Drittes Buch: Windstärke 3

Windstärke 3: Eine schwache Brise, Blätter und dünne Zweige bewegen sich. Wimpel werden gestreckt. Windgeschwindigkeit in 10 Meter Höhe: 12–19 km/h.
Beaufortskala

Hätte man mir vor zwei Wochen gesagt, dass ich so bald mit einem atemberaubenden Typen Arm in Arm an der Alster entlangschlendere, hätte ich ein ironisches Schnauben von mir gegeben. Ich hätte es nicht geglaubt – und, um ehrlich zu sein, nicht einmal erhofft. Denn gerade erscheint mir mein Leben aufregend genug. Nicht mal die kalte Luft verschafft mir einen klaren Kopf. So weiß ich nicht, ob ich ihretwegen bibbere. Oder weil es so wahrscheinlich ist, dass wir uns gleich küssen. Oder weil ich weiß, dass wir selbst dann keine Zukunft hätten, wenn der Kuss hält, was mir Jonas’ Nähe verspricht.

Als er plötzlich stehen bleibt, lächele ich dennoch mit halb geschlossenen Augen, bereit, seine Lippen auf meinen zu spüren.

„Das gibt es doch gar nicht“, ruft er laut. „Schau mal, die Ente ist festgefroren.“

Überrascht öffne ich die Augen wieder und folge erst seinem Blick und dann meinen Ohren. Das laute Schnattern war mir bis eben gerade tatsächlich entgangen. Doch nun sehe ich das arme Tier im schwachen Licht der Laterne. Aufgeregt schlägt es mit den Flügeln, versucht, sich aufzurichten, und sinkt wieder auf das Eis. Nicht fortfliegen zu können, muss ihm schreckliche Angst machen, denke ich besorgt.

„Was machen wir denn jetzt?“, frage ich.

Jonas lacht. „Ich wusste gar nicht, dass es überhaupt möglich ist, dass Enten einfrieren.“

Ich auch nicht. Bis zu diesem Moment habe ich noch nie darüber nachgedacht, aber man würde doch davon ausgehen, dass die schlaue Mutter Natur eine Art Frostschutz in Entenfüße und -gefieder eingebaut hat.

„Wir müssen versuchen, sie zu befreien“, sage ich.

Zweifelnd schaut Jonas den Hang hinunter, der uns vom Wasser trennt. „Das ist mindestens einen Meter vom Ufer entfernt. Und wenn ich mir das Eis so anschaue, sieht es nicht besonders trittsicher aus.“

Ich denke kurz nach. „Dann müssen wir eben die Feuerwehr rufen.“

„Die Feuerwehr? Wegen einer Ente?“ Jonas sieht mich ungläubig an.

Ich möchte nicht, dass er mich für ein albernes Mädchen mit einem Zimmer voller Pferdeposter hält, das bei jedem Katzenfoto entzückt quietscht. Beides trifft nicht zu, dennoch kann ich eine gequälte Kreatur nicht einfach ihrem Schicksal überlassen.

„Retten die nicht auch Katzen von den Bäumen?“, frage ich. „Dann können die doch wohl auch eine Ente aus dem Eis befreien. Hast du dein Handy dabei? Bei meinem ist der Akku leer“, flunkere ich, weil es noch nicht so lange her ist, dass ich das letzte Mal die Feuerwehr alarmiert habe – nämlich als ich aus Versehen den Balkon von Frau Holle in der Wohnung über uns in Brand gesetzt habe. Möglicherweise haben sie meine Nummer abgespeichert mit dem Vermerk Die Verrückte aus Barmbek. Muss ja nicht sein, dass sie aus dem Einsatzfahrzeug springen und mich darauf ansprechen. Ich möchte vor Jonas natürlich den besten Eindruck machen.

„Es ist dir ernst“, stellt er verblüfft fest und lacht.

„Und dir ist es ernst, das arme Tier einfach zurückzulassen“, entgegne ich ein wenig empört.

Er räuspert sich, findet aber wieder in seinen Gentleman-Modus. „Also gut. Dann rufe ich jetzt einfach mal die Feuerwehr an.“

Er fischt umständlich sein Handy aus der Manteltasche und wählt rasch die 112. Während er die Lage schildert, ist Jonas deutlich anzumerken, dass ihm die ganze Angelegenheit sehr unangenehm ist.

„Offenbar sind sie sogar auf solche Einsätze vorbereitet“, sagt er am Ende erstaunt. „Ich hatte eigentlich erwartet, die Frau würde wütend auflegen.“

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Warum sollte sie das tun?“

„Es ist nicht gerade ein Wohnungsbrand, bei dem drei der fünf Kinder noch im Schlafzimmer feststecken, oder?“, erwidert er trocken.

Da hat er natürlich recht. Menschen in Gefahr sollen natürlich zuerst gerettet werden, da bin ich ganz seiner Meinung. Aber nur, falls in Hamburg gerade keine Wohnungsbrände stattfinden, könnten die freundlichen Jungs in den roten Uniformen doch wohl auch eine arme Ente aus ihrer misslichen Lage befreien.

Es dauert keine Viertelstunde, da taucht der Feuerwehrwagen auf. Auf Blaulicht und Sirene wurde verzichtet, aber immerhin springen gleich drei Männer heraus. Erleichtert stelle ich fest, dass mir keiner von ihnen bekannt vorkommt. Nach ein paar kurzen Grußfloskeln und erneuten knappen Beschreibungen der Lage von unserer Seite schlüpft einer von ihnen in einen merkwürdigen Plastikanzug, der an die der Gerichtsmediziner in Fernsehkrimis erinnert.

„Was machen Sie denn jetzt?“, fragt Jonas irritiert.

„Der wasserdichte Anzug ist speziell für Eisrettungen“, erklärt er uns. Ein weiterer seiner Kollegen verbindet gerade zwei Teile einer Steckleiter. „Die ist etwas aus der Mode gekommen“, sagt er lächelnd. „Aber für Eisrettungen immer noch das Beste. So wird das Gewicht auf eine größere Fläche verteilt.“

Ich werfe Jonas bedeutungsvolle Blicke zu, die ihn darauf hinweisen sollen, dass diese hart arbeitenden Männer es offenbar im Gegensatz zu ihm nicht absurd finden, mitten in der Nacht eine Ente zu retten – möglicherweise sind sie aber auch nur professionell genug, es geschickt zu kaschieren.

Doch Jonas reagiert nicht – ein wenig fassungslos, aber auch gebannt verfolgt er das Geschehen, bis schließlich wieder sein Humor siegt. „Meinst du, wir könnten uns irgendwann mal unter normalen Umständen treffen?“ Zärtlich tippt er mir an die Nasenspitze.

Ich lache erleichtert. „Du meinst, ganz ohne Blut im Gesicht und ohne festgefrorene Ente?“

„Komm, du hattest doch auch ein bisschen Spaß – so als halb nackter Zombie, oder?“

„Sicher, ich habe es genossen. Aber nur, weil ich jetzt sagen kann, wir haben uns beim Film kennengelernt.“ Ich lache leise. „Für dich mag das ja der Normalzustand sein, du bist Schauspieler. Aber wir Meteorologen kommen anderen Menschen üblicherweise nicht vor laufenden Kameras näher, es sei denn, wir werden Wetterfee beim Fernsehen.“

Na gut, wir haben uns nicht direkt beim Film kennengelernt. Genau genommen haben wir uns vor den Türen der

Arbeitsagentur getroffen. Wo sich zwei Arbeitslose eben begegnen. Aber das erste Mal etwas mehr Zeit miteinander verbracht haben wir während der endlosen Wartezeiten als Komparsen am Set eines Zombie-Films.

Er lächelt. „Wir haben uns also beim Film kennengelernt? Das klingt ja ganz so, als wäre dies der Beginn einer gemeinsamen Geschichte.“

Zum Glück sieht er im Dunklen nicht, dass ich erröte. Tapfer halte ich seinen Blickkontakt, der zwar wortlos, aber so vielsagend ist, dass ich beinahe nervös kichere, was wohl kaum sehr sexy wäre.

„Ich will ja wirklich nicht stören“, unterbricht uns der Feuerwehrmann in dem seltsamen Anzug grinsend. „Aber vielleicht interessiert es Sie ja zu hören, dass Ihre Ente wieder flattert.“

Dankbar für die Ablenkung wende ich mich dem Fluss zu, aber von unserem kleinen Schützling ist schon nichts mehr zu sehen. Er hat es also tatsächlich geschafft.

Nachdem die Männer wieder verschwunden sind, schaut Jonas mich immer noch an. „Wo waren wir gerade?“, murmelt er. „Ich meine, bevor es hier so bizarr wurde?“

Da waren wir genau an der Stelle, an der mir klar wurde, dass er mich noch an diesem Abend küssen wird, denke ich mit wohligem Schauer.

Tatsächlich zieht er mich näher zu sich heran und senkt seinen Kopf. Mit geschlossenen Augen strecke ich mich ihm entgegen. Ich tue es ganz langsam, um den perfekten Moment vor dem ersten Kuss voll auszukosten. Schon oft in meinem Leben war nämlich dieser Teil das Beste am Ganzen, dem große Ernüchterung folgte. Doch ich habe Glück – oder ist es in meiner jetzigen Lage eher ein Unglück? –, Jonas’ Kuss ist alles, was ich mir erhofft habe. Erst sanft, dann immer begehrlicher, bis schließlich das Denken aussetzt und der Körper die Kontrolle übernimmt. Als wir uns voneinander lösen, bin ich derartig durcheinander, dass ich einfach das sage, was mir als Erstes durch den Kopf geht.

„Und ich dachte, leuchtende Nachtwolken könnte man nur im Sommer sehen.“ Wirklich, es flimmert vor meinen Augen.

„Du bist wirklich witzig, Lisa“, sagt er leise.

„Eigentlich hatte ich auf atemberaubend und verführerisch gehofft“, sage ich und küsse ihn wieder.

„In deinem Fall scheint sich das nicht auszuschließen“, raunt er. „Heute lasse ich dich aber nicht allein nach Hause fahren. Viel zu unsicher. Einer muss ja auf dich aufpassen, sonst stolperst du noch über hinkende Frösche oder ertrinkende Fische. Ich bringe dich jetzt zurück.“

Das ist der Moment, denke ich bang, in dem ich ihm endlich von meinem vierjährigen Sohn Max erzählen muss. Oder in dem ich mich elegant von ihm losmache und mir eine Ausrede einfallen lasse, um allein nach Hause zu fahren. Vielleicht sollte ich sogar beides tun. Ich seufze, denn eigentlich ist der Gedanke verführerisch, noch ein Weilchen seine offensichtliche Begeisterung zu genießen.

„Ich denke, ich sollte alleine nach Hause gehen.“ Ich zögere einen Moment, um noch ein wenig Zeit zu gewinnen, doch dann beschließe ich, ihm reinen Wein einzuschenken: „Dort wartet nämlich jemand auf mich, der mir sehr wichtig ist.“

„Okaaaaaaayyyyy …“, sagt Jonas irritiert. „Mit dir wird es ja wirklich nicht langweilig. Ehrlich gesagt bin ich heute nicht auf eine Prügelei mit einem anderen Mann eingestellt. Dann fährst du vielleicht wirklich besser allein.“

Es sind gar nicht so sehr seine Worte, vielmehr fühlt sich sein vorwurfsvoller Blick wie eine eiskalte Dusche an. Nicht dass ich ihm die Reaktion verübeln könnte, aber dennoch bahnt sich unaufhaltsam und ein wenig schmerzhaft die Enttäuschung ihren Weg in meinen grummelnden Bauch. Verlegen lächele ich ihn an. „Tut mir echt leid, wenn du enttäuscht bist, aber er ist wirklich ein toller Typ. Und im Mai wird er schon fünf Jahre alt.“

Sein Mienenspiel ist so bewegt wie Wolken an einem sehr windigen Tag, doch am Ende weichen Licht und Schatten einem beruhigend gefassten Ausdruck. „Du hast ein Kind?“

Ich nicke.

„Wow“, sagt er und fährt sich durchs Haar. „Cool … denke ich. Irgendwie. Das hätte ich nicht gedacht, bist du nicht ein wenig jung dafür?“

„Ich bin neunundzwanzig, also schon ein ganzes Weilchen fruchtbar genug, um ein Kind zu bekommen. In sechs Jahren wäre ich sogar schon Spätgebärende“, sage ich in einem scherzhaften Tonfall.

„Aber er ist doch jetzt nicht etwa alleine zu Hause?“

Hach, seine Besorgnis ist beinahe rührend.

„Unsinn. Denkst du, ich bin eine verantwortungslose Rabenmutter? Ich habe dir doch erzählt, dass ich in einer WG lebe. Mein Mitbewohner hat selbst Kinder und wir spielen gerne füreinander den Babysitter.“

Er scheint darüber nachzudenken. Vermutlich überlegt er, ob es sehr unangemessen ist, eine junge Mutter in einer eisigen Februarnacht einfach alleine stehen zu lassen und die Beine in die Hand zu nehmen.

Er scharrt mit der Fußspitze im verschneiten Gras. „Ich habe nichts gegen Kinder“, sagt er schließlich und scheint darüber fast so überrascht wie ich zu sein.

„Schön“, sage ich fröhlich. „Dann kannst du dich gerne mal wieder bei mir melden.“

Ich drehe mich um, stapfe von dannen und bin von meinem mördercoolen Abgang selbst ganz beeindruckt.

„Lisa?“, ruft er plötzlich hinter mir.

Ich drehe mich um und schon hat er mich eingeholt, um mich wieder zu küssen. „Vielleicht sollten wir dann besser zu mir gehen?“

Er macht es einem wirklich nicht leicht. Ich seufze schwer.

„Ich vermute, das heißt, dass du wirklich gehen willst?“, fragt er lächelnd und spielt sanft mit einer meiner nur noch kinnlangen Haarsträhnen. Ich habe mir an diesem Morgen beim Friseur einen neuen Schnitt gegönnt und bin noch unsicher, weil er viel kürzer ist als alles, was ich bisher getragen habe. Föhnen musste ich leider selbst, weil ich eigentlich keine Kohle für solche Eitelkeiten habe. Doch wenn mein widerspenstiges Haar einen Vorteil hat, ist es, dass es sich von allein in mittlerweile wieder natürlich hellbraune Wellen legt, die in dieser Länge endlich einmal sogar gepflegt aussehen. Aber Männer bevorzugen grundsätzlich lange Haare, oder?

„Ja“, sage ich, so fest ich kann. Unter anderen Umständen hätte ich ihn nun unmöglich zurückweisen können, doch so ein Kind weckt die Widerstandskraft enorm. Paul ist ein so großartiger Babysitter, dass ich manchmal befürchte, dass Max in ihm mittlerweile eine Art Vater sieht. Der richtige ist, ohne Spuren zu hinterlassen, aus unserem Leben verschwunden und jobbt derzeit, soweit ich weiß, auf Schaffarmen in Neuseeland an der Seite einer süßen, kinderlosen Studentin namens Katy. Hat mir eine Freundin erzählt, die jemanden kennt, der mit ihm bei Facebook befreundet ist. Doch so bedenklich gut Paul stattdessen die Rolle als Mäxchens Männervorbild meistert, würde es mir gar nicht gefallen, wenn der Kleine mitten in der Nacht aus einem blöden Traum erwacht und vergeblich nach seiner Mama ruft. Auch damit würde Paul umgehen können, doch ich bin noch nicht so weit, dem Kleinen zu sagen, dass es eine Welt außerhalb von der behaglichen, winzigen gibt, die er und ich miteinander teilen.

Nach einem letzten Kuss winde ich mich deshalb aus Jonas’ Umarmung und eile durch Nacht und Wind, um nach Hause zu gelangen. Erst als ich schon auf dem Bahnsteig stehe, meldet sich mein nutzloses Reptilienhirn, das selbst Gutes nach seiner potenziellen Gefahr abklopfen muss. Wenn Jonas behauptet, er habe nichts gegen Kinder – was meint er dann eigentlich damit? Meint er, dass er sich eine Beziehung mit der Mutter eines Kindes vorstellen kann? Oder dass er sich gelegentlichen Sex mit einer Mutter vorstellen kann, solange sie bloß das Balg von ihm fernhält?

Leider fällt mir an dieser Stelle sofort wieder ein, dass es überhaupt keine Rolle spielt, was er denkt. Wir werden niemals ein Paar, weil ich demnächst von einem anderen schwanger sein werde, und zwar von dem Ehemann meines Bruders. Und so cool ist nicht mal Jonas, dass er das wegstecken könnte. Also lautet die entscheidende Frage nicht, was Jonas von mir will, sondern: Will ich das nehmen, was ich bekommen kann – den gelegentlichen Sex, der dem Kuss nach zu urteilen eine echte Bereicherung wäre –, oder sollte ich alles daransetzen, weitere Treffen mit Jonas zu vermeiden? Denn leider würden ja bei jeder körperlichen Begegnung doch nur diese blöden Bindungshormone ausgeschüttet, die einem weismachen, man läge in den Armen seiner großen Liebe, obwohl es sich nur um den Drang nach genetischem Fortbestand handelt, der unsere Spezies immer wieder auf solche Irrwege schickt.