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Patricia Holland Moritz

Mordzeitlose

Kriminalroman

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Zum Buch

Die Wurzel des Bösen Margrit Kunkel war als Kind schon seltsam. Kein Wunder, bei einem Vater, der seit dem Tod der Mutter den Tisch weiterhin für drei Leute deckt und die dritte Mahlzeit selbst verspeist. Everding von der Kriminalpolizei ist ihr auch keine Hilfe, weil er hinter dem Tod der Mutter einen Mord vermutet. Als Tochter eines Gärtners vertraut Margrit nur ihren pflanzlichen Freunden, mit denen sie so offen reden kann wie mit keinem Menschen. Geradezu triebhaft verfolgt sie ihren Weg aus dem Gewächshaus väterlicher Obhut hinaus bis an ihr Ziel: Unauffällig wie ein Mauerblümchen, ihr Dasein wie Efeu im Schatten fristend, dabei unermüdlich wie eine Weinrebe arbeitend und noch dazu mit der Weisheit einer Eiche gesegnet, ist Margrit wie geschaffen für die Stelle als Direktorin der Holländischen Gartenakademie. Als sie dort im Kakteenfeld eine grauenvolle Entdeckung macht, entscheidet sie, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und nicht die Polizei zu informieren. Denn würde Everding nun auch noch in Botanischen Gefilden ermitteln, käme er dahinter, dass gerade die verlockendsten Pflanzen von unheimlichen Wurzeln genährt werden.

Patricia Holland Moritz wurde im heutigen Chemnitz geboren, arbeitete in Leipzig als Buchhändlerin, verließ die DDR und heuerte in Paris als Speditionskauffrau an, studierte in Berlin Nordamerikanistik, wurde Bookerin für Bands und arbeitet heute in einem Verlagshaus. Sie ist Bloggerin und Ghostwriterin. Für ihre Romane erhielt sie Arbeitsstipendien des Berliner Senats und des Mörderische Schwestern e.V. Auf ihren Tourneen las sie bereits mit renommierten Autoren wie Håkan Nesser, Arne Dahl und Ulrich Wickert. Ihr Krimi »Kältetod« aus dem Crystal Meth-Milieu Berlins wurde vom »Tip« 2015 für die »ausgefallenste Mordmethode« geehrt. »Mordzeitlose« ist ihr dritter Roman im Gmeiner-Verlag.

www.patriciahollandmoritz.com

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Die Einsamkeit des Chamäleons (2014)

Kältetod (2015)

Impressum

Gedicht auf Seite 6: Gisela Steineckert, Die nicht geliebt sind als Kind
aus: Gisela Steineckert, Mehr vom Leben. Gedichte
© 1990 (1983) Verlag Neues Leben, Berlin

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Christine Braun

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Josef Zingg/fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5652-7

Widmung

Dieses Buch ist Inge Neubert-Boonen gewidmet.

In loving memory of Johannes »Jacques« Boonen
(1962 – 2002)

Gedicht

Die nicht geliebt sind als Kind

Halten sich nie für geliebt

Erkennen nicht Liebe

Traun sich Liebe nicht zu

Fast alles kann man später noch lernen

Nicht auch, sich lieben zu lassen

Geliebt zu sein, liebend.

Gisela Steineckert

Kapitel 1

Der Schmerz im Nacken war beispiellos. Ihre Beine trugen sie nicht mehr, und sie prallte auf dem Steinfußboden auf. Niemand, der ihr zu Hilfe kam. Ratten um sie herum, die es hier vorher nie gegeben hatte. Sie krochen aus Löchern auf sie zu, die über Nacht gegraben schienen. Ein Säuseln, Flöten, Quieken und Finsternis und dieser schlimmer werdende Schmerz wie ein schlingender Wurm immer tiefer in ihrem Hirn.

Alles, was sie an diesem Ort und ihrem Leben hier gehasst hatte, schien sich in diesem einsamen Moment gegen sie zu verbünden. Erde rieselte in ihre Augen. Fäulnisgeruch drang in ihre Nase. Aus Angst und Ekel presste sie die Lippen aufeinander. Etwas war hier zusammen mit ihr, und es wollte ihr den Garaus machen. Es war erdig. Es war böse. Und es stank. Und nun war es über ihr, drückte etwas Weiches auf ihr Gesicht, verschloss ihr die Augen, die Nasenlöcher und den Mund, presste sich in alle Poren, alle Öffnungen, versiegelte ihre Sinne, machte sie taub und blendete sie, bis sie auch die Erde in ihrem Mund nicht mehr schmeckte und die Fäulnis der Luft nicht mehr roch. Lediglich der letzte ihrer Sinne blieb ihr erhalten. Sie fühlte. Sie fühlte, wie ihr Atem erlahmte und das Leben aus ihrem Körper wich; sie fühlte, dass der letzte Moment, von dem kein Mensch eine Vorstellung hatte, genau dieser war.

Das Schauspiel der Herbstzeitlosen war beeindruckend, wenn sie in den ersten Tagen des Herbstes an die Erdoberfläche kroch und den nahenden Winter ankündigte. Ganz plötzlich und über Nacht war sie da und bereitete das Feld, auf das sich kurz darauf ein langer, gnadenloser, alles verzehrender Winter legte.

Kapitel 2

»Margrit, kommst du?«

Er fragt, als ob er eine Antwort erwartet, als ob er eine Antwort erlauben würde. Margrit duckt sich und hält still. Heute macht er ihr Angst.

Mit den Pflanzen kann sie reden, dem Hartriegel, dessen rote Triebe sie umschließen wie Adern ein pulsierendes Herz, den Blütenkätzchen des Haselnussbaums, die ihre Haut zart streicheln im Wind, mit der wild wachsenden Pfefferminze und ihrem mystischen Duft, der schon in den Pharaonengräbern wehte zum Schutz der Reise ins Jenseits. Mit ihrem Vater jedoch kann sie nicht reden. Er ist es, der mit ihr redet. Der sie zum Essen ruft, der ihr Aufträge gibt, wie Setzlinge umtopfen und Gewächshäuser aufräumen, der ihr sagt, dass sie im Unterricht aufmerksamer sein soll.

Das war nicht immer so. Als die Mutter noch lebte, war Margrits Leben schöner als das, was sie jetzt hat. Ihre Mutter hat sich zwar immer seltsam benommen, ist abweisend gewesen und nahm Margrit selten in den Arm. Sie schimpfte eigentlich immer über irgendetwas, ob es nun einen Grund gab oder nicht, denn am Wetter waren weder Margrit noch ihr Vater schuld. Aber Margrits Leben fühlte sich anders an. Es war vollständiger und auf seltsame Weise beruhigend wie der Anblick von Wäsche, die im sanften Sommerwind trocknet. Je abweisender die Mutter zu ihr war, umso mehr Zuneigung bekam Margrit vom Vater. Nun, da es ihre Mutter nicht mehr gibt, hofft Margrit auf seine volle Zuwendung. Und täuscht sich damit. Mit den anderen Kindern darf sie immer noch nicht spielen. Sie könnte sich mit Krankheiten anstecken oder sich zu Streichen verleiten lassen. An diese komische Angst der Eltern, die nun der Vater streng weiterpredigt, hat sie sich längst gewöhnt. Die Gärtnerei vor der Haustür ist ohnehin der schönste Spielplatz auf der Welt.

Margrit lebt mit ihrem Vater in einer brandenburgischen Gemeinde mit Konsum, Dorfkrug, einem Friseur, bei dem sich die Frauen unter ihren Trockenhauben allerhand Geschichten erzählen, mit knorrigen rundgeschnittenen Platanen am Straßenrand, mit Kopfsteinpflaster, auf dem man jedes Fahrrad klappern hört, und mit Horden von Kindern, die immer auf der Suche nach neuen abenteuerlichen Orten im angrenzenden Wald und seinen Mulden sind.

Margrits Großvater hat die Gärtnerei Kunkel gegründet. Am Ende des Zweiten Weltkriegs lag die Region brach, hatte eine halbe Million Menschen verloren und konnte dem Neuanfang danach nicht viel beisteuern. Hier gibt es keine nennenswerten Bodenschätze, keine Rohstoffe wie Erz oder Steinkohle. Hier ist der Boden der Schatz. Und hier legte Heinrich Kunkel in den ersten Monaten nach Kriegsende einen Garten an, mit dem er zuerst die Familie ernährte und bald schon das ganze Dorf.

»Margrit, komm!«

Eine dunkellilafarbene Clematis rankt sich um eine kleine Birke, die wild aus einem angewehten Samenkorn gewachsen ist. Die zarte Nähe zwischen diesen beiden bringt Margrit beinah zum Weinen. Als Kind zweier Menschen, die sich nie berührt haben, hat sie einen Sinn für die kleinen Zärtlichkeiten der Natur entwickelt, die neben Rauheit aus Lochfraß und Verrottung existieren.

Es ist Juni. Die Blumenknospen auf der kleinen Wiese zwischen den Gewächshäusern sind zu einem bunten Teppich aus Blüten aufgeplatzt. Hinter dem hochgewachsenen Rittersporn kann der Vater Margrit nicht sehen. An seinem Blick, der auf die wuchtige Staude gerichtet ist, erkennt sie allerdings, dass er weiß, wo sie sich versteckt hält. Sie duckt sich noch etwas mehr und wartet. Er wird gleich nochmal rufen.

»Margrit! Komm rein!«

Der Rittersporn schaut Margrit aus blitzblauen Augen an. Sie entdeckt ein schelmisches Funkeln in seinen Augenwinkeln und wendet beruhigt den Blick ab zur Haustür, vor deren Treppe der Vater auf sie wartet. Sie kann die Furchen auf seiner Cordhose erkennen. Er hat die gute Hose an, wird also am Abend noch einmal in den Dorfkrug gehen und Margrit allein lassen. Beim Einschlafen wird sie wieder nur die Amsel hören und später dann die Schritte und die Stimmen im Haus, die immer dann zu hören sind, wenn der Vater nicht da ist. Wieder wird Margrit nach ihrer Mutter rufen, erst leise, dann immer lauter. Und genau das werden die Nachbarn dem Vater auch erzählen am nächsten Tag, wie sie es immer tun. Der Vater wird sich nicht trauen, Margrit dafür auszuschimpfen. Aber er wird auch seine Kneipenabende nicht aufgeben. Und so wird sie ihre Mutter rufen, bis eines Tages die Polizei kommt oder jemand vom Kinderheim. Dann wird er schon sehen, dass man so etwas nicht macht, sein Kind nachts in einem großen Haus ganz allein zu lassen. Aus Traurigkeit ein paar Biere und Schnäpse trinken kann er auch zu Hause. Dafür muss er nicht weggehen. Und Freunde hat er auch nicht, die er in der Kneipe treffen könnte. Nur der Wirt kommt manchmal vorbei zum Fußballgucken. Aber auch nur, weil der Vater Farbfernsehen und gutes Westbild hat. An der Antenne auf dem Dach schraubt er fast jeden Tag herum. Wahrscheinlich denkt er, dass ihn ohne das gute Westfernsehen überhaupt niemand mehr besuchen würde.

Seine Gummistiefel versinken im weichen Boden. Er ist ein großer Mann. Dort steht er, die Hände, runzelig wie Dahlienzwiebeln, tief in den Hosentaschen vergraben. Und nun wird er ein letztes Mal rufen.

»MARGRIT!«

Heute macht er ihr Angst. Sie beendet das Spiel früher als sonst, damit er nicht wütend wird. »Ja, Papa!«

Margrit richtet sich auf und schaut ihn erwartungsvoll an, bis das breite Lächeln kommt, mit dem die Sonne aufgeht in seinem Gesicht. Wie jedes Mal.

»Komm jetzt. Essen steht auf dem Tisch.«

»Gleich!«

»Gleich ist gleich und jetzt ist jetzt!«

Margrit nimmt ihren Mut zusammen, um zu Ende zu bringen, was sie gerade begonnen hat. Ihren Schatz hält sie mit einer Hand umklammert. Das Stück Metall birgt ein Geheimnis. Es zeugt von den Geschehnissen jenes Abends. Seit jenem Abend sucht ihr Vater danach. Margrit beobachtet ihn jeden Tag dabei, wie er immer wieder im Schuppen ein Gerät nach dem anderen beiseiteschiebt, über die Fensterbretter streicht, als traue er seinen Händen mehr als seinen Augen, wie er Kisten mit leeren Pflanztöpfen hochhebt und wieder abstellt und auch ihren Inhalt aufs Neue inspiziert. Und wie er in seiner Hilflosigkeit selbst wie ein Kind wirkt. Margrit wünscht sich, dass jene Momente, in denen er nicht der rechthaberische und strenge Mann ist, sondern ein Kind wie sie selbst, noch lange andauern mögen.

Was das seltsame Tun des Vaters zu bedeuten hat, ist das erste Geheimnis um diesen Schatz, den Margrit nun nicht mehr unter ihrem Bett verstecken, sondern hier vergraben wird.

Mit einer Schippe hebt sie ein kleines Loch in der Erde aus. Regenwürmer winden sich zwischen Erdklumpen. Manchen Wurm teilt der Schnitt in zwei Hälften. Eine der beiden Hälften wird weiterleben, weiß Margrit, darum hat sie kein schlechtes Gewissen.

Hier wird ihren Schatz ganz sicher niemand finden. Hier kennt sie sich aus wie niemand sonst.

Sie legt die metallene Klinke einer Tür – einer Tür, die es wahrscheinlich nicht mehr gibt, einen wahren Schatz also – in das Loch und schiebt mit der Schaufelspitze Erde darüber. Es wimmelt von halben Regenwürmern, kleinen, fadendicken Tausendfüßlern, Asseln und Milben. Nur wenn es darin wimmelt, ist der Boden gesund, hat ihr der Vater erklärt und mit einem Spatenstich fünf fette Würmer aus der Erde gepuhlt. Sein Gesicht hellte sich dabei auf, und der Bart um seinen Mund bekam vom Lächeln Furchen. Das war ein guter Tag gewesen, denn der Vater lächelt eigentlich nur, wenn er Margrit zum Essen ruft.

Harald Kunkel verdient sein Geld mit der Gärtnerei, und seine Launen schlagen um wie das Wetter. Beginnt er einen Tag in guter Stimmung, kann es am Abend großen Streit geben. Lobt er Margrit in einem Moment noch dafür, dass sie ihm beim Unkrautjäten hilft, kann er sich nur Minuten später furchtbar über das wilde Beet aufregen, das sie nach ihrem eigenen Geschmack angelegt hat. Er schimpft, dass sie und ihr Beet sich immer breiter machen würden im Garten und dass das Unkraut längst auf die ganzjährigen Lilienstauden übergegriffen habe, die daneben wachsen. Also macht auch sie sich breiter in seinen Augen, das hat Margrit herausgehört. Dabei ist das hier draußen doch ihre Welt, und weil es so ist, kümmert sie sich rund um das Jahr um die Winterquartiere der Pflanzen in den Gewächshäusern, um die Nistkästen der Vögel in den Bäumen, um die Sauberkeit der Geräte im Schuppen, um den Rebschnitt beim Wein an der Hauswand und um die bunte Bepflanzung der Baumscheiben an den Obstbäumen.

Lustlos pflückt sie seitdem das Unkraut vom Beet, bevor es tatsächlich auf die Lilienstauden übergreifen kann.

An den Garten vor dem Haus schließen sich neben einem breiten Ackerstreifen aus Buchweizen in langen Reihen Gewächshäuser an, die weit in Richtung der Kornäcker führen, auf denen die Mähdrescher der LPG bei der Ernte Roggen und Weizen zerhacken, Staub vom trockenen Boden aufwirbeln und wie Tausende Schreibmaschinen in der Ferne hallen. In einem kleinen Holzhaus an der Straße verkauft Harald Kunkel Schnittblumen und Gemüse, an dem noch Erde klebt. Kartoffelknollen und Kohlrabi. Selbst die Möhren sind hier größer als im Dorfkonsum auf der anderen Straßenseite.

Das zweite Geheimnis um die vergrabene Klinke wird eines Tages durch das Experiment ans Licht kommen. Margrit will herausfinden, ob das Metall den Boden verändert und die Krumen an dieser Stelle rosten und sich rot oder grün oder orange verfärben wie die Gartenstühle auf der Terrasse. In Brandenburg gibt es keine Schätze im Boden wie zum Beispiel im Erzgebirge, das weiß jedes Kind, das hier aufwächst. Aber in der Gärtnerei Kunkel gibt es nun wenigstens einen.

Sie tritt die Erde fest und dreht sich zur Haustür um, wo der Vater noch immer auf sie wartet. Zögernd winkt sie ihm.

»Ich komme!«

Neben dem Busch aus Rittersporn ragt eine Tomatenstaude aus der Erde. Bald werden sich die Zweige biegen unter der Last ihrer Früchte. Bald wird Margrit eine Tomate vom Stängel zupfen und hineinbeißen können, dass die Kerne nur so auf den Boden spritzen. Genau deshalb wächst hier immer wieder eine neue Tomatenpflanze, und das freut Margrit wie eine gute Tat. Bald wird ihr kleines wildes Beet komplett sein.

Mit Rittersporn und Tomatenpflanzen unterhält sich Margrit am liebsten. Der Rittersporn erzählt gern davon, wie es ihn als Unkraut vom Getreidefeld nebenan ausgerechnet auf Margrits Beet geweht hat und wie glücklich er nun ist, endlich in seiner ganzen ritterlichen Pracht blühen zu können. Nach jeder Blütezeit muss der Busch bis zum Boden zurückgeschnitten werden. Margrit bringt es ihm jedes Jahr schonend bei und stellt die Stängel noch für ein paar Tage in eine Vase aufs Fensterbrett. Auch in diesem Frühling dankt er es ihr mit noch mehr blauen, traubenartigen Blüten als je zuvor. Jetzt streicht sie ihm über das Haupt. »Ich bin gleich zurück.«

Der Vater geht wieder ins Haus.

Margrit reibt die Hände aneinander, dass die Erdkrumen nur so rieseln. Dann geht sie ihm nach.

Sie sitzen am Tisch. Auf drei Tellern liegt kalter Braten mit Pellkartoffeln. Der Vater hat seinen Teller wie immer als Erster geleert und tauscht ihn gegen den dritten, noch vollen Teller aus. Margrit schaut ihm beim Kauen zu.

»Ich bin fertig«, sagt Margrit, die nicht mehr warten will. »Ich geh nochmal raus.«

»Dafür ist es zu dunkel. Außerdem zieht ein Gewitter auf, wie du hören kannst.«

Ein Donnergrollen lässt Margrit aufhorchen. Der Vater hat magische Kräfte. Er spricht vom Gewitter, und der Donner gehorcht.

»Aber der Buchweizen …« Aufgeregt steht Margrit auf und greift nach ihrer Strickjacke. »Er wird vom Blitz getroffen, wenn ich ihn nicht warne!«

Diesmal lächelt der Vater, ohne sie auszulachen.

Margrit ist schon fast an der Tür und kommt seinen Worten zuvor. Sie muss nach draußen, um vor dieser Traurigkeit zu fliehen, die sie plötzlich wieder überkommt. Dass alles umsonst geschehen ist und sich auch nach dem Tod der Mutter für sie nichts ändern wird.

»Ich muss ihn warnen, er muss sich dem Wind beugen und darf nicht in den Himmel schauen! Sonst trifft ihn der Blitz, und er und alle seine Geschwister verbrennen!«

Der Vater pariert wie so oft Margrits Geschichten. »Wer hat’s dir erzählt?«

»Der Weidenbaum, und der sagt, er habe es vom Sperling erfahren, der ein schwarzes, verbranntes Feld aus Buchweizen überflogen hat!«

Der Vater steht auf und zieht ihr die Strickjacke wieder aus.

»Und wer hat’s geschrieben?«

»Hans Christian Andersen«, gibt Margrit klein bei. »Bitte lass mich nochmal raus.«

Wie auf sein Kommando prasseln Regentropfen lautstark auf das Fensterbrett. Der Vater kann zaubern. Margrit ist sich sicher.

»Es ist schon spät, mein Kind. Du bleibst hier«, befiehlt der Vater. »Morgen musst du zeitig raus. Wir gehen zum Arzt. Der soll sich deine Ohren anschauen.«

Die Ohrenschmerzen haben längst nachgelassen, die Zwiebelumschläge haben gewirkt, jetzt sind ihre Ohren noch etwas geschwollen, aber unter den krausen roten Locken kann das eh keiner sehen. Margrit will nicht zum Arzt. Aber eine Widerrede wagt sie nicht.

»Du stehst auf, wenn ich aufgegessen habe«, sagt der Vater drohend. Für seinen zweiten Teller nimmt er sich immer besonders lange Zeit. »Du trödelst doch gerne. Also kannst du jetzt auch warten, bis ich fertig bin.«

Seine Worte tun ihr weh. Aber Margrit hält den Mund. Für einen Erwachsenen benimmt sich der Vater seltsam. Erst tut er streng, sie müsse pünktlich zum Essen am Tisch sitzen, auch wenn sie keinen Hunger hat, und bei Ohrenschmerzen müsse sie zum Arzt gehen, auch wenn die Ohren nicht mehr wehtun. Aber immer noch für jemanden den Tisch zu decken, der gar nicht mehr da ist, das hält er für normal. Margrit kommt das komisch vor. Sein merkwürdiges Verhalten macht ihr immer mehr Angst.

Mutter wird nie wieder mit am Tisch sitzen. Und sie hat auch keine Pellkartoffeln gegessen, weil sie nur geschältes Obst und Gemüse mochte. Sie starb ganz still in jener Herbstnacht. So hat es ihr der Vater erzählt, während die Mutter mit wächsernem Gesicht nebenan auf dem Bett lag. Seitdem muss auch Margrit still sein und stillhalten, und seitdem herrscht Stille im Haus. Nur sonnabends läuft das Radio mit Schlagern und Sport.

Überall im Haus riecht es noch nach der Mutter. Es duftet nach ihrem Shampoo, das Margrit an Maiglöckchen erinnert, und nach der Mischung aus Arnika und Aloe Vera, die Mutter aus den dicken Pflanzen quetschte und sich immer auf Knie und Stirn rieb, vor allem wenn sie über die Migräne schimpfte. Margrit hält Migräne für einen dunklen, schlangenförmigen Fisch mit einer Geisterfratze als Kopf, der sich durch die Gehirnwindungen frisst. Im Haus riecht es noch immer nach dem Parfüm, das der Vater der Mutter jedes Jahr zum Geburtstag schenkte und die Mutter, wann immer sie es trug, zu einer Fremden machte.

Die Mutter ist jetzt ein Engel. Das hat der Pfarrer dem Kind in der Christenlehre erzählt. Aber Margrit weiß, dass Menschen so wenig auf Wolken sitzen, wie Bäume bis in den Himmel wachsen. Margrit glaubt dem Pfarrer nicht und muss jetzt auch nicht mehr zur Christenlehre gehen.

Und nun isst der Vater jeden Abend den Teller für die Mutter leer und wird dabei immer dicker.

»Jetzt darfst du auf dein Zimmer.« Er legt das Besteck beiseite und schenkt ihr einen strengen Blick.

Margrit steht auf und nimmt sich ein Glas Saft. Sie trägt das Glas vorsichtig die Stufen hinauf, die in diesem alten Haus schmal und hoch sind und knarren. Das Bett ist frisch bezogen. Das Fenster ist leicht geöffnet. Eine Amsel singt auf dem Dach. Hinter dem Wald dämmert ein Frühlingshimmel.

Die Mutter starb nicht still im Bett. Dorthin trug sie der Vater, als sie schon tot war. Sie starb nach einem Schrei, der Margrit aus dem Schlaf riss. Margrit setzte sich im Bett auf, presste ängstlich ihr Kopfkissen an sich und lauschte. Nach dem Schrei wurde die Stille im Haus unheimlich. Margrit stieg aus dem Bett, drückte das Kissen noch immer wie ein Schutzschild an sich und machte sich auf die Suche nach den Eltern. Sie fand ihre Mutter reglos im Schuppen liegend. Margrit weiß nicht, wie sie zurück in ihr Bett kam. Aber wie sie am nächsten Tag die Türklinke auf dem Boden im Schuppen entdeckte, hat sich fest in ihre Erinnerung gegraben. Margrit wird von der Klinke erzählen, wenn sie danach gefragt wird.

Und warum Blut daran klebt, das ist das dritte Geheimnis, welches ihren vergrabenen Schatz umgibt.

Kapitel 3

»Margrit, kommst du?«

Holm Schieber war ein junger, gepflegt aussehender Mann. Er war ein angehender Journalist, arbeitete als Volontär in der Redaktion der Gartenzeitschrift »Zu Hause im Grünen«. Die Büros der Redaktion lagen am Alexanderplatz im Zentrum von Berlin.

Holm Schieber duzte jeden gleich vom ersten Gespräch an, und auch Margrit hatte sich seinem Charme nicht widersetzt und sich ebenfalls das Du aufdrängen lassen. Eigentlich siezte sie Menschen gern so lange wie möglich. Sie hielt ein freundliches »Sie« für ein Zeichen von Respekt. Bei Holm machte Margrit mit der Duzerei eine Ausnahme. Sie setzte alles daran, gemocht zu werden. Ein Streben, das sie aus der Kindheit mit hinüber in ihr Leben genommen hatte. Kam auf den letzten Drücker noch ein Auftrag für eine Recherche rein, wie seit 1985 regelmäßig zum Thema der anhaltenden Hungersnot in Äthiopien, dann saß Margrit so lange am Schreibtisch, bis ihr Artikel fertig geschrieben war, und wenn sie die Nacht durchmachen musste. Den Artikel über Äthiopien, wo nach einem Ernteausfall vor zwei Jahren acht Millionen Menschen vom Hunger betroffen waren und noch immer keine Verbesserung der Lage in Aussicht war, hatte sie so verfasst, dass Chefredakteur Müller schon glaubte, Mar­grit habe selbst Verwandte dort. In Wahrheit beschäftigte sie sich schon seit geraumer Zeit mit dem Thema der Nutzung von Giftpflanzen als Nahrungsmittel. Diese Zukunftsvision weckte nicht nur Begeisterung, sondern rief auch Skepsis hervor, sowohl unter Wissenschaftlern als auch bei ihren Kollegen in der Redaktion. Aber gerade wegen dieses Zweifels, den sie selbst durchaus teilte, machte sie sich auch an den Wochenenden immer wieder auf den Weg zur Staatsbibliothek im Univiertel. Dass man in einer hungernden Welt wertvollen Boden ungenutzt aufgeben musste, ließ Margrit nicht gelten. Die einfallsreiche Flora lieferte nun wirklich genügend Beispiele für extrem resistente Gewächse.

»Komme!«, sagte Margrit.

Holm Schieber war längst wieder draußen auf dem Flur. Lungerte dort wahrscheinlich herum, bis der Chefredakteur zur Sitzung kam.

Margrit goss sich ein Glas Limonade ein und ordnete dann die Blätter in ihrer Schreibmappe. In den Büchern der Bibliothek hatte sie nichts Zukunftsweisendes gefunden. Alte Ideen, auf Papier gebannt und vergessen, führten zu einem großen Handlungsvakuum. Alles, was sie zur Widerstandsfähigkeit von Pflanzen gefunden hatte, betraf gefährliche Insekten, Krankheiten und Unkraut und wie das alles bekämpft werden konnte. Aber es war das Klima, das die Ernten in Afrika tötete. Damit befasste sich niemand. Pflanzen wie die Alraune und Herbstzeitlose galten gemeinhin als giftig und damit als unbrauchbar, weil sie auf die todbringende Dosis ihrer Bestandteile reduziert wurden. Dabei war ihre Unverwüstlichkeit gerade unter permanentem Wassermangel und in ausgelaugten Böden das Mittel gegen den Hunger in der Welt.

Müller erschien immer erst zur Sitzung. Margrit vernahm seine blecherne Stimme durch die angelehnte Tür des Büros. Papierknappheit und eine Magenverstimmung hatten ihm den Morgen verhagelt, so viel konnte sie heraushören.

Sie nippte am Limonadenglas und schaute aus dem Fenster. Ein trüber Tag. Zwischen zwei überdimensionalen Nussknackern leuchtete der Schriftzug »Berliner Weihnachtsmarkt«.

»Wir wären jetzt so weit!«, rief Holm noch mal ins Büro.

»Schön«, sagte Margrit und blickte weiter aus dem Fenster.

Die Dürre in Äthiopien hatte auf das Hochland übergegriffen und damit auf die letzte nutzbare Fläche jenseits der ausgedorrten Ebenen. Der Reflex, zu helfen, kam weltweit in Gang, jedoch blieben Geld, Nahrungsmittel und Milchpulver wieder in Kanälen hängen, die nicht in die Dörfer, sondern weit davon wegführten. Und mit den Lebensmittellieferungen kamen Schädlinge auf den Kontinent, die selbst Afrika noch nicht kannte. Was die Dürre nicht geschafft hatte, brachten diese dann zu Ende.

Margrit goss sich das Limonadenglas voll und leerte es in großen Zügen. Ausgerechnet sie, eine kleine pummelige Gartenbaustudentin in Ost-Berlin, wollte die Dinge nun selbst in die Hand nehmen, wenn es schon kein anderer tat.

Mit ihrem Artikel über Äthiopien hatte sie Müller beeindruckt, auch wenn er diese Gefühlsregung am Anfang selbst nicht wahrhaben wollte. Vielleicht lag es an Müllers Anerkennung, dass sich Margrit nun auch einmal Gedanken um ihr Aussehen machte. Meist war sie etwas nachlässig gekleidet. Der fliederfarbene Pullover, den sie auch an diesem Tag wieder trug, war vor Jahren sehr schön gewesen. Nun leierte er an den Ärmeln aus. Die verwaschene Jeans war ihr zwei Nummern zu klein. Ihre Nägel trugen den üblichen Trauerrand aus Blumenerde – dank eines Frühbeetes im halbdunklen Flur ihrer Wohnung konnte Mar­grit auch im Winter in der Erde wühlen –, und das trockene Haar ihrer roten Naturkrause trug sie ständig zu einem schmucklosen Dutt geknotet.

Holm lungerte noch immer in ihrer Tür herum. Er zum Beispiel war einer, der sich trotz seiner Jugend sehr geschmackvoll kleidete, das fiel Margrit auf, weil er gleich alt war wie sie. Mit 22 sah Margrit aus wie 30, Holm hingegen wirkte noch wie ein Teenager, noch dazu wie ein Teenager aus gutem Hause.

Margrit lächelte ihn an. »Ich komme gleich.«

Gleich ist gleich und jetzt ist jetzt, dachte sie. Aber einen Moment gönnte sie sich noch und blieb sitzen. In Ruhe legte sie in eine Mappe, was sie in der Nacht zuvor zu Ende getippt hatte. Als Volontärin in der Redaktion lieferte sie Texte, die so ausgefeilt und fundiert wie die erfahrener Journalisten waren. Das jedenfalls hatte Müller eines Tages vor versammelter Runde gesagt. Und dass sie immer pünktlich lieferte und auch so verfasst, dass die Redakteure kaum noch Arbeit damit hatten.

Auch heute blätterte sie zufrieden die Seiten ihres Artikels durch und war in Gedanken schon wieder in ihrer kleinen Wohnung im Prenzlauer Berg am Kollwitzplatz. Dort auf dem Flur, in dem selbstgebauten Frühbeet, widmete sie sich ihrem eigentlichen Faible: der Kreuzung zweier Pflanzen, die den Hunger in der Welt eines Tages in ein großes Sättigungsgefühl verwandeln würde. Und sie vermied es tunlichst, irgendjemandem davon zu erzählen.

Holm stand immer noch in der Tür und tippte mit den Fingern auf den Ordner, der unter seinem Arm klemmte.

»Wir fangen ungern ohne dich an.«

Margrit lächelte. »Natürlich.«

Zu Beginn wurde doch sowieso immer die letzte Ausgabe diskutiert. Eigentlich müsste sie hier nicht dabei sein, dafür waren ihre Artikel viel zu unwichtig. Sie verkniff sich die Bemerkung und lächelte, als sie das Büro des Chefredakteurs betrat.

Vier Männer und eine Gartenzeitung. Ihre anfänglichen Zweifel hatte Margrit längst abgelegt. Sie machten eine ausgezeichnete Arbeit, und die Zeitschrift war ein sehr gut recherchiertes und trotzdem unterhaltsames Blatt. Aber es war eben nur ein Blatt.

Margrit hatte auf diese Weise ein kleines Einkommen neben ihrem Stipendium. Aber so gern sie auch in dieser verrauchten Runde aus philosophierenden Botanikern saß, freute sie sich jedes Mal ganz besonders auf den Moment, in dem sie das Büro verlassen und im Paternoster wieder nach unten fahren konnte. Die anderen mussten bleiben und sich jeden Tag mit Zensur und Papierknappheit abfinden. Erst jüngst war es Müller, dem Chefredakteur, verboten worden, über die Bundesgartenschau im Westen zu schreiben, als könnte er von dort subversives Saatgut in die DDR einschmuggeln. Dabei hatte er nicht mal um eine Reiseerlaubnis gebeten, sondern war bereit gewesen, sämtliche Informationen aus zweiter Hand von den Kollegen drüben zu übernehmen. Selbst das war unerwünscht.

Margrit wollte mit alldem nichts zu tun haben. Osten, Westen, Norden, Süden. Das waren Himmelsrichtungen, mehr nicht. Ein Kompass, nach dem sich die Natur ausrichtete.

Chefredakteur Müller saß am Kopfende des Tisches. Er bat Margrit, sich zu setzen und reichte ihr eine leere Kaffeetasse, dazu die volle Kanne und einen Teller Gebäck. Er war zuvorkommender als sonst, stellte Margrit fest. Es lag etwas in der Luft. Interessiert musterte sie die Flasche Cognac auf dem Tisch.

Müller schien erfreut. »Ein Gläschen, Frau Kunkel?«

»Nein danke, ich muss noch fahren.« S-Bahn nämlich, dachte Margrit, und zwar so bald wie möglich, damit ich den Brief heute noch zu Ende bringen kann.

Müller lächelte in die Runde und nickte dann anerkennend. »Überraschend, liebes Fräulein Kunkel, wie lebhaft Sie über Rittersporn schreiben, besonders da, wo es an den Totalrückschnitt geht!«

Er betonte das Wort, als redete er von einer militärischen Aktion und nicht von einer Schnittform im Gartenbau.

»So entstehen beim Lesen Bilder im Kopf und ein bitterer Geschmack auf der Zunge. Ganz anders als andere Fachartikel. Sie schreiben leidenschaftlich, einfach toll.«

Holm blickte betreten nach unten. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Zeichenblock. Immerzu war er am Kritzeln und Malen, zeichnete sogar seine Notizen. Nie waren es Menschen, immer nur Pflanzen, Gegenstände, Landschaften, die er malte. Seine Bilder hatten es bis in die Zeitschrift geschafft.

Margrit nahm Müllers Worte als das Kompliment, das sie waren. Er war nicht gerade dafür bekannt, eine andere als seine eigene Arbeit hervorzuheben.

»Ich bin mit Pflanzen aufgewachsen«, sagte sie fast entschuldigend und konnte sich mit Blick auf Holms Zeichenblock gerade noch verkneifen, dass Pflanzen die einzigen Wesen waren, denen sie vertraute. »Meine Eltern hatten …«

»Eine Gärtnerei, ich weiß«, unterbrach Müller sie herablassend.

Das Letzte, das Margrit wollte, war, jemanden zu langweilen. Nach seiner Lobhudelei musste Müller wohl das Gleichgewicht wiederherstellen. Einfallsreich wie er war, griff er auf seine Arroganz zurück. Das gepflegte graumelierte Haar mit Helmut-Schmidt-Scheitel und die schwarze Hornbrille verliehen ihm ein Ansehen, das er vielleicht gar nicht verdiente, dachte Margrit jedes Mal, wenn sie ihm gegenübersaß. Sie war nicht geübt in psychologischen Analysen, aber die neurodermitischen Stellen zwischen seinen Fingern sprachen Bände über den Allgemeinzustand dieses Mannes. Öl aus Johanniskraut wäre die unkomplizierteste Lösung für sein Problem, dachte Margrit, und dabei kam ihr sofort ihre Mutter in den Sinn, die darin gebadet hatte in der antiken Wanne, die auf vier Blechtatzen in der Waschküche stand.

»Meine Mutter liebte den Rittersporn in unserer Gärtnerei«, fuhr sie unbeirrt fort. »Von ihr habe ich gelernt, dass das, was wehtut, am Ende zum Erfolg führt.« Margrit puhlte Müllers süffisante Bemerkung noch einmal hervor. »Der Totalrückschnitt beispielsweise. Man trennt sich vom schönen Anblick der Pflanze, schneidet sie kurz über dem Boden ab und wird mit neuer, manchmal doppelt so reicher Blütenpracht belohnt.«

Sie hatte es wieder getan. Hatte von der Mutter gesprochen, die doch nur ein Phantom war, das der Vater mit seinen Fressattacken am Leben erhielt.

»Manchmal führt die Trennung von Dingen, die noch nützlich erscheinen, zu etwas viel Vollkommenerem«, fügte sie noch etwas selbstbewusster hinzu.

Müller schien irritiert.

»Fräulein Kunkel, Sie reden von Trennung, dabei möchte ich Sie gern als feste Mitarbeiterin unserer Redaktion gewinnen. Nach dem Abschluss Ihres Studiums nächstes Jahr im Sommer hätten wir eine Planstelle für Sie frei.«

Er musterte Margrit prüfend von der Seite.

»Ich ahne, dass Sie das vielleicht nicht als Ihren ersten Berufswunsch angekreuzt haben damals beim Abitur. Und ich ahne, dass Sie sich hier unterfordert fühlen könnten, doch glauben Sie mir –«, jetzt hielt er kurz inne. Er wollte herausfinden, ob er in die richtige Richtung dachte.

Margrit blieb ungerührt und schaute ihn weiter offen an.

»Wir haben hier eine sehr gute Perspektive für Sie. Und in die Partei müssen Sie dafür auch nicht eintreten. Das ist doch schon etwas.«

Müller grinste breit. Ohne Parteibuch war es in diesem Land nahezu unmöglich, erfolgreich im Boden zu graben. Er fragte sich wohl, ob sein Witz an Margrits Gesichtsausdruck irgendetwas verändern würde.

Schlagfertigkeit gehörte nicht gerade zu Margrits Talenten. Ihre Langsamkeit erstickte jede Spontanität im Keim. Aber dass sie neben ihrer Fachlektüre auch einen Ausflug in die fruchtbare Literaturszene des Landes gemacht hatte, zahlte sich nun aus.

»Kennen Sie die wunderbare Anekdote über den Archäologen, der zuerst eiserne Waffen freilegt, dann Bronzebeile und Keramikscherben?«

»Die Geschichte eines Archäologen und dessen, was man von ihm erwartet«, antwortete Müller lakonisch.

»Richtig«, entgegnete Margrit in wohliger Erinnerung an den kleinen Erzählband, den Frieder ihr geschenkt hatte, um ihren Horizont zu erweitern, wie er betont hatte. »Nur dass dieser Archäologe zuletzt Faustkeile findet und man ihm den Spaten nimmt, als sich zuunterst noch der Fund von Eierbechern ankündigt.«

»Was nicht gepredigt wird, darf auch nicht sein, ich verstehe.«

Müller lachte schallend und schaute beifallheischend in die Runde. Klasse Mädchen, sagte sein Blick. Die Kollegen, Holm eingeschlossen, schienen einhellig seiner wortlosen Meinung zu sein.

»Darüber müssen Sie sich in diesem Büro keine Sorgen machen, liebes Fräulein Kunkel. Statt Roter Garde kultivieren wir hier Rote Beete, und unter meiner Leitung wird das auch so bleiben. Da Sie den Sprung ins Studium ohne Parteibuch geschafft haben, werden Sie auch danach keins mehr brauchen.«

Margrit wusste das Stellenangebot zu schätzen. Holm Schieber war mindestens genauso gut für die Stelle geeignet. Er war vor der Einberufung zur Armee wegen eines Wirbelsäulenschadens ausgemustert worden, hatte nach dem Abitur das Studium begonnen und würde es zeitgleich mit Margrit beenden. Außerdem war er ein Mann und stand somit schon mal nicht im Verdacht, gleich mit einer Babypause einzusteigen, die dann wieder mit einem Ersatz überbrückt werden musste.

Auch Margrit hatte keine Ambitionen, ein Kind zu bekommen. Sie hatte ja noch nicht einmal einen Mann dafür. Mit Frieder war es nur ein Jahr lang gut gegangen.

Sie waren der Frieder und das Katherlieschen gewesen. Sie die Schusselige, die nicht kochen konnte und nicht schön war. Er der Praktische, der sie liebte, und dem der Rest egal war. Sie liebte ihn auch, soweit sie mit 18 schon etwas verstand von diesem großen Gefühl. Und sie mochte seinen Namen: Frieder klang nach Frieden. Dass er auch noch fliederfarbene Hemden trug, sprach nicht unbedingt für seinen Geschmack, aber doch für Humor.

Frieder war Schreiner. »Wie ein Schreiner kann’s keiner« war ein Spruch, der Margrit gefiel. Frieder schreinerte für Margrit den schönsten Pflanztisch der Welt. Das edle Stück stand nun auf ihrem Balkon. Sie strich noch immer jedes Mal zärtlich darüber, wenn sie daran vorbeiging.

Und dann war er weg gewesen. Von einem Tag auf den anderen. Wie ihre Mutter. Als die Mutter starb, hatte sich Margrit gerade an deren ständiges Geschimpfe gewöhnt. Das Leben sei nun mal so, hatte Margrit ihren Vater zu trösten versucht. Es sei wie eine Pflanze, die wurzelte und Blüten trieb und Blätter fallen ließ und manchmal, wenn sie keinen Halt mehr hatte, wie eine Ranke eigene Wege ging. Diese Erinnerungen verursachten bei Margrit auch nach all den Jahren noch Übelkeit.

Margrit war so jung gewesen, und Frieder war der erste Mann, mit dem sie geschlafen hatte. Warum machte man so etwas, wenn man es nicht ernst miteinander meinte? Mit 19 hatte er doch bereits genug erlebt. Den Rest des Lebens hätten sie also durchaus zusammen verbringen können und sich die Schmach weiterer Verliebtheiten, die sowieso in Verrat und Trennung endeten, erspart.

Nach einem Jahr – sie hatte ihrem Vater bereits angekündigt, auszuziehen, um sich mit Frieder eine gemeinsame Wohnung zu suchen, und dafür ein Riesentheater mit ihm gehabt – war Frieder plötzlich unzufrieden geworden. Unzufrieden! Wie sie das hasste, wenn Menschen unzufrieden waren. Blickte sie in ein solches Gesicht, dann dachte Margrit unwillkürlich an ihre Mutter. Diese Mundwinkel, die ständig von der Schwerkraft nach unten gezogen schienen. Diese steile Falte zwischen den Augen, wo noch gar keine Falte hingehörte. Dieser ewig nörgelnde Ton, um vom eigenen Unglück eine gehörige Portion an andere abzugeben, an die nämlich, die gerade noch gelächelt hatten und glücklich waren oder wenigstens zufrieden. Noch jetzt, Jahre später, fehlte Margrit jegliches Verständnis für die Unzufriedenheit der Menschen.

Zur gemeinsamen Wohnung mit Frieder war es gar nicht erst gekommen. Eines Abends war er einfach verschwunden. Nur sein alter Trabant stand noch vor der Tür seiner Datsche. Margrit hatte die letzten Reparaturen bezahlt. Vielleicht war das sein letztes, zynisches Zeichen des Dankes.

Irgendwann hieß es dann, Frieder Loth sei mit seinen Schreinerfreunden über Polen, Slowakei, Ungarn in den Westen abgehauen. Frieders Mutter glaubte nicht daran, und schon gar nicht, dass ihr pragmatischer Sohn den langen Weg über den unsicheren Osten mit seinen bewachten Grenzen genutzt hätte, statt gleich vor der Tür in Berlin über die Mauer zu springen. Aber Margrit bestätigte gegenüber der Polizei die Vermutung. Er hatte immer von Größerem geträumt, nur nicht von ihr. Sie hatte ihm keine Träne nachgeweint.

»Fräulein Kunkel, Sie sagen ja gar nichts!«

Mit ihrem Privatleben, was keines war, ging sie ganz bestimmt nicht hausieren.

»Fräulein Kunkel?«

Dem lieben Holm hatte die ganze Duzerei nichts genutzt. Müller bot Margrit die Stelle an, auf die Holm so sehr gehofft hatte. Sie musste nun irgendwie darauf reagieren. Also wandte sie sich dem Chefredakteur zu, der mit hochgezogenen Augenbrauen auf ihre Antwort wartete.

»Ich würde gern hier arbeiten«, sagte Margrit ruhig. »Danke, dass Sie mir das Angebot machen, obwohl ich nicht mal Journalismus, sondern Gartenbauwissenschaften studiere.«

»Eine Zusage klingt anders«, warf Müller ein. Holm hob unmerklich den Blick von dem Blatt, auf dem gerade ein Feld aus Krokussen entstand.

»Das ist auch keine Zusage, bis zum Sommer ist ja noch Zeit. Und im Fall der Fälle«, sie schaute zu Holm, dann zu Müller, »finden Sie ja auch adäquaten Ersatz für mich.«

»Selbstverständlich«, sagte Müller zerknirscht, was Holm wieder betreten auf seinen Zeichenblock blicken ließ.

Margrit schaute aus dem Fenster auf den Fernsehturm mit seiner beleuchteten Antennenspitze. Abenddämmerung legte sich auf den Alexanderplatz, wo sich vereinzelte Grüppchen auf dem Weihnachtsmarkt tummelten. Sie würde auf dem Weg zur S-Bahn noch einen Glühwein trinken und dann endlich nach Hause gehen.

Auch wenn Müllers Angebot ihr schmeichelte – sie war noch Studentin und wurde schon wie eine Fachkraft behandelt –, wäre doch kein Büro groß genug, ihr eine berufliche Zukunft geben zu können. Sie alle, wie sie hier saßen, sie hatten doch keine Ahnung, wozu eine Margrit Kunkel tatsächlich in der Lage war.

Kapitel 4

Mühsam suchte sein Blick den Waldweg ab. Sein Auto stand in Sichtweite und war doch unerreichbar. Geschwächt und einer Ohnmacht nah lehnte er an einem Baum. Wie ein Liegestuhl fing der gebogene Stamm seinen Körper auf. Wie oft hatte er hier so gelegen in einem anderen Leben, wie es ihm schien.

Die Kontur des einzigartigen Waldes mit den krummen Bäumen verschwamm zu einer einzigen Woge. Hier herrschten Stille und Einsamkeit, in der ihn niemand finden würde. Die Nacht senkte sich als finsterer Kreis über die Wipfel der Bäume. Eisige Kälte kam auf.

Das Brennen im Mund trieb ihn schier zum Wahnsinn. Bei jedem Schlucken glühte sein Hals, von außen, von innen, bis ihm übel wurde. Mit kaltem Schweiß auf der Stirn übergab er sich. Sein Magen gab nichts her außer Galle.

Bald stand sein ganzer Körper innerlich in Flammen. Jede Faser wehrte sich gegen diesen barbarischen Schmerz, den irgendetwas in ihm anfeuerte. Von unkontrolliertem Zittern geschüttelt, hielt er sich nur mühsam auf den Beinen. Alle Poren wie versiegelt mit Pech. Alle Sinne und Glieder allmählich erlahmend. Und nun hielten ihn auch die Beine nicht mehr. Die Taubheit, sie nahm sich einen Teil seines Körpers nach dem anderen. Entriss ihm, was ihn gerade noch so am Leben hielt und vielleicht halten würde bis jemand käme, um ihn zu retten. In grausamer Langsamkeit starb alles in ihm ab. Tausende Schatten lösten sich von den Bäumen. Formten eine einzige, furchteinflößende Gestalt. Aus unsichtbaren Händen rieselte Erde auf sein Gesicht. Er wurde lebendig begraben. Wurde zurückgelassen in dieser Finsternis. Tief im Boden allein mit der Nacht. Mit Verlorenheit und ekelerregendem Getier.

Mit einem letzten, tiefen Atemzug sog er einen Brodem aus Moder in seine Lunge. Sein Kopf schlug hart auf. Er sah seine Mutter, die liebevoll auf die Uhr an der Wand wies und sagte, es sei nun Zeit für ihn zu gehen …

Medea kochte den Geliebten in Stücken. In den Kessel seiner Wiedergeburt gab sie hinzu das Kraut der ewigen Jugend. Ein Tropfen des Sudes benetzte den Boden und besiegelte die Geburt einer Herbstzeitlosen in Vollkommenheit.

Kapitel 5

Was hatte Mozart in seine Musik eingebaut, dass Margrit beim zweiten Satz des Klarinettenkonzerts weinen musste? Nichts verband sie mit diesem Stück. Kein Bild. Keinen Kuss. Keinen Schmerz. Außerdem war es 200 Jahre alt. Es war doch nicht möglich, dass ein fremder, längst verstorbener Mensch sie immer wieder zu Tränen rühren konnte mit einer Aneinanderreihung von Noten in A-Dur. Und doch saß sie weinend, in eine Wolldecke gehüllt, auf dem verschneiten Balkon ihrer kleinen Wohnung. Vielleicht würden wir Mozart anders hören, wäre er 80-jährig wohlgenährt im Lehnstuhl gestorben, dachte Margrit.

Sie fröstelte.

Letzter Stock. Über ihr nur schneeverhangener Abendhimmel. Der Schall von Schritten auf dem Pflaster hinter der Brüstung und eine Mischung aus Kohlengeruch und mit Nelken gespickten Apfelsinen lagen in der Luft. Die Früchte aus Kuba gab es nur zur Weihnachtszeit zu kaufen. Es war schön und dekadent zugleich, wie sie damit die Wohnung und den Balkon dekorierte. Der Orangenbaum überwinterte im Treppenhaus. Im kommenden Jahr würde er Früchte tragen.

Margrit lauschte der Musik aus dem Kassettenrekorder. Der Kopfhörer wärmte ihre Ohren. Plötzlich ein Knacken. Auf Mozart folgten Verdis »Vier Jahreszeiten«.

Margrit liebte das Jahr und seine Gezeiten, wie sie sie nannte. Den Winter mochte sie besonders. Bei Verdi kam er wie ein jauchzendes Kind daher, um sich bald in einen fluchenden Alten und schließlich in eine Armee zu verwandeln, die unerbittlich durch Frost und eisigen Wind mit umherwirbelnden Flocken marschiert. Die raue Zeit des Jahres empfand Margrit als besonders schön, weil sie sich dann nach dem Frühling sehnen konnte. Sie genoss den kleinen Schmerz dieser endlos scheinenden Kälte. Betrachtete die nackten Bäume und ihren Balkon mit Frieders Pflanztisch, vollgestellt mit Blechbüchsen und Weinkisten mit trockener Erde. In wenigen Wochen, wenn alles von vorn begänne und sie ihr Refugium wieder zu einem kleinen Stück Italien machte, der Kübel mit dem Orangenbaum in der Sonne glänzte und Radieschen, Salat und Kapuzinerkresse zu einem dicken Pflanzenteppich heranwuchsen, dann wäre der Winter der Freund, den sie im Frieden für einen anderen verlassen hatte.

In wenigen Wochen wäre sie dem Patent einen Schritt näher.

Sie setzte die Kopfhörer ab. Atmete tief durch und griff nach dem Kassettenrekorder. Es war kalt hier draußen. Sie würde sich jetzt einen Glühwein zubereiten und dazu ein Honigbrot.

Es war bereits nach Mitternacht. Die letzten Nachtschwärmer waren in den Häusern verschwunden. Das Viertel lag in wohltuender Stille.

Margrit ging zurück in die Wohnung und stellte die Musik auf volle Lautstärke. Verdi läutete bereits den Frühling ein, als sie im Ofen Kohlen nachlegte. Die Familie unter ihr war in den Weihnachtsurlaub gefahren. Die Wohnung neben ihr stand leer. Sie nutzte die Chance, um laut Musik zu hören. Sie setzte sich an den Schreibtisch am Fenster und schaute auf die kahlen Baumwipfel vor dem mondhellen Nachthimmel.

Den geschlossenen Brief hielt sie ein paar Minuten lang in den Händen. Ihre Adresse war mit Schreibmaschine geschrieben. Das zweite »r« in ihrem Vornamen mit einem Kugelschreiber ergänzt, zwischen dem »g« und dem »i« eingequetscht wie eine Fliege. Vielleicht würde er sie aus Versehen Margit nennen, wie so viele es taten, statt Margrit, die Perle; eine Bezeichnung, von der auch die zarte Aster namens Margerite profitierte. Dabei lag die Möglichkeit, ihn zu treffen, überhaupt jemals seine Stimme zu hören, ihn leibhaftig vor sich zu haben, in unerreichbarer Ferne, obwohl sie nur wenige Kilometer trennten. Doch solange sie zu lesen bekam, was er veröffentlichte, war es sowieso zweitrangig, ihm persönlich zu begegnen.

Einen Brief aus seinen Händen in den eigenen zu halten, genügte Margrit vollkommen.

Er hatte ihr wieder geschrieben. Ausgerechnet ihr, von der er nicht einmal wissen konnte, ob sie die Briefe auch wirklich bekam und wenn ja, ob sie sie überhaupt verdient hatte. Dieser Mann hatte sich wieder die Zeit für ein paar Zeilen genommen, an sie, die Gärtnerstochter mit noch nicht mal einem Abschluss in der Tasche. Er, der Artikel verfasste, die weltweit in Dutzenden Sprachen erschienen. Er war ihr Idol, das sie anhimmelte wie andere Frauen in ihrem Alter Michael Jackson. Seine Fachartikel waren eine Offenbarung.

Der letzte Mensch, zu dem sie aufgeschaut hatte, um von ihm zu lernen und zu werden wie er, war ihr Vater gewesen. Der Tod der Mutter hatte ihn verändert und schließlich in eine andere Welt abdriften lassen, aus der Margrit im letzten Moment geflohen war. Die Weinranke am Haus, der Schuppen, das wilde Beet und dahinter auf dem Feld die Mähdrescher – das alles fügte sich nun zu einem einzigen Bild, das Margrit gedanklich rahmte und mit Kindheit überschrieb. Das sie weglegte und wieder zur Hand nahm, wann sie wollte. Das nicht verblassen würde hinter der Glasscheibe, die sie von ihrer Erinnerung trennte.

Sie strich über den Briefumschlag. Sie öffnete ihn und faltete das Papier auseinander.

Sehr geehrtes Fräulein Kunkel,