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Cornelia Naumann

Der Abend kommt so schnell

Roman

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Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Königlicher Verrat (2016), Die Portraitmalerin (2014)

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1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Christian Zimmer, Gießen 1909

ISBN 978-3-8392-5594-0

Zitat

In meinem Ende liegt mein Anfang.

Maria Stuart

 

 

 

Nichts ist schwerer und erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und zu sagen: »Nein!«

Kurt Tucholsky

 

 

Prolog

Der Mann im schwarzen Hemd lauerte im Morgengrauen. Die Moldawanka lag noch dunkel und ruhig, keine Spur von der hektischen Betriebsamkeit, die mit Sonnenaufgang in den kleinen Läden der Tandler und Kesselflicker, den Werkstätten, Schneidereien, Schmieden und Wäschereien begann.

Er hatte sich sein Opfer ausgesucht. Ein hässliches Balg aus einer armen Trödlerfamilie, die sich am Rande der jüdischen Geschäfte der Moldawanka angesiedelt hatte, zwischen zweifelhaften Geschäftemachern, Wettbüros und Hehlern, weit entfernt von den besseren Vierteln oberhalb des Hafens.

In den letzten Tagen hatte er sich an das Kind herangemacht. Wie alle diese Bälger war auch dieses versessen auf süße Kekse, Datteln und Schokolade. Es verschlang seine Mitbringsel in solchen Mengen, dass er schon befürchtete, es würde vorzeitig an einem Magengeschwür verrecken. Schon am zweiten Tag näherte sich ihm das struppige, magere Ding wie einem alten Freund, nannte ihn Onkelchen und packte mit klebrigen Fingern seine Hand. Er bezwang seinen Widerwillen, ließ es gewähren, streichelte das verlauste Haar und fütterte es weiter. Der Haken war, dass sich das Balg nicht weit von seinen Geschwistern entfernte, das Gaunerpack hielt zusammen wie Pech und Schwefel. Er musste es weglocken, und er hatte richtig gerechnet: Die Angst, mit den Geschwistern die Herrlichkeiten des neuen Freundes teilen zu müssen, war stärker als die Angst vor dem Vater, der mit Schlägen drohte, sollte sich eines der Kinder mit Fremden einlassen. In dem Gesindel steckt die Gier von klein auf drin, das sitzt in den Genen, dachte er verächtlich, während er den Hintereingang des Trödelladens beobachtete.

Das Kind interessierte ihn nicht. Er wusste nicht einmal, ob es ein Mädchen oder ein Junge war. Es war noch nicht alt genug, ihn zu durchschauen, es war kein jüdisches Kind, keines von den Schwarzmeerdeutschen, es war nicht griechisch und nicht armenisch, sondern russisch, und es war arm, das allein zählte. Er hatte Order, sich nicht mit der Obrigkeit anzulegen. Um einen Pogrom zu entfachen, brauchte es die Dummheit des armen Volkes, das gern bereit war loszuschlagen, und es sollte losschlagen, gegen die Juden, damit es sich nicht mit der roten Brut verbündete.

Er hatte dem Kind etwas Besonderes versprochen, wenn es vor dem Morgengrauen heimlich herauskäme. Seine Katze habe geworfen, hatte er gelogen, und es dürfe sich ein Junges aussuchen, aber es müsse heimlich vor Sonnenaufgang zu ihm herauskommen, denn später seien die Kätzchen fort, sein Bruder wolle sie ertränken.

Wieder sah er zur schäbigen Eingangstür des niedrigen Hauses. Dünne Holzlatten, abblätternder grauer Lack, mehr Schuppen als Haus. Schnell, du blödes Balg, dachte er, gleich geht der Betrieb hier los, dann wird es heute nichts mehr. Aber da sah er, wie die Klinke vorsichtig heruntergedrückt wurde, ein leises Knarzen, schon huschte es heraus, das Balg, über sein schäbiges Nachtgewand hatte es ein mottenzerfressenes Tuch geworfen, und einen Korb hatte es in der Hand. Es blickte suchend um sich und lächelte zutraulich, als es den neuen Freund auf der gegenüberliegenden Seite erblickte. Die verzogene alte Tür fiel mit einem lang gezogenen lauten Seufzer hinter ihm zu. Der Mann zuckte zusammen und beobachtete scharf die umliegenden Häuser, aber die rissigen hölzernen Läden vor den Fenstern blieben geschlossen.

Er setzte sein Wolfsgrinsen auf und hielt dem Kind einladend die Hand hin. Mit der anderen griff er in die Hosentasche und fühlte das Klappmesser. Er packte die verdreckte Hand des Kindes und führte es fort. In einer Seitengasse der Dalnitzkaja würde er es niedermachen, ausbluten lassen, und dann …

Ob es ein weißes Kätzchen haben könne, fragte das Kind. Er tat, als müsse er überlegen, und zog eine Tüte mit Datteln aus der Tasche. Das Kind schob sich eine nach der anderen in den Mund und ging willig an seiner Hand weiter. Aber plötzlich blieb es stehen. Er zerrte an der Kinderhand, aber wie ein unwilliger Esel hatte der verdammte Bankert die Füße in den plump geschnitzten Holzschuhen in den lehmigen Boden der ungepflasterten Gasse gestemmt und ging keinen Schritt weiter. Ein böser Mann wohne dort, da ginge es nicht hin. Aber die Kätzchen seien genau dort, versuchte er das Kind zu überreden, und er werde es beschützen.

Aber es blieb stehen, störrisch, blickte mit plötzlich erwachtem Argwohn nach ihm und versuchte, die Kinderhand aus seiner zu lösen. Er packte fester zu und zerrte das Kind hinter sich her, murmelte etwas vom weißen Kätzchen, aber es brüllte plötzlich wie am Spieß. Er packte das Balg, schlug ihm auf den Mund und ließ die Hand darauf liegen. Es zappelte und wehrte sich, wie dünn und armselig war sein Widerstand, jeden Knochen hätte er ihm brechen können, aber nun hörte er, wie ein Fensterladen geöffnet wurde. Er sah nach vorn, nach oben, alles blieb ruhig auf der Dalnitzkaja. Das Kind erschlaffte unter seiner Hand, die es wie in einem Schraubstock gepackt hielt. Der Mann drehte sich um und sah direkt in die dunklen Augen einer Frau.

Er erstarrte. Die Augen der Frau leuchteten schwarz vor Zorn aus ihrem weißen Gesicht. Sie sah auf ihn, auf das leblose Kind und wieder auf ihn.

Er pfiff schrill, den ausgemachten Pfiff, viel zu früh, aber vielleicht waren die Kameraden schon in der Nähe und konnten ihm entweder dieses Weib oder das Kind abnehmen. Nichts rührte sich. Unerbittlich fixierte ihn die Frau, Augen wie Kohlen. Sie wusste Bescheid. Sie durchschaute seinen schändlichen Plan. Aber er sah auch, dass sie schwankte: Sollte sie das Kind retten oder ihn angreifen? Blitzschnell zückte er das Messer und hielt es dem Kind an den Hals. Die Frau öffnete den Mund. Wollte sie die gesamte Moldawanka zusammenschreien? Unerbittlich hielt er dem Kind, das sich nicht rührte, das Messer an den Hals und sah der Frau drohend ins Gesicht. Er würde dem verfluchten Balg die Kehle durchschneiden, wenn sie schrie. Die Frau schloss den Mund wieder. Aber es schien nicht nur wegen des Messers zu sein. Sie blickte wie erstarrt an ihm vorbei. Was war geschehen? Waren seine Kameraden gekommen? Aber im Blick der Frau lag keine Angst, sondern ein wilder Triumph. Was zum Henker geschah hinter seinem Rücken? Für den Bruchteil einer Sekunde sah er über die Schulter und lockerte unwillkürlich seinen Griff.

Und auf eben diesen Sekundenbruchteil hatte die Frau spekuliert. Sie stürzte auf ihn wie eine Furie, entriss dem Überraschten erst das Kind, dann wollte sie ihm das Messer entwinden, aber schon hatte er sich gefasst, packte das Kind am Arm und zielte mit dem Messer auf ihre Brust, genau in dem Moment, als ihn der Tritt der Frau zwischen die Beine traf. Verfluchte Hure! Er stöhnte vor Schmerz, ließ das Balg los und stieß ungezielt zu, wild vor Schmerz, die Frau schrie auf. Sie blutete am Arm, noch einmal traf ihn ihr Blick, voller schwarzer Wut. Wollte sie mit ihm kämpfen?

»Dreckiger Schwarzhunderter!«, zischte sie und wich seinem zweiten, heftig geführten Stoß aus. Aber sie zögerte. Was war ihr wichtiger? Der Kampf? Das Kind? Er spürte, wie sie schwankte. Dann warf sie ihm einen verächtlichen Blick zu, packte das Kind auf ihre Arme, klopfte ihm mit der ermunternden Zärtlichkeit einer energischen Krankenschwester auf den Rücken und rannte davon, nur zwei Sekunden Vorsprung, während seine Kameraden heranstürmten. Er befahl ihnen, sie zu verfolgen, aber er ahnte: Sie war davon. Diese verdammten Juden waren in der Moldawanka zu Hause, sie kannten jeden Winkel, jeden Fluchtweg von Haus zu Haus, von Dach zu Dach, und von Keller zu Keller hatten sie regelrechte Katakomben ausgehoben. Sein schöner Plan war dahin. Aber er sah ihr weißes Gesicht vor sich, den schmalen, entschiedenen Mund, die zornigen Kohleaugen, das wilde schwarze, vor Erregung aufgelöste Haar, das um ihr auffallend blasses Gesicht wehte.

Dein Gesicht erkenne ich wieder, du Hure, dachte er, gekrümmt zusammensinkend, für den Tritt wirst du bezahlen.