Erstes Buch: Windstärke 1

Windstärke 1: Ein leiser Zug, Rauch bewegt sich leicht in Windrichtung. Mittlere Windgeschwindigkeit in 10 Meter Höhe: 1–5 km/h.

Beaufortskala

Manche Menschen haben eine Narbe, die zwickt, sobald ein Wetterwechsel ansteht. Ich hingegen habe ein Tattoo auf dem Schulterblatt. Wenn es dort sticht und zwackt, weiß ich, dass ich mich auf eine Temperaturveränderung gefasst machen muss. Ich erzähle niemandem davon. Andere würden es bloß für Einbildung halten und sie darauf schieben, dass ich eine Meteorologin bin, die sich ein Wetterzeichen auf die Schulter tätowiert hat. Wobei die meisten das Bild nicht einmal kapieren. Wer es zu sehen bekommt, lästert gerne über die „missglückte Acht“. Aber wieso hätte ich das Zeichen für Unendlichkeit auf einen vergänglichen Körper gravieren sollen? Das wäre doch absolut unlogisch.

Nein, mein Tattoo zeigt genau das, was es zeigen soll, nämlich zwei Kreise, die aufeinandertreffen. Es ist das Zeichen für trockenen Dunst. Ich habe es mir einen Tag nach dem Abschluss meines Studiums stechen lassen. Nicht nur weil ich es schön fand, sondern auch weil es in meinen Augen zu mir passte: Dunst verliert nie den Bodenkontakt.

An diesem Tag zieht es heftig an meiner geheimen Vorhersagequelle. Fast fühlt es sich an, als würde die Nadel noch einmal über die Konturen gleiten. Das unangenehme Stechen begleitet mich seit dem frühen Morgen, weshalb ich seither immer wieder misstrauisch aus dem Fenster geschaut habe. Doch nicht die kleinste Kumulus-Wolke legte sich über das eisige Himmelsblau eines sonnigen Januartages. Es veränderte sich auch nicht, als mein Chef mir mitgeteilt hat, dass mein Vertrag am Ende der Probezeit nun doch nicht verlängert wird. Das bedeutet, dass ich in vier Wochen arbeitslos bin. Ich habe seinem Murmeln aufmerksam zugehört, aber so ganz glaubte ich ihm nicht, dass eine allgemein schlechte Auftragslage es für das Institut unabdingbar macht, meinen Posten einzusparen. Die Stelle ist schon wieder ausgeschrieben. Das legt den Gedanken doch sehr nahe, dass es etwas Persönliches ist. Und ich wette, meine Fehlzeiten waren der Grund für seine Entscheidung. Hätte ich die Stelle bloß schon im letzten Frühjahr antreten können. Im Winter sind vierjährige Jungen wie mein Sohn Max nun einmal dauernd krank.

Ich schlucke. Ich war so stolz darauf gewesen, in einem Forschungsinstitut zu arbeiten, und das direkt nach meinem Studienabschluss. Mit neunundzwanzig war ich für das Ende eines Studiums nicht gerade jung gewesen, hatte aber immerhin schon seit vier Jahren ein Kind und trotzdem einen Master in der Tasche gehabt.

Aber ob mir das helfen wird, innerhalb von vier Wochen einen neuen Job zu finden?

Meine Google-Recherchen zu dem Thema, die ich ohne allzu schlechtes Gewissen noch in der Arbeitszeit angestellt habe, verrieten mir zwei Dinge: Wer nach so kurzer Zeit arbeitslos wird, steigt direkt ins Hartz-IV-Geschäft ein. Außerdem sind die Jobaussichten für Meteorologen derzeit eher – haha – trüb als heiter.

Trotzdem habe ich es geschafft, nicht direkt auf der Büro-Toilette zu heulen. Die Blöße wollte ich mir echt nicht geben. Das fehlte noch, dass ich zum Objekt eines dieser verbissen geführten Einfühlsamkeitswettbewerbe der wenigen weiblichen Kollegen werde. Auf dem Weg zum Kindergarten habe ich es mir ebenso verkniffen, salzige Pfützen auf den S-Bahn-Polstern zu hinterlassen. Doch nun, auf dem letzten Fußmarsch vom Kindergarten bis nach Hause, merke ich, dass sich so viel Wasser in meinen Tränendrüsen gesammelt hat, dass es vermutlich gleich unkontrolliert hinausschießen wird. Vielleicht kann ich es auf den eisigen Wind schieben.

Ich versuche, mich auf etwas Schönes zu konzentrieren, und schaue deshalb auf die blonden Löckchen im Nacken meines Sohnes, die sich unter seiner Star-Wars-Mütze ringeln. Die Wolle verdeckt die lichte Stelle in seinem Haar. Dort musste ich ihm am Tag zuvor ein Kaugummi rausschneiden. Doch mein Sohn trägt die neue Frisur auch ohne Kopfbedeckung mit Würde – so, wie es sich für einen Maximilian gehört. Den Namen habe ich gewählt, nachdem ich irgendwo gelesen hatte, dass ein Maximilian direkt bei der Einschulung einen Lehrerbonus erhält, während für Marvin und Kevin umgehend Dauerbesuche vom Jugendamt vermerkt werden. Ich wollte ihn schließlich von Anfang an mit den besten Chancen ausstatten. Damit stehe ich wohl nicht alleine da – in seiner Gruppe gibt es insgesamt vier Maximilians und ich nenne ihn ohnehin nur Max, weil mir sein voller Name etwas zu pompös vorkommt.

„Mama, schau mal, wer da ist“, unterbricht er meinen Gedankenfluss, als wir uns unserer Wohnung nähern.

„Nicht der schon wieder“, murmele ich, ohne aufzuschauen.

Ich gehe einfach davon aus, dass er Toby meint. Toby ist sein imaginärer Freund. Und bevor nun jemand etwas sagt: Kinder mit imaginären Freunden sind meistens Einzelkinder und psychisch besonders stabil, sagt Google.

„Kennen wir den?“, fragt Max und zupft heftiger an meinem Arm, der bis zum Ellbogen in meinem überfüllten Rucksack vergraben ist. Meinen steif gefrorenen Fingern gelingt es nicht, in dem Chaos aus Kinderwechselkleidung, Proviant in Form von Keksen und meinen eigenen Utensilien den Haustürschlüssel zu ertasten.

Genervt schaue ich hoch und gebe dann ein peinliches, erschrockenes Quieken von mir. Vor unserer Haustür sitzt auf einem Koffer ein wildfremder Junge mit blauen Lippen. Er sieht genauso erschrocken aus wie ich und ich bin mir fast sicher, dass er mein Quietschen gerade mit einem Bellen beantwortet hat. Aber weil das wohl kaum sein kann, versuche ich, mich zu sammeln und den Jungen ordentlich einzusortieren.

Doch nichts an ihm passt zusammen. Er ist vielleicht zwölf Jahre alt. Sein Haarschnitt ist etwas zu kunstvoll verwuschelt. So, als hätte sich die Stylistin einer Britpop-Band an ihm ausgetobt. Seine Kleidung hingegen könnte sowohl von einer alternativen Gesinnung als auch von echter Armut künden. Allerdings schauen unter der abgewetzten braunen Cordhose mit den Flicken coole, teure Sneakers hervor. Auch der Steppjacke ist nicht anzusehen, ob es sich um Lidl-Polyester oder echte Canada-Goose-Daunen handelt, was ungefähr zwei Nullen Unterschied machen würde. Und dann ist da noch die altmodische Reisetasche aus braunem, antik wirkendem Leder. Vermutlich das Relikt von einer Großtante mit Dutt und Mary-Poppins-Stiefeletten.

„Hallo“, sage ich und überspiele meine Hilflosigkeit mit aufgesetzt fester Stimme. „Können wir etwas für dich tun?“

Der Junge springt so ungelenk auf, dass ich Max in einer Reflexbewegung von ihm wegziehe.

Unserem ungebetenen Gast hängt der Pony jetzt so tief ins Gesicht, dass ich bis auf sein schmales, blasses Kinn kaum etwas erkennen kann. Doch ich sehe, wie sein Mund sich langsam öffnet.

„Yep“, sagt er.

„Okay“, sage ich verdattert. „Du meinst, ich kann etwas für dich tun?“

Der Junge streicht sich das Haar zur Seite und sieht mich fast verzweifelt an. Dann zwinkert er, geht in die Hocke, springt wieder auf und … bellt. Erst zuckt Max zusammen, doch dann fängt er an zu lachen.

„Du willst mich wohl veräppeln?“, fauche ich verärgert. Stünde Max nicht neben mir, hätte ich ein härteres Wort verwandt. Mir ist ein Gedanke gekommen: Gehört er in seinen unmöglich zusammengeklauten Klamotten womöglich zu einer Bande? Vermutlich will er einen dieser Haustür-Abzock-Tricks abziehen, auf den nur naive Großmütter von verschollenen Enkeln reinfallen. Da drücken sie dem vermeintlichen Abkömmling ein paar Scheinchen in die Hand und schon stößt er sie zur Seite und verschafft sich Zugang zur Wohnung und nimmt, was als wertvoll erscheint.

Während ich mich noch in Rage monologisiere, bellt der Junge noch einmal. Empört schaue ich ihn an, bis er seinen Pony zur Seite schiebt, sodass ich den fast verzweifelten Ausdruck in seinem Gesicht erkenne. Und wie ich so in seine blaugrauen Augen schaue, schiebt sich plötzlich ein anderes Gesicht über seines.

„Leon, bist du das?“

Leon ist der Sohn meines Mitbewohners Paul. Ich habe ihn noch nie gesehen, weil er bei seiner Mutter in München lebt, und kenne ihn nur von Fotos. Wenn Paul sich mit ihm treffen möchte, muss er immer in den Süden reisen, weil Tine ihrem Jungen auf keinen Fall den norddeutschen Moloch an der schmutzigen Elbe zumuten möchte, in dem jeder sofort zum Hausbesetzer wird und Drogen vertickt. Ja, das Großstadtelend. In einem biederen Dörfchen wie München bleibt man davon sicher unberührt – vielleicht werden aber auch schlicht alle sofort nach Hamburg ausgewiesen, falls sie in Sexualität, Hautfarbe oder Automarke von der Norm abweichen – also dem „Bullen von Tölz“ nicht im Geringsten ähneln.

Und gerade weil ich die Abneigung von Pauls Ex gegen ihre ehemalige Heimat kenne, hätte ich Leon niemals hier vermutet. Aber der Junge vor mir sieht Paul wirklich ähnlich.

Nun wird er feuerrot und nickt. Der arme Kerl. Ich schäme mich in Grund und Boden. Hätte mir Paul doch mal genauer erklärt, was es mit dem „kleinen Tick“ seines Sohnes auf sich hat. Ich hatte es für die liebevolle väterliche Umschreibung für ein Tourette-Syndrom gehalten, bei dem man die Umgebung beschimpft, ohne es zu wollen. Hätte er mir eine üble Beleidigung an den Kopf geworfen, hätte ich ihn sicher viel freundlicher begrüßt.

„Tut mir leid“, sage ich. „Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst …“ Weil mir nicht einfällt, was ich dann getan hätte, schlage ich schnell eine neue Richtung ein. „Weiß Paul, dass du hier bist?“

Leon schüttelt den Kopf. Er zittert und ich weiß nicht, ob es von der Kälte oder der Anspannung kommt. Dann bellt er wieder und sinkt in die Hocke.

Max lacht und sieht ihn fröhlich an.

„Hallo, Hundi“, sagt er und streckt Leon die flache Hand vor die Nase, als wolle er ihn füttern. Ich merke, dass er einen neuen Spielkameraden wittert und sich darüber freut.

„Max!“, zische ich ihn an, obwohl ich eigentlich wütend auf mich selbst bin. Dann höre ich mich schreien: „Scheiß…nkleister!“ Der Fluch kam schneller als meine bewusste Wahrnehmung. Beinahe überrascht sehe ich, dass meine Einkäufe auf dem Gehweg verteilt liegen. Dafür geht ein erleichtertes Kribbeln durch meinen rechten Arm, da ihn nun die Henkel der überstrapazierten Plastiktüte nicht mehr einschnüren. Sie ist gerissen, weil ich sie viel zu voll gepackt habe. Ich wollte im Supermarkt noch ein letztes Mal alles geben und uns mit Bio-Kiwis (Vitamin C für Max) bis hin zum Filet vom Weiderind (Eisen für mich) eindecken, bevor uns nur noch Äpfel und Kartoffel blieben. Gegen eine Folienverpackung presst sich nacktes rotes Fleisch und direkt daneben sitzt Max, der bei meinem Schrei erschrocken angefangen hat zu weinen.

„Du hast mich erschreckt, Mama“, sagt er vorwurfsvoll. Ein paar herzzerreißende Tränen laufen ihm hinunter. Dabei dachte ich, an diesem Tag würde ich mal die Erste von uns sein, die heult. Leon sieht mittlerweile beinahe ängstlich drein. Sicher glaubt er, er sei in einem Irrenhaus gelandet, das noch mehr Schrecken birgt, als seine Mutter es ihm ausgemalt hatte.

Plötzlich spüre ich einen ganz starken Drang, einfach alles stehen und liegen zu lassen. Nicht umdrehen. In die Wohnung flüchten. Decke über den Kopf ziehen. Dagegen spricht natürlich das Geburtsdatum auf meinem Pass, das behauptet, dass ich hier die Erwachsene sei. Und als Mutter kann ich mich dieser Vorgabe nicht so einfach entziehen. Mir bleibt nur, mich zu bücken – äußerlich ruhig, innerlich bereits kollabiert. Ich sammle die verstreuten Lebensmittel ein und murmle eine Entschuldigung an Max. Im Gegenzug enthebt er mich der Verpflichtung, auch Leon meinen Zustand irgendwie zu erklären. „Mama ist doof“, sagt mein Sohn und wischt sich die Tränen weg.

Das scheint Leon zu genügen. Er zuckt mit den Achseln und wirkt wieder etwas entspannter. So einfach ist das unter Männern. Max braucht mich einfach nur ein bisschen zu beleidigen und schon zieht der Anflug eines Lächelns über das Gesicht von Pauls Sohn. Dass ich nicht mal Minderjährigen auch nur einen Funken Respekt einflöße, macht mich innerlich zur Furie. Mit verkrampftem Grinsen sammele ich noch Joghurt und Kiwis ein. Warum nur hatte ich nicht an meinen ökologisch korrekten Mehrwegbeutel gedacht? Nun hatte ich den viel zu großen Einkauf in eine viel zu kleine Plastiktüte stopfen müssen. Mein schlechtes Gewissen über die miese Klima-Bilanz war so groß, dass ich es nicht gewagt hatte, zwei der bösen Kunststoff-Weltvernichter zu fordern.

„Na kommt, ihr Lieben“, sage ich widerwärtig heiter. „Gehen wir doch erst mal alle rein.“

Die letzten Worte presse ich durch die Zähne, die ich nicht ganz auseinanderbekomme, weil ich mein Kinn als Stabilisator gegen den wackeligen Stapel mit Lebensmitteln in meinen Armen drücken muss. Während ich umständlich einhändig aufschließe, fällt natürlich dennoch alles hinunter. Ich schiebe die Jungs durch die Tür und mache mich wieder ans Einsammeln. Schließlich ist es vollbracht und wir stehen alle drei gemeinsam im Flur.

„Wartet mal kurz, ich muss ganz schnell etwas erledigen, ja?“, säusle ich und habe immer noch diese klebrige Mami-ist-die-Beste-Stimme. Ich lasse die Jungs in ihren dicken Jacken auf dem Flur stehen und flitze in mein Zimmer. Die Tür, die sich hinter mir schließt, macht eines der schönsten Geräusche, die ich an diesem Tag gehört habe. Na, da sind sie ja, die Tränen.

Ich atme langsam ein und aus. Ich atme noch mal langsam ein und aus. Ich atme …

„Miau, miau, ich bin eine Katze.“ Das ist Max Stimme im Flur.

Scheiß auf die Achtsamkeit. Ich boxe mehrmals auf das Kopfkissen ein. Wäre es ein Mordopfer, würde der Fachmann von Übertötung sprechen. Paul, warum hast du mir nicht gesagt, dass dein Sohn in den Herbstferien zu uns kommt? Knuff. Wieso bist du nicht zu Hause, wenn dein minderjähriges Kind hier aufschlägt? Knuff, knuff. Wieso bin ich so verdammt unfähig? Knuff, knuff, knuff.

Schon besser. Womöglich ist alles nur halb so wild. Pauls Handy hat seit zwei Tagen eine Macke. Vermutlich wusste er nicht, dass Leon auftauchen würde, sonst hätte er ganz sicher erwähnt, dass wir zumindest vorübergehend zu fünft in einer Viereinhalbzimmerwohnung leben würden. Zwei der Zimmer bewohnen Paul und seine kleine Tochter Sophie. Ja, seine Tochter heißt Sophie. Vermutlich ist Tine bei der Namenswahl so ähnlich vorgegangen wie ich. Sophies sind zumindest oft in der näheren Umgebung von Maximilians anzutreffen – gemeinsam mit Katharina und Alexander dem Großen. Das dritte Zimmer gehört mir und in dem angrenzenden halben hat Max seine kleine Piratenhöhle.

Die Küche und das Wohnzimmer benutzen wir gemeinsam. Tagsüber spielen hier die Kinder und abends nutzen Paul und ich es immer wieder mal, um Sofa-Binge-Watching zu betreiben. Der Extremsport für Menschen wie Paul und mich, die mit neunundzwanzig beziehungsweise mit dreiunddreißig schon viel zu erschöpft sind, um im dunklen Hof an die Tür eines wahnsinnig geheimen und angesagten Klubs zu klopfen, und außerdem schlafende Kinder hüten müssen. Manchmal ersetzen wir einander aber auch den Babysitter, sodass zumindest einer von uns dann etwas Erwachsenes unternehmen kann, das aber nicht länger als bis um 23 Uhr dauern darf – um 6 Uhr ist die Nacht vorbei.

Klar, dass Paul und ich uns nicht etwa beim Ausgehen kennengelernt haben, sondern im Rahmen der musikalischen Frühsterziehung. Das ist eine dieser Veranstaltungen, die nur dafür da sind, Menschen in Elternzeit von der Straße zu holen und ihren Kindern beizubringen, dass es wehtut, wenn man anderen ein Instrument auf den Kopf haut. Dabei konnten Max und Sophie das besonders gut – mit dem Xylofon sogar in C-Dur.