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Friederike Schmöe

Kreidekreis

Katinka Palfys 12. Fall

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Zum Buch

Grausame Täuschung Hauptkommissar Harduin Uttenreuther verspürt zunehmend das Bedürfnis, sich den schönen Dingen des Lebens zu widmen, und sammelt sogar bibliophile Brechtausgaben! Seine Lebenspartnerin Katinka Palfy, Privatdetektivin, erhält den Auftrag, in einem Vermisstenfall zu ermitteln. Fanny Chatwin, eine junge Australierin und Passagierin auf dem Flusskreuzfahrtschiff „Emerald Star“, verschwindet beim Landgang spurlos. Ihre Mutter Ruth Pessel beauftragt Katinka, Fanny zu finden. Als eine brutal verstümmelte, gesichtslose Leiche im gleichen Alter gefunden wird, bestätigt Ruth den schrecklichen Verdacht: Die Tote ist ihre Tochter! Doch bald kommen Katinka Zweifel. Ruth scheint außergewöhnlich gefasst. Aber warum weigert sie sich, Fannys Ehemann Louis, der sich in Australien aufhält, zu verständigen? Und wer ist die Frau, die Katinka beauftragen will, eine Wohnung zu observieren? Erst der Blick auf die wahre Not der Menschen führt Katinka auf die richtige Spur.

Geboren und aufgewachsen in Coburg, wurde Friederike Schmöe früh zur Büchernärrin – eine Leidenschaft, der die Universitätsdozentin heute beruflich nachgeht. Ihr literarisches Universum umfasst u. a. die Krimireihe um die Bamberger Privatdetektivin Katinka Palfy und eine Krimiserie mit der Münchner Ghostwriterin Kea Laverde als Hauptfigur.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Oberfranken (4., überarbeitete Auflage 2018)

Mörderische Prachtbäder (Hrsg., 2018, mit Petra Steps)

Kirchweihmord (2018)

Still u. starr ruht der Tod (2017)

Süßer der Punsch nie tötet (2017)

Falsche Versprechen (2017)

Dohlenhatz (2017)

Die viel zu lange Lüge (E-Book Only, 2016)

Von Zimtsternen und Zimtzicken (Hrsg., 2016)

Die Bernsteinburg (E-Book Only, 2016)

Stille Nacht, grausige Nacht (2015)

Kirchweihleichen (Hrsg., 2015)

Zuträger (2015)

Ein Toter, der nicht sterben darf (2014)

Wer mordet schon in Franken (2014)

Schaurige Weihnacht überall (2013)

Du bist fort und ich lebe (2013)

Rosenfolter (2012)

Wasdunkelbleibt (2011)

Wernievergibt (2011)

Wieweitdugehst (2010)

Bisduvergisst (2010)

Fliehganzleis (2009)

Schweigfeinstill (2009)

Spinnefeind (2008)

Pfeilgift (2008)

Januskopf (2007)

Schockstarre (2007)

Käfersterben (2006)

Fratzenmond (2006)

Maskenspiel (2005)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

info@gmeiner-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © powell83/fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5640-4

Zitat

In den blutigsten Zeiten

leben freundliche Menschen.

 

Bertolt Brecht,

Der Kaukasische Kreidekreis

 

1.4.2018

WhatsApp 1

Alles okay bei dir? Irgendwie kann ich mich mit der momentanen Situation nicht anfreunden. Mom spinnt jetzt komplett, weiß nicht, wie ich reagieren werde. Vielleicht ist es mal Zeit, dass ich mir darüber klar werde. LOVE.

Fanny

31.3.2018

»Der Mann ist ja spitz wie Nachbars Waldi.«

»Mom, bitte.«

Ruth Pessel schürzte die Lippen. »Du bist doch sonst ganz erpicht darauf, die Dinge beim Namen zu nennen.« Wütend rammte sie den Schlüssel von innen in das Schloss der Kabinentür und drehte ihn zweimal um, als könnte Bruce Lornan ihnen nachkommen auf der Jagd nach einer heißen Nummer.

Schweigen ist Gold, dachte Fanny müde. Eine Kreuzfahrt brachte es mit sich, dass man länger, als es irgendwem gut tun konnte, mit Menschen zusammen war, mit denen einen so gut wie nichts verband. Sie hatte ihrer Mutter den Gefallen tun wollen. Eine gemeinsame Reise unternehmen. Deutschland, das Land ihrer Herkunft, aus dem Ruth einst, wie sie selbst stets behauptete, herausgerissen worden war. Dennoch hatte das Heimweh sie über die Jahrzehnte im Griff gehabt. Man sollte es nicht glauben, wo sie doch in Melbourne wirklich angekommen war. Auch beruflich.

Also war Fanny mit nach Deutschland geflogen. Hatte sich die Reise schöngeredet. Denn so einen teuren Urlaub konnte sie sich selbst nicht leisten. Als Lehrerin in Australien wurde man kein Rockefeller. Dabei liebte Fanny ihren Beruf. Umso schlimmer, dass man ihren Vertrag im Januar nicht verlängert hatte. Die Misere war nur insofern von Vorteil, als sie jetzt diese Flusskreuzfahrt auf einem der aktuell luxuriösesten Cruiser, der »Emerald Star«, den Main-Donau-Kanal hinunter machen konnte. Sie unterdrückte ein Seufzen. Es wäre sicher besser gewesen, wenn sie noch einen Job hätte und dementsprechend ihrer Mutter hätte absagen können. Ihrem Selbstwertgefühl wenigstens hätte das gutgetan. Außerdem müsste sie sich dann nicht das Geschwafel über Bruce Lornan anhören. Sie fand den Mann ganz in Ordnung. Er reiste mit seiner Ehefrau Liza, einer verkniffenen Tusnelda mit einem vertrockneten Gesicht, das Fanny vom ersten Augenblick an eine Rosine erinnert hatte. Wie er es mit der beständig kalte Bemerkungen absondernden Frau in einer Kabine aushielt, fragte Fanny sich ohnehin. Deshalb war es kein Wunder, dass Bruce so oft wie möglich das Schiff durchstreifte und Unterhaltung an anderer Stelle suchte. Zum Beispiel bei weiblichen Mitreisenden unter 30. Davon gab es an Bord außer den Angestellten nur eine. Fanny.

»Wenn mich nicht alles täuscht, hat er dich schon mehr als ein Dutzend Mal angebaggert.«

»Mom! Der Knabe ist Mitte 60, denkst du, ich bin scharf auf ihn? Mach dir mal keine Sorgen.«

»Ich mache mir nicht im geringsten Sorgen. Schließlich weiß ich ja, dass du deinem Ehemann treu bist.«

Fanny strich sich das Haar aus dem Gesicht. Die Atmosphäre in der Kabine schien zu dampfen. Das Kabäuschen kam ihr winzig vor, obwohl etliche Flusskreuzfahrtveteranen nicht müde wurden, ihr zu versichern, dass die »Emerald Star« mehr Platz böte als die üblichen Schiffe.

»Und?« Fanny fiel nichts Besseres ein, als mit einer halbherzigen Frage Zeit zu schinden. Sie trank ihren Kaffee aus, den sie sich aus dem Speisesaal mitgenommen hatte. Maggie, eine der Stewardessen, steckte ihr jeden Morgen einen Thermobecher zu. An Bord wurde den Passagieren wirklich jeder Wunsch von den Augen abgelesen. So gut wie jeder. Gerade jetzt fühlte Fanny den brennenden Wunsch, der Kabine, der »Emerald Star« und der ganzen Scheinwelt dieser Reise zu entkommen. Leider ein unerfüllbares Verlangen.

»Du kennst meine Meinung. Louis ist nicht gut für dich. Ihr habt überstürzt geheiratet. Bei Gott, vielleicht hast du befürchtet, du wärest schwanger.«

»Mom, diese Diskussion hatten wir längst. Ich war weder schwanger noch dachte ich, es wäre so.«

»Na gut, dann habt ihr euch eben für die Eheschließung entschieden, damit ihr beide in Melbourne eine Anstellung findet. Was aber nicht geklappt hat.«

»Ich habe mir die Arbeitslosigkeit nicht ausgesucht. Ich finde schon wieder einen Job. Louis und ich sind beide flexibel.« Für Momente erschien selbst ein Arbeitsplatz im hintersten Outback Australiens Fanny erstrebenswerter als die »Emerald Star« oder die gleichförmigen Weinberge, die am Ufer an ihnen vorbeiglitten. Das Schiff ließ sich Zeit.

»Wenn du ohnehin bereit bist, sonst wohin zu ziehen, brauchst du Louis ja nicht mehr.« Ruth betrachtete ihre Fingernägel. Gestern war sie im bordeigenen Schönheitssalon gewesen. Gezupfte Augenbrauen, neue Farbe auf dem Ansatz, 20 rote Nägel.

»Lass gut sein, Mom.« Fanny spürte, wie ihr die Geduld ausging. Ein feines Vibrieren über ihrem rechten Auge, das sich schnell zum Schmerz auswachsen konnte. »Louis und ich haben geheiratet, weil wir uns lieben und unser Leben gemeinsam verbringen wollen.«

»Was euch allein arbeitstechnisch nicht gelingen wird.« Ruth löste den Blick von ihren Händen. »Und ich sage dir was: Louis wird nie für eine Familie sorgen können. Er ist doch nur einer Karriere als Musiker hinterher. Als Gitarrist in einer Band. Dem Jungen ist seine Musik wichtiger als du.«

»Ganz sicher nicht.«

»Du hast längst selbst Zweifel an seiner Hingabe. Am Ernst seiner Absichten.«

»Mom, vielleicht hast du es noch nicht mitbekommen: Louis und ich leben von seinem Lehrergehalt. Zwei Ehepartner, die eine Weile vom Einkommen des einen leben. Er hat als Musiklehrer eben bessere Chancen als ich. Englischlehrer gibt es wie Sand am Meer, Musiklehrer nicht. Den Job wird er bestimmt nicht sausen lassen. Dazu mag er die Schüler viel zu sehr.«

»Er wird ihn an den Nagel hängen. Kaum, dass er ein Angebot aus der Musikbranche hat. Und da wird er noch weniger verdienen. Wirst du sehen. Schließlich kommt kaum einer von diesen Jungspunden auf die große Bühne. Die enden alle in zweitklassigen Pubs.«

Fanny rieb sich die Stirn. Ruth war in den letzten Jahren immer materialistischer geworden. Versessen auf Geld. Die alte Angst, allein mit einem Kind in die Armut abzugleiten, hatte sich in Gier verkehrt. Natürlich erkannte Fanny die Leistung ihrer Mutter an: sich hochgearbeitet zu haben ohne eine Ausbildung, ohne »Vitamin B«, und das in einer der größten Kliniken von Melbourne, musste man erst mal schaffen. Assistentin der Geschäftsleitung. Wobei man das Assistentin vermutlich leicht weglassen konnte. Ruth Pessel galt als rühriger Mittelpunkt der Chefetage. Sie war diejenige mit dem untrüglichen Gespür, an welchen Stellschrauben zu drehen war, um den Umsatz weiter zu steigern. Sie hatte auch die Idee gehabt, einen Teil der chirurgischen Abteilung zu einem Privatkrankenhaus für reiche Leute aus dem pazifischen Raum auszubauen. Oder für Verzweifelte aus ganz Australien, die in dem zwielichtigen Gesundheitssystem keine Chance mehr auf ein neues Knie oder eine Hüfte hatten. Ohne Zweifel war der Überschuss, den das Melbourne Scientific Hospital seit Jahren in schöner Regelmäßigkeit erwirtschaftete, in weiten Teilen Ruths Verdienst.

»Ich glaube nicht, dass …«, begann Fanny halbherzig. Im Gang draußen erklangen das sonore Lachen von Bruce Lornan und ein zurückhaltendes Kichern. Fanny grinste. Also war er einmal mehr auf der Pirsch, der alte Bruce.

»Zieh dir was drüber. Es ist zu kühl für kurze Ärmel.«

Fanny stöhnte leise. »Ich weiß schon, wann mir kalt ist. Danke für deine Fürsorge.«

»Dieser grün-gelbe Fleck an deinem Arm ist wahrlich kein schöner Anblick.«

Schweigen ist Gold, dachte Fanny wieder und trank ihren Kaffee aus. Offensichtlich hatte ihre Mutter sie nur auf die Reise eingeladen, um ihr 24 Stunden pro Tag das Gewissen umzustülpen.

»Louis’ Traum ist eine Karriere im Musikbusiness«, insistierte Ruth. »Mach dir die Konsequenzen bewusst.«

»Und wenn er den Traum hat? Selbst wenn er ihn weiterverfolgt, heißt das nicht, dass er mich …«

»Er wird dich links liegen lassen. Dich abservieren. So schnell kannst du gar nicht gucken.«

»Mom, bei allem Respekt für deine Lebensgeschichte …«

Ruth hob die Hand. »Lass uns jetzt nicht streiten. Ich hätte da eine Idee. Einen Vorschlag zur Güte.«

Fanny schüttelte den Thermobecher. Leer. Denkbar schlechter Zeitpunkt. Lass sie reden, dachte sie. Lass sie ihre Sicht der Dinge anbringen. In zehn Tagen ist unsere Reise zu Ende, wir fliegen heim, und ich bin sie los.

2.4.2018

Bruce Lornan war im Grunde seines Herzens ein positiver Mensch. Seine Frau Liza warf ihm vor, er habe das Gemüt eines Fleischerhundes, was aus ihrem Mund nicht freundlich gemeint war, doch er verstand es, ihre Meinung seinen Bedürfnissen gemäß umzudeuten. Er liebte es zu reisen, und Liza kam mit, um ihn im Auge zu behalten. Er sah ein, dass er sich damit jede Menge Stress ersparte, denn garantiert würde unter den Kreuzfahrtpassagieren mehr als nur eine Frau auf ihn fliegen. Auf Ärger mit Ehemännern und enttäuschten Ladys am Ende einer Reise war er nicht besonders erpicht.

An Bord hatte Liza sich mit ein paar Frauen angefreundet, die die Landgänge gern ohne ihre Männer absolvierten. Shoppen war nicht unbedingt Bruce’ Hobby und genauso wenig das von den anderen Jungs. Daher konnte er sich leicht absentieren, sobald die Damenwelt Taschen- und Souvenirläden durchstöberte. Das WLAN an Bord leistete das Übrige. Diese Sache war nichts anderes, als ein Hotel zu reservieren, ein Zugticket zu buchen oder eine Pizza zu ordern. Lächelnd schob Bruce das Smartphone in die Jeanstasche und klatschte noch eine Portion Versace Eros Aftershave auf seine Wangen. Kaum rasiert, machte sich schon wieder dieser blaue Schatten auf seinen Wangen bemerkbar. Den Bartwuchs nahm er zähneknirschend hin, solange sein Haupthaar dicht blieb, was zum Glück der Fall war. Er scherzte manchmal, er passe sich einfach seiner Gattin an, deren Bartwuchs auch nur durch umsichtige tägliche Pflege in Schach zu halten war. Dass sie ihn für diesen Spruch hasste, nahm er hin. Was bedeutete letztendlich Lizas emotionelles Tamtam, wenn er längst seinen Weg gefunden hatte, auf seine Kosten zu kommen.

Drei große Reisebusse holten sie im Hafen ab, einem verlottert aussehenden Wasserarm mit einem staubigen Kai. Bruce hatte den Atem angehalten, als der Kapitän die »Emerald Star« in das schmale Becken gesteuert hatte. Für die Landgänge wurden die Passagiere nach Farben eingeteilt, alles bestens organisiert, Bruce und Liza trugen Namensschilder mit grüner Ecke, genauso wie diese verklemmte Ruth Pessel und ihre Tochter. Fanny mochte er, aber sie war natürlich zu jung, bei allem, was recht war, dazu beständig von den Luchsaugen ihrer Mutter beobachtet und verheiratet. Er suchte ihre Nähe, weil sie so etwas Weiches, Heiteres an sich hatte, die Unbeschwertheit der Jugend, obwohl sie auf die 30 zuging, wie er annahm, wenn er die zarten Fältchen um ihre Mundwinkel in Augenschein nahm. Fanny lachte gern über seine Scherze; sie tat es nicht aus Höflichkeit, sondern weil er sie tatsächlich mit seinen Witzen unterhielt. Er hatte sie sogar ausgetrickst, hatte ihre Handynummer abgegraben, weil er ihr angeblich einen ganz besonders interessanten Artikel aus der »Times« mailen wollte. Sie war drauf eingegangen, klar, sie war richtig handysüchtig, ständig am Surfen! Er hatte den Link geschickt, nun besaß er ihre Nummer. Eine von vielen Trophäen des Jägers.

Als er in den Bus stieg, saßen Mutter und Tochter ganz vorn. Er schob Liza auf die Plätze hinter den beiden. Ruth beschäftigte sich mit ihrem Reiseführer, während Fanny den Kopf ans Fenster gelehnt hatte und hinausblickte in den verhangenen Tag, den Blick auf ein sandfarbenes Speicherhaus gerichtet. Lachmöwen umkreisten das Schiff.

Liza neben ihm murmelte irgendwas; er hörte nicht zu. Fanny wirkte so abwesend. Er beugte sich vor:

»Dieses Bamberg soll 1000 Jahre alt sein. Kann man sich das vorstellen?«

Ruth wandte den Kopf gerade so weit, dass er verstehen konnte, was sie antwortete.

»Das ist in Deutschland nichts Besonderes.«

Klar, sie war von hier. Als Kind ausgewandert, nun schwang ein Hochmut in ihrer Stimme, als habe sie den Bamberger Dom mit aufgebaut. Stein für Stein.

»Verspüren Sie nicht auch Sehnsucht nach der Heimat Ihrer Mutter?«, schoss Bruce eine Frage auf Fanny ab.

Sie hörte ihn nicht. Ihre Mutter gab ihr einen leichten Schubs. Fanny zuckte zusammen, griff sich an den Oberarm. Bruce hatte Ahnung vom Leben, und das sah nach Schmerz aus. Nach mehr Schmerz, als ihn ein vorsichtiger Stups eigentlich auslösen sollte. Er wollte gerade eine Bemerkung machen, als seine Frau ihn in die Seite stieß.

»Liza, mein Schatz, was ist?«

Er hörte ihr zu, ohne wirklich zu verstehen, was sie sagte, während er auf Fannys Hinterkopf blickte, die braunen Locken, die sie für seinen Geschmack ein wenig zu kurz trug, er mochte Frauen mit wallendem Haar. Als der Bus anfuhr, griff Liza theatralisch nach dem Handgriff an der Lehne des Vordersitzes.

Die Reiseleiterin war bereits eingestiegen, sie sprach passables Englisch. Ihn interessierte nur, wo der Bus hielt, und wie er nach der Dombesichtigung am einfachsten und schnellsten zu der angegebenen Adresse kommen konnte. Auf Google Maps hatte er bereits alle Daten eingegeben. Es kam nur darauf an, dass er sich rechtzeitig abseilte. Schließlich interessierten ihn die Spaziergänge durch die endlosen engen Innenstädte, die für ihn alle gleich aussahen, nicht im Mindesten. Stattdessen regte sich bereits sein kleiner Freund in Vorfreude.

Der Bus fuhr an einem Schrottplatz vorbei und bog ab. Neugierig betrachtete Bruce die modernen Gebäude, die an ihnen vorbeizogen. 1000 Jahre war das Graffel garantiert nicht alt. Aber dann sah er den Dom. Vier schlanke Türme, die sich über dem Zentrum der Stadt in den trüben Himmel reckten. Das musste das berühmte Bauwerk sein, da drüben auf dem Hügel. Nicht schlecht. So was hatten sie zu Hause nicht. Bruce räusperte sich. Er hatte den Mund bereits geöffnet, als Liza ihn anzischte:

»Wenn du nicht aufhörst, die Kleine zu bebalzen, kannst du was erleben.«

»Liza, Liebchen.« Er lächelte sie an, so breit und gewinnend, wie er es früher getan hatte, als er um sie warb. Da hatten ihm die Hormone ziemlich übel mitgespielt.

»Verkneif dir dein ›Liebchen‹.«

Er legte seine Hand auf ihren Schenkel; sie stieß sie weg.

Ein grauer Schleier legte sich über seine Vorfreude. Die Spannung in seinem Körper sackte weg.

Na, kein Problem. Er hatte Tabletten.

3.4.2018

Er parkte den Lieferwagen direkt vor der Haustür. Es würde nicht weiter auffallen. Die Cafés und Geschäfte, die eines neben dem anderen die schmale Straße in der Bamberger Innenstadt säumten, waren längst geschlossen. Es regnete. Heftig.

Eigentlich mied er diese Art von Arbeit, aber er schuldete seinem Boss das eine oder andere. Deswegen kümmerte er sich um dieses nächtliche Problem. Die Uhrzeit schreckte ihn nicht. Er war da ganz virtuos. Wenn er die Gelegenheit bekam, schlief er. Wenn nicht, blieb er wach. Er konnte Schlafvorräte ansammeln wie ein Kamel Wasser. Nein, sein Unbehagen rührte daher, dass er keine Jobs mochte, bei denen es um Frauen ging. Eine altmodische Anwandlung. Zuweilen nahm er an, dass sein Boss ihm die austreiben wollte. Frauen waren zu schützen, das war so in seiner Heimat, und das andere machten die Männer unter sich aus. Da, wo er herkam, hätte ein Mann sich verbeten, eine Frau auch nur eine Schaufel in die Hand nehmen zu lassen. Aber hier hatte er sich anzupassen.

Ramzan schloss die Tür auf. Ein Blick auf die nasse Straße. Alles dunkel in den Häusern ringsum, nur die Straßenlampen brannten. Seine Nackenhaare stellten sich auf, als er die Tür ins Schloss gleiten ließ. Ein leises Klicken. Ramzan zog die Tyvekschoner über die Stiefel. Handschuhe trug er bereits. Er stieg die Stufen hoch. Zählte mit. Der Boss beschrieb immer alles bis ins Kleinste und wollte, dass man seine Anordnungen entsprechend befolgte. Anfangs hatte er Ramzan mit seiner Detailversessenheit auf die Probe gestellt. Allerdings nie einen Grund zur Beanstandung gefunden.

Als er vor der Wohnungstür stand, lauschte er kurz, bis er den Schutzanzug überzog, aufschloss, eintrat. Seine Maglite schnitt die Dunkelheit in Scheiben.

Die Frau lag im Flur. Überall klebte Blut. An der Tapete, auf dem Teppichboden, an Kopf und Armen der Frau. Sie war bestimmt einmal schön gewesen, er stellte sich volle Lippen vor, große Augen, eine hübsche Stupsnase. Von alldem war nicht mehr viel zu erkennen, da war nur eine einzige Fleischmasse, ein umgepflügtes Feld, unmöglich, die Gesichtszüge auszumachen. Der Rest ihres Körpers war jung. Verdammt jung, aber das waren sie alle. Sie trug Jeans. Von ihrem T-Shirt waren bloß Fetzen übrig. Ramzan sah einen BH durch den dünnen Baumwollstoff scheinen. Er war nicht zartbesaitet. Aber er hasste unsinnige Gewalt. Diese Frau hatte Prügel bezogen. Der war der ganze Körper durchgewalkt, die linke Hand zertrümmert worden. Alles Matsch.

Er schloss ihr die Lider, zumindest das eine, ein zweites war nicht mehr da, also auch kein Auge, das ihn vorwurfsvoll ansehen würde. Ein Frösteln streifte ihn, so ein schwacher Moment, der kam jedes Mal. Ramzan wurde damit fertig. Er, der nirgendwo mehr zu Hause war. Er, der stets wusste, mit wem er es zu halten hatte.

Der Sack, den er mitgebracht hatte, hatte einen Reißverschluss. Die Leichenstarre war längst eingetreten. Er musste ihr den linken Arm brechen, sonst hätte er sie nicht in den Sack gekriegt. Das trockene Knacken hallte in der leeren Wohnung. Ramzan hob den Kopf. Einmal war es passiert: Da war ein Kind im Zimmer gewesen und aufgewacht. Er hatte das Kind mit einem gezielten Schlag bewusstlos gemacht. Da hatte er sich gefühlt wie ein Schuft.

Hier aber war kein Kind. Ratsch. Er schloss den Reißverschluss. Schulterte den Sack.

Sie war leicht, obwohl er außer der Frau auch noch den Tod schleppte. In seiner Heimat hatte er Leichen von halb verhungerten Kindern getragen, die auf dem Markt oder dem Schulweg von Bomben zerrissen worden waren, und sie waren ihm schwer vorgekommen, schwerer als das bisschen Gewicht, das die kleinen Gerippe haben konnten. Die vielen Kriege hatten alles zerstört. Zuallererst den Anstand und die Gefühle. Dann den Körper. Bevor Ramzan sterben konnte, war er geflohen.

Im Erdgeschoss legte er die Frau hinter der Haustür ab. Er trat auf die Straße, öffnete die Seitentür seines Transporters, witterte in alle Richtungen. Wind war aufgekommen, nasser, widerlicher Wind. Er hievte die Frau in den Transporter, zog den Schutzoverall aus und stopfte ihn in einen Müllbeutel. Jemand würde die Wohnung schrubben. Alles reinigen. Und eine neue Frau würde einziehen. So lief das.

Hinter dem Steuer sitzend, zündete er sich eine Kippe an.

Er inhalierte tief, bevor er den Motor startete und durch die verwinkelten Straßen navigierend aus der Stadt herausfuhr.

4.4.2018

Privatdetektivin Katinka Palfy schloss die Tür zu ihrer Detektei in der Hasengasse auf. Manchmal träumte sie von der perfekten Welt, in der sie ein Loft mit Dachterrasse hoch über Bamberg ihr Büro nannte und nicht diese mickrige Bude in einer Gasse, die so eng war, dass sie mit ausgestreckten Armen beide Mauern zugleich berühren konnte. Es stank nach Urin, der Nachttoilette von Männern, die um die Häuser zogen. Hoffentlich dauerte es nicht mehr lange und sie bekam die Pseudo-Überwachungskamera zugeschickt, die sie bestellt hatte. Zu einem günstigen Preis und täuschend echt aussehend. Beim Pissen würde sich kaum ein Mann gern filmen lassen. Es sei denn, der Alkohol hatte bereits weite Bereiche des betroffenen Hirns außer Gefecht gesetzt. Die Ausgabe wäre ein reiner Geschäftsumsatz. Und im Vergleich zu der ausgefeilten Sicherheitstechnik, die sie sich vor Längerem in ihrem Haus in der Concordiastraße hatte einbauen lassen, würde die Rechnung der Fake-Kamera kein Loch in ihr Budget reißen.

Sie fuhr den Rechner hoch. Eigentlich hätte sie sich die Ausgaben für die professionell gestaltete Webseite sparen können. In der Stadt kannte man sie mittlerweile. Die »Miss Marple Frankens« wurde sie genannt, was ihr nicht besonders gut gefiel, schließlich war die Schnüffelei ihr Beruf und kein verschrobenes Hobby. Launige Artikel im »Fränkischen Tag« oder kleine Einlassungen auf »TV-Oberfranken« halfen jedoch, ihre Bekanntheit im Weltkulturerbe hochzuhalten. Rasch ging sie in den kleinen Nebenraum, setzte Wasser für Kaffee auf und betrachtete dann halb amüsiert, halb missmutig ihre persönliche Homepage. Jedes Mal ein eigenartiges Gefühl, ihr Angebot selbst zu lesen. Als habe sie es für sich selbst geschrieben. Katinka grinste unwillkürlich. Ob irgendein Klient aufgrund der schicken Aufmachung zu ihr vorstoßen würde? Eine Detektivin suchte man sich in höchster Not und nicht zur abendlichen Unterhaltung wie eine DVD.

Sie checkte ihre Mails. Außer dem üblichen Spam nicht viel. Nur Dante Wischnewski bombardierte sie wieder mit vermeintlich hochspannenden Links. Der Lokalreporter beim »Fränkischen Tag« war seit geraumer Zeit ihr Mieter und residierte in einer der beiden Dachgeschosswohnungen. Über ihrer. Sie bewohnte das mittlere Stockwerk, ebenso wie Hardo, dessen Wohnung gleich neben ihrer lag. Im Erdgeschoss wechselten sich semesterweise Studenten ab. Manchmal war ihr gar nicht bewusst, wer von den jungen Leuten nun dort wohnte oder nur zu Besuch aufkreuzte. Aber anders als sie selbst, gab sich Dante mit den anstehenden Renovierungsarbeiten in dem alten Kasten redlich Mühe.

Katinka öffnete Dantes Mail.

»Frau Palfy, Bamberg steht im Bann von Bert Brecht!«

Sie grinste. Ja, der große Bert. Wäre vor ein paar Wochen 120 geworden, und auch in Bamberg gab man sich Mühe mit dem einst in Ungnade gefallenen Kommunisten. Sogar Hardo stürzte sich in Unkosten, trieb in Antiquariaten immer mehr Erstausgaben auf. Hauptkommissar Harduin Uttenreuther, seines Zeichens Leiter der Bamberger Mordkommission und Katinkas Lebenspartner, hatte Germanistik studiert, bevor er zur Polizeiarbeit gefunden hatte. Literatur faszinierte ihn immer noch, und in schöner Regelmäßigkeit machte er sich daran, die Werke eines bestimmten Schriftstellers möglichst umfassend zu rezipieren. Sie hatte nicht schlecht gestaunt, als er sich am 10. Februar einen Tag freigenommen hatte, um bei geschlossenen Jalousien den »Kaukasischen Kreidekreis« zu lesen. Sie selbst war an jenem verregneten, kalten Tag zu einer Observation aufgebrochen, während Hardo an Brechts Geburtstag im Warmen blieb und sich den schönen Dingen widmete.

Halbherzig klickte Katinka auf den Link. Da wurde angekündigt, dass Schüler des Kaiser-Heinrich-Gymnasiums genau dieses Stück aufführen würden – in zwei Wochen im Bamberger Theater. Dante schrieb, er könne Karten besorgen. Anscheinend versuchte er weiterhin, sich bei Hardo beliebt zu machen, nachdem dieser die Anwesenheit des Rasenden Reporters unter demselben Dach nicht allzu prickelnd fand. Katinka wurde den Verdacht nicht los, dass ihren Liebsten eine gewisse Eifersucht umtrieb, was Dantes regelmäßige Beteiligung an ihren Ermittlungen betraf.

Jemand klopfte von außen gegen die Tür. Katinka hob den Kopf.

»Es ist offen!«

Eine Frau trat ein. »Guten Tag.«

Eine Auswärtige, dachte Katinka.

»Grüß Gott, bitte kommen Sie herein.« Sie stand auf, während ihre Besucherin die Tür schloss und sich unsicher umsah.

»Ich bin Katinka Palfy, was kann ich für Sie tun?« Katinka wies auf einen ihrer Besuchersessel. »Nehmen Sie Platz.«

»Sie sind die Detektivin?«

Das musste nun wirklich jeder fragen. Wie stellte sich die Mehrheit der Bevölkerung wohl eine Detektivin vor? Erwarteten sie ein versoffenes Schrapnell, das schief über der Schreibtischplatte hing und mit zitternden Fingern einen Revolver ölte?

»Die bin ich. Womit kann ich helfen?«

Die Frau warf sich theatralisch auf einen der Sessel. Sie wirkte ziemlich künstlich: viel Nagellack, viel Schminke, gefärbte Haare, Marke Einheitstunke. Goldschmuck, an jedem Finger ein Ring.

»Ich bin Ruth Pessel. Ich vermisse meine Tochter.«

Instinktiv griff Katinka nach ihrem Block. Die Sache würde sehr persönlich werden, sehr schmerzvoll, ganz anders als die Fälle von Wirtschaftsbetrug und -spionage, die sie hauptsächlich bearbeitete.

»Ich höre.«

»Wir, Fanny und ich, haben eine Reise gemacht, auf einem dieser Flussschiffe. Sie wissen …?« Ruth Pessel sah Katinka fragend an.

Wie nicht, dachte Katinka sarkastisch. Die von den Schiffen ausschwärmenden Touristengruppen sorgten in ihrem geballten Auftreten fortwährend für Diskussionen in der Stadt, die auf die Umsätze aus dem Geschäft mit den Gästen zwar angewiesen, aber rein räumlich längst an ihre Grenzen gestoßen war. Katinka erinnerte sich an eine Horde Amerikaner, die vor Tagen durch die schmale Hasengasse geschwärmt war, sie schließlich wie ein Korken verstopft und eine gefühlte Stunde den knödeligen Ausführungen eines Gästeführers genau vor Katinkas Tür gelauscht hatte, während Eltern mit Kinderwagen und Bamberger auf Einkaufstour kaum mehr durchgekommen waren. Zudem hatte die meisten Touristen ein unerklärlicher Hunger nach Snickers überfallen, und Katinka war später mit dem Handbesen unterwegs, um die Reste aufzukehren.

»Sie haben eine Reise gemacht, sagten Sie«, begann Katinka, als ihr Gegenüber in Schweigen fiel. »Heißt das, die Reise ist zu Ende?«

»Wir sind vorgestern hier in Bamberg angekommen und wurden zum Stadtgang abgeholt. Mit Bussen. Wir gehörten zur grünen Gruppe. Wurden als Erstes zum Dom gebracht. Ich verlor den Überblick, es war alles gestopft voll mit Leuten, und als wir wieder rauskamen, war Fanny weg.« Ruth Pessel presste die Hände auf ihr Gesicht, wobei sie aufpasste, das Make-up nicht zu verwischen.

»Seitdem haben Sie Ihre Tochter nicht mehr gesehen?«

»Nein. Sie geht nicht an ihr Handy.«

»Wie alt ist Ihre Tochter?«

»25.«

Gut, dachte Katinka erleichtert. Wenigstens kein Teenager, der der großen Liebe hinterherjagte.

»Waren Sie bei der Polizei?«

»War ich. Die Reiseleiterin hat mich begleitet. Immerhin bin ich Ausländerin, obwohl ich in Deutschland geboren bin.«

»Wo leben Sie denn?«, fragte Katinka neugierig.

»In Australien. Melbourne. Meine Eltern wanderten aus, als ich ganz klein war, aber zu Hause sprachen wir weiter Deutsch, und ich bezeichne die Sprache nach wie vor als meine Muttersprache.«

»Spricht Ihre Tochter auch Deutsch?«

»Sehr gut sogar.« Erstaunt ließ Ruth die Hände sinken.

»Sie könnte sich also alleine durchschlagen?«

»Könnte sie. Aber ich habe Angst, dass ihr etwas passiert ist. Weil sie niemals mal eben verschwinden würde. Ich habe wirklich Angst. Bei der Polizei sagten sie mir, man könne nicht viel machen, man würde zwar die Augen aufhalten, aber … Sie verstehen? Als Mutter macht man sich Sorgen. Fanny und ich haben eine sehr enge Beziehung. Sie würde nie ohne ein Wort wegbleiben. Ich bin vom Schiff runter mit unserem ganzen Gepäck und hier in ein Hotel gezogen. Um vor Ort zu sein.«

»Haben Sie in der Reisegruppe herumgefragt, ob jemand etwas mitbekommen hat? Hat Fanny sich mit jemandem getroffen?«

»Niemand hat auf sie geachtet.«

»Wo haben Sie gemerkt, dass sie nicht mehr da ist?«

»Sobald wir aus dem Dom herauskamen.«

»Haben Sie ein Foto Ihrer Tochter?«

Die Frau kramte in ihrer Handtasche nach einem Handy. Wortlos schob Katinka einen Zettel mit ihrer Handynummer über den Schreibtisch. Ruth Pessel nickte und schickte ein paar Bilder.

»Sie ist eine hübsche Frau.« Fanny war sehr zierlich, sah auf eine bezaubernde Weise verletzlich aus, obwohl sie durch ihre knabenhafte Frisur mit den kurzen braunen Locken einen Kontrapunkt setzte. Katinka legte ihr Telefon weg.

»Sie haben also keine Ahnung, wo sie abgeblieben ist?«

Ruth seufzte. »Wissen Sie, sie ist verheiratet. Mit Louis. Louis Chatwin. Ich mag ihn nicht. Er erscheint mir … nun … ich vermute … befürchte … dass er manchmal gewalttätig ist.«

»Er schlägt Fanny?«

»Ich habe den Eindruck, dass er zu Gewalt neigt. Fanny ist zu Hause in Melbourne immer angespannt. Sie ist arbeitslos. Als Englischlehrerin, nachdem ich eine Menge Geld in ihr Studium gepumpt habe. Sie verstehen mich nicht falsch, wenn ich sage, dass man als Alleinerziehende unter Druck steht.«

Aber eine teure Kreuzfahrt auf einem Fluss am anderen Ende der Welt machen!, dachte Katinka. So viel zu glaubwürdigem Jammern und Klagen.

»Sie haben die gemeinsame Zeit auf dem Schiff sicher genossen?«

»Oh ja! Es ist eine wunderbare Sache. Für alles ist gesorgt auf so einem Cruiser. Die ›Emerald Star‹ ist eines der schönsten und modernsten Schiffe!«

»Fannys Ehemann wollte nicht mit?«

»Nein, wir beiden Frauen hatten die Kreuzfahrt nur für uns geplant. Seit Fanny geheiratet hat, haben wir wenig Zeit miteinander verbracht. Das ist ja normal. Junges Glück, der Aufbruch in ein gemeinsames Leben … Louis ist auch Lehrer. Sie haben sich an der Schule kennengelernt, wo sie beide arbeiteten, aber vor nicht allzu langer Zeit wurde Fanny entlassen. Ich wollte ihr diese Reise spendieren, damit sie auf andere Gedanken kommt.«

»Sie sagen, Louis neigt zu Gewalt?«

»Er nimmt ab und zu Drogen. Fanny sagt, er kifft nur. Wenn Sie mich fragen: Was für ein Beispiel gibt er seinen Schülern?«

»Hat er es seiner Frau übel genommen, dass sie ohne ihn in den Urlaub fährt?«, insistierte Katinka.

»Nein.« Ruth schüttelte entschieden den Kopf. »So tickt er nicht. Er ist ein guter Kerl. Und er muss arbeiten.«

Katinka verstand nicht ganz, wie sie den guten Kerl mit einem gewalttätigen Ehemann deckungsgleich kriegen sollte.

Ruth schien ihre Zweifel zu spüren. Sie legte nach: »Wissen Sie, er muss sie ja nicht schlagen, aber er … ich habe den Verdacht, dass er sie seelisch im Schwitzkasten hat, dazu die Arbeitslosigkeit …«

»Glauben Sie, dass Louis etwas mit Fannys Verschwinden zu tun hat?«

Ruth zuckte die Schultern. Sie starrte aus dem Fenster in die düstere Gasse. »Darüber zerbreche ich mir den Kopf. Aber was sollte er tun? Sie kidnappen? Das halte ich für unwahrscheinlich. Also … ich habe eher die Befürchtung, dass … wissen Sie, wir haben auf der Reise ab und zu gestritten, Fanny und ich. Ich bin der Ansicht, dass weder ihre Ehe noch ihre Arbeitslosigkeit eine besonders gute Voraussetzung für die nächsten Jahre darstellt. Man muss doch Weichen stellen. Wobei … wie soll ich sagen … vielleicht hätte ich mit meiner Meinung etwas zurückhaltender sein können.«

»Fanny war wütend auf Sie?«

»Wütend nicht, nein. Sie sieht die Dinge einfach anders als ich, und als Mutter weiß man, dass alles Reden nichts bringt, ein junger Mensch muss seine eigenen Erfahrungen machen, selbst wenn sie schmerzvoll sind.«

Vor allem, wenn der sogenannte junge Mensch 25 ist, dachte Katinka.

»Haben Sie Louis schon Bescheid gesagt, dass seine Frau verschwunden ist?«

»Noch nicht. Wenn sich alles schnell aufklärt, muss er das gar nicht wissen.«

»Das Schiff ist sicher längst weiter?«

»Heute sollte die ›Emerald Star‹ in Regensburg eintreffen und bis morgen bleiben.«

Katinka beugte sich vor. »Würde Fanny sich etwas antun? Wäre das im Bereich des Möglichen?«

»Nein! Nie!«

Katinka erläuterte ihre Geschäftsbedingungen und kassierte den Vorschuss. Gedankenverloren sah sie Ruth Pessel zu, wie sie ihre monströse, goldbetresste Handtasche unter den Arm klemmte und die Detektei verließ.

Katinka passte Edith Berger am Dom ab.

»Ich muss weiter, wir haben noch einiges auf dem Programm.«

»Es dauert wirklich nicht lang. Führen Sie da gerade die Leute von einem der Schiffe?«

»Ja. Was wollen Sie denn? Wie kommen Sie eigentlich auf mich?«

Es war für Katinka ein Leichtes gewesen, bei der Touristeninformation herauszufinden, welche Gästeführerin vor zwei Tagen die grüne Gruppe der »Emerald Star« durch Bamberg geführt hatte.

»Es geht um einen Vermisstenfall. Eine junge Frau von der ›Emerald Star‹.«

»Ach, von dem tollsten aller Schiffe.«

»Sie sagen das so spöttisch.«

»Na, ich werde die Hand, die mich füttert, nicht beißen.« Edith Berger lächelte halbherzig. Sie schleppte eine große Umhängetasche mit sich herum, ein Headset hing um ihren Nacken. In der Hand hielt sie eine Art Schülerlotsenkelle in Grün. Good-Old-Europe-Tours stand darauf. »Manchmal überkommt mich allerdings ein gewisser Überdruss. Die Leute schlurfen durch die Altstadt, hören mir höflich interessiert zu und wollen so schnell wie möglich vor allem eins: shoppen.«

»Vorgestern war eine junge Frau in dieser Gruppe dabei. Fanny Chatwin. Mit ihrer Mutter.« Katinka zeigte die Fotos auf ihrem Handy.

»Und die ist verschwunden?«