PIPER

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Neuauflage einer früheren Ausgabe

Übersetzt aus dem Englischen von Herberth E. Herlitschka

ISBN 978-3-492-97663-3

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© Ms. Laura Huxley 1939

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »After Many a Summer«, Chatto & Windus, London 1939

© der deutschsprachigen Ausgabe Piper Verlag GmbH, München 1954, 1986

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Der Wald verdorrt, vermodert fällt der Baum,

Die Wolke weint zur Erde ihre Last,

Den Acker baut der Mensch und liegt darin,

Es stirbt nach vielen Sommern auch der Schwan.

Tennyson, »Tithonus«

ERSTER TEIL

ERSTES KAPITEL

Alles war telegrafisch vereinbart worden: Jeremy Clayton sollte nach einem schwarzen Chauffeur in grauer Livree mit einer Nelke im Knopfloch Ausschau halten und der Chauffeur nach einem Engländer von etwa fünfzig Jahren, der einen Band Wordsworth-Gedichte in der Hand trüge. Trotz der Menschenmenge auf dem Bahnhof fanden sie einander ohne Schwierigkeit.

»Sind Sie Mr. Stoyts Chauffeur?«

»Mistah Clayton?«

Jeremy nickte und hob, in der einen Hand den Wordsworth, in der anderen seinen Schirm, die Arme ein wenig seitwärts, mit der abbittenden Gebärde eines Probierfräuleins, das, der eigenen Mängel bewusst, eine klägliche Figur in lächerlichen Kleidern vorführt. »Ein armselig Ding«, schien die Gebärde zu sagen, »doch ich selbst«. Jeremy Clayton hatte sich eine sozusagen vorbeugende Selbstherabsetzung zur Gewohnheit gemacht und griff bei jedem Anlass zu diesem Schutzmittel. Aber, so fragte er sich plötzlich besorgt, müsste man im demokratischen Fernen Westen dem Chauffeur nicht die Hand schütteln, umso mehr, als er ein Mohr war? Schon um darzutun, dass man, wenngleich das Vaterland des weißen Mannes Bürde zu tragen hatte, kein Sahib war? Schließlich entschied er sich dafür, nichts zu tun; genauer gesagt, die Entscheidung wurde ihm aufgezwungen – wie gewöhnlich, stellte er mit einer eigenartigen säuerlichen Befriedigung über diesen neuerlichen Beweis seiner Unzulänglichkeit fest. Denn während er noch unschlüssig war, zog der Chauffeur, wobei er ein wenig übertrieben die Rolle des altväterischen Familienerbstücks spielte, die Mütze, verneigte sich und sagte mit einem alle Zähne blinken lassenden Grinsen: »Willkommen in Los Angeles, Mistah Clayton!« Dann verfiel er mit seinem näselnden Singsang aus dem Dramatischen ins Vertrauliche: »Ich Sie an de Aussprache erkennen, Sir, auch wenn ohne de Buch.«

Jeremy lachte etwas unbehaglich. Eine Woche in den Vereinigten Staaten hatte ihm seine Stimme peinlich zu Bewusstsein gebracht; sie war das Erzeugnis seiner Cambridger Universitätszeit, zehn Jahre vor dem Weltkrieg; eine gedämpfte, flötende Stimme, die an Abendandachten in einer englischen Kathedrale gemahnte. Daheim in England fiel sie niemand sonderlich auf, und er hatte nie vorbeugende Witze über sie machen müssen, wie etwa über sein Äußeres oder sein Alter. Hier in Amerika war das anders. Er brauchte nur eine Tasse Kaffee zu verlangen oder nach der Toilette zu fragen – die übrigens hier in diesem verwirrenden Land nicht Toilette hieß – und alle Leute starrten ihn belustigt und neugierig an wie eine Missgeburt auf einem Jahrmarkt. Es war durchaus nicht angenehm.

»Wo ist mein Träger?«, fragte er geschäftig, um das Gespräch abzulenken.

Einige Minuten später saß er bereits in den Wagenfond geschmiegt und, wie er hoffte, außer Reichweite für eine Unterhaltung mit dem Chauffeur und gab sich dem Genuss reinen Betrachtens hin. Südkalifornien glitt an den Wagenfenstern vorüber, und er brauchte nur die Augen offen zu halten.

Als Erstes bot sich seinem Blick ein Armeleuteviertel von Negern und Filipinos, Japanern und Mexikanern. Diese Spielarten und Kreuzungen von Schwarz, Gelb und Braun! Diese vielfältigen Rassenmischungen! Und die Mädchen – wie hübsch sie waren in ihrer Kunstseide! »Und Negerdamen in weißen Musselingewändern.« Eine seiner Lieblingsstellen im »Prelude« von Wordsworth. Er lächelte vor sich hin. Und mittlerweile war das Armeleuteviertel den hohen Bauten eines Geschäftsbezirks gewichen.

Die Bevölkerung nahm eine mehr kaukasische Färbung an. Eine Drogerie mit Sodawasserbar an jeder Straßenecke. Zeitungsjungen verkauften Fettgedrucktes über Francos Vormarsch auf Barcelona. Fast alle vorübergehenden Mädchen schienen in stilles Gebet vertieft zu sein, aber, so überlegte Jeremy, es war wohl nur Kaugummi, was sie unablässig bewegte. Gummi – nicht Gott!

Der Wagen glitt in einen Tunnel und tauchte in einer anderen Welt wieder auf, einer weiten, unordentlichen Vorstadtwelt von Benzinpumpen und Reklametafeln, niedrigen, von Gärten umgebenen Häusern, Baustellen und Abfallpapier, vereinzelten Läden, Bürogebäuden und Kirchen – Methodistenkirchen, überraschenderweise im Stil der Cartuja von Granada, katholischen Kirchen nach dem Muster der Kathedrale von Canterbury, Synagogen, als Moscheen aufgemacht, Kirchen der Christian Science mit Säulen und Giebeln gleich Bankpalästen.

Es war ein früher Wintervormittag, aber die Sonne strahlte und der Himmel war wolkenlos. Das Auto fuhr westwärts; wie Scheinwerfer beleuchteten die von hinten einfallenden Sonnenstrahlen jedes Gebäude, jede Dachreklame und jede Plakatwand, als wollten sie dem Ankömmling alle Sehenswürdigkeiten vorführen.

GABELBISSEN. COCKTAILS. GANZE NACHT GEÖFFNET.

JUMBO-MALZADE.

FÄHRST DU AUFS LAND ODER SONST WOHIN,

TU'S NUR MIT CONSOL-SUPER-BENZIN!

EIN SCHÖNES BEGRÄBNIS IM BEVERLY-PANTHEON IST NICHT TEUER.

Das Auto sauste dahin. Mitten auf einer Baustelle stand ein Restaurant in Gestalt einer sitzenden Bulldogge, die Eingangstür zwischen den Vorderpfoten, die Augen erleuchtet. »Zoomorph«, murmelte Jeremy, »zoomorph!« Er hegte eine Gelehrtenliebe für Wörter. Die Bulldogge blieb in der Vergangenheit zurück.

WAS DIE STERNE SAGEN! IHRE SCHICKSALS-ZAHLEN! BOTSCHAFTEN AUS DEM JENSEITS!

NUTBERGERS HIER ERHÄLTLICH.

Was immer ein Nutberger sein mochte, er beschloss, bei der nächsten Gelegenheit einen zu bestellen; und dazu eine Jumbo-Malzade.

HALT! VERLANGEN SIE CONSOL-SUPER-BENZIN!

Wirklich hielt der Chauffeur. »Zehn Gallonen SuperSuper« verlangte er. Dann wandte er sich an Jeremy: »Diese Firma gehören uns. Mistah Stoyt sein Präsident.« Er wies auf eine Reklametafel. BARDARLEHEN IN FÜNFZEHN MINUTEN las Jeremy. AUSKÜNFTE: GEMEINNÜTZIGE FINANZ-GESELLSCHAFT. »Gehören auch uns«, erklärte der Chauffeur stolz.

Sie fuhren weiter. Aus einem riesigen Plakat starrte das Gesicht eines schönen Mädchens, verzerrt wie das einer zerknirschten Magdalena. ZERSTÖRTES GLÜCK verkündete die Beschriftung. DIE WISSENSCHAFT HAT NACHGEWIESEN, DASS 73 PROZENT ALLER ERWACHSENEN AN MUNDGERUCH LEIDEN.

IHR FREUND IM LEID – DAS BEVERLY-PANTHEON!

GESICHTSPFLEGE. DAUERWELLEN. MANIKÜRE.

SHEILAS SCHÖNHEITSSTÜBCHEN.

Neben Sheilas Schönheitsstübchen war ein Western-Union-Kabelbüro. Himmel, die Depesche an seine Mutter – beinahe hätte er es vergessen! Jeremy beugte sich vor und befahl dem Chauffeur in dem abbittenden Ton, dessen er sich gegenüber Dienerschaft bediente, den Wagen anzuhalten. Einen geschäftigen Ausdruck auf seinem sanften Kaninchengesicht, eilte er über den Gehsteig in das Kabelbüro.

»Mrs. Clayton, Lindenruh, Woking, England«, schrieb er mit leisem Lächeln. Die auserlesene Ungereimtheit dieser Anschrift erheiterte ihn immer aufs Neue. »Lindenruh, Woking.« Seine Mutter hatte beim Ankauf des Hauses diesen Namen ändern wollen, weil er zu freimütig mittelständisch sei, aber Jeremy hatte widersprochen; das sei gerade das Schöne daran; darin liege sein besonderer Reiz. Er hatte sie zu überzeugen gesucht, wie richtig eine solche Anschrift für sie beide wäre, wie köstlich komisch der Gegensatz zwischen dem Namen des Hauses und dem Wesen seiner Bewohner! Wie paradox passend es wäre, dass Oscar Wildes alte Freundin, die witzige, hochgebildete Mrs. Clayton, ihre geistsprühenden Briefe aus »Lindenruh« in der Londoner Provinz schrieb, wo auch die aus Belesenheit und eigenartig verfeinertem Witz gemengten Werke entstanden, denen ihr Sohn seinen Ruf verdankte! Mrs. Clayton hatte es fast sofort verstanden. Ihr brauchte man, Gott sei Dank, nichts mühselig zu beweisen; ein paar Andeutungen und halbe Sätze genügten, und sie verstand. Bei »Lindenruh« war es geblieben.

Nachdem er die Anschrift hingemalt hatte, hielt Jeremy inne, die Stirn nachdenklich gerunzelt, und wollte aus alter Gewohnheit am Bleistift zu kauen beginnen, entdeckte aber, dass dieser Bleistift ein Messingende hatte und an einer Kette befestigt war. »Mrs. Clayton, Lindenruh, Woking, England«, las er laut, weil er hoffte, diese Worte würden ihn zu der angemessenen, vollendet stilisierten Nachricht anregen, die seine Mutter von ihm erwartete; zu einer zugleich zärtlichen und witzigen Nachricht, von ironisch ausgedrückter echter Ergebenheit durchdrungen, ihre mütterliche Herrschaft anerkennend, jedoch auf scherzhafte Weise, damit die alte Dame ihr Gewissen beruhigen könnte, ihr Sohn sei vollkommen unabhängig und sie selbst alles eher als eine tyrannische Mutter. Es war nicht leicht, dieses Kabelgramm, zumal der Bleistift an einer Kette hing. Nach mehreren Fehlversuchen entschied er sich für folgenden, immer noch recht unbefriedigenden Wortlaut:

»TROPISCHEN KLIMAS WECEN GELÜBDE BEZÜGLICH UNTERWÄSCHE UNERFÜLLBAR STOP WÜNSCHE DU WÄREST HIER IN MEINEM INTERESSE NICHT DEINEM DENN DU HÄTTEST SCHWERLICH ETWAS ÜBRIG FÜR DIESES ÜBERLEBENSGROSSE UNVOLLENDETE BOURNEMOUTH STOP«

»Unvollendete was?«, fragte die junge Dame am Schalter.

»B-o-u-r-n-e-m-o-u-t-h«, buchstabierte Jeremy den englischen Badeort. Er lächelte; seine blauen Augen blinzelten hinter den Bifokalgläsern, und mit einer unbewussten Gebärde, die er jedesmal machte, wenn er eins seiner Witzchen anbringen wollte, tätschelte er sich die kahle Stelle auf seinem Kopf. »Sie wissen doch«, sagte er besonders flötend, »der Born, in des Bezirk kein Wanderer Einkehr hält, wenn er nicht muss.«

Die Schalterdame starrte ihn verständnislos an. Das travestierte Hamletzitat sagte ihr offenbar nichts. Dann schloss sie aus seiner Miene, dass ein Witz gefallen sein musste, besann sich, dass höfliche Bedienung ein Leitsatz der Western Union war, und verabreichte dem alten Tropf das sonnige Lächeln, das er offenbar erwartete.

»HOFFENTLICH UNTERHÄLTST DU DICH GUT IN GRASSE STOP TENDRESSES JEREMY«, las sie dann zu Ende.

Es war eine kostspielige Nachricht, aber, dachte Jeremy, während er die Brieftasche zog, glücklicherweise überzahlte Mr. Stoyt ihn kräftig. Für drei Monate Arbeit sechstausend Dollar – was lag da an solchen Kosten?

Er stieg wieder in den Wagen, und sie fuhren weiter, Meile auf Meile; die Vorstadthäuser und die Benzinpumpen, die Baustellen, die Kirchen und die Kaufläden zogen mit ihnen ohne Ende. Rechts und links verliefen sich die Straßen des ungeheuren Wohnviertels mit ihren Palmen, Pfefferbäumen und Akazien zu ihren Fluchtpunkten.

PRIMA ESSEN! EISTÜTEN – SO GROSS!

JESUS ERLÖST DICH.

HAMBURGER STEAKS.

Wieder zeigten Verkehrslichter Rot. Ein Zeitungsjunge erschien am Wagenfenster. »Angebliche Erfolge Francos in Katalonien«, las Jeremy und wandte sich ab. Das Grauen in der Welt hatte einen Grad erreicht, wo es für ihn nur noch langweilig war. Einem Auto vor ihnen entstiegen zwei ältere Damen, beide mit schlohweißen Dauerwellen, beide in scharlachroten Hosen, jede einen Yorkshire-Terrier unter dem Arm. Die Hunde wurden an den Fuß der Verkehrssäule gestellt, aber bevor sie sich zu ihrer Benützung entschlossen hatten, wechselte das Licht, der Neger gab Gas, und der Wagen schoss vorwärts ins Kommende. Jeremy dachte an seine Mutter. Auch sie hatte beunruhigenderweise einen Yorkshire-Terrier.

FEINE LIKÖRE.

TRUTHAHNBRÖTCHEN.

EIN KIRCHENBESUCH – UND SIE FÜHLEN SICH DIE GANZE WOCHE WOHL.

WAS FÜRS GESCHÄFT GUT IST, IST GUT FÜR SIE.

Abermals bot sich dem Blick eine zoomorphe Erscheinung, diesmal ein Realitätenbüro in Gestalt einer ägyptischen Sphinx.

JESUS KOMMT BALD.

DAUERND JUNG DURCH MOLLIFORM-BÜSTENHALTER.

BEVERLY-PANTHEON – EINE LETZTE RUHESTÄTTE WIE KEINE ANDERE.

Mit triumphierender Miene, wie der gestiefelte Kater beim Aufzählen der Besitztümer des Marquis de Carabas, sah der Neger über die Schulter zurück und wies auf die Tafel: »Gehören auch uns.«

»Das Beverly-Pantheon?«

Der Neger nickte. »Schönste Friedhof auf die ganze Welt, ich schätzen.« Dann fragte er: »Sie wollen vielleicht sehen? Kein Umweg.«

»Das wäre sehr nett«, erwiderte Jeremy mit der Herablassung der englischen Oberklasse, fühlte jedoch, dass er mehr Wärme und demokratisches Empfinden andeuten müsste, räusperte sich und ergänzte mit einem Versuch, die örtliche Umgangssprache zu kopieren: »Geradezu grandios!« Das klang, in seinem Cambridger Tonfall, so unnatürlich, dass er vor Verlegenheit errötete. Zum Glück musste der Chauffeur auf den Verkehr achten.

Sie bogen rechts ein und sausten weiter, vorbei an einem Rosenkreuzertempel, zwei Sanatorien für Katzen und Hunde, einer Schule für Tambourmajorinnen und noch zwei Reklametafeln für das Beverly-Pantheon. Als sie auf den Sunset Boulevard kamen, erblickte Jeremy eine junge Dame, die in einem ritterspornblauen Badekostüm ohne Achselbänder, mit Platinlocken und in schwarzem Pelzjäckchen ihre Einkäufe besorgte. Auch sie schwand hinweg in die Vergangenheit.

Die Gegenwart – die war eine Straße am Fuß einer Kette steiler Berge, besäumt von kleinen teuren Läden, Restaurants, Nachtklubs, die sich mit Rollbalken gegen das Sonnenlicht abgeschlossen hatten, Geschäfts- und Miethäusern. Auch sie tauchten ins Unwiderrufliche, und eine Tafel verkündete, dass man nun die Bannmeile von Beverly Hills erreicht habe. Die Szene wechselte. Die Gärten eines Wohnviertels für reiche Leute begleiteten die Autostraße. Durch Bäume sah Jeremy die Häuser, alle neu, fast alle geschmackvoll – elegante, geistreiche Abklatsche von Lutyensschen Herrensitzen in England, von Klein-Trianons und Monticellos, übermütige Parodien auf Le Corbusiers streng sachliche Wohnmaschinen, Neu-England-Farmhäuser und fantastische Übermexikanisierungen mexikanischer Haziendas.

Der Wagen bog wieder rechts ein, in eine Allee ungeheurer Palmen. Riesenbüschel von Mittagsblumen flammten tiefst karminrot in der Sonne. Die Häuser folgten einander wie Pavillons auf einer endlosen Weltausstellung. Gloucestershire folgte auf Andalusien, die Touraine auf Oaxaca, Düsseldorf auf Massachusetts.

»Hier Harold Lloyd wohnen«, erklärte der Chauffeur, auf eine Art von Boboli deutend. »Und hier Charlie Chaplin. Und dort sein Pickfair.«

Die Straße stieg schwindelerregend. Der Chauffeur wies über einen Abgrund von Schatten auf ein Gebäude am Hang gegenüber, das einer tibetanischen Lamaserei glich. »Dort wohnen Ginger Rogers. Jawoll, Sir!«, nickte er triumphierend, während er das Lenkrad drehte.

Nach noch fünf, sechs Kehren erreichte der Wagen die Höhe. Tief unten lag die Ebene mit der Stadt wie eine unendliche Landkarte, in rosigen Dunst hingebreitet. Vor ihnen ragten zu beiden Seiten Berge auf, Kamm hinter Kamm, soweit das Auge reichte, ein verdorrtes Schottland, kahl unter blauem Wüstenhimmel.

Der Wagen bog um einen gelbroten Felsvorsprung, und plötzlich erschien auf einem bisher dem Blick verborgenen Berg eine ungeheure Lichtreklame: »beverly-pantheon, der friedhof mit persönlichkeit«, stand da in zwei Meter hohen Neonröhren, und darüber, ganz auf dem Gipfel, eine Nachbildung des schiefen Turms von Pisa in Originalgröße – nur war der hier nicht schief.

»Sie sehen?«, erkundigte sich der Neger mit Nachdruck. »Turm von Auferstehung. Zweihunderttausend Dollar haben gekostet. Jawoll, Sir!« Beredte Feierlichkeit lag in seinem Ton. Man hatte das Gefühl, das ganze Geld sei aus seiner eigenen Tasche gekommen.

ZWEITES KAPITEL

Eine Stunde später waren sie wieder unterwegs, nachdem Jeremy alles gesehen hatte. Alles: die Rasenhänge gleich einer grünen Oase in der Bergwüste, die Haine, die Grabsteine im Gras; den Tierfriedhof mit der Marmorgruppe nach Landseers Bild zoomorph dargestellter »Würde und Unverschämtheit«; das Shakespeare-Kirchlein, eine Miniaturwiedergabe der Dreifaltigkeitskirche in Stratford am Avon, komplett mit Dichtergruft und Vierundzwanzigstundenmusik, gespielt von der Wurlitzerorgel mit Dauerantrieb und durch unsichtbare Lautsprecher über den ganzen Friedhof verbreitet.

Dann, an die Sakristei stoßend, das Brautboudoir – denn in dem Kirchlein konnte man auch getraut, nicht nur daraus zu Grabe getragen werden – das Brautboudoir, das, wie der Chauffeur erklärte, soeben im Stil von Norma Shearers Boudoir in dem Marie-Antoinette-Film neu ausgestattet worden war. Und gleich daneben die wundervolle Einäscherungshalle in schwarzem Marmor, durch die man zum Krematorium gelangte, wo drei allermodernste Inzineratoren mit Ölfeuerung beständig in Betrieb waren, für jeden unvorhergesehenen Fall bereit.

Unablässig von den Tremolos der Dauerorgel begleitet, hatten sie im Wagen den Auferstehungsturm besichtigt – nur von außen, denn im Inneren waren die Verwaltungsbüros der Kalifornischen Friedhofgesellschaft untergebracht. Dann den Kinderfriedhof mit den Standbildern Peter Pans und des Jesusknaben, den Gruppen alabasterner Kleinkinder, die mit bronzenen Kaninchen spielten, dem Wasserrosenteich und dem Regenbogen-Springbrunnen, der gleichzeitig Wasser, farbiges Licht und Fluten der unentrinnbaren Wurlitzertöne spie. Dann, in schneller Folge, den Garten der Stille, den verkleinerten Tadsch-Mahal, den Friedhof Alte Welt und endlich, vom Chauffeur als entscheidender Beweis der Größe seines Herrn bis zuletzt aufgespart, das Pantheon selbst.

War es möglich, fragte sich Jeremy, dass es so etwas wirklich gab? Es hatte jedenfalls nichts Wahrscheinliches. Das Beverly-Pantheon war etwas völlig Unvorstellbares; nie hätte seine Fantasie so etwas erfinden können. Aber das Bild war nun in seiner Erinnerung, also musste er es tatsächlich gesehen haben. Er schloss die Augen und rief sich die Einzelheiten dieser Wirklichkeit gewordenen Unmöglichkeit ins Gedächtnis: die äußere Architektur des Ganzen nach dem Vorbild der Böcklinschen »Toteninsel«, das kreisrunde Vestibül mit der Replik von Rodins »Kuss«, durch verborgene Scheinwerfer rosa angeleuchtet, und die Treppenfluchten aus schwarzem Marmor; das siebenstöckige Kolumbarium, die endlosen Galerien und ihre Reihen über Reihen mit Platten verschlossener Grabnischen; die Aschenurnen aus Bronze oder Silber, wie Sportpreise; die bunten Glasfenster nach Burne-Jones, die Texte auf marmornen Schriftrollen, das Lullen der Dauerorgel in jedem Stockwerk, die Plastiken …

Die waren am unglaubwürdigsten, überlegte Jeremy hinter geschlossenen Lidern. Plastiken, die, wie die ewigen Wurlitzerklänge, alles überschwemmten. Statuen, wohin das Auge sah, Hunderte und Aberhunderte, wie bei einem Massenerzeuger in Carrara oder Pietrasanta aufgekauft. Lauter Akte, lauter Frauengestalten, alle überschwänglich mannbar; die Art von Statuen, die man im Empfangssalon eines erstklassigen Freudenhauses in Rio de Janeiro zu finden erwartet hätte. »O Tod«, fragte eine marmorne Schriftrolle am Eingang jeder Galerie, »wo ist dein Stachel?« Wortlos aber beredt gaben die Plastiken ihre beruhigende Antwort. Junge Damen, mit nichts als einem engen Gürtel bekleidet, der mit dem Realismus eines Bernini ins parische Fleisch gebettet war; junge Damen, die kauerten oder mit beiden Händen schamhaft waren; hingestreckt ruhende oder sich windende junge Damen; und wieder andere, die sich, hinten wohlgerundet, bückten, um ihre Sandale zu binden; junge Damen mit Tauben, mit Panthern, mit anderen jungen Damen, mit emporgewandtem Blick, um der Seele Erwachen auszudrücken. »Ich bin die Auferstehung und das Leben«, erklärten die Marmorrollen. »Der Herr ist mein Hirte, es wird mir nichts mangeln.« Nichts, auch nicht Dauerorgeln, auch nicht eng gegürtete Mädchen. »Der Tod ist verschlungen in den Sieg« – nicht länger den Sieg des Geistes, sondern des Körpers, des wohlgenährten Körpers, ewig jugendlich, immerdar sportlich und unermüdlich geschlechtlich. Das Muslimenparadies wusste von Paarungen, die sechshundert Jahre währten; in diesem neuen Christenhimmel jedoch steigerte der technische Fortschritt den Rekord zweifellos auf tausend Jahre und bereicherte ihn um die ewigen Freuden des Tennisplatzes, des Golfrasens und des Schwimmbeckens.

Unerwartet ging es bergab, und Jeremy öffnete die Augen. Der Wagen hatte die jenseitigen Ausläufer der Berge erreicht, in denen das Pantheon lag. Unten erstreckte sich eine weite braune Ebene mit grünen Vierecken und weißen Häuserflecken. In etwa dreißig Kilometer Entfernung zackten rötliche Bergketten den Horizont.

»Wo sind wir hier?«, fragte Jeremy.

»San-Fernando-Tal«, antwortete der Chauffeur. Er wies in den Mittelgrund. »Dort wohnen Groucho Marx. Jawoll, Sir!«

Unten bog der Wagen links in eine breite Straße ein, die, ein Band aus Beton und Vorstadthäusern, das Tal durchzog. Sie fuhren schneller. Reklametafel folgte auf Reklametafel mit verblüffender Geschwindigkeit. MALZMILCHHÜTTE. TRINKE UND TANZE IM CHATEAU HONOLULU! HEILUNG DURCH DEN GEIST UND DARMSPÜLUNGEN. HEISSE RIESENWÜRSTCHEN. KAUFEN SIE DAS HEIM IHRER TRÄUME NOCH HEUTE! Und hinter den Reklamen flitzten mathematisch genau gepflanzte Reihen von Aprikosen- und Nussbäumen vorbei, eine Folge flüchtig erblickter Perspektiven, heranhuschend und wieder entweichend, ein immer von Neuem aufklappender und sich schließender Fächer.

Ungeheure Orangengärten, tiefgrün und golden, exerzierten in Karrees von einem Quadratkilometer wie im Sonnenschein glitzernde Regimenter. Weit hinten zeichneten die Berge ihre unausdeutbare Kurve von Hochkonjunktur und Depression.

»Tarzana«, sagte plötzlich der Chauffeur, und da spannte sich auch schon der Name in weißen Buchstaben quer über die Straße. »Das sein Tarzana-College.« Er wies auf eine Gruppe kolonial-spanischer Paläste, die sich um eine romanische Basilika scharten. »Mistah Stoyt ihnen jetzt haben schenken ein neue Festsaal.«

Sie bogen rechts in eine Nebenstraße. Die Orangenhaine wichen für ein paar Meilen riesigen Feldern von Luzerne und Wiesen von verdorrtem Gras und kehrten dann mit erneuter Pracht wieder. Die Berge am Nordrand des Tals waren näher gerückt, und schräg von Westen her ragte ein neuer Gebirgskamm zur Linken auf. Die Straße machte eine jähe Biegung, anscheinend auf die Stelle zu, wo die beiden Bergzüge zusammentreffen mussten. Und plötzlich hatte Jeremy zwischen zwei Obstgärten hindurch einen höchst überraschenden Anblick. Etwa einen halben Kilometer vom Fuß des Gebirges entfernt erhob sich, gleich einer Insel vor schroffer Küste, ein felsiger Kegel aus dem Talgrund, stellenweise fast in Steilwänden. Auf seiner Spitze trug er wie einen Auswuchs ein Schloss – aber was für ein Schloss! Der Bergfried glich einem Wolkenkratzer, die Burgwälle fielen jäh ab, mit dem mühelosen Schwung von Betondämmen. Das Ganze war mittelalterlich, gotisch, fürstlich – doppelfürstlich, gotisch zur Potenz erhoben, mittelalterlicher als irgendein Bauwerk des dreizehnten Jahrhunderts. Denn dieses … dieses Objekt – Jeremy fand kein anderes Wort – war mittelalterlich nicht aus schlichter historischer Notwendigkeit wie etwa Coucy oder Alnwick, sondern nur zum Vergnügen, aus Mutwillen, sozusagen platonisch. Es war mittelalterlich, wie nur ein witziger, ungebundener moderner Architekt sich mittelalterlich zu geben wünschen würde; wie nur die allertüchtigsten modernen Hochbau-Ingenieure es zuwege bringen.

Jeremy begann vor Überraschung zu sprechen. »Was in aller Welt ist das?«, fragte er und wies auf den Spuk droben.

»Da wohnen doch Mistah Stoyt«, antwortete das Familienerbstück. Dann lächelte es stolz, als Stellvertreter des Besitzers, und ergänzte: »Ein sehr schöne Heim, ich schätzen.«

Die Orangengärten schoben sich wieder zusammen. Auf dem Sitz zurückgelehnt, legte sich Jeremy die etwas besorgte Frage vor, ob es richtig gewesen war, Mr. Stoyts Antrag anzunehmen. Die Bezahlung war fürstlich, die Arbeit – einen Katalog der fast sagenhaften Howbergh-Urkunden anzulegen – würde genussreich sein. Aber dieser Friedhof, dieses … Objekt … Jeremy schüttelte den Kopf. Es war einem natürlich bekannt gewesen, dass Mr. Stoyt reich war, Bilder sammelte und in Kalifornien eine Sehenswürdigkeit bewohnte. Aber niemand hatte einen auf so etwas vorbereitet. Sein humorvoll puritanischer guter Geschmack war empört; er schauderte bei dem Gedanken, den Menschen kennen zu lernen, der einer solchen Ungeheuerlichkeit fähig war. Dieser Mensch und man selbst – welche Berührungspunkte konnte man haben, welche Gedanken und Gefühle teilen? Weshalb hatte Stoyt einen kommen lassen? Jeremy Claytons Bücher konnten ihm unmöglich gefallen haben – kannte er sie überhaupt? Wusste er auch nur im entferntesten, wes Geistes Kind man war? Könnte er zum Beispiel verstehen, warum man den Hausnamen »Lindenruh« unverändert gelassen? Hätte er etwas übrig für die höchst persönlichen Ansichten, die man …

Diese bangen Fragen wurden durch hartnäckig laute Hupenzeichen des Chauffeurs unterbrochen. Jeremy blickte auf. Fünfzig Schritte vor ihnen schlotterte ein alter Ford die Straße entlang, beladen mit jämmerlichem Hausrat, der notdürftig auf Dach, Trittbretter und Gepäckträger gebunden war – Rollen von Bettzeug, ein alter Eisenofen, ein Verschlag mit Töpfen und Pfannen, ein zusammengelegtes Zelt, eine Blechwanne. Im Vorbeiflitzen gewahrte Jeremy drei stumpf dreinsehende, blutarme Kinder, eine Frau mit einem Stück Sackleinwand um die Schultern und einen ausgemergelten, unrasierten Mann.

»Durchzügler«, erklärte der Chauffeur verächtlich.

»Was?«

»Durchzügler«, wiederholte der Neger mit Nachdruck, als wäre nun alles klar. »Kommen wohl aus Staubschüssel. Nummerntafel von Kansas. Kommen wegen unsere Nabel.«

»Wegen Ihrer Nabel?«, echote Jeremy verständnislos.

»Nabelorangen«, verdeutlichte der Chauffeur. »Jetzt die Zeit. Gute Ernte diese Jahr, ich schätzen.«

Sie gewannen wieder freies Gelände, und da war auch schon das Objekt, größer denn je. Jeremy konnte sich mit Musse in die baulichen Einzelheiten vertiefen. Eine Mauer mit Türmen umzog den Fuß des Bergkegels, und in halber Höhe zeigte sich, in korrektester Nach-Kreuzzugsmanier, ein zweiter Befestigungsring. Ganz oben stand, von Nebengebäuden umgeben, der viereckige Bergfried.

Vom Bergfried wanderte Jeremys Blick hinab zu einer Gruppe von Bauten in der Ebene, unweit des Fußes des Bergkegels. An der Stirnseite des größten Hauses stand in Goldbuchstaben: STOYT-HEIM FÜR KRANKE KINDER. Zwei Fahnen, das Sternenbanner und eine weiße mit einem scharlachroten S, flatterten in dem leichten Wind. Dann entzog sie ein Wäldchen unbelaubter Walnussbäume dem Blick. Und fast gleichzeitig bremste der Neger, und der Wagen hielt neben einem Herrn, der schnell auf dem grasigen Straßenrand dahinschritt.

»Wollen mitfahren, Mistah Proptah?«, rief der Neger.

Der Fremde wandte den Kopf, lächelte einen Erkennungsgruß und trat ans Wagenfenster. Er war hochgewachsen und breitschultrig, hielt sich aber ziemlich gebückt; sein braunes Haar war im Ergrauen, und sein Gesicht, so fand Jeremy, glich dem von Standbildern, wie Bildhauer sie für Stellen hoch oben an der Westwand einer gotischen Kathedrale zu meißeln pflegten. Es war ein Gesicht mit jähen Vorsprüngen und tief beschatteten Falten und Höhlen, wie betont grob herausgearbeitet, damit es auch auf Entfernung wirke. Aber dieses Gesicht, so stellte er weiter fest, war nicht nur auf Wuchtigkeit und Fernwirkung gemeißelt. Es war ein Gesicht auch für den nahen Beschauer, auch für vertrauliche Nähe, ein subtiles Gesicht mit den Merkmalen von Feinfühligkeit und Verstand, nicht nur von Kraft; ein Gesicht, das ebenso viel sanfte, humorvolle Abgeklärtheit wie Energie und Stärke zeigte.

»Hallo, George«, sagte der Fremde, »sehr freundlich, dass Sie gehalten haben.«

»Freuen mich wirklich, Sie zu sehen, Mistah Proptah«, erwiderte der Neger herzlich. Dann wandte er sich halb um, wies auf Jeremy und sagte mit schwungvoller Förmlichkeit in Ton und Gebärde: »Möchten vorstellen Mistah Clayton aus England – Mistah Clayton, Mistah Proptah.«

Die beiden Herren reichten einander die Hand, und nach einem kurzen Austausch von Höflichkeiten stieg Mr. Proptah ein.

»Sie kommen auf Besuch zu Mr. Stoyt?«

Jeremy schüttelte den Kopf. Nein, er komme beruflich, gewisse Manuskripte zu sichten, die Howbergh-Papiere, genauer gesagt, die … Mr. Proptah hörte aufmerksam zu, nickte bisweilen und schwieg eine Zeit lang, nachdem Jeremy geendet hatte.

»Man nehme einen verwesten Christen«, begann er endlich in nachdenklichem Ton, »dazu die Überreste eines Stoikers, mische gründlich mit guten Manieren, etwas Geld und altmodischer Erziehung, lasse einige Jahre auf einer Universität schmoren, und man erhält einen Gelehrten und Gentleman. Übrigens nicht der schlechteste Menschenschlag.« Er lachte kurz. »Ich könnte fast behaupten, selber einmal einer gewesen zu sein, vor langer Zeit.«

Jeremy sah ihn fragend an. »Sie sind doch nicht etwa William Propter – der Verfasser der ›Kleinen Studien zur Gegenreformation‹?«

Der andere neigte den Kopf.

Jeremy sah ihn überrascht und erfreut an. War es möglich? Die »Kleinen Studien« gehörten zu seinen Lieblingsbüchern – waren seiner Ansicht nach vorbildlich in ihrer Art.

»Da biste sprachlos!«, sagte er laut, sich absichtlich des vulgären Ausdrucks bedienend, gewissermaßen zwischen Anführungszeichen. Er hatte gefunden, dass sich beim Schreiben und im Gespräch exquisite Wirkungen erzielen ließen, wenn man mitten in ernsten oder gelehrten Ausführungen plötzlich eine Slangphrase, einen schuljungenhaft profanen oder obszönen Ausdruck gebrauchte. »Also ich will verdammt sein …!«, brach er abermals aus, und weil ihm bewusst war, wie gewollt albern es klang, tätschelte er sich die Glatze und hüstelte.

Neuerliches Schweigen. Statt, wie Jeremy erwartet hatte, ein Gespräch über die »Kleinen Studien« zu beginnen, schüttelte Mr. Propter nur den Kopf und bemerkte: »Wir sind es meist.«

»Was sind wir meist?«

»Verdammt«, antwortete Mr. Propter. »Im psychologischen Sinn des Wortes.«

Die Nussbäume hörten auf, und wieder erschien, diesmal zur Rechten, das Objekt. Mr. Propter wies hin. »Der arme Jo Stoyt! Wenn man bedenkt, dass ein Mensch einen solchen Mühlstein um den Hals hat! Abgesehen natürlich von den anderen Mühlsteinen, die dazugehören. Haben wir nicht Glück gehabt – wir, die nie Gelegenheit hatten, etwas Schlimmeres zu sein als Gelehrte und Gentlemen?« Nach kurzer Pause fuhr er lächelnd fort: »Der arme Jo ist keins von beiden. Sie werden es nicht ganz leicht finden, mit ihm auszukommen. Er wird es bei Ihnen natürlich mit der Grobheit versuchen, einfach weil nach allgemeiner Auffassung ein Mensch wie Sie höher steht als ein Mensch wie er. Und übrigens«, setzte er hinzu und blickte dabei Jeremy mit einem Gemisch von Heiterkeit und Teilnahme an, »sind Sie wahrscheinlich von der Sorte, die Verfolgung herausfordert: ein bisschen das geborene Opferlamm, nicht nur Gelehrter und Gentleman.«

Verstimmt durch diese Unverblümtheit und zugleich angenehm berührt von der Freundlichkeit des anderen, lächelte Jeremy etwas fahrig und nickte.

»Vielleicht«, fuhr Mr. Propter fort, »werden Sie sich Jo Stoyt gegenüber weniger als Opferlamm fühlen, wenn Sie wissen, wie er ursprünglich dazu kam, gerade auf diese Weise verdammt zu sein« – er wies wieder auf das Objekt. »Wir gingen miteinander zur Schule, Jo und ich – damals allerdings nannte ihn niemand Jo. Wir nannten ihn Blobsch oder Schwabbelbauch. Denn Jo war der dickste Junge des Orts, der einzige Dicke in der Schule während der ganzen Zeit.« Er hielt inne, dann fuhr er in verändertem Ton fort: »Ich habe oft darüber nachgedacht, warum man sich immer über die Dicken lustig macht. Vielleicht wohnt dem Fett etwas Böses inne. Es gibt zum Beispiel keinen einzigen dicken Heiligen, ausgenommen natürlich den guten Thomas von Aquino, und ich sehe keinen Grund, ihn für einen richtigen Heiligen zu halten, einen Heiligen im volkstümlichen Sinn, der der einzig wahre Sinn ist. Wenn Thomas ein Heiliger ist, dann ist Vinzenz von Paul keiner. Und wenn Vinzenz ein Heiliger ist, was auf der Hand liegt, dann ist Thomas keiner. Vielleicht war sein gewaltiger Bauch schuld daran – wer weiß? Aber das nur nebenbei. Was den armen Jo betrifft, der war, wie gesagt, ein dicker Junge und daher die Zielscheibe für uns andere. Himmel, wie wir ihn für seine mangelhafte Drüsenfunktion büßen ließen! Und wie katastrophal er darauf reagierte! Überkompensation … Aber hier wohne ich«, sagte er nach einem Blick aus dem Fenster, als der Wagen vor einem kleinen weißen Bungalow unter Eukalyptusbäumen hielt. »Wir können das Thema ein andermal fortsetzen. Aber, wie gesagt, wenn der arme Jo zu beleidigend wird, vergessen Sie nicht, was er in der Schule durchgemacht hat, und bedauern Sie ihn – nicht sich!« Er stieg aus, schloss die Wagentür, winkte dem Chauffeur zu und verschwand über den Gartenweg in das weiße, ebenerdige Häuschen.

Der Wagen fuhr weiter. Verblüfft und zugleich gestärkt durch diese Begegnung mit dem Verfasser der »Kleinen Studien«, saß Jeremy da und starrte matt aus dem Fenster. Das Objekt war nun ganz nahe, und erst jetzt gewahrte er, dass der Schlossberg von einem Wassergraben umgeben war. Wenige hundert Schritte davor fuhr der Wagen zwischen zwei Säulen durch, auf denen Wappenlöwen saßen; das unterbrach offenbar einen unsichtbaren Lichtstrahl, der auf ein elektrisches Auge gerichtet war, denn kaum hatten sie die Löwen hinter sich, als sich eine Zugbrücke senkte. Fünf Sekunden bevor sie den Wassergraben erreichten, lag die Brücke fest; der Wagen rollte hinüber und hielt vor dem großen Tor in der äußeren Mauer. Der Chauffeur stieg aus und meldete telefonisch – der Apparat war in einer Schießscharte verborgen – seine Ankunft. Das verchromte Fallgatter ging lautlos hoch, die Torflügel aus rostfreiem Stahl öffneten sich nach innen. Sie fuhren hindurch und bergauf. Ein zweites Tor, in der zweiten Ringmauer, öffnete sich von selbst, als der Wagen nahe war. Dahinter führte eine Eisenbetonbrücke zum Steilhang; sie war so breit, dass ein Tennisplatz auf ihr Raum gefunden hatte. In der Schattentiefe darunter erblickte Jeremy etwas, das ihm bekannt vorkam. Gleich darauf entsann er sich, dass es eine Nachbildung der Grotte zu Lourdes war.

»Miss Dowlas sein katholisch«, bemerkte der Chauffeur und wies mit dem Daumen auf die Grotte. »Darum wir haben für sie machen lassen. Wir sein protestantisch in unsere Familie«, setzte er hinzu.

»Wer ist Miss Dowlas?«

Der Chauffeur zögerte. »Hm, sie sein junge Dame, mit die Mistah Stoyt so wie Freund sein«, erklärte er dann und sprach von etwas anderem.

Der Wagen klomm höher. Hinter der Grotte war diese ganze Flanke des Bergs von einem Kakteengarten bedeckt; dann wand sich die Straße auf den Nordhang, und die Kakteen machten Rasen und Ziersträuchern Platz. Auf einer kleinen Terrasse stand, überelegant wie ein Modebild aus einer »Vogue« für Göttinnen, eine Bronzenymphe des Giambologna, aus deren köstlich geglätteten Brüsten zwei Wasserstrahlen sprangen. Ein wenig weiter, hinter Draht, kauerten Paviane auf Felsgestein oder paradierten mit der Obszönität ihrer haarlosen Hinterenden.

Noch immer bergauf fahrend, nahm der Wagen abermals eine Kehre und kam endlich auf einer kreisrunden Betonplattform zum Stehen, die von Konsolträgern über den Abgrund hinausgehalten wurde. Wiederum ganz das altvaterische Familienerbstück, gab der Chauffeur, seine Mütze lüftend, eine letzte Darstellung seiner selbst, wie er den heimgekehrten jungen Herrn auf der Plantage willkommen hieß, und begann dann das Gepäck abzuladen.

Jeremy Clayton trat an die Brüstung und blickte in die Tiefe. Der Berg fiel etwa dreißig Meter fast senkrecht ab, schrägte dann steil zur inneren Ringmauer und von da zur äußern Befestigung. Hinter der lag der Burggraben, und drüben erstreckten sich die Orangengärten. »Im dunklen Laub die Gold-Orangen glühn«, murmelte er, und dann: »In Schatten hängt er der Orangen Pracht, wie goldne Lampen einer grünen Nacht.« Marvels Version war besser als Goethes, so entschied er. Und dabei schienen die Orangen stärker zu glühn, bedeutungsvoller. Denn Jeremy fand es immer schwierig, ein Erlebnis geradewegs und unvermittelt in sich aufzunehmen; das war für ihn stets mehr oder weniger beunruhigend. Das Leben wurde erst sicher, die Dinge nahmen erst Bedeutung an, wenn sie in Worte übersetzt und zwischen Buchdeckel verstaut waren. Die Orangen waren nun wunderschön eingeordnet, aber was tun mit diesem Schloss hier? Er wandte sich um und sah, den Rücken an der Brüstung, in die Höhe. Das Objekt ragte in frecher Ungeheuerlichkeit über ihm auf. Niemand hatte so etwas poetisch behandelt; nicht die alten Heldenepen, nicht Goethe, noch Walter Scott, noch die Romantiker. Wie hieß doch jene Stelle? »Der Wildgraf«, zitierte er mit dem Behagen des Kenners romantischer Verstiegenheit, »der Wildgraf, rau und voll Gewalt, hatt' eine Petze, zahnlos, alt –« oder so ähnlich. Aber Mr. Stoyt hatte Paviane und eine heilige Grotte; Mr. Stoyt hatte ein verchromtes Fallgatter und die Howbergh-Urkunden; Mr. Stoyt hatte einen Friedhof, der einem Rummelplatz glich, und einen Bergfried, der –

Plötzliches Gepolter; die großen, nägelbeschlagenen Flügel des frühgotischen Eingangstors öffneten sich, und wie von einem Orkan herausgeschleudert schoss ein kleiner, untersetzter Mann mit rotem Gesicht und schneeweißer Haarmähne über die Terrasse auf Jeremy zu. Seine Miene blieb unverändert; er trug die verschlossene, niemals lächelnde Maske, die der amerikanische Arbeiter Fremden gegenüber so gern aufsetzt – um durch das Fehlen verbindlich höflicher Grimassen zu zeigen, dass er in einem freien Land lebt und man ihm nicht imponieren kann.

Jeremy, der nicht in einem freien Land aufgewachsen war, hatte automatisch zu lächeln begonnen, als dieser Mann, offenbar sein Gast- und Arbeitgeber, auf ihn zugestürzt kam. Angesichts der strengen Unbeweglichkeit dieses Gesichts wurde er sich plötzlich seines stehen gelassenen Lächelns bewusst und, dass es unangebracht sei und er höchst albern aussehen müsse. Tief verlegen suchte er seine Miene in Ordnung zu bringen.

»Mr. Clayton?«, bellte der Fremde. »Freut mich. Mein Name ist Stoyt.« Während sie einander die Hand schüttelten, starrte Mr. Stoyt, noch immer ohne zu lächeln, Jeremy ins Gesicht. »Sie sind älter, als ich dachte«, bemerkte er.

Zum zweitenmal an diesem Vormittag machte Jeremy die abbittende Gebärde eines Probierfräuleins. »›Das Laub verdorrt, die Blätter fallen‹«, säuselte er. »Man wird allmählich senil. Man –«

»Wie alt sind Sie?«, schnauzte Mr. Stoyt ihn an, wie ein Polizeiwachtmeister einen eingebrachten Taschendieb.

»Vierundfünfzig.«

»Nicht älter?« Mr. Stoyt schüttelte den Kopf. »Mit vierundfünfzig muss man noch voll Feuer sein. Wie ist's mit Ihrem Sexualleben?«

Jeremy versuchte seine Verlegenheit wegzulachen. Er blinzelte; er glättete sich die Glatze: »Mon beau printemps et mon été ont fait le saut par la fenêtre«, zitierte er.

»Was heißt das?«, fragte Mr. Stoyt mit einem Stirnrunzeln. »Hat keinen Zweck, mit mir fremde Sprachen zu sprechen. Bin kein Gebildeter.« Er stieß ein Eselslachen aus. »Ich hab' hier eine Benzinfirma«, sagte er dann. »Zweitausend Tankstellen in Kalifornien allein. Kein einziger Mann in diesen Tankstellen, der nicht auf einer Universität war.« Wieder das Eselslachen, diesmal triumphierend. »Gehen Sie zu denen, wenn Sie ausländisch reden wollen!« Er schwieg einen Augenblick, dann ergänzte er, als Ergebnis irgend eines unklaren Gedankengangs: »Mein Agent in London, der dort Sachen für mich auftreibt, hat mir Ihren Namen genannt. Sie sind der Richtige, hat er geschrieben, für diese – wie heißen die nur? Sie wissen doch, die Familienpapiere, die ich diesen Sommer gekauft habe. Maulwerk? Haubitz?«

»Howbergh«, half Jeremy nach. Düstere Genugtuung erfüllte ihn; er hatte recht gehabt! Dieser Mensch hatte keins seiner Bücher gelesen, nie auch nur von ihm gehört. Immerhin, man durfte nicht vergessen: als Schuljunge war er Schwabbelbauch gerufen worden!

»Na schön – Howbergh«, wiederholte Mr. Stoyt mit verachtungsvoller Ungeduld. »Jedenfalls, er hat geschrieben, dass Sie der Richtige sind.« Dann, ohne Pause oder Übergang: »Was sagten Sie über Ihr Sexualleben, vorhin, als Sie mir mit dem ausländischen Zeug kamen?«

Jeremy lachte unbehaglich. »Es war nur eine Anspielung darauf, dass es, dem Alter entsprechend, normal ist.«

»Woher wissen Sie, was für Ihr Alter normal ist?«, fragte Mr. Stoyt. »Sprechen Sie mit Doktor Obispo darüber! Kostet Sie nichts. Er bezieht ein Gehalt. Als Hausarzt.« Er sprang auf etwas anderes über. »Möchten Sie sich das Schloss ansehen? Kann Sie 'rumführen.«

»Ach, das wäre sehr freundlich von Ihnen«, dankte Jeremy überschwänglich, und um ein kleines, wohlgesetztes Gespräch zu eröffnen, fügte er hinzu: »Ich habe Ihre Begräbnisstätte gesehen.«

»Meine Begräbnisstätte?«, wiederholte Mr. Stoyt argwöhnisch. Der Argwohn verwandelte sich in Zorn. »Was, zum Teufel, wollen Sie damit sagen?«

Eingeschüchtert stammelte Jeremy etwas von dem Beverly-Pantheon, an dem Mr. Stoyt, wie ihm der Chauffeur erzählt habe, finanziell interessiert sei.

»Ach so!«, sagte Mr. Stoyt besänftigt, aber immer noch mit gerunzelter Stirn. »Ich dachte schon, Sie meinten …« Er brach mitten im Satz ab und überließ es dem verdutzten Jeremy, zu erraten was er gedacht hatte. »Kommen Sie!«, bellte er, setzte sich ungestüm in Bewegung und stürmte voran, ins Schlosstor.

DRITTES KAPITEL

Stille herrschte im Saal 16 des Stoyt-Heims für kranke Kinder, Stille und das Helldunkel herabgelassener Jalousien. Es war die Ruhezeit nach dem zweiten Frühstück. Drei der fünf kleinen Patienten schliefen, der vierte, den Blick starr auf die Zimmerdecke geheftet, lag und bohrte in der Nase. Nummer fünf, ein kleines Mädchen, flüsterte mit einer Puppe, so lockig und arisch wie sie selbst. Am Fenster saß eine junge Pflegerin und las die neueste Nummer der »Wahren Bekenntnisse«.

»Sein Herz tat einen Sprung«, las sie da. »Mit einem erstickten Schrei riss er mich enger an sich. Monatelang hatten wir gegen dies gekämpft, gerade gegen dies. Aber der Magnet unserer Leidenschaft war zu stark für uns. Der verzehrende Druck seiner Lippen hatte einen Funken in meinem schmelzenden Körper geweckt. ›Germaine‹, flüsterte er, ›lass mich nicht länger warten! Willst du nicht jetzt lieb zu mir sein – jetzt, mein Liebling?‹ Er war so sanft und doch so rücksichtslos – wie sich ein liebendes Mädchen einen Mann rücksichtslos wünscht. Ich fühlte, wie ich hinweggetragen wurde von der aufsteigenden Flut der –«

Ein Geräusch auf dem Korridor. Die Tür wurde wie von einem Orkan aufgerissen, und jemand stürzte in den Saal. Die Krankenschwester schrak so jäh aus ihrer völligen Hingabe an den »Preis einer Wonnestunde« auf, dass es sie wie ein qualvoller Schmerz durchfuhr. Ihre fast augenblickliche Reaktion auf den Schock war ein entrüstetes: »Was soll das heißen?« Dann erkannte sie den Eindringling und rief mit veränderter Stimme: »Ach, Mr. Stoyt!«

Durch den Lärm aufgestört, wandte der junge Nasenbohrer den Blick von der Zimmerdecke ab, und das kleine Mädchen sah von der Puppe auf.

»Onkel Jo!«, riefen beide zugleich. »Onkel Jo!« Aus dem Schlaf gescheucht, nahmen die anderen den Ruf auf: »Onkel Jo! Onkel Jo!«

Der herzliche Empfang rührte Mr. Stoyt. Das Gesicht, das Jeremy so beklemmend grimmig gefunden hatte, entspannte sich zu einem Lächeln. In gespielter Abwehr hielt er sich die Ohren zu. »Ihr macht mich ja taub!«, rief er, und zur Pflegerin gewendet, fügte er im Flüsterton hinzu: »Die armen Hascher! Weinen könnt man beinah!« Seine Stimme umflorte sich vor Gefühl. »Und wenn man bedenkt, wie schwer krank sie waren, dann –« Kopfschüttelnd unterbrach er sich. »Übrigens«, ergänzte er in anderem Ton und schwenkte seine große breite Hand gegen Jeremy, der ihm in den Krankensaal gefolgt war und nun verlegen staunend in der Tür stand, »das ist Mr. – Mr. – Verflucht, ich hab Ihren Namen vergessen!«

»Clayton«, soufflierte Jeremy und rief sich ins Gedächtnis, dass Mr. Stoyt einmal Blobsch genannt worden war.

»Ganz richtig, Clayton. Können ihn ausfragen über Geschichte und Literatur, Schwester«, fügte er spöttisch hinzu. »Weiß er alles.«

Jeremy berichtigte bescheiden, seine Zeit sei nur die Epoche von der Erfindung »Ossians« bis zu Keats' Tod, aber Mr. Stoyt hatte sich bereits den Kindern zugewendet und rief mit einer Stimme, die Jeremys sanft geflöteten Einspruch untergehen ließ: »Mal raten, was Onkel Jo mitgebracht hat!«

Sie rieten: Bonbons, Brausekaugummi, Luftballons, Meerschweinchen. Mr. Stoyt schüttelte triumphierend den Kopf. Als die Fantasie der Kinder endlich erschöpft war, langte er in die Tasche seiner alten Tweedjacke und fischte ein Pfeifchen heraus, dann eine Mundharmonika, eine kleine Spieldose, ein Trompetchen und eine hölzerne Schnarre und zuletzt einen Browning. Den jedoch steckte er hastig wieder ein.

»Und jetzt spielt!«, kommandierte er, als die Instrumente verteilt waren. »Alle zusammen. Eins, zwei, drei!« Mit beiden Armen taktschlagend, begann er zu singen: »Drunten am fernen Swanee-Flusse …« Bei dieser letzten Überraschung in einer langen Reihe von Nervenstößen und Verblüffungen vertiefte sich der Ausdruck des Staunens auf Jeremys sanftem Gesicht.

Welch ein Tag! Die Ankunft am frühen Morgen; der würdevolle Mohr; die endlose Vorstadt; das Beverly-Pantheon; das Objekt inmitten der Orangenbäume … Die Begegnung mit William Propter und mit diesem wahrhaft fürchterlichen Stoyt. Und dann, im Schloss, der Rubens und der große El Greco in der Vorhalle, der Vermeer im Fahrstuhl, die Rembrandt-Radierungen in den Korridoren, der Winterhalter in der Anrichtekammer des Butlers.

Dann Miss Dowlas' Louis-Quinze-Boudoir mit dem Watteau und den beiden Lancrets und der wohlversehenen Soda-Bar in einer Rokokonische; und Miss Dowlas selbst, wie sie in orangenfarbenem Kimono Himbeer- und Pfefferminz-Soda-Eiscreme an ihrer Privatbar trank. Jeremy war vorgestellt worden, hatte ein Eis mit Früchten und Schlagsahne dankend abgelehnt und war weitergeschleppt worden, immer mit größter Geschwindigkeit, immer wie auf Sturmesflügeln, um die anderen Sehenswürdigkeiten des Schlosses in Augenschein zu nehmen. Das Rummelzimmer, zum Beispiel, mit Elefantenfresken von Sert; die Bibliothek mit den Holzschnitzereien von Grinling Gibbons, jedoch ohne Bücher, denn Mr. Stoyt hatte sich noch nicht entschließen können, welche zu kaufen. Dann das kleine Esszimmer mit dem Fra Angelico und den Möbeln aus dem Pavillon in Brighton. Das große Esszimmer, dem Inneren der Moschee von Fatehpur-Sikri nachgestaltet. Der Tanzsaal mit den Spiegeln und der kassettierten Decke. Das bunte Kirchenfenster aus dem dreizehnten Jahrhundert im Klosett des elften Stockwerks. Das Frühstückszimmer mit Bouchers Bild der »Petite Morphil«,