das.

In der Wartezeit kann man aber ein paar hübsche Geschichten erzählen, soll man sogar. Auch wenn Sie mir nicht sagen wollen, ob Sie schon mal am Golf von Tonkin waren, kann ich Ihnen some pretty good stories erzählen.

Und was noch alles. Das ist einer, denkt Emma, der nicht einmal einer Frau gegenüber Hemmungen hat. Der will von seinen Sexabenteuern erzählen. Seine Abenteuer im Wolkenkratzer in der rotplüschigen, spiegelstückcheneingefassten Bar mit den Schwestern aus Udon Thani, nach ihrem Auftritt.

O.k., werden wir deutlich. I’m sorry, I’m very tired.

Gut, je müder, desto besser. Wissen Sie, ich bin in Grand Forks, North Dakota, aufgewachsen, wohne jetzt aber in Elgin bei Chicago, fliege via Zurick nach Chicago. Verlieren Sie das nicht aus den Augen. Es ist eine dieser Nächte. Dunkel wie im Arsch. In diesem Arschdunkel weiß man überhaupt nicht, in welche Richtung man fliegt, was mich betrifft, könnte da unten auch Laos sein oder der Golf von Tonkin. Waren Sie mal am Golf von Tonkin, sagen Sie’s doch.

Nein.

4

Ich war auch noch nie am Golf von Tonkin, aber ich weiß eine Story dazu. Sagt Ihnen der Tonkin-Zwischenfall etwas, August vierundsechzig. Nein, wahrscheinlich nicht. Kein Mensch erinnert sich mehr daran, das war der Beginn des Vietnamkriegs, will sagen, unseres Einsatzes in Vietnam, einer unserer Zerstörer, die Maddox, lief in den Golf ein, wurde in der Nacht von vietnamesischen Booten angegriffen, das löste den Krieg aus, schon am nächsten Tag bombardierten wir Nordvietnam. Später stellte sich alles als Schwindel heraus, Johnson und sein Verteidigungsminister, McNamara, brauchten einen Vorwand für den Krieg. An die Pentagonpapiere erinnern Sie sich wahrscheinlich auch nicht, da ist die Sache aufgeflogen, der Ellsberg, damals im Pentagon, steckte sie den Zeitungen.

Ellsberg, etwas mit Watergate, sagt Emma. Ist ihr herausgerutscht. Sie versteht es selbst nicht. Vielleicht weil ihr der Zusammenhang rechtzeitig eingefallen ist. Na schön, dann eben diese eine Story, und danach ist Schluss. Wenn dieser Bill nur nicht so brüllte.

Danke, dass Sie mitmachen. Es ist besser so, glauben Sie mir. Ich meine, in einer solchen Nacht ist es besser. Ja, Nixon ließ bei Ellsbergs Psychiater einbrechen, aber das war später, und auch das mit den Pentagonpapieren kam zu spät, neunzehneinundsiebzig. Eine Riesenschweinerei. Ich hatte das Glück, erst sieben zu sein, als das Ganze losging, und es hörte dann auch gerade noch rechtzeitig auf, für mich rechtzeitig, bis dahin hatten ja weiß Gott wie viele arme Idioten ins Gras gebissen. Drei Millionen Vietnamesen, etwa sechzigtausend von uns.

Bill nimmt einen Schluck von seinem Mekong-Whisky. Das ist vielleicht die Gelegenheit, doch noch aus dem Gespräch auszusteigen.

Liebste Martha, dir verdanke ich alles, den ganzen Mist. Er nimmt noch einen Schluck.

Was für eine Martha, fragt sich nicht nur Emma, sondern fragen sich auch Walter, Michael, Stefan in der vorderen Sitzreihe und der Junge mit dem iPad links auf der anderen Seite des Gangs. Bills Donnerstimme. Es scheint ihm gleich zu sein, wenn ihn ringsum alle hören.

wer ist martha

Martha ist, falls Sie sich wundern, mein lieber Drink hier. Nenne alle meine Drinks Martha. Rede gern zu ihr, sie kennt meine ganze Geschichte, was, Martha. Aber auch wenn du diese Story schon kennst, Martha, hör sie dir wieder an, sie ist um viele Einzelheiten angereichert. Professor Angelfield in Mississauga und Professor Löwy in Wien garantieren für ihre Glaubwürdigkeit, ich habe die entsprechenden Briefe, auf Papier, nicht irgendwelche lausigen Mails. Wo sind Sie aufgewachsen.

Emma sagt nichts.

Wo sind Sie aufgewachsen.

Was willst du machen. Die klassische Erpressung. Der fragt so lange nach, bis dir, denkt Emma, eine aus drei Wörtern bestehende Antwort als das kleinere Übel erscheint.

In der Schweiz.

In der Schweiz, Martha, hast du gehört, Heilige Muttergottes.

Er hat sich an seinem Whisky verschluckt, hustet wild. Das ist hoffentlich das Ende der Erzählerei.

Ich bin in Grand Forks, North Dakota, aufgewachsen. Als der Vietnamkrieg ausbrach, am fünften August neunzehnvierundsechzig, saß ich auf der Espe hinter unserem Haus. Das Haus hat uns der Großvater finanziert, er war ein Uhrmacher und Varietékünstler aus der Slowakei, Joe M. Kovacsics, eigentlich ein serbischer Name, merken Sie sich ihn. Die Espe stand zu nahe beim Haus, meine Mutter wollte sie fällen lassen, mein Vater sagte, wenn du das noch einmal sagst, kannst du deine Sachen packen und gehen. Nach seinem Tod hat sie sie fällen lassen. Habe seither nicht mehr mit ihr geredet, wahrscheinlich lebt sie gar nicht mehr. Auch mein Bruder hat nicht mehr mit ihr geredet. Auch wir beide reden fast nie miteinander, sehen uns auch fast nie. Martha, wir reden nicht. Lassen Sie mich einen Schluck nehmen. Also, die Espe hatte einen Ast, der bis zum Küchenfenster reichte, da saß ich am fünften August neunzehnvierundsechzig gegen elf. Und hörte den Ahnen und den Nachfahren zu. Espenblätter haben flache Stiele, die Blätter bewegen sich beim kleinsten Lufthauch und schlagen gegeneinander, das ergibt eine Art Flüstergeräusch, und ich wusste, da flüstern die Ahnen und die Nachfahren zu mir. Ich verstand nicht, was sie flüsterten, aber ich dachte, wenn ich lange genug zuhöre, würde ich es irgendwann doch verstehen. Ich hätte meine Mutter erwürgen können, als sie um elf das Radio einschaltete und die Stimme des verdammten Nachrichtensprechers das Blättergeräusch überdeckte. Und dann begann sie auch noch über die Radiostimme hinweg dauernd oh mein Gott zu sagen. Denn kaum hatte der Vietnamkrieg begonnen, davon redete der Nachrichtensprecher, es war ja seit dem Vorabend bekannt, aber da waren wir bei Joachymchiks zum Barbecue gewesen, und die Frauen hatten die ganze Zeit zusammengehockt und getratscht, also, sie kapierte die Sache erst jetzt wirklich und war schon das erste Opfer des Vietnamkriegs. Sie sah sich als Kriegswitwe, mein Vater würde eingezogen werden und selbstverständlich fallen, und was würde dann aus ihr, mit zwei kleinen Kindern, und ob die Witwenrente ausreichen würde, sie könne keine minderwertige Arbeit annehmen, wäre auch nicht möglich mit zwei kleinen Kindern, hoffentlich denke Joe, mein Vater, daran, ihr das Haus zu überschreiben, bevor er in den Krieg zieht. Sie sagte es wirklich so, bevor er in den Krieg zieht. Habe es mit meinen eigenen Ohren gehört, da telefonierte sie nämlich schon, mit ihrer Freundin Greta. Ich war von der Espe geklettert. Im Haus war ein Mordskrach, in der Küche lief immer noch das Radio, im Living Room hatte sie den Fernseher eingeschaltet, und um das alles zu übertönen, schrie sie in den Hörer. Eine Weile schrie sie, nein, das kann ich nicht, und sie weinte schon fast. Wahrscheinlich schlug ihr Greta praktische Lösungen vor, sie solle sich eine Ausbildung zulegen, Maschinenschreiben und Stenographie lernen oder mit der Encyclopedia Americana hausieren gehen, oder was weiß ich. Dann schluchzte sie wirklich, als sie auflegte, und wollte mich, ich stand im Durchgang zum Living Room, umarmen, um wahrscheinlich Dinge zu sagen wie, mein armer Junge, was wird jetzt aus uns, aber ich lief hinaus. Moment mal, lassen Sie mich kurz nach diesen Flug-Girls Ausschau halten, ob die nicht endlich mit dem Essen kommen. Nein. Habe ja gesagt, dass die eine Ewigkeit brauchen, ich werde mich bei der Airline beschweren. Die fuhrwerken in ihren Schürzen in der Bordküche herum, aber was sie machen, ist mir schleierhaft. Und die erste Stunde ist schon fast vorbei. Schon ist die erste verfluchte Stunde fast vorbei, na ja, am Anfang hat man kein richtiges Zeitgefühl, vor dem Essen müssen zwei Geschichten erzählt werden, und ein bisschen Musik würde auch dazugehören, was, Martha. Die schmelzenden Eiswürfel haben dir nicht gutgetan, verflucht nochmal. Das Ganze ist eine Schlamperei, die Flugbegleiterinnen sind ja herzig, aber das ist auch alles.

Will der eigentlich, sagt Michael zu Stefan, seine schlechte Laune loswerden, oder was.

Bill nimmt einen Schluck, Emma beschließt, nicht mehr zuzuhören. Sie hat zwar auch Hunger, aber was soll das Gestänker. Sie schaut zum Fenster hinaus, das Licht am Flügelende scheint einen Nebelstreifen anzublinken, das ist aber wahrscheinlich nur der Kontrast zwischen dem Licht und diesem dichten Dunkel. Wo sind wir. Emma schaut auf den Bildschirm, das Flugzeugsymbol ist immer noch über der Bucht von Bengalen, Distance to Destination 8300 Kilometer, Altitude 9500 m, ist das nicht fast schon die Stratosphäre, müsste hier nicht der Sternenhimmel sichtbar sein. Nein, nichts, nur das Dunkel.

Keine Sterne heute Nacht, sagt Bill nahe an Emmas Ohr. Er hat den Sitzgurt gelöst, seine Armlehne hochgeklappt, hängt über dem leeren Sitz, schaut an ihr vorbei zum Fenster hinaus. Excuse me, sagt Emma und drückt sich gegen die Flugzeugwand. Bill wuchtet sich mit einiger Mühe in seinen Sitz zurück, schnallt sich wieder an.

Sorry, sagt er. Wir haben also den Golf von Tonkin unter uns, unter uns oder auch über uns, in diesem verfluchten Dunkel könnte es genauso gut sein, dass wir durchs Erdinnere fliegen. Hören Sie mich. Schlafen Sie nicht ein, hören Sie sich die Story an. Außer, Sie fänden sie zum Speien. Dann endet Bills bewegtes Leben eben hier.

Wie meinen Sie das, fragt Emma. Sie ist ihm auf den Leim gegangen ist. Na ja. Aber schon etwas peinlich, so hereinzufallen.

Na eben, sagt Bill, es endet damit, dass ich auf die Straße vor unserem Haus in Grand Forks, North Dakota, hinauslaufe. Habe gesagt, dass ich da hinauslief, weil mich meine Mutter schluchzend umarmen wollte. Für sie war ja mein Vater schon tot. Die Straße war übrigens ein Fehler, weil mich meine Mutter durchs Fenster sah. Sie öffnete die Vordertür und rief, ich solle zurückkommen, wie kannst du mich in einem so schweren Moment allein lassen oder ähnlich. Ich lief weg, aber nicht sehr weit, weil sie hinter mir herschluchzte, sowas macht ja doch Eindruck. Am Ende ging ich in unseren Hintergarten zurück. War nicht einfach, weil ich nicht wusste, ob sie nicht immer noch an einem der Fenster stand. Ich musste zur Seitenfront unseres Hauses gelangen, da gab es keine Fenster. Eine Weile lag ich zwei Häuser weiter weg im Vorgarten hinter der Hecke in Deckung, dann rannte ich quer durch den Vorgarten der Kershaws und warf mich dort unter die Hecke. Von da war es nur noch ein Sprung bis zu unserer Seitenfront. Ich drückte mich an die Wand, wenn meine Mutter in der Küche war, kam ich nicht unbemerkt zur Espe. Das wollte ich, wieder auf die Espe hinauf, das war der einzig sichere Ort. Dann hörte ich, wie die Vordertür aufging und nicht wieder zu, ich hätte es gehört, wenn die Mückengittertür zugefallen wäre. Wahrscheinlich hielt meine Mutter Ausschau nach mir oder nach den Nachbarinnen, um die Sache mit der Witwenrente zu besprechen. Die Nachbarinnen ließen sich aber nicht blicken, die waren um diese Zeit alle in ihren Küchen. Ich lief zur Espe und kletterte hinauf. Höher hinauf, weiter oben hatte ich einen Ausguck, einen Ast, auf den ich mich nur sonntags setzen durfte, hatte ich mir selbst vorgeschrieben, der besonders heilige Ast. Von da aus konnte ich den Horizont sehen, über die Dächer hinweg die Prärie und den Horizont. Es war Mittwoch, aber ich kletterte doch hinauf, weil mich meine Mutter da nicht sehen konnte, ich hingegen sah auch die Straße. Die war leer, ich sagte schon, dass die Frauen in den Küchen waren und die meisten Kinder im Sommerlager oder sonstwo, auch mein kleiner Bruder, der sonst vormittags mit dem Dreirad auf der Straße hin und her fuhr, war bei unseren Großeltern in Topeka, Kansas. Manchmal hörte ich Stimmen, die kamen aber aus den Hintergärten, und immer noch den Lärm vom verdammten Radio in der Küche. Es war höllisch heiß an dem Tag, da oben schien mir die Sonne auf den Kopf, ich schwitzte wie verrückt. Ich brauche einen neuen Drink. Muss kurz das Girl herbeiklingeln.

Can I help you, Sir.

Könntet ihr schon, aber ich will gar nicht mehr wissen, was ihr so lange macht. Bringt mir einen Whisky, einen richtigen diesmal, Johnnie Walker, den habt ihr doch.

Bill sitzt, wartet, sagt nichts mehr.

Warum sagt er nichts mehr. Ach nein, wir sind ja froh, dass er nichts mehr sagt.

Here you go, Sir.

Thanks, Martha, sagt Bill, als Johnnie Walker kommst du besser daher. Also, höllisch heiß da oben, es fehlte nicht viel, und ich hätte einen Hitzschlag bekommen und wäre kopfüber hinuntergefallen, sozusagen als zweites Opfer des Vietnamkriegs, hätte mir auch einiges erspart, was, Martha. Zum Glück kam mein Vater, mein Vater kam die Straße herauf, von der Arbeit. Er arbeitete drei Straßen weiter weg als Typograph. Ich kletterte hinunter, als ich auf dem Küchenfenster-Ast ankam, rief mir meine Mutter tatsächlich zu, warum bist du nicht bei mir in diesem schweren Moment. Ich lief ums Haus herum und meinem Vater entgegen und sah, wie er vor dem Haus der Joachymchiks den Hut lüftete, seinen Panama, er hatte einen Panama, da stand wohl Mrs. Joachymchik in der Tür. Ich lief zu ihm, und wir gingen gemeinsam zu unserem Haus. Meine Mutter schrie auf, als wir eintraten, dann begann sie wieder mit oh mein Gott. Oh mein Gott, habt ihr mich erschreckt. Sie können sich die Szene ja vorstellen, mein Vater, der erst nicht herausbekommt, was sie hat, dann wütend wird, weil kein Essen da ist, meine Mutter hatte nichts gekocht, ich weiß nicht, was sie die ganze Zeit gemacht hatte, das Mittagessen jedenfalls nicht. Mein Vater riss Dinge aus dem Kühlschrank und warf sie auf den Küchentisch, das brachte meine Mutter auf Trab, sie wollte etwas zurechtmachen, Käseschnitten zwischen Brotschnitten legen oder was auch immer, aber mein Vater nahm ihr die Dinge aus der Hand, vielleicht war es auch ein Messer, mit dem sie Erdnussbutter verstreichen wollte, oder so etwas. Er sagte, geh zum Teufel, Rosie.

Vor der Bordküche beginnen die Flugbegleiterinnen die Tabletts mit dem Essen in den Wagen zu schieben. Die japanische Mutter in der hinteren Sitzreihe reicht Mann und Tochter feuchte Tücher aus einer Feuchthaltepackung.

War allmählich Zeit, sagt Bill, wir müssen vorwärtsmachen, Martha. Ja, also, er, ich meine, mein Vater, setzte sich mit seinem Sandwich ins Wohnzimmer, weil da war wieder der verdammte Johnson am Fernsehen, eine lokale Fernsehstation brachte wieder die ganze verdammte Rede, die er am Vorabend gehalten hatte, meine Mitbürger, als Präsident und Oberkommandierender der Streitkräfte habe ich gegenüber dem amerikanischen Volk die Pflicht zu melden, dass erneute feindliche Aktionen gegen US-Schiffe auf hoher See im Golf von Tonkin mich nötigen, den Truppen der Vereinigten Staaten den Befehl zu Gegenaktionen zu erteilen, den ganzen verdammten Beschiss. Martha, hörst du zu, ich rede zu dir, der ganze Johnson war ein Beschiss, dem hätte man gelegentlich auch eine Kugel in den Kopf jagen sollen, Auge um Auge, Zahn um Zahn, sowieso das Einzige, was funktioniert. Alles zu dir gesagt, Martha, ich will ja niemandem auf die Füße treten. Meine Mutter ging sonntags mit weißen Baumwollhandschuhen in die Kirche, Martha.

Die Flugbegleiterinnen schieben den Wagen durch den Gang, beginnen die Tabletts zu verteilen. Bill hält sich das Whiskyglas über den Kopf.

Schau, Martha, das Essen, wir müssen einen Zeittrick machen, damit die zweite amüsante Geschichte auch noch hineinpasst, vor dem Essen sollen ja zwei Geschichten erzählt werden, es ist ja auch schon der Beginn der zweiten Stunde, unter uns immer noch der Golf von Tonkin, der ist groß, und überhaupt weiß man in diesem Arschdunkel nicht, ob man nicht im Kreis herumfliegt. Die zweite Geschichte ist ein Nachtrag zur ersten. Wollen Sie etwas sagen, fragt er Emma.

Emma sagt nichts.

Wollen Sie etwas sagen.

Was will er. Wird er auch diese Frage so lange stellen, bis man ein paar Wörter springen lässt. Wie meint er das überhaupt.

Wie meinen Sie das.

Zwischen den Geschichten kann auch der Zuhörer etwas sagen.

Nein.

Was soll das, erste Geschichte, zweite Geschichte. Der wird doch jetzt nicht eine zweite Geschichte erzählen wollen, da vorn kommt schon das Essen. Erwartungsvoll nach vorn blicken, dann merkt er hoffentlich, dass jetzt genug ist. Seine Kindheit in Grand Forks, North Dakota. Wo ist das überhaupt. Irgendwo verloren im Norden der USA.

Oder wollen Sie die zweite Geschichte erzählen, fragt Bill.

Emma sagt nichts.

Es geht auch so, dass Sie es sind, die die zweite Geschichte erzählt. Brauche nicht ich zu sein.

Wie meint der das, wie käme Emma dazu, und überhaupt, was für eine Geschichte.

Was für eine Geschichte.

Irgendetwas. Am besten etwas aus Ihrem Leben.

Wie stellt sich der das vor. Sie wird doch nicht einem Fremden aus ihrem Leben erzählen. Schon gar nicht einem Sextouristen, bei aller Toleranz. Warum lässt sie sich dauernd ablenken. Das sollte doch der Flug sein, die lange Strecke bis Zürich, für die Baligeschichte. Die Reise war ein Fehler, aber ihre wenigen komischen Momente müssten doch auch erzählt werden. Die Amerikanerin und die Hühnerklauen. Diese Amerikanerin auf Bali, diese Holly, die sich als Native gebärdete, I have been here since nineteen-eighty-one, wie die mal Emma herausfordernd eine Tüte getrockneter Hühnerklauen hinhielt, my preferred snack, have some. Die erwartete natürlich, dass Emma angewidert ablehnte, aber Emma griff zu, der Hühnerklauensuppe ihrer ungarischen Mutter sei Dank. Das wäre doch der Moment, solange man von dieser Fliegerei noch keinen zugepappten Kopf hat, das Ganze in eine Perspektive zu bringen. Wie war das auf Bali. Der Abend in Kuta Beach. Aber was ginge das diesen Bill an. Nichts mehr zu ihm sagen.

Aus meinem Leben, nein.

Schade, Sie hätten von Ihrer Reise erzählen können, die nicht so doll war.

Woher wissen Sie das.

Sehe ich Ihnen an. Sie wirken verkrampft. Dachte es schon, als ich Sie beim Gate sah. Warum erzählen Sie nicht davon. Würde Ihnen guttun.

Emma sagt nichts.

Na schön, lassen wir’s. Big Bill will ja niemanden zwingen, hätte auch keine Zeit dafür, die Flugbegleiterinnen mit ihrem Plastikfood rücken näher.

Ganz richtig, wir haben keine Zeit mehr, denkt Emma.

Aber, sagt Bill, es ist noch Zeit, Sie werden sehen. Ich fange am besten gleich an. Es ist ja so, dass mein Vater in Vietnam tatsächlich gefallen ist, sehr bald schon. Da hatte sich meine Mutter nicht getäuscht, sie blieb tatsächlich mit zwei kleinen Kindern allein. Mein Vater hätte eigentlich gar nicht einrücken müssen, für Väter gab es Ausnahmen, aber er meldete sich freiwillig. Und ist gefallen. Traurige Story. Wollen Sie sie hören. Haha, sicher nicht, Sie warten aufs Essen, haben schon Ihren Tisch heruntergeklappt, wollen überhaupt nichts hören.

Kommt drauf an, sagt Emma.

Ist nur so ein Spielchen mit dem Feuer, er hat sowieso keine Chance, noch eine Story zu erzählen. Da sind schon die Flugbegleiterinnen mit dem Wagen.

Auf mich soll’s nicht ankommen, sagt Bill. Danke, schätze Ihr Vertrauen sehr. Auch Martha schätzt es, und sie hört diese Story immer wieder gern. Lassen Sie mich einen Schluck nehmen. Mein Vater hat mir nämlich aus Vietnam einen Brief geschrieben. Mein sterbender Vater, heißt das. Haha, ich sehe, Sie zucken zusammen. Sie machen zwar ein teilnahmsvolles Gesicht, aber innerlich zucken Sie zusammen, sehe ich doch. Sie denken, jetzt kommt irgendein Kitsch, der erzählt jetzt die kitschige Geschichte vom Brief des sterbenden Vaters. Denken Sie. Es könnte aber noch schlimmer kommen, ich könnte den Brief auch vorlesen, habe ihn immer bei mir, immer hier unter dem Hemd, was, Martha, sagt Bill und klopft mit der flachen Hand gegen die Dokumententasche unter seinem Shirt. Ich lese ihn aber, sagt er, ausschließlich Martha vor, machen Sie sich keine Sorgen. Hingegen ist die Geschichte tatsächlich kitschig, damit müssen Sie sich abfinden. Mein verwundeter Vater liegt am Golf von Tonkin in einem mehr oder weniger verlassenen Dorf in einer dunklen Hütte und schreibt beim Schein seiner Taschenlampe, haha, einen Brief an seinen älteren Sohn. Mein lieber Bill. Das schreibt er. Joey, mein Bruder, konnte da noch nicht lesen. Ich auch noch nicht so gut, ehrlich gesagt. Er schreibt ja auch, ich solle den Brief aufheben und wiederlesen, wenn ich größer bin. War aber nicht nötig, ich meine, der Brief ist überhaupt erst gekommen, als ich größer war, im Frühling neunzehnvierundsiebzig, als ich siebzehn war. Erst da wurde er zugestellt, neun Jahre nach seinem Tod, ich weiß nicht warum. Kam wahrscheinlich vor, dass in dem ganzen Schlamassel Briefe zunächst mal liegen blieben. Und dann finde ich Ende April neunzehnvierundsiebzig diesen Brief im Briefkasten. Zum Glück war es meine Aufgabe, ihn zu leeren, meine Mutter hätte den Brief verschwinden lassen, da kannst du Gift darauf nehmen. Im Vorgarten der Kershaws blühte der japanische Kirschbaum. Er fiel mir erst da richtig auf, als ich mit dem Brief in der Hand auf dem Gehsteig beim Briefkasten stand. Dann fielen mir die vielen unleserlichen Stempel auf, alles übereinandergestempelt. Und die Handschrift auf dem Umschlag, die fiel mir auch auf, irgendwie krakelig, nicht so wie sonst die Handschrift meines Vaters, aber hintendrauf stand der Absender, Sgt. Joseph Kovacsics, das war schon er. Der Mann war eben verwundet. Das schreibt er gleich im ersten Satz, er habe Wundfieber und schreibe mühsam beim Schein einer Taschenlampe in einer dunklen Hütte. Die hatten ihn da hineingelegt und waren mehr oder weniger verschwunden. Er schreibt, es komme ihm vor, als sei er schon lange allein. Was wird mit mir geschehen. Als ich den Satz las, auf der Prärie draußen, ich war ja nicht so blöd, den Brief unter der Nase meiner Mutter und meines dämlichen Bruders Joey zu lesen, ich war mit dem Rad auf die Prärie hinausgefahren, als ich den Satz las, dachte ich an Kershaws rosaroten Kirschbaum. Ich habe gesagt, dass die Sache kitschig ist. Zweimal kommt in dem Brief der Satz vor. Vielleicht weiß mein Vater nicht, dass er sterben muss, vielleicht meint er, dass noch etwas für ihn getan werden könnte. Aber sicherheitshalber schreibt er diesen Brief an seinen Sohn Bill, er ahnt ja auch, dass es der letzte ist. Der erste und der letzte, um genau zu sein. Es stört ihn, dass es so dunkel ist. Wenn er über den nächsten Satz, den er schreiben will, nachdenkt, ist es total dunkel um ihn herum, weil er die Taschenlampe ausknipst, um die Batterie zu sparen. Und das stört ihn, dass sich rein nichts aus dem Dunkel schält, auch nachdem sich seine Augen daran gewöhnt haben. Draußen ist eben eine Urwaldnacht, er hört manchmal einen Ton, wie wenn eine Kugel über eine Holzplatte hüpft, das ist alles. Was ist das für ein Fraß. Ich meine, was die da verteilen. Ich weiß nicht, ob Sie’s sehen können, grüner Curry und Roastbeef oder was, verdammt nochmal. Akzeptieren wir nicht, was, Martha. Also, bevor die uns hier auf den Leib rücken, kurz zusammengefasst: Ein Teil des Briefs besteht aus Klagen gegen Rosie, meine Mutter. Seltsames Zeug, der Mann hatte ja Fieber. Da und dort vergisst er, dass Rosie seine Frau ist, und schreibt Mutter. Mit der Mutter sei er schlecht beraten gewesen. Ich solle aufpassen, sie versuche, einen vom Leben fernzuhalten. Er habe gesehen und gehört, wie sie am Bett meines schlafenden kleinen Bruders zu diesem sagte, du nicht. Dreimal. Du nicht, du nicht, du nicht. Das sei der Fluch, der auf Joeys Leben laste, und er hoffe nur, dass sie mich nicht auch verflucht habe. Er bete für mich. Er habe die Taschenlampe ausgemacht und bete für mich in diesem Dunkel. Wenn er heimkäme, würde er Mutters Fluch, da schreibt er wieder Mutter, unschädlich machen, er wisse jetzt, wie das geht. Er habe es in diesem Urwaldloch gelernt, von einer Schamanin. Er erklärt mir, was das ist. Eine, die mit den Geistern in der Luft und unter der Erde und unter Wasser in Verbindung treten kann. Die wisse, wie man die Mauer abbricht, die jemand um einen herum errichtet hat. Schade, dass er das nicht schon gewusst habe, als er noch bei uns gewesen sei. Ihm könne Rosie nichts anhaben, aber gegen ihre Manipulationen gegen mich und besonders Joey habe er damals kein Mittel gewusst. Da brauche es einen starken Zauber, aber er sei dabei, ihn zu lernen, so wahr er Joseph F. Kovacsics heiße. Dann kommt Leere, ich meine, im Brief ist eine Leerstelle, es geht erst auf der nächsten Seite weiter, in besserer Schrift. Er beklagt sich wieder über die Dunkelheit, aber dann schreibt er, auf einmal sei die Tür aufgegangen, und die Sonnenhelle von draußen habe ihn geblendet. Er habe zuerst nicht sehen können, wer hereinkam. Die Stimme eines Jungen habe in holperigem Englisch gesagt, sie gekommen für sehen, ob du etwas brauchst. Sie, das war die Schamanin. Er habe gesagt, er brauche eine Batterie für die Taschenlampe, aber das hatte sie nicht. Das Dorf war praktisch leer, nachdem Vaters Einheit abgezogen war. Die Schweine. Man hätte sie verklagen sollen, aber als ich den Brief bekam, war es irgendwie zu spät. Und mit diesen Arschfickern wollte ich nichts zu tun haben, nicht mal auf diese Art. Pardon. Martha, lass mich nicht so reden. Ich hoffe, Sie verzeihen uns, Martha und mir, und hören sich an, wie das mit der Schamanin und meinem Vater ging, noch vor dem Showdown mit den Flugbegleiterinnen. Mein Vater hat alles aufgeschrieben, beim Schein seiner schwächer werdenden Taschenlampe. Für mich. Er schreibe es für mich auf, auch wenn ich es noch nicht richtig verstehen könne. Er dachte ja, er schreibe an ein achtjähriges Kind. Wobei ich die Sache auch neun Jahre später nicht verstand, auch heute noch nicht wirklich, um ehrlich zu sein. Also, mein Vater und die Schamanin haben, mit Hilfe dieses völlig abgemagerten Jungen, der etwas Englisch konnte, einen Deal gemacht. Sie kanalisiert für ihn N.T., er unterschreibt für sie ein Papier, mit dem sie durchs militärische Sperrgebiet hindurchkann. Meinem Vater ist die Sache zwar nicht geheuer, der Wisch ist auf Vietnamesisch geschrieben, aber sie braucht die Unterschrift eines Offiziers oder Unteroffiziers der U.S. Army, und so unterschreibt er eben, ohne zu wissen was. Der magere Junge kann es ihm auch nicht erklären, der sagt immer nur, with paper go to other place. Die Schamanin freut sich sehr über die Unterschrift und macht sich daran, N.T. zu kanalisieren. Abkürzung meines Vaters. Gegen Ende des Briefs kürzt er immer mehr ab. Er wird ja immer schwächer, und die Taschenlampe wird auch immer schwächer. Seine ganzen letzten Tage schreibt er an dem Brief. Sie hingegen fragen sich, was oder wer ist N.T. Habe ich mich jahrelang auch gefragt, hat mich eine Menge Nachforschungen gekostet. Und eine Menge Geld. Bin sogar einmal nach Wien geflogen deswegen. Aber ich erspare Ihnen die Geschichte der Nachforschungen und sage gleich, dass am Ende der geniale Professor Angelfield in Mississauga dank einer Stelle im Brief darauf gekommen ist. Die Stelle geht so: Sch. sagt, N.T. an Strand an Vormittag v. 3000 Jahr. Professor Angelfield hat gleich gesagt, Sch. ist Schamanin, N.T., das ist jemand, der an einem Vormittag vor dreitausend Jahren am Strand steht. Der grammatikalische Fehler, Jahr statt Jahren, sei einem Sterbenden zu verzeihen. Mich wunderte er trotzdem, mein Vater war in Sachen korrekte Sprache sehr streng, aber eben. Von da an, ich meine, von dieser Stelle an, brauchte Angelfield nur noch ein paar Tage, um das Bild beisammenzuhaben. N.T. ist Nguyen Tranh, ein heiliger Ahne, der in mehreren Dörfern am Golf von Tonkin verehrt wurde. Von dem hieß es, er sei eines Vormittags vor dreitausend Jahren am Strand aufgetaucht. In Begleitung eines zahmen Affen, um genau zu sein. Präzisierung des Professors, mein Vater schreibt nichts vom Affen. Er schreibt, was Nguyen Tranh gesagt hat. Es ist unklar, ob ihm die Schamanin erzählt, was N.T. gesagt hat, oder ob da N.T.s Geist schon bei ihm ist. Jedenfalls soll N.T. gesagt haben, macht beim Waten durchs Nicht-Reisfeld keinen Lärm, sammelt eure beiden Köpfe ein, macht kein Aufhebens, meine Mutter ist ein Fisch. Man könnte ja auch denken, dass das die Fieberphantasien eines Sterbenden sind, aber der Professor hat gesagt, nein, es ist überliefert, dass Nguyen Tranh solche Dinge sagte. Es sei auch überliefert, laut Professor, dass Nguyen Tranh gefragt worden sei, was alle die Sprüche bedeuteten, und er geantwortet habe, das Rätsel ist die Lösung. Davon schreibt mein Vater nichts, sondern nur wieder vom Dunkel in der Hütte, aber jetzt wisse er, es komme davon, dass N.T. um ihn herum sei. Ich solle mir das merken, ganz dunkel = N.T. Und mich entsprechend verhalten. Was immer das heißt, er sagt es nicht. Professor Angelfield konnte es auch nicht sagen, oder wollte nicht, ich bezahlte ihn ja nur dafür, dass er herausfand, wer N.T. war. Mein Vater schreibt dann, die Schamanin habe lange geredet, auf Vietnamesisch. Der magere Junge habe nichts mehr übersetzt, der habe in der Ecke auf dem Boden gelegen. Das habe er, mein Vater, gesehen, als einmal die Tür aufging und wieder die Sonnenhelle hereinkam. Aber sonst nichts. Ich meine, sonst kam nichts oder niemand herein, schreibt mein Vater, die Tür geht einfach auf und wieder zu. Professor Angelfield hat gesagt, ja, solche Phänomene seien auf dem ganzen Nguyen-Tranh-Gebiet überliefert, gerade deshalb sei es auch schwierig, den Ort zu identifizieren, an dem mein Vater lag. In dem Augenblick, als die Tür offen war, sah mein Vater auch die Schamanin, schreibt er. Sie kauerte auf den Fersen, vor sich eine kleine Flasche Coca-Cola. Dann sah er sie nicht mehr, hörte nur ihre Stimme. Er sei todsicher, so schreibt er, todsicher, dass sie zu N.T. redete, ihn bat, bei ihm zu bleiben, wenn er nach Hause gehe, um Rosies Fluch zu brechen. Bei dieser Stelle hat der Angelfield gefragt, Ihr Vater ist sicher gestorben, nicht wahr. Ich habe nicht aus ihm herausbekommen, warum er fragte. Er sagte nur, ich will nichts gesagt haben. So, jetzt ist schon die Reihe vor uns dran, grüner Curry und Roastbeef, was habe ich gesagt. Denken Sie aber nicht, jetzt ist Schluss, der hat keine Zeit mehr, seine Story fertig zu erzählen. Doch, habe ich. Der Rest des Briefes besteht nur noch aus Stichwörtern und Abkürzungen. Mein Vater hat nicht mehr die Kraft zum Schreiben, und er sieht auch fast nichts mehr. T-lampe sterbend, schreibt er, N.T. in der Welt, Sch. weg, Atmen, Junge. Ich nehme an, dass der Junge noch da war und mein Vater sein Atmen hörte. Jedenfalls eine Zeitlang. Dann steht: Rätsel, Atem weg, T-lampe flackert, Dunkel. Das Wort Dunkel hat er im Dunkeln geschrieben, die Schrift verläuft schräg nach oben. Dann der letzte vollständige Satz, viel weiter unten angefangen, wahrscheinlich hat er gemerkt, dass er nicht mehr gerade schrieb, und Platz haben wollen, aber das letzte Wort ist trotzdem in die obere Zeile hineingeschrieben. Wieder das: Was wird mit mir geschehen? Na ja. Martha, hörst du, lass mich jetzt nicht hängen. Moment. Martha will, dass ich sie austrinke, auch wenn sie nur mehr ein lauwarmes Gesöff ist. So. Also, Sie fragen sich vielleicht, warum ist der Bill nicht an den Golf von Tonkin gefahren und hat nach dem Ort geforscht, an dem sein Vater gestorben ist. Aber ich frage Sie, obwohl Sie nur noch den Tabletts mit dem Fraß entgegenblicken, wie ich das hätte anfangen sollen. Eine obskure Schamanin finden, falls die noch am Leben war, der Junge kam ja nicht mehr in Frage. Sonst war niemand mehr an dem Ort gewesen. Ich hätte jemanden aus Vaters Einheit fragen können, wo sie ihn zurückgelassen hatten, die Schweine, aber mit denen wollte ich nichts zu tun haben, habe ich schon gesagt. Hätte also jahrelang in diesen Dschungelkäffern umherstapfen können, aber auch Angelfield hat gesagt, er würde mir raten, es sein zu lassen. Warum. Da segelt über meinem Kopf hinweg das Tablett mit Ihrem Curry, aber noch ist Zeit genug, Ihnen zu erzählen, dass Angelfield nur vor sich hin schaute und den Kopf schüttelte. Das gefiel mir nicht, ich sage es ehrlich. So, und jetzt zu uns, dearie.

5

Was für ein Kotzbrocken, dieser Bill, das hätte ich nicht gedacht, sagt Michael zu Stefan.

Wieso staunst du, einer, der so hemmungslos und so laut redet, dem ist doch alles egal, sagt Stefan, während er sich zurücklehnt und die Augen schließt.

Hast recht, sagt Michael, aber trotzdem, eine solche Szene zu machen. I won’t eat this shit, I’m a vegetarian, a fucking vegetarian.

Pass auf, er hört es, sagt Stefan, ohne die Augen aufzumachen.

Ich schreie aber nicht so wie er.

Na ja, und sonst hört er’s halt, sagt Stefan und dreht sich in seinem Sitz, so weit es geht, auf die Seite, lehnt das Gesicht an die Rückenlehne.

Das arme Mädchen hat fast geweint, sagt Michael. Und dazu nennt er sie die ganze Zeit dearie, die hätte ihm sicher am liebsten das Tablett auf den Schädel geknallt. Wahrscheinlich hat er sein vegetarisches Menü wirklich nicht vorbestellt, war vielleicht nur ein Anfall.

Kann sein, sagt Stefan, ohne die Augen aufzumachen.

Der wollte, sagt Michael, dieser Kuh dahinten, die ihm dauernd die Stichwörter zum Weiterquasseln liefert, vielleicht nur beweisen, was für ein Sensibler er ist, und zu Hause frisst er seine Steaks.

Zu Hause in Kansas, sagt Stefan.

Nein, Elgin bei Chicago.

Wieso Elgin bei Chicago, sagt Stefan mit geschlossenen Augen.

Hat er doch gesagt, da wohne er jetzt.

Hat er nicht was von Kansas gesagt, sagt Stefan.

Seine Großeltern wohnten in Kansas, Topeka, Kansas.

Aha, sagt Stefan, hast gut aufgepasst.

Ja, und weißt du warum. Weil meine auch. Ich hatte auch Großeltern in Kansas.

Echt, sagt Stefan und öffnet die Augen zu Schlitzen. Hast du mir gar nie gesagt, sagt er und schließt die Augen wieder.

Ja, sagt Michael, zwar nicht in Topeka, aber in Kansas, Junction City heißt das Kaff.

Aber du bist doch Italoschweizer, sagt Stefan, ohne die Augen aufzumachen, wo kommen plötzlich amerikanische Großeltern her.

Es waren Italiener. Ausgewanderte.

Ist ja heiß. Meine Großeltern waren beziehungsweise sind, wo noch vorhanden, aus Willisau und Wolhusen, sagt Stefan mit geschlossenen Augen.

Junction City ist auch nicht besser.

Warst du mal dort, fragt Stefan gähnend.

Ja, wir haben sie einmal besucht, die ganze Familie, Ende Siebzigerjahre, ich war noch klein.

Familienferien, huch, sagt Stefan.

War nur halb so schlimm, wir sind von Washington mit dem Auto querfeldein nach Kansas gefahren.

Toll, sagt Stefan und greift, ohne die Augen aufzumachen und die Position zu verändern, nach der Decke zu seinen Füßen und zieht sie über sich.

Ja, sagt Michael.

Sie schweigen, Michael schaut vor sich hin, Stefan scheint schon zu schlafen. Jetzt sagt er aber, also, wie ist es, mit dem Auto querfeldein durch Kansas.

Ist schon lange her, sagt Michael.

Du wirst dich doch an etwas erinnern.

An einen Präriehund am Straßenrand.

Einen was, sagt Stefan.

Präriehund. Keine Hunde, sondern so murmeltierähnliche Tiere, aber irgendwie hübscher.

Hübsche Murmeltiere, sagt Stefan.

Ja, so eins hat am Straßenrand auf den Hinterbeinen gesessen und auf die Fahrbahn gestarrt.

Wieso. Machen die das, fragt Stefan und zieht die Decke noch höher.

Habe ich auch gefragt, machen die das, aber niemand hatte es gesehen. Sie verstanden nicht, wovon ich redete, sagt Michael.

Aber du hast es gesehen.

Hinten durchs Fenster. Ich saß rechts am Fenster. Dann kniete ich mich auf den Sitz und sah es auch durch die Heckscheibe. Es saß an der Sonne. So ziemlich das einzige Vertikale in dieser ganzen Weite. Ich konnte es noch lange sehen, erstaunlich lange, dafür, dass es ein kleines Tier war.

Toll, sagt Stefan.

Findest du, sagt Michael.

Ja, Sonne und Weite. Wir pendelten sonntags zwischen Wolhusen und Willisau, von den einen Großeltern zu den anderen. Meistens regnete es, sagt Stefan.

Ja, das fand ich auch toll, die ganze Zeit von Washington bis Junction City dieser endlose blaue Himmel.

Könnten wir doch einmal machen, eine solche Fahrt, sagt Stefan, ohne die Augen zu öffnen.

Könnten wir schon, aber eher ohne Kansas.

Wieso.

Einmal Kansas genügt, sagt Michael. Auch wenn es jetzt ohne meinen Vater und Bruder wäre.

Haben die Terror gemacht, fragt Stefan und öffnet kurz die Augen.

Klar. Mein Bruder war schon sechzehn, lange Haare, mit Amuletten vollgehängt, dazu mein Schweizer Vater, kannst dir ja vorstellen.

Ach je, sagt Stefan und schließt die Augen wieder.

Und uns hat Renzo, mein Bruder, Schiss gemacht, meiner Mutter, meiner Schwester und mir, hat dauernd gesagt, Kansas sei das Land des Teufels, bis ich mich kaum mehr getraute, zum Pissen aus dem Auto zu steigen. Es war glaubhaft, wenn du nur ein paar Schritte vom Auto wegmachtest, kamst du dir gleich verloren vor, allein in dieser völlig leeren, völlig stillen Landschaft.

Wart mal, sagt Stefan mit geschlossenen Augen. Ich hab’s. The Devil Came from Kansas, der Procol-Harum-Song.

Bravo. Genau. Mein Bruder hatte ihn schon zu Hause die ganze Zeit laufen lassen, aber wir verstanden ja den Text nicht, und dann ist meine Mutter sich bekreuzigend durch Kansas gefahren, sie hatte echt Schiss.

Die Ärmste, sagt Stefan gähnend.

Mir, sagt Michael, gefiel die Sache aber auch, ich begann Ausschau zu halten nach dem, na ja. Aber schlaf jetzt, ist eh eine alte Story.

Erzähl sie mir als Gutenachtgeschichte, habe Mühe mit Einschlafen, hätte diesen Scheißkaffee nicht trinken sollen.

Ist kein Thema für im Flugzeug, sagt Michael und versucht zu lachen.

Hehe, sagt Stefan, weil es um den Teufel geht, mein süßer, abergläubischer Schatz.

Ach komm, sagt Michael.

Ach komm, sagt Stefan, erzähl mir von querfeldein durch Kansas.

Wenn du’s wissen willst, ich war halbtot vor Angst, als wir bei den Großeltern ankamen.

Wieso, sagt Stefan, ohne die Augen zu öffnen, hast du nicht gesagt, die Reise war toll.

War sie, sagt Michael.

Also was, sagt Stefan.

Ach komm, lassen wir’s jetzt.

Aha, sagt Stefan, du hast den XY tatsächlich gesehen.

Na komm, lassen wir’s.

Stefan macht die Augen auf. Du, sagt er, erzähl oder ich mache eine Szene wie dieser Amerikaner. Gruselgeschichten sind das Beste zum Einschlafen.

Also gut, sagt Michael, nicht weit vor Junction City war an der Straße ein Schild, wie ein Verkehrsschild, mit dem XY darauf.

Echt, sagt Stefan und schließt die Augen.

Das fuhr mir schon ein. Wir alle sahen es, mein Bruder natürlich happy, er hatte es gesagt, Vater fluchend, war seine Art, mit unverständlichen Dingen umzugehen, Schwester weinend. Am wenigsten erschüttert war meine Mutter, Kreuz darauf, und die Sache ist erledigt.

Tolle Story, sagt Stefan, und sie wirkt schon. Du wirst sie mir dann ausführlich erzählen, die ganze tolle Reise. Jetzt lass mich schlafen.

6