Cover

Über dieses Buch:

Lange hat Louisa sich damit abgefunden, dass es in ihrer Vergangenheit Lücken gibt, vieles, über das sie nichts weiß. Doch ein unerwartetes Erbe zwingt die junge Ärztin nun dazu, sich endlich damit auseinanderzusetzen: Wer ihr Vater war, hat sie nie erfahren und auch ihre Mutter kannte sie kaum – und dann gibt es noch dieses Haus, das sie von einem Mann geerbt hat, dem sie noch nie begegnet ist. Um all diesen Fragen auf den Grund zu gehen, besucht Louisa die einzige noch lebende Schwester ihrer geliebten Großmutter Henni. Zögerlich beginnt die alte Frau zu erzählen, und so entfaltet sich vor Louisa endlich die wahre Geschichte ihrer Familie, eine Geschichte voller Zwist, Gefahren, verborgener Leidenschaften und Schicksalsschlägen – und Louisa muss entscheiden, was ihre Vergangenheit für ihre Zukunft bedeutet …

Über die Autorin:

Viola Alvarez, geboren 1971 in Lemgo, ist eine deutsche Schriftstellerin, Dozentin und Keynote-Speakerin. Sie ist Inhaberin eines Instituts für Managemententwicklung und Kommunikationspsychologie. Sie lebt im Rheinland.

Die Autorin im Internet: www.viola-alvarez.de

Von Viola Alvarez sind bei dotbooks die folgenden Romane erschienen:
»Was uns am Ende bleibt«
»Ein Tag, ein Jahr, ein Leben«
»Die Zunftmeisterin«

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Originalausgabe Oktober 2017

Der Roman erschien bereits 2015 unter dem Titel »Ein Rest von Liebe« bei dotbooks.

Copyright © der Originalausgabe 2015, 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung und Titelbildabbildung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/smileus, Edita Ruzgas, Ysbrand Cosijn

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ml)

ISBN 978-3-96148-184-2

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Viola Alvarez

Das Flüstern des Glücks

Eine Familien-Saga

dotbooks.

Für Mary und Wolfgang

von Herzen

in Dankbarkeit, großer Achtung und Zuneigung

Teil 1

Nachweise

Hannover 2009

Kapitel 1

Gewitter

Oma Henni hatte furchtbare Angst vor Gewittern gehabt, erinnerte sich Louisa mit Blick auf den Herbstregen.

Wenn es auch nur leise in der Ferne zu grummeln begann, während das Essen auf dem Tisch stand, hatte Oma Henni sofort panisch und in Windeseile den Tisch abgeräumt.

»Ochott!«, hatte sie ausgerufen. Dann schaufelte sie das Essen in die Töpfe zurück und warf das Geschirr geradezu in den Spülstein. Ob dabei was zu Bruch ging oder nicht, war dann ausnahmsweise egal.

»Oma, was ist denn los?«, hatte Louisa gefragt, wenn sie das leise Grollen gar nicht gehört hatte.

»Den Schläfer lass schlafen, den Fresser schlag tot«, hatte Oma Henni ebenso rätselhaft wie überzeugt erklärt. Louisa, das Kind, stand, wenn diese großmütterliche Gewitterpanik ausbrach, vor einem Rätsel ohne Lösung; es kam ihr vor wie eine von diesen Scherzfragen, die sie nicht verstand, die ältere Kinder jedoch lustig fanden.

Louisa als Teenager, altklug und überlegen, hatte schließlich versucht, Oma Hennis Bedenken durch schlaue Reden von Blitzableitern und Wahrscheinlichkeiten zu entkräften.

»Was ein Unsinn«, hatte Oma Henni dann nur gemurmelt, völlig unbeeindruckt vom Trost moderner Wissenschaft, und hatte ganze Vorratspackungen an Kerzen entzündet, dabei Rosenkränze gebetet und das Ende des Gewitters zitternd auf dem Sofa abgewartet. Dann wurden die Kerzen energisch ausgepustet, und den ominösen Rosenkranz verstaute sie in einer Schachtel, die nach Kölnisch Wasser roch. Louisa, die ihre Oma Henni nur als überzeugte niederrheinische Protestantin kannte, voller Misstrauen gegen Katholiken und deren dubiose Rituale, hatte mit den Jahren zunehmend erstaunt mit angesehen, wie die religiösen Requisiten des Gewitters erst hervorgeklaubt wurden und anschließend scheinbar im Nichts verschwanden.

Erst dann, nach endgültigem Aufklaren des Himmels über Wesel, war Henni wieder die Oma geworden, die Louisa kannte.

Die sie liebte wie keinen anderen Menschen auf der Welt.

Oma Henni, eine Art Ersatz für die Mutter, die sie nie hatte.

Louisa, die Erwachsene, stand jetzt in Erinnerungen versunken am Fenster; sie kam sich vor wie jemand, der nach einer Party noch auf der Türschwelle herumlungert, nicht mehr bleiben will, aber auch noch nicht so recht gehen mag. Draußen goss es in Strömen. Kein Gewitter in Sicht, nur Herbstregen, endloser Herbstregen.

Louisa konnte sich auch noch mit scharfer Genauigkeit in das Gefühl zurückversetzen, das sie als Kind gehabt hatte, wenn sie an den Herbsttagen über die leeren Felder schaute.

Eine Mischung aus Wehmut und Versprechen, etwas ungeheuer Aufregendes lag darin und zugleich ein Widerhall von Melancholie. Das Gefühl hatte in ihrem Magen gesessen wie ein zappelnder, ziehender Kobold, und sie hatte losrennen müssen, um es auszuhalten. Oma Henni hatte tausend Ängste um ihre Enkelin ausgestanden: das Kind allein draußen auf freiem Feld, eine Einladung geradezu für Blitzschläge: »Ochott!«

Aber Louisa musste rennen, durch den Regen, um zu entwischen. Sie liebte das Gefühl, in diesen Momenten des Rennens ganz und gar frei zu sein. Weder an die Weihnachtsabende noch an ihre Geburtstage oder die Sommerferien konnte sie sich mit derselben Intensität erinnern wie an dieses Gefühl.

»Gott, ist das alles lange her«, murmelte Louisa zu sich selbst.

Sie trank ihren Tee, die linke Hand an den Fensterrahmen gelegt, starrte auf die abgenutzten Felder draußen und fühlte gar nichts mehr. Die Erinnerung an Oma Henni war jetzt wie eine Fotografie, zu der sie nur die Geschichten von anderen gehört hatte, ohne Echo in sich selbst.

In Filmen konnte sie es nicht leiden, wenn Leute gezeigt wurden, die stumm am Fenster standen, meist von hinten zu sehen, das Gesicht durchsichtig in der Scheibe widergespiegelt. Das Bild suggerierte eine Lebensmüdigkeit, die Tiefgang vortäuschen sollte, fand sie. Was für ein Bild gab sie selbst ab?

Ein gerupfter Krähenschwarm flog Schleifen über den geraden, nassen Ackerfurchen draußen hinter dem Klinikparkplatz.

Der Regen ging in Schnüren über die Landschaft. Die vielen Linien und Bewegungen passten nicht zusammen, schien es ihr. Nichts passte mehr zusammen. Louisa bewegte ihre Zehen in den etwas zu weiten Schuhen, die sie nur in der Klinik trug, sie wollte nach Hause.

Sie fühlte Müdigkeit und Niedergeschlagenheit wie zwei schwere Hände auf ihren Schultern. An diesen Regentagen störten sie die Klebeblumen und Malereien an den Fenstern ihrer kleinen Patienten besonders, wie eine dumm-höhnische Verkehrung dessen, was Kindheit eigentlich sein sollte.

Die Regeln einer glücklichen Kindheit. Sie musste es ja wissen. Louisa lachte freudlos.

Birgit, die Stationsschwester, war gerade reingekommen und fragte: »Hm? Was denn? War was komisch?«

»Ich bin komisch, ich bin sogar sehr komisch«, antwortete Louisa, und Birgit schüttelte missbilligend den Kopf. Sie hielt Louisa Schellack für arrogant und eingebildet. Eine von denen, die dachte, dass sie was Besseres wäre, hatte Birgit entschieden.

Das Telefon läutete.

»Station U3, Schwester Birgit.«

Louisa drehte sich um und winkte schnell ab.

»Bin schon weg.« Sie bewegte lautlos und übertrieben die Lippen.

»Jaha«, sagte Birgit munter, »ja, sicher, sie ist noch hier. Ja, ist gut, ich sag’s ihr.«

Sie legte auf und lächelte Louisa mit Genugtuung an.

»Er will dich sprechen. Jetzt.« Das Er betonte sie; es klang zugleich anzüglich und devot. Er, Professor Mannkopf, der Chef. Birgit hatte entschieden, dass die makellose Frau Dr. Schellack mit dem Chefarzt eine Affäre haben musste. Sie hatte sie erst letzte Woche auf dem Gang stehen und leise reden sehen, die Gesichter voneinander abgewandt. Sie machten so ganz auf unverbunden, so extra beiläufig und professionell. Solche Signale waren verdächtiger als Rumknutschen in der Wäschekammer, hatte Birgit auch gleich jedem gesagt, der’s hören wollte.

 »Ist ja bestimmt dringend«, fügte Birgit hinzu und lauerte auf eine Antwort, die nicht kam.

 »Ich geh mich erst umziehen«, antwortete Louisa nur, »Matthias ist ja schon unten, wenn was ist.«

»Jahaaa«, Birgit lächelte wieder, jeder Zahn wie eine kleine Fassade, hinter der gar nichts zum Lachen war.

»Die«, dachte sie, auch wenn sie nie hätte sagen können, was sie an ihrer Oberärztin so derartig aufregte. Es war vielleicht gerade das: die Abwesenheit offensichtlicher Fehler und Störungen.

»Die«, sagte sie dann leise noch mal, als Louisa gegangen war. Sie blickte ihr nach, wie sie den Gang hinunterlief, grüßend, freundlich, eine Frau, die versuchte, die Dinge gut zu machen. Zu gut.

Irgendwas hatte es damit zu tun.

Im Ärztezimmer an ihren Schrank gelehnt, warf Louisa ihre Sachen in den Wäschesack, gefaltet, ordentlich. Dass jemand anders sich um ihre persönlichen Belange kümmern musste, war ihr immer unangenehm. In Hotelzimmern machte sie deshalb ihr Bett selbst; bevor sie abreiste, putzte sie schon mal das Badezimmer und zog die Kissen ab, um den Zimmermädchen Arbeit abzunehmen. Saphala, eine indische Kommilitonin, hatte im Studium mal zu ihr gesagt: »Bei uns würde man denken, du kommst aus den Shudras.«

Louisa hatte nicht verstanden.

»Eine der untersten Kasten«, hatte Saphala ihr dann erklärt, »nur einen Schritt über den Unberührbaren.«

Louisa erinnerte sich, wie sie zusammengezuckt war; an das Gefühl, bei einem schlecht verborgenen Verbrechen ertappt worden zu sein.

»Warum das denn?«, hatte sie heiser gefragt. »Wie kommst du denn darauf?«

Saphala hatte es ihr erklärt. »Dein Bedürfnis nach niederer Arbeit, nach Arbeit, die nichts mit dem zu tun hat, wer du bist«, hatte sie gesagt. »Nur niedrig Geborene haben so etwas.«

Louisa hatte nichts zu erwidern gewusst, aber der Satz hatte sich in ihr Hirn eingraviert. Es traf eine Furcht, die sie ihr Leben lang gehabt hatte: nur einen Schritt entfernt von Unberührbarkeit zu sein, eine Ausgestoßene, Andersartige.

»Bescheuert«, dachte Louisa und konnte sich doch nicht helfen. Sie zog ihre Jeans und die neuen Stiefel an, deren Glanz der nasse Herbst heute gewisslich den Garaus machen würde. Ihre Bluse sah auch schon etwas schlapp aus, aber der Pullover deckte die meisten Knitterfalten freundlich ab. Sie bürstete ihre Haare und suchte ihr Gesicht nach Zerstörungsspuren ab.

Da war die kleine Zeit, die die Wimperntusche verwischte und den Lippenstift eintrocknen ließ. Und da war die große Zeit, die unaufhörlich Falten um die Augen ritzte und um den Mund. Wie immer sah sie Oma Hennis Gesicht hinter ihrem eigenen, einen Teil von Oma Hennis Gesicht zumindest.

»Geht ja noch«, murmelte sie sich zu. Es passte ihr eigentlich nicht, dass Mannkopf sie noch sprechen wollte. Sie war sowieso schon spät dran. Vorsichtshalber zog sie den Trenchcoat an und wickelte den Schal um ihren Hals, um Mannkopf zu signalisieren, dass sie es eilig hatte. Sie hatte es immer eilig. Ihm abzusagen wäre ihr trotzdem nie in den Sinn gekommen. Auf dem Weg zu seinem Büro unten rief sie schnell Heidrun an und bat sie, noch ein bisschen länger zu bleiben.

Ein paar Patienten kamen ihr entgegen und grüßten, Louisa grüßte die Kinder pantomimisch zurück. Angehörige, besorgte Eltern blieben ein paar Augenblicke erwartungsvoll neben ihr stehen, während sie mit Heidrun telefonierte. Sie schienen unbeeindruckt von der Tatsache, dass Louisa, ganz offensichtlich nach Dienstschluss, versuchte, ein Privatgespräch zu führen.

Louisa mimte bedauernde Absage an die Eltern und deutete aufs Ärztezimmer, während sie gleichzeitig »Aha … aha« zu Heidruns Bericht ins Telefon sagte, obwohl sie gar nicht alles verstehen konnte. Klein-Phil krähte Unverständliches ins Telefon, Louis heulte im Hintergrund, dass er ein Ritter wäre und deswegen dringend ein großes Messer bräuchte. »Ein ganz langes aber!«

»Das ist die Mama«, gab Heidrun an die Kinder weiter, »die Mama kommt jetzt bald.«

»Kann ich jetzt mal mit der Mama reden?«, kam Louis’ Stimme näher, aber Heidrun legte auf.

Heidrun war die Grenze, die Louisa fehlte, ohne Heidrun ging gar nichts mehr. Im Laufe der letzten beiden Jahre hatte sie angefangen, an Heidrun wie an eine persönliche gute Fee zu denken. Die Angehörigen hatten nun aufgegeben; Louisa packte erschöpft ihr Telefon ein.

Sie empfand sich als matt und unzureichend, um sie herum die ständige Kakophonie unsichtbarer Uhren, deren Zeit ihr fortlief. Sie spürte, dass sie während des kurzen Weges begonnen hatte zu schwitzen, und zog den Schal wieder vom Hals.

Mannkopfs Vorzimmertür war geschlossen, als sie endlich dort ankam. Louisa klopfte an.

»Bitte«, rief Frau Gilbs so vornehm und distanziert wie die Gastgeberin eines vornehmen literarischen Salons, die nur aus Notwendigkeit einen Parvenü empfangen muss.

»Hallo«, grüßte Louisa und lächelte freundlich. Immer nett sein.

Frau Gilbs sah nicht mal auf. »Er wartet«, sagte sie nur vorwurfsvoll.

Louisa klopfte an Mannkopfs Bürotür.

»Ja«, ein Hieb, keine Einladung.

Was ist hier denn los?, dachte Louisa.

Kapitel 2

Die Versuchung

Mannkopf saß hinter seinem Schreibtisch. Er wirkte bisweilen wie ein Primararztdarsteller in einem Heimatfilm. Das wusste er, und es störte ihn nicht. Er fand, dass man seinen Stand durchaus zeigen durfte. Mannkopf gehörte einer anderen Generation von Ärzten an als seine jungen Kollegen. Einer, die noch auf Privilegien pochte und für sich selbst aus gutem Recht heraus einen Platz über den Dingen des Alltags beanspruchte. Dass Kinderärzte mittlerweile sympathisch, zugänglich und lässig sein sollten, war ihm egal. Mannkopf ging im Sommer oft mit einem um die Schultern geknoteten Pullover vom Golfspielen direkt in die Klinik. Er trug am Revers seines Sakkos ein winziges goldenes Clubabzeichen, so diskret, dass sich keiner traute, ihn darauf anzusprechen. Aber alle wussten, wie exklusiv der dazugehörige Club sein musste. Mannkopf verströmte im Alltag die unwidersprochene Aura, dass das Leben persönliche Widrigkeiten gefälligst von ihm fernzuhalten hatte. Auch jetzt vermittelte er das Bild eines Mannes, für den Enttäuschungen jeglicher Art eine Zumutung waren. Seine Hände lagen angespannt auf der Schreibtischunterlage.

Er hatte sich fest vorgenommen, die Situation kontrolliert zu behandeln. Hartwig Mannkopf wäre gar nicht auf die Idee gekommen, von sich selbst anzunehmen, eine Situation nicht unter Kontrolle zu haben.

Vielleicht, wenn es mal ganz ausgelassen zuging, auf einem Umtrunk nach einem Kongress oder Symposion, dann hatte er schon mal einen Witz erzählt oder ein »Du« angeboten, das er am nächsten Morgen gern wieder zurückgenommen hätte. Aber ansonsten pflegte er von sich selbst das Bild eines Wissenden, den Zufälle in ihren Entgleisungen nicht berührten. Ein Chirurg des Lebens, dachte er gern, jemand, der sich nicht scheute, Schnitte zu setzen, dort, wo sie hinmussten. Er hatte seit Jahrzehnten Urteile und Entscheidungen zu fällen über Leben und Tod. Dazu brauchte man klare Gedanken, eine ruhige Hand und wenn nötig deutliche Worte.

Er war nicht aus der Fassung zu bringen, glaubte er.

Jetzt aber fühlte er eine zornige Hitze im Solarplexus, die ihn selbst erstaunte. Er sah Louisa an, die ihm mit hochgezogenen Brauen schüchtern und erwartungsvoll zugleich entgegenlächelte. Erst hätte er fast zurückgelächelt; er konnte sich kaum dagegen wehren, gegen dieses Bedürfnis, in ihrer Gegenwart einen Teil von sich selbst loszulassen. Dann räusperte er sich, um diesem Gefühl entgegenzuwirken und es in die vorbedachten Bahnen seiner eigentlichen Rechtschaffenheit zurückgleiten zu lassen.

Nur sie vor sich zu sehen, störte ihn wie immer, verstörte ihn wie immer. Er hatte sich von Frauen nie verstören lassen.

Unterhalten, ja, bisweilen auch zerstreuen. Er konnte Frauen immer gut da lassen, wo sie sich in ihren eigenen komplizierten Welten selbst versperrten. Nur Louisa verstörte ihn, brachte ihn auf, brachte ihn dazu, an sich selbst in einer ungeübten Erfahrung völliger Unvollkommenheit zu denken, unerfahren und unsicher.

Louisa sah müde aus, das war nichts Neues.

Sie sah bedrückt aus, auch das nichts Neues; für Mannkopf hatte sie immer etwas von der tragischen Heldin aus einem bürgerlichen Trauerspiel. Innerlich trug sie Gewänder, dachte er, keine Kleider. Sie war eine Frau für Gemälde und Miniaturen. Die Idee einer Frau vielleicht sogar mehr als die Person. Und eine reflexive Idee zudem. Man war gezwungen, fand Mannkopf, sich vorzustellen, was für ein Mann ein jeder wohl an der Seite einer solchen Frau sein könnte.

»Eine Versucherin der Selbstoptimierung ist sie«, hatte Mannkopf einmal angetrunken seinem Golfpartner gestanden, dem er von seinen Gefühlen für Louisa erzählt hatte. Der Golfpartner, ein Bauunternehmer, hatte ihn halb beeindruckt, halb mitleidig angesehen.

»Hartwig«, hatte er dann milde gesagt, »da gibt’s für jemand in unserem Alter doch sicher was Leichteres. Was wollen wir uns denn optimieren, nachdem wir Jahrzehnte durchgesetzt haben, dass wir sein dürfen, wer wir sind?«

Mannkopf hatte seine Offenheit daraufhin natürlich bereut. Und er bereute seine Gefühle für Louisa, seine vielen ungeübten Gefühle.

Wie er sie jetzt sah, fürchtete er, dass ihm seine Entrüstung, die er so sorgsam auf ihre Berechtigung hin überprüft hatte, gleich einem surrenden Ballon entwischen könnte. Er hatte immer noch nichts gesagt.

»Hallo«, Louisa schloss endlich die Tür hinter sich. »Ich war schon fast weg«, sagte sie mit einem kleinen Lachen. Mannkopf schwieg weiter. Dann nahm er langsam die Brille ab und rieb sich die Nasenwurzel, wobei er die Augen schloss.

Louisa stand da wie ein Schulmädchen. Er mochte es nicht, wenn sie sich so klein machte. Es erinnerte ihn daran, dass sie sich ihm verpflichtet fühlte.

Das wollte er nicht, hatte er nie gewollt. Er hatte ihr damals den Posten aus Überzeugung angeboten, trotz der zeitlichen Einschränkung durch ihre Kinder. Die Kollegen waren nicht besonders glücklich damit, dass sie jeden Tag um zwei gehen durfte. Dass man für sie Ausnahmen machte bei Wochenend- und Nachtdiensten. Sie blieb zwar fast immer ganz bewusst noch eine Stunde länger, aber das nützte nicht viel. Die Schwestern zogen wegen ihrer Privilegien oft über sie her. Doch Mannkopf hatte sich nie beschwert, sondern sie immer weiter gefördert. Er hatte ihr großzügig bemessene Zeit für ihre Forschung und für Kongresse zugeteilt.

Er unterstützte auch ihre Kampagne zur Medikamentenreduzierung bei Kindern, dies sogar gegen die ausdrückliche Anweisung der Klinikleitung. Mannkopf war jetzt um die sechzig, aber immer noch bereit, sich mit der Institution Klinik anzulegen. Man kam in der Medizin nicht weiter, wenn man nichts Neues ausprobierte. Er hatte immer Lust auf das Neue gehabt.

Das mochte er auch an Louisa Schellack. Zuerst war ihm gar nicht aufgefallen, dass seine Zuneigung über die Grenzen der Kollegialität hinauszuwachsen begann. Aber seine diagnostischen Fähigkeiten waren schließlich auch ihm selbst gegenüber akkurat. So bemerkte er, dass er es bei Besprechungen immer so einrichtete, dass sie noch länger bleiben musste als die anderen. Dass sie zusammen zu Kongressen oder Veranstaltungen eingeladen wurden, zusammen anreisen mussten – damit sie Zeit nur miteinander hatten. Vor einem Monat dann hatte er sich vergessen.

»Es tut mir gut, mit Ihnen zusammen zu sein, Louisa«, hatte er damals gesagt und ihr dabei den Arm um die Schultern gelegt. Sie hatte sich nicht wirklich bewegt, aber er glaubte, einen inneren Rückzug, eine tiefe Starre gespürt zu haben. Mannkopf hatte sofort losgelassen. Obwohl ihm das danach nie wieder passiert war, fühlte er manchmal, wenn er mit ihr allein war, unsichtbar und körperlos, eine seltsam flüssig aufsteigende Hitze.

Es war eine Wärme, die ihn dazu zwang, sich von ihr abzuwenden, um es nicht noch einmal zu tun.

Da stand sie nun und hielt ihre Handtasche wie einen Schild vor sich. Mannkopf öffnete die Augen. Er hatte seine Wut wieder zu fassen bekommen oder sie ihn.

»Wissen Sie, was ich nicht leiden kann?«, fragte er mit einem dramatischen Vibrato.

Louisa blinzelte erschrocken, sie wurde rot. Seine Finger strichen mit sanfter Gewalttätigkeit über einen verdeckten Brief auf seinem Schreibtisch.

»Undankbarkeit«, antwortete er sich selbst. »Illoyales Verhalten.«

»Bitte?«, fragte Louisa nach.

»Wissen Sie«, er drehte sich auf seinem Stuhl halb zur Seite, sah an ihr vorbei, elegisch und strafend zugleich, »Hybris ist zwar inzwischen so etwas wie eine Berufskrankheit. Ich hätte gedacht, jaja … Hätte, hätte. Nachher ist man immer schlauer. Sie denken ja von sich, Sie seien so was wie die Frau aus der Kaffeewerbung, nicht wahr? Beruf, Familie, alles auf Rollschuhen am besten, und dann noch dieses kleine Hobby für Ihr Ego. Dies …«

Er drehte sich wieder zurück, stützte seine Ellbogen auf den Schreibtisch und beugte sich nach vorne. Ihre ewige Rechtschaffenheit machte ihn krank, ihre Moral und ihre Bemühtheit – bieder war das, nichts weiter, bieder, spießig und dahinter – falsch!

»Ich bin kein Chauvi, Schellack. Aber wissen Sie was? Männer, die kapieren das wenigstens: Prioritäten! Solche wie Sie kapieren das leider nicht. Leider! Ja?«

»Herr Mannkopf, ich weiß gar nicht …«, sie brach ab. Normalerweise nannte er sie beim Vornamen, auch wenn er sie siezte. Er wusste, dass er jetzt ungerecht wurde, aber er konnte es nicht aufhalten.

»Bei der Kleinen mit dem verschluckten Armband, wissen Sie, dass Reuter für Sie die Nachsorge übernommen hat? Sie waren nämlich gar nicht zu finden! Weg, weg! Und als es um die Überweisung und den Bericht für das geschädigte CI ging, den hab ich selbst noch mal korrigieren müssen.«

Louisa saß erstarrt da. Sie war schon zwei Stunden außer Dienst gewesen, als Reuter ihr angeboten hatte, die Nachsorge zu übernehmen, damit sie endlich nach Hause gehen konnte. Und der Bericht für die CI-Überweisung war ja noch nicht mal raus.

»Das tut mir …«, begann sie.

Mannkopf hob eine Hand, es war eine geradezu filmreife Imperatorengeste, und es wirkte auf ihn selbst plötzlich alles so inszeniert, seltsam außer Dimension geraten. Warum wurde Hartwig Mannkopf auf einmal dramatisch? Er sah ihre Panik dennoch mit bitterer Genugtuung.

»Sparen Sie sich das«, bellte er. »Machen Sie sich bitte nicht auch noch lächerlich.«

Louisa stand immer noch da wie eine Schaufensterpuppe. Mannkopf stand jetzt auch auf. Das war’s also. Das war der Ausgang, den das alles von Anfang an hatte nehmen müssen. Jetzt wusste er es. Er hatte es immer gewusst – oder?

Kapitel 3

Die Einladung

»Okay«, sagte Mannkopf heiser, »wissen Sie was? Gehen Sie einfach. Meinetwegen sofort. Das werde ich jetzt gleich mit Starck klären. Sie können Ihren Urlaub nehmen, dann sind Sie weg. Ich kann so jemanden wie Sie nicht brauchen, Schellack. Ich arbeite hier nur mit Leuten, die verstehen, was wichtig ist.«

Er warf ihr das Schreiben zu, mit dem er gespielt hatte. Sie fing es ungeschickt auf, ihre Handtasche fiel dabei zu Boden.

»Herr Mannkopf, bitte«, rief sie.

Aber er rauschte an ihr vorbei, der Abgang so peinlich wie die ganze Unterhaltung, ließ sie stehen, verständnislos und verstört, bis dann auch gleich Frau Gilbs reinkam. Sie machte sich gar nicht die Mühe, ihre Zufriedenheit zu verbergen.

»Also dann …«, sagte sie und wies mit einem ausgestreckten Arm zum anderen Ausgang, zu dem, den sonst nur die Patienten benutzten. Louisa bückte sich steif nach ihrer Handtasche und trat auf den Flur.

Sie verstand überhaupt nicht, was gerade passiert war. Mannkopf war mehr als ihr Chef. Für sie war er ein verständnisvoller Mentor gewesen.

So, wie er sich jetzt gerade gezeigt hatte, irrational und hart, kannte sie ihn überhaupt nicht.

»Wiedersehen«, sagte sie trotzdem nahezu automatisch zu Frau Gilbs.

Die Tür fiel schon mit diskretem Klick ins Schloss.

Louisa stand ein paar Augenblicke draußen auf dem Gang, die Knie heiß vor Wut und unterdrücktem Weglaufen. Bemüht, ihre Fassung wiederzugewinnen, atmete sie ein paar Mal tief durch.

Mit ungeschickten Fingern öffnete sie dann den Brief. »Ethikmed«, stand auf dem Briefkopf. Louisa murmelte den Namen halblaut vor sich hin. Was konnte denn daran so schlimm sein? Mit der Ethikmed-Stiftung arbeitete sie doch schon seit drei Jahren zusammen, hatte Vorträge gehalten, Artikel verfasst, die waren mit ihr doch immer zufrieden gewesen.

»Sehr geehrter Prof. Mannkopf«, las sie, »wie Sie wissen, verbindet uns mit Frau Dr. Louisa Schellack nun bereits eine mehrjährige vertrauensvolle und zufriedenstellende Kooperation. Nach dem Ausscheiden unseres verehrten langjährigen Wissenschaftlichen Vorstandes Prof. Dr. Theo Rundheim in den Ruhestand ist uns Frau Dr. Schellack von verschiedenen Seiten als Vorschlag zu seiner Nachfolge in unsere Aufmerksamkeit gerückt worden. Wir möchten Sie bitten, so dieser Vorschlag auch Ihre werte Zustimmung findet – und nur und ausdrücklich unter dieser Bedingung –, Frau Dr. Schellack in unserem Namen eine Einladung zu einem offiziellen Vorstellungsgespräch am 17.10. um 16 Uhr in der Villa Grenzweig zu übermitteln. Natürlich steht Ihnen Frau Dr. Schellack, so wir uns für sie und sie sich für uns entscheiden würden, für ihre begonnenen Forschungsarbeiten in der Klinik mit einem Kontingent von 15 Wochenstunden zur weiteren Verfügung. Wir bitten Sie um eine kurze Rückantwort einschließlich Referenz und danken …«

Louisa ließ den Brief sinken. Sie suchte nach der Uhr im Gang. Diese wechselte alle zwanzig Sekunden zwischen Datum, Temperatur und Uhrzeit. Es war 19 Grad warm im Gang.

Louisa suchte nach dem Datum des Schreibens; es war vor fünf Tagen verfasst worden. Die Uhr klappte um: 15 Uhr 35. Auf das Datum brauchte sie nicht zu warten. Es war der Siebzehnte.

»Yo, Schellack«, Matthias Borg, ihre Ablösung oben auf der Station, kam in einer Art Gangsta-Rap-Quickstep auf sie zu.

»Hallo«, flüsterte Louisa matt.

»Schellack«, Matthias rieb ihren Ellbogen, »ich finde, wir beide sollten eine Affäre haben, du bist immer so unerfüllt.«

»Haha«, machte Louisa abwesend, »ich kann dich ja auf die Liste setzen.«

Matthias hob die Schultern. »An mir liegt es nicht, wenn du keinen Spaß am Leben hast. Denk wenigstens mal drüber nach, du Lebensstreber. Es gibt keine Extrapunkte für Sachen, die man nicht macht! Komm auf die Schaukel, Luuiiiseee«, schmetterte er und tanzte weiter auf den Aufzug zu.

Zwei Putzfrauen schüttelten den Kopf und wischten hinter ihm her. Man hörte ihn noch, als die Türen geschlossen waren.

»Hallo«, sagte Louisa wieder, sie versuchte immer besonders nett zu den Putzfrauen zu sein.

»Nabig«, grüßte eine der beiden zurück, die andere wischte wortlos weiter.

»Tut mir leid«, sagte Louisa in ihre Richtung.

Wie sie ins Taxi gekommen war, wusste Louisa hinterher nicht mehr. Sie hielt den Brief weiter in der Hand. »… so dieser Vorschlag auch Ihre werte Zustimmung findet – und nur und ausdrücklich unter dieser Bedingung –« Hatte Mannkopf in diesem Gespräch nun seine werte Zustimmung oder seine absolute Ablehnung ausgedrückt? Vielleicht hatte er der Stiftung längst abgesagt, und sie machte sich lächerlich, wenn sie zu diesem Termin erschien. Am Rückspiegel hing einer von diesen schrecklichen Vanillebäumen. Ihr wurde schlecht von dem Geruch, und sie atmete flach. Dann kramte sie nach ihrem Telefon und rief die arme Heidrun schon wieder an, dass es nun doch noch später würde. Zu Hause lief Musik. Louisa wurde neidisch auf ihre Häuslichkeit, die sie selbst dauernd verpasste.

Es war ein versunkenes Gefühl, wie ein schwaches Radarsignal unter all den anderen seltsamen Gefühlen des Nachmittags.

»Hör mal«, keuchte Heidrun in den Hörer, »wir haben allesamt Späßchen hier, fahr mal die Mutterschuld runter. Wann kommt denn der werte Herr Gatte?«

Louisa wusste nie, wann Mark kam. Er sagte immer nur, dass er versuchte, so früh da zu sein wie möglich. Und wenn er dann kam, um neun oder halb zehn, sagte er gereizt, das wäre so früh gewesen wie möglich. Wenn sie ihn zwischendurch anrief und nachfragte, schnauzte er sie hinterher zu Hause an, seit wann sie denn auf Hausfrauenparodie trainierte und ob er sich demnächst auf ein Nudelholz und/oder eine Kittelschürze gefasst machen müsste; und wenn, dann bitte auch mit Dauerwelle, damit das Bild stimmte.

Obwohl Louisa glaubte, ihre Eheprobleme erfolgreich für sich behalten zu haben, konnte Heidrun Mark ganz offensichtlich nicht leiden und weigerte sich, ihn selbst anzurufen.

»Dass ich mich von ihm bezahlen lasse«, kommentierte sie, »übersteigt meine Toleranzgrenze schon bei weitem. Da muss ich nicht auch noch mit ihm reden. Sonst kommt mein Selbstbild ins Wanken.«

Louisa erinnerte sich, dass es Zeiten gegeben hatte, in denen Mark noch nicht in der Rolle des Bösewichts gefangen gewesen war. Er war mal der Star unter ihren Freunden und Bekannten gewesen. Der charmante, erfolgreiche Sportarzt; Betreuer einer prominenten Mannschaft, die auch noch gut spielte. Wann war er denn zur Zielscheibe geworden? Schuld, Schuld, Schuld, sie schüttelte den Kopf wie ein nasser Hund. Dauernd hatte sie Schuldgefühle. Manchmal war ihr ganz klar, dass es gar nichts damit zu tun hatte, Mutter und Ärztin zu sein. Manchmal war ihr ganz klar, dass diese scheußlichen Gefühle anderswo herkamen, von weit her. Dann machte sie in ihren Gedanken schnell die Tür zu und war lieber wieder eine überarbeitete Frau. Arbeit galt immer als unanfechtbarer Grund für etwas, für alles.

»Um sechs Uhr spätestens bin ich da«, versprach Louisa, bevor sie auflegte. Das waren diese idiotischen Grenzen, die sie sich selbst setzte, Teilhäppchen, die sie von einem ins andere hetzen ließen, zu oft unnötig. Heidrun half ihr, wo sie nur konnte, sie machte nie Theater wegen der Zeit.

Louisa las den Brief noch zwei Mal und konnte immer noch nicht verstehen, was los war. Zunächst verwirrte sie Mannkopfs Reaktion und mehr noch, dass er ihr den Brief vier Tage lang vorenthalten hatte. Und dann verwirrte sie auch diese Nominierung. Die Berufung einer Frau als Ethikmeds Wissenschaftlichem Vorstand war eine Sensation. Herren um die fünfzig, Herren wie Rundheim, wie Mannkopf, die in Clubs waren und im Stadtrat, die wurden Vorstand.

Louisa war fünfunddreißig.

Ethikmed war etwas Großes. Bei Ethikmed konnte man etwas erreichen. Man konnte eine Öffentlichkeit erreichen, die half, dass sich wirklich etwas veränderte. Sie kaute an ihrer Unterlippe.

»Da is’ Privatstraße da«, sagte der Taxifahrer plötzlich und riss Louisa aus ihren Gedanken, »kann ich nich rein da.«

Sie waren angekommen. Villa Grenzweig lag in einem Park an der Allee, riesig und versteckt hinter hohen Nadelbäumen, die der Wind hin und her zauste. Louisa fiel ein, dass sie gar keinen Schirm dabeihatte.

»Ich geh das Stück so«, Louisa zahlte und gab zu viel Trinkgeld. Sie stieg aus und ließ sich vom Regen das Gesicht tätowieren. Auch das ein Gefühl, das sie als Kind geliebt hatte: regennasse Haare, regenheißes, regenkaltes Gesicht. Herbst am ganzen Körper, Versprechen und Wehmut. Entwischen.

Jetzt war es bloß Nässe. Sie rannte auf das Tor zu und klingelte. Ein Mann kam mit einem Schirm, um sie abzuholen. Sie war erleichtert, also hatte man sie doch erwartet.

»Das ist ja ein Wetter«, versuchte sie es gleich heiter.

Der Mann sah sie still und würdig an. »Bitte hier entlang«, sagte er bloß.

Ungeschickt ging sie neben ihm her, hatte das Gefühl, Abstand wahren zu müssen, und verrenkte sich, um trotzdem so weit unter dem Schirm zu sein, dass sie ihn nicht für seine Mühe, hergekommen zu sein, verletzte –  er aber auch selbst nicht nass wurde.

»Bitte«, sagte er wieder an der Tür, die mehr ein Portal war. Sechs Einfamilienhäuser hätten locker in die Villa gepasst, die Decken überall bushoch. Louisa erschrak vor dem Garderobenspiegel, Schal und Trenchcoat waren völlig durchweicht, die Schultern ihres Pullovers darunter dunkel vor Nässe, die Haare tropften wie nach einer Dusche. Ihre Nase hatte keine Chance, die klamme Röte zu verlieren, als der Herr, der sie abgeholt hatte, schon »Hier herein bitte, Dr. Schellack« sagte.

Und da, als sie ihm in den großen Saal folgte, passierte etwas.

Auf einmal war sie ganz klar.

Sie wollte diesen Posten. Auf einmal war sie gefasst. Sie hob ihren nassen Kopf und straffte die Schultern.

»Nofretetengrazie«, hatte Oma Henni früher gesagt. »Kind, wenn du nur willst, hast du eine echte Nofretetengrazie.«

Oma Henni machte es nicht unter Filmstars und Pharaonen. Grandezza und Glamour. Übergroße Worte für ein ganz normales Leben. So war Oma Henni gewesen, Geheimnis, Erfindung und irgendwo etwas Großes. Und es stimmte, Louisa war jetzt keine nasse, abgehetzte Mutter mit Schuldgefühlen mehr, sie war auch keine müde Ärztin mehr, die sich gerade von ihrem Chef hatte anfahren lassen müssen.

Sie ging in den Saal wie jemand, der die Welt versteht und einen Platz darin hat. Festigkeit und Richtung im Schritt. Sie wollte das hier. Sie hatte es bis vor einer halben Stunde nicht gewusst, aber sie wollte das hier unbedingt. Sie fühlte, dass sie diesen Posten haben musste, dass es ein Versagen wäre, ein Schicksalsschlag, wenn sie ihn nicht bekäme.

»Frau Dr. Louisa Schellack«, sagte hinter ihr der Herr von eben. Offenbar war er so etwas wie der Hofmarschall dieser Sitzung.

An der Stirnseite des Saales befand sich ein Ebenholztisch aus der Gründerzeit, dunkel und wuchtig, hinter dem auf acht Stühlen ein Gremium dunkler Gestalten hockte, die sie im Gegenlicht vor den hohen Fenstern nur als Scherenschnitte sehen konnte. Es donnerte plötzlich – doch noch ein Gewitter, ungewöhnlich, so spät im Herbst –, und die dunklen Gestalten bewegten überrascht die Köpfe zum Fenster hin, so dass ihre Profile und Schultern kurz erhellt wurden. Alle trugen edle Tuche und übten auch sonst dezentes Understatement.

Ethikmed war reich. Die Villa Grenzweig hatte früher dem jüdischen Pharmazeuten Schlomo Grenzweig gehört, der in Bergen-Belsen umgekommen war – getötet durch Giftspritzen. Das meiste Geld der Stiftung kam aus den USA, aus der Schweiz und aus Israel, sehr viele der Förderer waren Holocaust-Opfer oder deren Nachkommen, die sich gegen den unethischen Einsatz von Medikamenten engagierten. Dazu gehörten Übermedikation, überteuerte Medikamente, unverträgliche Medikamente, unnütze Medikamente, Medikamente als Waffen, Foltermethoden, eine endlos hässliche, endlos fortführbare Liste.

Louisa war seit langem, wie Mark es nannte, die »selbsternannte Jeanne d’Arc gegen zu viele Kindermedikamente«.

Sie setzte sich dafür ein, Kinder weitgehend unpharmazeutisch zu behandeln, sanfte, langfristige Therapiemethoden wo immer möglich vor dem Hammer einzusetzen sozusagen. Sie kämpfte darum, wenn man den Spielraum dazu hatte, Alternativmedizin in die Kliniken zu integrieren. Seit zwei Jahren hatte sie damit eine gewisse Öffentlichkeit erreicht, nicht zuletzt dank und mit Ethikmed.

»Nur weil du so aussiehst, wie du aussiehst, mein Schatz«, sagte Mark dann, wenn sie wieder in der Zeitung gestanden hatte, aber es war nie ein Kompliment. »Wenn du dick und hässlich wärst, würde dir kein Mensch zuhören. Aber so – Haare wie gesponnener Sonnenschein …«

Das tintendunkle Gremium hinter dem Tisch erhob sich.

»Bitte«, sagte ein Herr in der Mitte. Langsam gewöhnten sich Louisas Augen an das Licht. Sie suchte die acht nach einem bekannten Gesicht ab. Nichts. Lauter ältere Herrschaften mit bedächtigen Mienen. Louisa hielt dennoch mühelos ihre Nofretetengrazie.

Sie lächelte sogar ein bisschen und nahm auf dem einsamen Stuhl Platz, der vor ihrer Seite des Tisches stand. Eine Anklagebank oder ein Prüfungssitz, so fühlte es sich an.

»Dr. Schellack«, tönte der Herr in der Mitte, »ich darf Ihnen den vollständigen Aufsichtsrat der Stiftung vorstellen«, es prasselten in rascher Reihenfolge sieben Namen auf sie ein. »Ich bin Hartmann Vogel«, schloss der Herr, »der Vorsitzende.«

»Guten Tag«, Louisa lächelte die Reihe einmal auf und ab. Niemand lächelte zurück. Alle außer dem Vorsitzenden nahmen wieder Platz. Herr Vogel begann alsdann eine kleine Ansprache über die Wichtigkeit von Ethikmed, streifte in gekonnter Präteritio die wichtigsten Erfolge der letzten Jahre, wozu die übrigen fünf Herren und zwei Damen am Tisch immer noch keine Miene verzogen. Sie starrten Louisa an, ungebrochen ernst und gewichtig.

»Wie Sie vielleicht wissen, hat uns Professor Rundheim nun verlassen, um seinen Ruhestand anzutreten«, fuhr Herr Vogel fort, »wobei«, er hüstelte ein Lachen, »es gewisslich eher ein Unruhestand werden wird, wie wir ihn kennen. Jaja, ein Unruhestand. Unser Jungpensionär!«

Das Gremium lachte ebenfalls hüstelnd. Gespenstisch hallte es im Saal wider.

»Achtzehn Löcher!«, rief ein Herr am rechten äußeren Rand mit wackelnd erhobenem Zeigefinger. »Achtzehn Löcher!«

Die anderen nickten dazu abermals erheitert, als wäre das ein unschlagbarer Scherz. Genauso plötzlich jedoch, wie diese seltsame Heiterkeit gekommen war, verschwand sie auch wieder. Herr Vogel blickte Louisa einen Moment lang still an.

»Na denn, Mädchen«, dachte er.

Es donnerte wieder, aber diesmal nahm niemand mehr davon Notiz. »Ethikmed, Dr. Schellack, trägt sich ernsthaft mit dem Gedanken, Sie zu Prof. Rundheims Nachfolge zu berufen.«

Kapitel 4

Scherbengericht …

Louisa hielt den Blicken der acht stand. Sie wartete ab. Ein anderes Mitglied des Aufsichtsrates begann nun zu sprechen, ein hagerer Mann mit einer sehr kleinen Brille. Herr Vogel setzte sich hin, als der Hagere aufstand. Es folgte, schleppend vorgetragen, eine langatmige Eloge auf die endlosen, langjährigen Verdienste des Professor Rundheim, zu deren Aufzählung Louisa höflich nickte.

»Das sind große Schuhe, die Sie da zu tragen hätten«, sagte der kleine Mann mit der Brille. »Schuhe, die sehr weite Wege zurückgelegt haben!«

Offensichtlich verausgabt von der Wucht seiner Metapher, schwieg er dann. Jetzt sprach eine der beiden Frauen, Frau Schattner, meinte sich Louisa an ihren Namen zu erinnern.

»Wir halten eine Bastion in der Welt, Dr. Schellack. Glauben Sie, dass Sie Ihrerseits diese Bastion halten können?«, fragte die Dame. Für sie hatte die Kandidatin bei aller Haltung, die man ihr zugestehen musste, auch etwas verräterisch Mädchenhaftes, etwas, das nach Trost suchen würde, nach Schutz. In diesem Job wäre das eine fatale Suche. Wer diesen Job machte, der hätte keinen Schutz zu suchen – der sollte Schutz bieten können.

Louisa war verwirrt. Sie hatte Frau Schattners Frage für eine rein rhetorische gehalten. Aber niemand sprach weiter, es wurde also tatsächlich eine Antwort von ihr erwartet. Sie räusperte sich kurz. Sie sei, so verstehe sie es, ihrer fachlichen Qualifikation, ihrer Erfahrung und ihrer persönlichen Einstellung wegen zu diesem Termin gerufen worden, sagte sie.

Herr Vogel schüttelte umgehend bedauernd den Kopf. Auch zwei andere Herren gaben Signale ihrer tiefen Betrübnis von sich. Es herrschte allgemeines Seufzen und Ausatmen, ganz so, als wären schlimme und schlimmste Befürchtungen ungut bestätigt worden.

Frau Schattner beugte sich etwas vor. »Ihre fachliche Qualifikation steht natürlich außer Frage, Dr. Schellack. Ihre Dissertation, ihre Stipendien. Natürlich. Aber das tat sie bei den beiden anderen Kandidaten auch. Fachliche Qualifikation können wir, wenn Sie das bitte nicht beleidigend nehmen wollen, an jeder Straßenecke haben, gewissermaßen. Es geht um Sie als«, Frau Schattner machte eine Pause, als würde sie gleich etwas wirklich Anstößiges aussprechen, und sagte dann: »Person.«

»Als Person?«, fragte Louisa zu schnell nach und verlor kurz ihre Nofretetengrazie. Sie runzelte die Stirn und schüttelte verwirrt den Kopf.

»Die Pharma«, belehrte sie der Vorsitzende, Herr Vogel, daraufhin nachsichtig, »lässt ein amerikanisches Wahlkampfteam aussehen wie einen Waldorf-Kindergarten auf einem Tagesausflug. Es geht hier nicht um Fakten, Dr. Schellack. Es geht darum, wem man welche Fakten glaubt.«

Louisa klappte den Mund auf und wieder zu.

»Oh«, sagte sie dann. Erstmals ging ein halbwegs freundliches Lächeln durch die Reihe vor ihr. Man werde ihren persönlichen Hintergrund von allen Seiten beleuchten, ihre Karriere, ihre Ehe, ihre finanzielle Situation, erklärte ein Herr links außen.

»Sehen Sie«, der Herr links außen hielt ihr seine Handfläche hin, als läge darin eine klar erkennbare Antwort. »Es geht nie um etwas anderes als Geld. Wenn Sie als eine glaubwürdige Person erscheinen, glaubt man das, was Sie sagen. Wenn man glaubt, was Sie sagen, wenn!«, er tippte mit dem Zeigefinger der anderen Hand in die Handfläche. »Wenn eine Öffentlichkeit, eine breite Öffentlichkeit, glaubt, was Sie sagen, dann wird es die Pharma Geld kosten. Geld, das sie verliert, und Geld, das sie nicht mehr verdienen wird. Zusammengerechnet ist das sehr viel Geld.«

»All is fair in love and war«, erklärte Herr Vogel überraschend sanft und fremdsprachlich.

»Deswegen geht es um Ihre Person.«

Frau Schattner nickte. »Ihre Vorlieben, Ihre Gewohnheiten, Ihre Vergangenheit, Ihre Pläne. Verstehen Sie das? Umfassend. Alles umfassend.«

Louisa schluckte. »Ich glaube«, begann sie und verstummte dann wieder.

»Schenken Sie uns reinen Wein ein«, schaltete sich die zweite Dame, ausgestattet mit einer bedrohlichen Hochfrisur, etwas schrill ein, »machen Sie klar Schiff. Steuer, illegale Putzfrauen, Affären, was auch immer. Keine Moral unsererseits, verstehen Sie das bitte. Aber … Wenn Sie hier anfangen, leben Sie unter dem Vergrößerungsglas! Sie und Ihre Familie. Wir müssen vorbereitet sein.«

Louisa fühlte sich überfahren. Die Grazie war ganz und gar weg. Wer rechnete denn mit so was?

Herr Vogel hob begütigend eine Hand, vielleicht fürchtete er ihre sofortige Flucht. »Sehen Sie, ein weiterer Kandidat, genau genommen sogar der ausdrückliche Wunsch Professor Rundheims zur Besetzung seiner Nachfolge, hatte da so eine Immobilie im Ausland, deren Erwerb nicht ganz und gar aus versteuerten Ersparnissen beziehungsweise aus den dafür notwendigen versteuerten Einkünften erklärt werden konnte. Wie gesagt, keine Moral. Aber: Das war’s dann.«

Das Gremium senkte betrübt die Köpfe. Ach so, dachte Louisa, ich bin zweite Wahl. Auf einmal wurde sie wütend.

»Ich habe nichts zu verbergen. Ich habe überhaupt keine Zeit«, schnappte sie, »irgendwas zu verbergen zu haben!«

Daraufhin herrschte Stille. Kurze Blicke wurden ausgetauscht und abgenickt.

Der Vorstandvorsitzende erhob sich. »Dr. Schellack«, sagte er gravitätisch, »im Namen des Aufsichtsrates teile ich Ihnen mit, dass man Sie vermutlich in der nächsten Sitzung zum neuen Wissenschaftlichen Vorstand nominieren wird. Bereits in der nächsten oder übernächsten KW.«

Louisa stand ebenfalls auf. Sollte sie jetzt etwas sagen, Hände schütteln? Konnte sie so eine Entscheidung überhaupt treffen, ohne mit Mark darüber geredet zu haben? Und was Affären anging …

»Aber«, mahnte Herr Vogel da in ihre Gedanken hinein, »vor nächster Woche: Prüfen Sie alles. Alles! Familie, Finanzen – alles. Keine faulen Eier, kein SS-Opa als KZ-Arzt oder Wiedervereinigungsgewinnler, ja? So was brauchen wir nicht! Gibt’s da so was in der Richtung? Das können Sie ja auch gleich sagen –«

»Nein. Alles in bester Ordnung«, stotterte Louisa überrumpelt.

In bester Ordnung … ausgerechnet.

»Alsdann«, Herr Vogel streckte ihr markig wie ein Pferdehändler seine Hand hin, »nächsten Mittwoch um elf. Wir brauchen dann auch noch Ihre kompletten Steuerunterlagen der letzten zehn Jahre.«

»Zehn Jahre nach Abgabedatum«, schaltete sich der Herr von links außen ein, seinen Zeigefinger wieder im Einsatz.

»Wir brauchen noch so einiges. Wir schicken Ihnen heute Abend eine Liste«, erklärte Frau Schattner und stand ebenfalls auf und gleich nach ihr auch die übrigen Herrschaften. Jetzt begann doch noch das Händeschütteln, aber Louisa hatte gar kein Gefühl in der Hand, schien ihr.

»Gott, sieht die aber noch jung aus«, dachte Frau Schattner. »Ob die wirklich weiß, was sie erwartet?«

Der kleine Phil schlief um halb acht ein, sein abgewetzter Kuschelhase lag ihm auf der Nase. Louis – der Große – durfte noch eine Viertelstunde länger aufbleiben. Er kletterte auf Louisas Schoß und erzählte begeistert vom Kindergarten und einem ausdauernden Kampfturnier mit dem großen Bagger gegen seinen besten Freund, das er aber leider nicht für sich hatte entscheiden können. Michis Feuerwehrauto hatte Louis’ Bagger nämlich »totgekämpft«.

»Und was hat der Michi dann gesagt?«, fragte Louisa, nur um noch weiter die aufgeregte Stimme ihres Sohnes zu hören. Sie streichelte seine Haare, rieb ihre Nase an seiner Schläfe und hielt sich mit Mühe davon ab, sein ganzes Gesicht abzuküssen, was er sich bereits mehrfach strikt verbeten hatte.

»Das fühlt sich dann so komisch an.«

Als ihr großer Junge das Gähnen nicht mehr zurückhalten konnte, schlichen sie auf Zehenspitzen ins Kinderzimmer, um Phil nicht zu wecken. Louis kletterte leise in sein Bett. Das Schnorcheln seines kleinen Bruders ging gleichmäßig durchs Zimmer.

»Kannst du meine Decke noch mal falten?«, fragte er, die Worte verwischt vor Müdigkeit.

»Gutenachtkuss?«, fragte Louisa, als sie das Bett aufschüttelte.

»Lieber morgen früh«, entschied Louis höflich.

Louisa deckte ihn zu.

»Kommt der Papa bald?«, fragte er noch, als sie schon an der Tür war.

»Bestimmt«, sagte Louisa mit dieser fremden pseudo-heiteren Stimme, um die sie sich immer bemühte, wenn sie sauer auf Mark war, es vor den Kindern aber nicht zeigen wollte.

»Du musst aber die Tür ein bisschen auflassen«, ordnete Louis an.

»Ist gut«, sagte Louisa und ging ins Wohnzimmer. Sie setzte sich auf die Couch und atmete tief durch. Trotz des Sirrens, Gluckerns und Knackens, das immer irgendwie durch die Wohnung ging, kam es ihr auf einmal entsetzlich still vor. Louis drehte sich noch ein paar Mal seufzend hin und her, dann hörte sie auch ihn nicht mehr.

Oma Hennis Bild stand auf dem Regal über dem Kamin. Obwohl sie so müde war, dass sie auch sofort hätte einschlafen können, stand Louisa noch einmal auf. Sie nahm das Bild in die Hand und legte sich damit zurück aufs Sofa.

»Was sagst du jetzt, Oma?«, redete sie laut mit der Fotografie. »Ethikmed.«

Louisa betrachtete das schöne Gesicht in dem silbernen Rahmen. Oma Henni hatte sich für Fotos immer in Pose gestellt. Gab es überhaupt Schnappschüsse von ihr? Sie war unglaublich eitel und unglaublich stolz auf ihre Eitelkeit gewesen.

»Eine Dame achtet auf sich«, hatte sie Louisa stets erklärt. Noch mit über sechzig cremte sie sich die Ellbogen mit einer speziellen, nur dafür vorgesehenen Feuchtigkeitscreme ein.

»Dass eine Dame sich pflegt«, hatte sie ihrer Enkelin eingeschärft, als diese schon als kleines Mädchen fasziniert an Omas Toilettentisch saß, »das sieht man immer zuerst an ihren Ellbogen.«

Louisa ließ das Foto sinken. Sie sah jetzt eine ganz andere Oma Henni vor sich; erinnerte sich an das Triptychon des Toilettentischspiegels, die vielen geheimnisvollen Tiegel und glitzernden Flakons davor, Oma Henni im spitzenbesetzten Unterkleid  und ebensolchem Morgenmantel, völlig vertieft in die Pflege ihres dreifach gespiegelten Gesichts.

Louisa hatte, wie sie von sich selbst glaubte, so ziemlich alle Stufen der modernen Emanzipation erfolgreich durchlaufen. Sie hatte eine Karriere, eine überdurchschnittliche Fähigkeit, im Alltag zurechtzukommen. Sie machte ihre Steuererklärung selbst. Sie konnte alle möglichen Studien zitieren, die die qualitative Gleichstellung von Männern und Frauen bewiesen. Aber in diesem Moment, auf ihrer Couch in ihrer stillen, überstillen Wohnung, erschien ihr nichts so erstrebenswert weiblich wie Oma Henni vor ihren magischen Fläschchen und Salben.