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Wasenmorde Der Ministerpräsident arbeitet an seiner Rede zum 200-jährigen Jubiläum der Cannstatter Wasen, als er eine Morddrohung erhält. Am Morgen des ersten Wasentages wurde eine Leiche gefunden. Diese war mit einer Nachricht versehen: »Das ist der Erste. Der Letzte wird der Ministerpräsident sein.“ Dieser beschließt sich nicht einschüchtern zu lassen und seinen Auftritt wie geplant durchzuführen. Das Sicherheitspersonal ist entsetzt, die Polizei in und um Stuttgart in hellem Aufruhr. Warum setzt sich der Ministerpräsident diesem Risiko aus?

Da der Journalist Palm über gute Kontakte zur Kriminalpolizei verfügt, ist er bald über die Attentatsdrohung im Bilde und begibt sich auf Recherche-Tour. Dabei stößt er auf die Stuttgarter Unterwelt und deren Kampf um die Vorherrschaft in der Prostitutions- und Glücksspielszene.

Obwohl die Überzeugung vorherrscht, dass es sich um ein Ablenkungsmanöver handelt – sicher ist sich keiner und eine Frage beschäftigt das ganze Land: Wird der Landesvater das Wasenjubiläum überleben?

Michael Krug ist in Stuttgart geboren, in Ludwigsburg aufgewachsen und lebt heute in der Nähe von Reutlingen. Während und nach seinem philologischen Studium in Tübingen und den USA machte er seine ersten beruflichen Schritte bei der Stuttgarter Zeitung und den Stuttgarter Nachrichten. Seit über zwanzig Jahren ist er selbständiger Unternehmer und heute Geschäftsführer eines Beratungsunternehmens. Krug ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder, einen Enkel, spielt in seiner Freizeit gerne Gitarre und geht auf die Jagd.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Henkerspiel (2014)

Bahnhofsmission (2010)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Nicolas/fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5704-3

Widmung

Für meine Familie

1. Kapitel

In Stuttgart war die Hölle los.

Gestern hatte sich einmal mehr die seniorale Garde der Stuttgart21-Gegner – »Oben bleiben, oben bleiben!« – mit ihren Lieblingsblasinstrumenten, den Trillerpfeifen, vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof versammelt und den Verkehr rund um den Bahnhof blockiert. Die immer gleiche Folge: nicht enden wollende Staus in Richtung Prag­sattel, Innenstadt und Wagenburgtunnel, und das zur besten Berufsverkehrszeit. Als ob das nicht genügend Chaos in der seit Jahren von Baustellen geplagten bis lahmgelegten Stadt verursachen würde, versammelte sich heute Morgen die nächste Wutbürgertruppe, teilweise identisch mit der vom Vorabend, um am Neckartor den Feinstaub wegzudemonstrieren. Mit den unausweichlichen Blockaden der Bundesstraße Richtung Cannstatt als auch Innenstadt konnte verkehrstechnisch niemand fertig werden. Dass die laufende Verstauung der Innenstadt die Luft erst so richtig versaute, war den umweltbewegten Protestierern nicht wirklich beizubringen. Aber um Rationalität ging es in diesen Fragen am wenigsten. Der Ministerpräsident des Landes musste aus politischen Gründen mit den Motiven der Demonstranten, so sinnlos deren Aktionen auch waren, stets Sympathie zeigen, befanden sich unter ihnen vermutlich mehrheitlich Wähler seiner Partei. Heute Morgen gingen ihm diese Nachrichten aus den, oberflächlich betrachtet, kommunalpolitischen Niederungen so sehr auf die Nerven, dass er seinen persönlichen Referenten darum bat, mit der Schilderung der Lage sofort aufzuhören und sich seinem für das Wochenende geplanten Auftritt auf dem Cannstatter Wasen zuzuwenden.

»Weiter geht es … begehen wir dieses Jubiläum mit Respekt vor der Weitsicht und Fürsorge …«

»Nein, nein«, fuhr Knarzmann dazwischen. »Begehen klingt mir zu getragen. Feiern ist das bessere Wort. Und Fürsorge?« Knarzmann kniff nahezu missbilligend den Mund zusammen. Da wusste Schiller, dass er mit seinem Formulierungsvorschlag danebenlag.

»Fürsorge? Man könnte gerade meinen, dieser Mo­narch hätte den Sozialstaat erfunden.« Dieser Meinung war Knarzmann offensichtlich nicht. Sicher war Wilhelm I., der einstige Württembergische König, der vor 200 Jahren das Cannstatter Volksfest auf dem Wasen ins Leben gerufen hatte, kein verachtenswerter absolutistischer Despot gewesen. Eher hatte er mit liberalem Regierungs­stil und Volksnähe weithin die Sympathien seiner Untertanen gewonnen. Aber das war es, was Knarzmann so wenig gefiel: Es waren Untertanen, keine freien Bürger. So konnte er den Monarchen, der in gewisser Weise einer seiner Vorgänger als Regent in Stuttgart war, nicht einfach über den grünen Klee loben. Natürlich musste er 200 Jahre später nicht den tadelnden Zeigefinger hochhalten, aber zu viel Lob für den Herrscher aus der Württemberg-­Familie würde seinen Parteifreunden gar nicht passen. Also weg mit der Fürsorge und manchem anderen Element des Rede-Entwurfs. Schiller war ein umsichtiger Mitarbeiter, aber kein Dichter und Schriftsteller wie sein weltberühmter schwäbischer Namensvetter. Dafür hatte Knarzmann ihn auch nicht eingestellt. Überhaupt fragte sich der MP, der es an sich nicht so sehr mit Bierzelten hatte, ob man auf den Text dieser Jubiläumsansprache so viel Wert legen sollte. Vermutlich würde ein guter Teil seiner Zuhörerschaft schon ordentlich einen in der Krone haben, wenn er zu seiner Rede ansetzte. Vielleicht wäre es besser, er würde es bei einem ausgedehnten Trinkspruch belassen und schlicht »Zum Wohle!« sagen. Aber so ging das halt auch nicht.

Der Text für die Ansprache im Hofbräu-Zelt auf dem Wasen hatte noch ein paar Tage Zeit. Bevor es zur Pressekonferenz hinunter in den Landtag ging, blickte Knarzmann über den herrlichen Park seiner Dienstvilla. Am liebsten hätte er sich eine Schürze umgebunden, eine Garten­schere in die Hand genommen und sich direkt hinunter in den Garten begeben. Dies wäre ihm wesentlich sinnvoller erschienen, als nun zur wöchentlichen Presse­konferenz zu fahren. Gestern, am Montagabend hatte, wie jede Woche, der Ministerrat getagt. Dienstags musste man dann den Medienleuten irgendetwas erzählen, selbst wenn es außer Regierungs- und Verwaltungsroutine gar nichts zu erzählen gab. Die Kommunikation von Belanglosigkeiten brachte die Medienvertreter gelegentlich dazu, den MP zu fragen, wann er innerhalb dieser Legislatur­periode seinen Rücktritt plane, um rechtzeitig vor den nächsten Landtagswahlen einem Nachfolger Platz zu machen. So wenig ihm das behagte, so verständlich war die Neugier von Medien und Öffentlichkeit. Seine Parteifreunde ließen kaum eine Gelegenheit aus, die Namen der wenigen potenziellen Nachfolger in die Diskussion zu werfen. Manche konnten seine Demission kaum erwarten, gewann er den Eindruck. Sie glaubten, wenn man diesem freundlichen älteren Herrn lang genug medial die Hölle heißmache, werde er schon weichen. Warum nicht Ironie in die Sache legen: So könnte er sagen, er freue sich darauf, eines Tages befreit von Arbeitslast und Verantwortung öfter auf den Wasen gehen zu können. Dieses Jahr schaffe er es anlässlich des 200-Jahre-Volksfest-Jubiläums immerhin einmal. Vielleicht werde er Spaß daran gewinnen. Die Schlagzeile des Tagblatts erahnte er schon: »Ministerpräsident plant Rückzug ins Bierzelt

Der Wagen stand vor der Tür, sein Pressesprecher wartete unten im Foyer. Als er die Treppe hinunterging, stand unangemeldet der Innenminister in der Tür. Er müsse mit Knarzmann unter vier Augen sprechen. Es sei wichtig. Striebels Gesichtsrötung und Kurzatmigkeit verrieten, wie nervös er war. Knarzmann winkte ihn hoch und verschwand mit ihm im Blauen Zimmer.

»Was ist los?«

»Hör zu, es gab letzte Nacht auf dem Wasen einen Mord und zugleich eine Morddrohung gegen dich. Wir müssen sie ernst nehmen und den Fahrplan für die nächste Zeit komplett ändern. Öffentliche Auftritte sind daher nur ganz eingeschränkt machbar. Dein Wasenbesuch am Samstag ist damit erledigt.«

»Jetzt erst mal ganz langsam. Mord und Morddrohung? Wer soll denn …«

»Wir müssen das ernst nehmen!«, unterbrach Striebel den MP. »Es laufen da draußen so viele Verrückte rum. Wir können uns darauf im Augenblick keinen Reim machen. Das heißt aber nicht, dass es sich um einen Jux handelt.«

»Nicht zum Wasen gehen? Bei diesem Anlass? Darf ich überhaupt noch aus dem Haus? Das hieße, wir beugten uns der Drohung.«

»Von der Morddrohung erfährt erst mal niemand etwas. Und den Wasentermin kann der Olli erledigen«, warf Striebel ein.

»Olli?«, rief Knarzmann aus. »Soll der sich für mich umbringen lassen?«

»Um Himmels willen nein«, beschwichtigte Striebel. »Der Landwirtschaftsminister ist überhaupt nicht gefährdet. Da hat es jemand auf dich abgesehen, also eventuell.«

»Eventuell? Alles Unfug«, murmelte der MP vor sich hin.

»Bitte hör zu, Siegfried: Ich habe den Polizei­präsidenten hierher bestellt. Nach der Pressekonferenz wird er dir die Sache vortragen. Er erklärt dir alles. Ich bin auch dabei.«

»Muss jetzt runter«, sagte Knarzmann mit fester Stimme und verließ das Zimmer.

»Wir sind spät dran«, ermahnte er Schiller und den Pressesprecher. Zusammen stiegen sie in seine Limousine.

2. Kapitel

Wann könnte das gewesen sein, sein letzter Besuch auf dem Wasen? Auch im Stadion, wenige Hundert Meter weiter hinten, auf der anderen Seite der Mercedesstraße, war er lange nicht gewesen. Alles Jahrzehnte her. Nun das Wiedersehen mit dem Volksfestgelände. Die Schaustellerbuden natürlich größer als früher, neuzeitliche Vergnügungsmaschinen, auf denen sich die Besucher hin und her, hoch und runter schleudern lassen konnten. Simulierter freier Fall, Bungie-Springen im angeschnallten Zustand, alles für den gewissen Kick. Was ganz ähnlich wie früher war: das Riesenrad und eine Schießbude. Und natürlich die Bierzelte, die Fronten und Eingänge allerdings aufgemotzt und das Innere durchstrukturiert: mit Lounges, Logen, kleineren rustikalen Ecken. Und dann die Bühnen – wie in Konzertsälen. Statt Blasmusik und zusätzlich zu ihr spielten dort inzwischen Profibands nicht nur sämtliche Gassenhauer, sondern auch die Hits der Popmusik rauf und runter. Als Bolz vor Jahrzehnten letztmals den Wasen besuchte, galt die Traditionsveranstaltung noch als reine Volksbelustigung, und zwar weitgehend für das einfache Volk. Große Unternehmen verteilten massenhaft Verzehrgutscheine für ihre Belegschaften, der Wasen war mit allem, was nicht zu dem parallel laufenden »Landwirtschaftlichen Hauptfest« gehörte, eine Gaudi für die Freunde des Gerstensafts und der Volksmusik. In den letzten Jahren hatte sich ein Wandel vollzogen. Den Wasen verband man immer weniger mit Bierzeltmief, Biederkeit und Blasmusik – der Wasen war zum gesellschaftlichen »Event« aufgemotzt worden. Die Logen in den großen Zelten wurden weitgehend von Unternehmen gemietet, um Kunden und Geschäftsfreunde zu bespaßen. Ganz anders als zu Bolz’ Volksfestzeiten sah man inzwischen weibliches Publikum mindestens so zahlreich vertreten wie biertrinkende Mannsbilder. Das Dirndl war für die Damen auf dem Stuttgarter Wasen ebenso Pflicht wie auf der Münchner Wies’n und in vielen Fällen gerade so kurz wie dort. Die Männer erschienen immer öfter in krachledernem Outfit, als läge man in einem folkloristischen Wettbewerb mit Bayern und Tirol. Dass dies mit den Wasentraditionen gar nichts zu tun hatte, störte niemanden, schließlich brauchte in der Spaßgesellschaft der Spaß keine historische Legitimation. Und das war gut so, auf jeden Fall gut für den Wasen.

Jetzt war es ruhig, die Volksbelustigung startete erst am späten Vormittag. Und dann ein Wiedersehen auf diese Art: ein nacktes, um die Fruchtsäule gewundenes und daran festgebundenes Opfer. Um die Fruchtsäule, dieses Symbol des Landwirtschaftlichen Hauptfestes, das eine rituelle, wenn nicht religiös-spirituelle Bedeutung hatte und zum Segen für das Wachsen und Gedeihen der Lebensgrundlagen dienen sollte. Wer immer sich dieses abgründige Szenario ausgedacht hatte: Hier wurde Bolz mit einer besonderen Art des Frevels und der Pietät­losigkeit konfrontiert. Der Hauptkommissar hatte in seiner langen Laufbahn manche Skurrilität erlebt. Das war etwas Neues.

Als man ihn heute Morgen zu Hause vor dem Frühstück angerufen hatte, fragte Annemarie nur: »Wohin?« Die Antwort »zum Wasen« löste bei ihr fast Empörung aus. Dies hatte Bolz sehr überrascht, da seine Frau durch die vieljährige Gewöhnung an seinen Beruf längst äußerst abgebrüht auf die einschlägigen Ereignisse reagierte. Dass nun das Volksfest zu einem Tatort wurde, schien sie zumindest zu bewegen.

»Immer noch besser als direkt vor unserer Haustür«, hatte Bolz zu beschwichtigen versucht.

»Kann man dort jetzt auch nicht mehr hingehen«, war Annemaries Kommentar, bevor er das Haus verließ.

Vielleicht sollte er doch alsbald den Dienst quittieren. Sein Alter ließe das zu. Darüber, was danach kommen sollte, waren er und Annemarie sich bisher nicht ganz einig geworden. Zurück in die Heimat, auf die Alb? Das könnte er sich vorstellen – Annemarie konnte dem absolut nichts abgewinnen. Mit großer Freude war sie vor vielen Jahren von dort zusammen mit ihm weggegangen zu seiner ersten Kommissar-Station in Reutlingen. Bis sie feststellte, dass diese angebliche Großstadt in Wirklichkeit, was die Köpfe der Menschen anging, genauso eng war wie Groß-Engstingen, nur alles aufgetakelter und teurer. Immerhin waren die Schulen für die Kinder bequem erreichbar – und Stuttgart näher. Mit ihr zurück auf die Alb – undenkbar. Stuttgart, und vor allem Heslach, so sagte sie in den Diskussionen darüber, sei ihr gerade Dorf genug.

Bolz sah sich die alsbald auf eine Trage gebettete Leiche genau an. Die heftigen Striemen um den Hals deuteten auf Strangulation hin. Aber warum flicht der Täter den toten Körper anschließend um die Fruchtsäule auf dem Wasen, zieht ihn davor sogar aus? Einer allein kann es nicht gewesen sein. Für Transport und Absicherung des Verschleppungsortes hatte es mehrerer Tatbeteiligter bedurft. Identität des Opfers? Abwarten, wie immer. Nackte Tote trugen keine Papiere bei sich.

»Wahrscheinlich kennt den unsere Datei«, machte sein junger Assistent Gromer Hoffnung. »Schauen Sie sich mal die Narben auf Stirn und Brust an. Dazu die Tätowierungen an den Armen. Solche Typen sind meistens in unserer Datenbank.«

»Aber da war noch was, sagten Sie nicht …«, fiel Bolz ein.

»… ja, der Drohbrief. Was heißt Brief – also ein Zettel mit einer Drohung, dass der der Erste sei. Und der Letzte soll unser Ministerpräsident sein.«

»Ja sapperlot«, entfuhr es Bolz. »Dann kriegen wir die nächsten Tage was zu tun.«

»Genau, wahrscheinlich zwischen heute und Samstag. Da hat der Knarzmann einen Termin im großen Hofbräu-Zelt. Wird jetzt sicher abgesagt.«

»Nicht so schnell, Gromer. Wenn Sie mich fragen, wird da gar nichts abgesagt. Vermutlich darf von der Mord­drohung erst mal keiner erfahren. Das können wir nicht in die weite Welt hinaus posaunen.«

»Klar, der Zettel wurde gleich weitergereicht und liegt inzwischen sicher auf dem Schreibtisch vom Innen­minister.«

»Dann wird es für uns allerdings nicht so viel zu tun geben«, sinnierte Bolz.

»Bei so viel Brisanz nimmt man uns den Fall aus der Hand. Schauen Sie mal, was es hier zu untersuchen gibt, Transportspuren und so weiter. Den hat man bestimmt nicht hier umgebracht. Und wie viele Leute braucht man, um den um den Mast zu wickeln? Und wie lang hängt der schon hier? Wer hat ihn entdeckt? Ich fahr ins Präsidium.«

Gromers Beobachtung beschäftigte Bolz. Der Tote− einer aus der Polizei-Datenbank? Also einer aus der Szene – nur aus welcher? Drogen, Schutzgeld, Glücksspiel, Prostitution? In welcher Verbindung sollte so einer mit dem MP stehen, der angeblich als Letzter fällig sei? Und wer stand, oder besser fiel zwischen den beiden? Sollte hier je der Staatsschutz übernehmen, wie sollte der die Ermittlungen in der Szene anstellen? Einfache Antworten gab es darauf nicht. Aber noch wusste keiner, ob Gromer richtig lag.

3. Kapitel

»Der Paternoster steht!«, rief die Dame am Empfangsschalter Herrlein hinterher. Tatsächlich wollte der gerade in den offenen Aufzug des Stuttgarter Rathauses einsteigen. Die wenigen Aufzüge dieser Art – eigentlich ein Fall fürs Industriemuseum – fanden sich in ganz Deutschland in der Berliner Zentrale des Springer-Verlags, den renovierten Bauten des Bosch-Areals bei der Stuttgarter Lieder­halle und im Stuttgarter Rathaus. Natürlich hatte die Fahrt in dem Traditionslift beim 100. Mal nichts Sensationelles mehr an sich. So verwand Herrlein den technischen Defekt problemlos und wandte sich der Treppe zu. Immerhin brachte das Treppensteigen seinen Kreislauf in Bewegung. In der Straßenbahn hatte ihn der Anruf seiner Sekretärin Lissy erreicht, er möge sich beeilen. Man habe bereits vom »Tagblatt« angerufen und gefragt, wie es nun mit dem Volksfest weitergehe. Warum das? Ob er denn ausgerechnet heute beim Frühstück kein Radio gehört habe? Der Mord auf dem Wasengelände, schon seit dem frühen Morgen spreche ganz Stuttgart darüber. Tatsächlich hatte er noch kein Radio gehört, weil er zum Frühstücken gar nicht gekommen war. Gestern traf man sich mit den Presseleuten auf dem Wasen. Ein Traditionstermin, da wurden ein paar Maß getrunken. Nach dem zweiten Humpen war Herrlein zu der alkoholfreien Variante des Gerstensafts übergegangen. Nicht etwa, weil er sich anschließend hinters Steuer setzen wollte, sondern aus reiner Vorsicht über seine sich sonst eventuell lockernde Zunge. Die um ihn versammelten Schreibknechte erhofften sich von solchen Terminen nicht zuletzt Informationen, die ihnen sonst eben nicht gegeben wurden. Davor wollte sich Herrlein gerne schützen, ebenso vor einem allzu dicken Kopf am kommenden Morgen. Aber zwei bleihaltige Liter am Stück war er schon lange nicht mehr gewohnt, und so hatte er zu Hause den Wecker gleich auf später als sonst gestellt, um ohne Frühstück direkt ins Büro zu gehen.

»Ihr Freund Palm war schon in der Leitung«, berichtete Lissy. »Meldet sich bestimmt gleich wieder. Hat er’s nicht auf Ihrem Handy probiert?«

Nein, hatte er nicht. Oder doch? Aber Herrlein hatte das nach Lissys Anruf nicht mitbekommen, da er das nervende Kommunikationswerkzeug lautlos gestellt hatte. Schließlich konnte kein normaler Mensch in der S-Bahn ernsthafte dienstliche Gespräche führen.

Bald darauf rief Palm übers Festnetz an.

»Ich geb’ ihn Ihnen mal rüber«, beschied ihm Lissy.

Mit Palm war Herrlein schon seit einiger Zeit per Du. Herrlein setzte hier aber bewusst das »Sie« auf. Palm ertrug dieses Hin und Her klaglos und passte sich stets an, wusste er doch, dass der politisch festgelegte Pressesprecher der Stadt sich nicht mit Medienleuten aller Couleur öffentlich duzen konnte. Das Telefonat war zwar nicht öffentlich, aber Herrlein wusste nie, ob seine notorisch neugierige Lissy immer gleich aus der Leitung ging, wenn sie ihm einen Anrufer durchgestellt hatte.

»Können wir schon wieder wach sein?«, feixte Palm.

»So schlimm war’s gestern nicht«, relativierte Herrlein das fröhliche Trinken im Bierzelt.

»Apropos schlimm: Stimmt es wirklich, dass die Ratsfraktion vom OB beantragen wird, dass auf dem Wasen ab dem kommenden Jahr nur noch Bio-Bier ausgeschenkt und Soja-Wurst und Tofu-Schnitzel serviert werden darf? Praktisch der Bio-Wasen realisiert wird?«

Herrlein atmete schwer durch. »Wissen Sie, auch in unseren Reihen gibt es Leute, die ihre Hunde zu Vegetariern umerziehen wollen. Aber im Ernst, das ist so was im Gange. Ich hoffe, der OB kann das mit einem lauten ›basta‹ in den Schredder beordern.«

»Sonst ist der OB aber immer gegen Basta-Politik.«

»Tja, so lernen wir täglich dazu. Aber deshalb rufst du nicht wirklich an«, ging Herrlein nach dem Eingangs­geplänkel zum sonst praktizierten »du« über.

»Richtig. Was mich interessiert: Was macht die Stadt jetzt? Business, also in diesem speziellen Fall Frohsinn, as usual?«

»Hör’ her, JJ, wir wissen bisher, dass ein Toter aufgefunden wurde«, wehrte Herrlein ab. Lissy hatte ihm mit wenigen Worten die Umstände berichtet. Zu allem Weiteren – Hintergründen, Bezug zum Wasen, Konsequenzen et cetera, et cetera – wusste niemand etwas.

»Gott sei Dank sind wir früh genug gegangen, sonst kämen wir noch in Verdacht«, versuchte es Herrlein auf die sarkastische Tour.

»Nicht einmal das ist gewiss«, warf Palm ein. »Wie ich von der Polizei höre, ist das Opfer nicht am Tatort zu Tode gekommen. Den hat man danach dorthin verbracht. Stimmt es denn, dass der Tote um die Fruchtsäule gewickelt war?«

»Scheint so.«

»Das müsste ausgesehen haben wie in Dantes Inferno.«

»Du mit deiner klassischen Bildung und immer gleich den Teufel an die Wand malen. Und als Nächstes tanzt der auf dem Marktplatz«, versuchte es Herrlein wieder mit Sarkasmus. »Aber wenn du glaubst, da hätte ich nichts beizutragen, bist du auf dem Holzweg.«

»Also bei Dante beginnt die Geschichte in der Hölle, endet aber im Himmel.«

»Weiß ich, nur dorthin kommen wir beide sicher nicht. Höchstens bis ins zweite Kapitel.«

»Du meinst das Fegefeuer«, erwiderte Palm mit gespieltem Erschrecken.

»Wahrscheinlich gehören wir dort beide hin. Wenn wir zuvor aber so vielen Promis begegnen wie der Dante und der Vergil, wird’s unterhaltsam.«

»Das wäre aber ein gewaltiger Unterschied: Bei Dante sind die Promis nicht mehr in dieser Welt und wissen, wofür sie in der Hölle büßen. Wir begegnen solchen, die entweder gar nicht leiden, und wenn sie’s doch tun, dies für die Ungerechtigkeit der Welt halten.«

»Aber wir, die wir wissen, dass es sich hier um eine andere Art von Hölle handelt, können uns das ansehen und genießen.«

»Um das zu genießen, muss man sadistisch genug veranlagt sein«, gab Palm zu bedenken.

»Als Pressemann bist du das ja sicher.«

»Aber nicht abgebrüht genug für die richtige Hölle …«

»… du meinst das Bio-Bier mit Soja-Wurst auf dem Wasen.«

»Okay, Herr Pressesprecher, lass uns unsere literarische Bildung irgendwann weiterspinnen, von mir aus bei der nächsten Maß im Zelt. Ich muss jetzt weiter nach Fakten und Neuigkeiten suchen«, gab sich Palm pflichtbewusst. »Wir sprechen, sobald du was weißt, also überhaupt was weißt«, wurde Palm frech. Ihm war klar, dass er aus dem Rathaus momentan nichts Neues erfahren konnte, und rätselte indes, in welchem Kreis der Hölle Herrlein dort tätig war.

4. Kapitel

Richie ließ die Tür der Bürobaracke hinter sich zufallen. Nach den ersten Stufen hinunter auf die Einfahrt sah er den Kastenwagen langsam die Straße entlang zur Toreinfahrt rollen und anhalten. Richie beschleunigte seinen Schritt und ging zur Straße vor. An der hinteren Sitzreihe war die Scheibe heruntergelassen. Der Wagenpassagier würdigte Richie keines Blickes, schien aber ungeduldig auf Nachrichten zu warten.

Richie stand vor dem Fenster und berichtete: »Dasselbe wie im Radio, in fast allen Online-Nachrichten, sonst nix.«

»Und, hat man ihn erkannt?«

»Nee, dazu gab’s nix.«

»Die müssten längst wissen, wer da hing. Dilettanten!«

Auf ein minimales Kopfnicken hin gab der Fahrer Gas, und der Wagen fuhr davon.

Richie hatte inzwischen aufgehört, sich zu wundern. An jedem Ort der Welt konnte man Radio hören, telefonieren, E-Mails austauschen. Aber die einfachsten Infos holten sich die Bosse seit einiger Zeit über die­selben Kanäle wie in der Steinzeit: mündliche Überlieferung. Ging’s um Geldforderungen, zählte nur Bares, oder man tauschte Naturalien und Ähnliches aus. Richtig: Alles konnte abgehört, Daten entschlüsselt, Geldströme, Bewegungsprofile analysiert werden. So hatte man inzwischen fast alles dergleichen abgeschafft. Schmuck, Wert- oder Rohstoffe, Mädels, Events, mündliche Informationen – das waren die neuen Währungen in der Szene. Dir schuldet einer 3.000 Euro? Okay, soll er dir den Öltank füllen. Oder für 5.000 ein exklusives Wochenende auf Sylt. Für ihn galt das natürlich nicht. Die kleinen Lichter wurden nach wie vor mit Geldscheinen bedacht, allerdings mit kleinen. Kleine Dienste, kleine Scheine. Internet durchsehen und Bericht erstatten machte einen Zwanziger – immerhin bar auf die Kralle!

Hansi, das elende Großmaul! Vor zwei Wochen hatte er seinen Konkurrenten in der Stadt mit der Begleichung alter Rechnungen gedroht. Spätestens zur Wasenzeit werde man wissen, wer in Stuttgart die Hosen anhabe. Gab es dafür überhaupt einen Anlass? Der Einzige, der vormals über eine ähnliche Kragenweite wie Hansi verfügte, King Stucki, war längst aus dem Geschäft. Oder besser gesagt, in ganz anderen Geschäften tätig. Wer wollte sich sonst mit Hansi anlegen? Jetzt hatten sie ihn um die Fruchtsäule gewunden. Kein stiller Abgang im Hinterhof oder in den Neckar, was hier am Hafen eigentlich angesagt gewesen wäre. War doch Stuttgart auch eine veritable Hafenstadt. Jedenfalls zeigten die Firmen­schilder entlang des Ufers die Namen der großen Binnenschifffahrer und Binnenwassertransporteure aus der ganzen Republik. Und am Ufer zwischen Cannstatt und Plochingen schien schon so mancher für immer im Neckar abgetaucht zu sein, bis er an einer der fluss­abwärts wartenden Staustufen wieder zum Vorschein kam. Im Unterschied zu tiefen flächigen Gewässern taugten die lokalen Wasserstraßen daher nicht für die finale Entsorgung von, beispielsweise, Opfern eines Szenekriegs, wie er in Stuttgart nun begonnen hatte. Das konnte Richie nur vermuten.

Hansi tot um die Fruchtsäule gewickelt. Hieß es nicht »Hochmut kommt vor dem Fall«? Hansi wollte zeigen, dass ausschließlich seine Leute auf dem Wasen abkassieren durften: die Wirte, die Schausteller, die Mädels. Zum Volksfest hatten sie alle Hochkonjunktur. Wer diesen Umsatzmonat verschlief, brachte seine Jahresbilanz aus dem Gleichgewicht. Mit der quasi öffentlichen Hinrichtung von Hansi war nun ganz Stuttgart gewarnt: Wenn einer allen anderen in die Suppe spucken möchte, hängt der vielleicht morgen als Nächster an der Säule oder sonst wo herum. Und hatte seinen letzten Huster definitiv getan. Das sollten alle wissen. Hoffentlich akzeptierte man das. Sonst standen schreckliche Tage bevor. Und sollte tatsächlich – man musste schon sagen, der ehemalige – King Stucki wieder ins Geschehen einsteigen wollen, dann würde hier die Hölle losbrechen. Die meisten wähnten den einstmaligen Granden der Szene längst aus dem Geschäft, sozusagen im Ruhestand. Was auch passieren sollte: Richie war an seinem Hafenplatz im Kiesbaggerareal auf der sicheren Seite. Die richtigen Keilereien würde es drinnen in der Stadt geben oder eben auf dem Wasen.

5. Kapitel

Bolz hatte sich noch kein abschließendes Urteil darüber gebildet, was er von Gromer halten sollte. Normalerweise kam er bei neuen Mitarbeitern schneller zu einer festen Einschätzung. Seit drei Wochen wuselte der eifrige Jung-Inspektor um ihn herum, lag manchmal richtig, manchmal daneben. Als Person war er ziemlich blass. Keine besonderen Hobbys, Vergnügungen, gerade bei der Mama ausgezogen, angeblich feste Freundin, die allerdings nie einer gesehen hatte. Oder war es nicht nur ein Gerücht, dass Gromer schwul sei? Na ja, wenn schon. Davon wollte Bolz sich nicht irritieren lassen, hatte er doch gelernt, dass diese Neigungen und Orientierungen vollkommen wertneutral zu betrachten waren. Im Übrigen war Gromer fleißig, pünktlich und in allen fachlichen Gesprächen ein kompetenter Mitarbeiter. Und er lag richtig.

Der Tote an der Fruchtsäule war ein alter Bekannter in der Polizei-Datei: Johannes Vegesack. Vor gut 20 Jahren aus Bremen zugezogen, bereits mit ordentlich Gepäck im Rucksack: Erpressung, Körperverletzung, Zuhälterei, zusammengerechnet drei Jahre Knast. Nach der letzten Entlassung in Bremen für einen Neustart nach Stuttgart umgesiedelt. Neustart wofür? Erste Jobs als Türsteher entlang der Hauptstätter und Tübinger Straße, was Begegnungen mit der lokalen Polizei mehr oder weniger unvermeidlich machte. Irgendwann allerdings sah man ihn nicht mehr vor der Tür stehen, sondern im Hinterzimmer sitzen. Hansi, wie man ihn hier nannte, hatte sich schnell etabliert und hochgearbeitet. Und irgendwann, als man einen der Kneipiers wegen fortgesetztem illegalem Glücksspiel in seiner Spelunke, die sich natürlich »Club« nannte, für kurze Zeit zu freier Kost und Logis nach Stammheim verfrachtet hatte, übernahm Hansi den Laden: natürlich ohne weiteres Glücksspiel. Entlang der informellen Stuttgarter Rotlichtmeile erwarb er nach und nach mehrere Bars und Spielmaschinenkasinos. Einige davon Treffs für Drogenumschlag und Prostitution. Alles natürlich rein zufällig an diesen Plätzen, Hansi hatte damit nie etwas zu tun, die Ermittler taten sich bei jedem Vorfall schwer. Der Zu­­gereiste wusste, wie man andere die Drecksarbeit machen ließ und selbst die Hände in Unschuld wusch. Hin und wieder kam es dennoch zu Vorfällen. Auf Hansis Spur gelangten ein paar weitere Nordlichter an den Nesenbach und fielen hier zunächst rein sprachlich auf, dann als Eindringlinge und Konkurrenz, wie man sie in der ansonsten überschaubaren schwäbischen Szene gar nicht brauchen konnte. Keilereien um umsatzstarke Bars und Quadratmeter Handelsplatz machten der Polizei Ärger und gerieten als Nachricht in die Lokalpresse. Schließlich waren die Claims zwischen den Gangs zuverlässig abgesteckt, und die Innenstadt hatte sich beruhigt. Und der »rei’g’schmeckte« Hansi hatte als einer der Platzhirsche in der Stuttgarter Szene überlebt. Voilà.

Jetzt hatte es ihn aber erwischt, und Bolz wusste, dass er schon unter normalen Umständen seine Ermittlungen in Abstimmung mit seinen »Freunden« von den Drogen und der Sitte betreiben musste, war beides doch mit Sicherheit der Hintergrund von Hansis plötzlichem Ableben. Was nun hinzukam, war für Bolz neu: der Staatsschutz. Die Morddrohung gegen den MP brachte diesen ins Spiel, was an der Nachricht auf jenem Fresszettel immer dran war – oder eben auch nicht.

»Gut gemacht, Gromer, im Fußball würde man sagen, direkt verwandelt.«

»Schon gut«, entgegnete der Nachwuchsermittler. »Damit fängt der Ärger aber erst richtig an.«

»Sie meinen die Arbeit.«

»Nein«, verbesserte Gromer seinen Chef, »ich meine den Ärger. Kurzritter von der Sitte hat sich schon erkundigt, wann wir ihn in den Ermittlungsstand einbeziehen.«

»Der ›Kurze‹« – so nannte man den Chefermittler des Stuttgarter Sittendezernats intern – »soll bloß den Ball flach halten. Erstens wissen wir noch so gut wie nichts, und außerdem habe ich von nirgendwo Weisung, jemanden einzubeziehen. Hier geht’s um Mord, also unsere Baustelle, und damit hat sich’s derzeit.«

»Klar, weiß schon«, quittierte Gromer Bolzens Statusklärung pflichtschuldig, wohl wissend, dass sich das mit einem Zehnsekundenanruf der Staatsanwaltschaft ändern konnte.

»Sagen Sie mal, wie ist der arme Kerl eigentlich zu Tode gekommen? Sah nach Strangulation aus.«

»Ganz Genaues weiß man nicht. Angesichts der zahlreichen Hämatome am Körper wurde ihm aber schon vor dem Exitus ordentlich zugesetzt«, berichtete Gromer.

»Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Wenn so einer von der Konkurrenz ausgeschaltet werden soll, veranstaltet man nicht vorher eine sinnlose Prügelei, sondern bringt ihn halt um.«

»Vielleicht hatte er die Möglichkeit, sich zunächst zu wehren?«

»Das ist bei einem gezielten Mord unwahrscheinlich. Wenn einer um die Ecke gebracht werden soll, geht man in solchen Kreisen auf Nummer sicher. Also totschießen wäre der normale und sichere Weg. Erdrosseln und zuvor Kampf – das ist doch dilettantisch. Hansi war im Profimilieu aktiv. Also klar ist der Fall nur auf den ersten Blick.«

»Die Fruchtsäule legt Planung und gewollte Symbolik nahe. Jeder soll es wissen. Das ist eindeutig eine professionelle Schiene.«

Das konnte Bolz nur unterstreichen. Da war eigentlich kein Zweifel möglich. Aber wer gegen wen, beziehungsweise Hansi gegen wen? Wer waren die Gegner? Und die Drohung gegen den MP? Eine Finte? Ein Ablenkungsmanöver? Musste man das ernst nehmen?

»Die wollen uns auf eine falsche Fährte locken«, mutmaßte Gromer.

»Das zählt hier nicht. Wenn so etwas vorliegt, darf keiner leichtfertig drüber hinweggehen. Stellen Sie sich vor, den Knarzmann knallt einer ab, und die Tat wurde zuvor angekündigt. Dann ist der für die Polizei und Sicherheit zuständige Innenminister politisch gleich mit tot, kann sich quasi selbst erschießen. Was man davon auch immer hält, in diese Richtung muss ermittelt werden. Aber nicht von uns.«

»Okay«, bestätigte sich Gromer selber, »das bedeutet noch größeren Ärger. Mit Kurzritter, den Drogenleuten und zusätzlich mit dem Staatsschutz.«

»Oder die wollen alles alleine machen«, gab Bolz als Variante zu bedenken. »Im Moment sind aber wir zuständig und tragen zusammen, wo der Gute überall aktiv war, also was er besessen und betrieben hat – und was wir ahnen und glauben, aber nie richtig beweisen konnten. Da fangen wir an. Und außerdem: Was hat er eigentlich die letzten Tage und Stunden vor seinem Tod gemacht?«

»Verstanden«, bestätigte Gromer, dass er einen umfassenden Ermittlungsauftrag erhalten hatte.

Bolz indes beschloss zu tun, was er sonst nicht tat. Er ließ sich ungefragt bei der Staatsanwältin anmelden.

6. Kapitel

»Oje, war das ein Desaster«, beklagte sich Minister­präsident Knarzmann nach der Pressekonferenz. »Jeder wusste von dem Wasenmord, was sollte ich da sagen?«

»Du hast genau das Richtige gesagt«, wollte der Innenminister den MP aufbauen. »Gerade davon erfahren, schreckliche Tat, die Polizei ermittelt. Das war’s.«

»Leider habe ich gesagt, dass das Volksfest natürlich weitergeht, und ich am Samstag wie geplant hingehen werde.«

»Du meinst, jetzt fragt sicher jeder, warum du darüber gesprochen hast?«

»Ja, das war eine Art Übersprunghandlung. Gezielt hatte keiner danach gefragt. Glaubst du, die Geschichte mit der Morddrohung können deine Leute unter der Decke halten? Wie lange geht das gut? Und was wollt ihr tun?«

»Wir lassen den Staatsschutz ermitteln, ob ein politisches Motiv dahinter steckt oder ob es sich um Ablenkung oder Verarschung handelt.«

»Wie wollen die das herausfinden? Und wenn einer mitbekommt, dass die Polizei gar nicht ermittelt, sondern die Staatsschützer? Wer ist das eigentlich?«

»Die Polizei ermittelt wie immer. Ich habe einen Hinweis, dass das Opfer aus der Szene stammt, ein Bekannter. Das passt nicht zu politischen Motiven.«

»Du hast mir gar nicht gesagt, dass das so eine Scheußlichkeit war, das mit der Fruchtsäule. In was für Abgründe blicken wir hier bloß?«

»Für diese Details hattest du vor der PK gar keinen Kopf. Ich hatte keine drei Minuten Zeit, um zu erklären, was überhaupt geschehen ist. Du hast mich stehen lassen und bist zur PK aufgebrochen.«

»War kein Vorwurf. Aber was machen wir jetzt?«

»Auf die Morddrohung setzen wir den Staatsschutz an, die Kripo kümmert sich um den Mord.«

»Dann ermitteln verschiedene Behörden. Geht so was gut? Wer koordiniert die Dienste? Fürchterlich!«, dia­gnostizierte Knarzmann.

»Wenn du dich der Empfehlung des Polizei­präsidenten entsprechend verhältst, wird es so fürchterlich nicht. Der Auftritt am Samstag fällt aus und der IHK-Aufritt am Donnerstag ebenso.«

»Nein, nein!«, wehrte Knarzmann ab. »Wenn ich das mache, wird erst recht spekuliert. Jeder fragt sich, was ist denn da los? Und sobald von dieser Drohung etwas durchdringt, machen uns die Medien die Hölle heiß. Ich mache alles wie geplant. Wir lassen uns nicht einschüchtern.«

Der ebenfalls anwesende Schiller wollte dazu beitragen: »Sollten Sie in Ihrer Ansprache den Mord nicht erwähnen? Wir können nicht so tun als wäre das ein Volksfest wie jedes andere.«

»Also ins Manuskript kommt dazu gar nichts rein«, machte der MP seinen Standpunkt klar. »Das erwähne ich nach dem Grüß-Gott-Sagen ganz informell. Wer weiß, wie am Samstag der Erkenntnisstand aussieht. Das flechte ich spontan ein. Dazu brauchen Sie gar nichts reinschreiben.«

Nachdem Schiller sich geäußert hatte, fühlte sich Striebels persönlicher Referent Billinger verpflichtet, ebenfalls etwas beisteuern zu müssen: »Sie könnten das mit einem Dank an die Polizei und die übrigen Sicherheitskräfte verbinden.«

»Ja was denn noch alles?«, fragte Striebel in genervtem Ton, sodass Billinger beinahe rot anlief. »Spätestens dann fragt sich jeder, was für eine Höllenaktion hier im Hintergrund abläuft, dass der MP Anlass hat, sich gleich bei sämtlichen Sicherheitsorganen zu bedanken. Wenn die Lage am Samstag genauso aussieht wie heute, fragt sich eh jeder Wasenbesucher, weshalb dort eine Sicherheitsstufe herrscht wie am Flughafen nach einem Terroranschlag.« Darauf kehrte im Zimmer zunächst eine gespannte Ruhe ein, sodass der Innenminister einfach fortfuhr: »Jetzt müssen wir als Erstes die Zuständigkeiten genau abgrenzen. Die Koordination wird recht kompliziert, weil immer verschiedene Dienste gleichzeitig im Einsatz sind. Die Kripo ermittelt den Mord, der Staatsschutz die Morddrohung – und ob da weitere Spieler zum Einsatz kommen, muss man mal mit der Staats­anwaltschaft diskutieren.«

»Das müsst ihr eben hinkriegen«, ordnete der MP höchste Konzentration an.

»Übrigens hat sich der OB gemeldet. Die Frage, ob der Wasen weitergehe oder nicht, falle in seine Zuständigkeit.«