Dr. Norden Bestseller – 253 – Lass uns gemeinsam vergessen

Dr. Norden Bestseller
– 253–

Lass uns gemeinsam vergessen

An Billis Seite vergaß Jochen das Leid

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-425-6

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Als Sabine Zöllner das Sprechzimmer von Dr. Norden betrat, erschrak der Arzt zutiefst. Er kannte Sabine als eine immer fröhliche und sehr gesunde Frau, und wenn sie mal ärztlichen Beistand brauchte, handelte es sich um Nebensächlichkeiten, aber mit ihren Kindern Florian und Trixi kam sie nur zu ihm.

Als Dr. Norden Sabine so erschrocken anblickte, begann sie wieder zu weinen, und man sah es ihr an, daß sie viel geweint hatte.

»Ist etwas mit den Kindern?« fragte Dr. Norden behutsam.

Sie schüttelte den Kopf. »Heidi, sie ist… sie lebt nicht mehr, Dr. Norden, unsere liebe geliebte Heidi.«

Dr. Norden erstarrte. Heidi Kelling war die Schwägerin von Sabine Zöllner, mit deren Bruder Jochen überaus glücklich verheiratet. Vor sechs Wochen hatte sie sich strahlend von Dr. Norden verabschiedet, da ihr Mann, der ein sehr bekannter Fotoreporter war, ein glänzendes Angebot von einem Weltkonzern in England angeboten bekommen hatte. »Aber unser Baby kommt hier zur Welt«, hatte sie versichert. »In acht Wochen melde ich mich wieder bei Ihnen.« Sie war gesund und munter gegangen. Es hatte während der Schwangerschaft keine Komplikationen gegeben.

Sabine schluchzte herzzerreißend, und Dr. Norden hatte Mühe, sie zu beruhigen.

»Wie ist das geschehen?« fragte er heiser.

»Sie ist bei Glatteis ausgerutscht. Sie bekam Wehen, eine Frühgeburt bahnte sich an«, erklärte Sabine tonlos. »Sie gaben ihr eine so hoch dosierte Spritze. Sie wachte nicht mehr auf. Gestern ist sie gestorben, und das arme Würmchen ist grad fünf Tage auf der Welt. Wie verzweifelt Jochen ist, können Sie sich wohl vorstellen, Dr. Norden. Mutti ist nach London geflogen. Ich kann doch nicht weg, und ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.«

»Ist das Kind lebensfähig?« fragte Dr. Norden.

»Anscheinend, aber Jochen wird das egal sein, wenn er seine Heidi nicht mehr hat. Hoffentlich tut er sich nichts an.«

»Sie dürfen nicht gleich das Schlimmste denken, Frau Zöllner«, sagte Dr. Norden tröstend. »Es ist freilich ein schlimmer Schock, aber die Zeit heilt viele Wunden. Sie nehmen jetzt mal ein Beruhigungsmittel. Sie zittern ja, und Sie müssen an Ihre Kinder denken.«

»Wir würden das Baby ja zu uns nehmen«, sagte sie leise. »Ich kann doch keine Kinder mehr bekommen. Wenn wir doch nur mit Jochen reden könnten.«

»Die Möglichkeit wird sich schon ergeben. Ihre Mutter hat noch nie versagt in so schwierigen Situationen.«

»Und wir fragen uns oft, woher sie die Kraft nimmt, nach allem, was sie mitgemacht hat.«

Das hatte sich Dr. Norden auch manches Mal gefragt. Irmtraut Kelling war sechsundfünfzig Jahre alt. Mit zweiundzwanzig Jahren hatte sie geheiratet und war glücklich geworden mit ihrem Klaus. Vier Kinder hatte sie ihm geschenkt, und zwanzig Jahre hatte kein Schatten dieses Glück getrübt. Vielleicht zehrte sie später von diesen Jahren, denn dann brach das Unglück über sie herein.

Sie hatten ein hübsches Ferienhaus südlich von Rom von den recht vermögenden Großeltern Kelling geschenkt bekommen, allerdings mit der Auflage, daß diese dann mit ihnen ein paar Ferienwochen dort verbrachten, damit sie auch mehr mit den Enkeln beisammen sein konnten.

Irmtraut Kelling war mit Jochen und Sabine, die noch schulpflichtig waren, vorher schon per Auto gestartet, weil sie noch einige Sachen und auch Konserven mitnehmen wollten. Klaus sollte mit den beiden Älteren, Jürgen und Kathrin, per Flugzeug nachkommen. Die Großeltern hatten sich dann auch zu diesem Flug entschlossen, weil die Bahnfahrt, die sie sonst vorzogen, zu beschwerlich für sie wurde.

Die Maschine war abgestürzt. Irmtraut Kelling hatte mit Jochen und Sabine vor sechs Särgen gestanden. Jochen war sechzehn, Sabine vierzehn Jahre alt gewesen. Welche Kraft, welche Liebe zu den noch lebenden Kindern gehörte dazu, daß diese Frau, gerade knapp dreiundvierzig Jahre alt, dieses Leid bewältigen konnte.

Dr. Norden war dies in Sekundenschnelle durch den Sinn gegangen, und Sabine sagte leise: »Wir werden vom Unglück verfolgt, Dr. Norden. Ich werde nur noch in Angst um meinen Mann, meine Kinder, um Mutti und Jochen leben.«

Und darüber kann man verrückt werden, dachte er. Er legte seine Hände leicht auf ihre Schultern. »So dürfen Sie nicht denken, Frau Zöllner. Bringen Sie auch so viel Mut auf wie Ihre Mutter. Sie sind ihr doch so ähnlich.«

»Rudy sagt es auch«, flüsterte sie. »Flo und Trixi begreifen es ja noch nicht. Mutti hat immer gesagt, daß unsere Kinder erst mal von alldem Unglück erfahren sollen, wenn sie erwachsen sind. Erst dann, wenn sie auch nicht mehr da ist.« Sabine schluchzte wieder auf. »Aber wir können uns gar nicht vorstellen, daß sie nicht bei uns sein könnte, selbst Rudy nicht. Er liebt Mutti viel mehr als seine eigene.«

Es war gut, daß wenigstens Rudolf Zöllner einigermaßen die Nerven behielt. Es war gewiß nicht so, daß sich Irmtraut Kelling stark fühlte, als sie sich von ihrem Schwiegersohn, der sie zum Flughafen begleitet hatte, verabschiedete. Ihr war elend zumute.

»Paß auf Bine auf«, sagte sie, »und auf die Kinder. Ich rufe an.«

»Komm gut wieder heim, Mutschka«, sagte Rudolf Zöllner weich und küßte sie auf beide Wangen.

Irmtraut Kelling war groß und schlank und eine Erscheinung, die man nicht übersehen konnte. Ihr Schicksal hatte auch ihr Gesicht geprägt, aber es war ein faszinierendes Gesicht mit großen nachtdunklen Augen, einem klassisch zu nennenden Profil, und auch die Falten, die keineswegs übertüncht und verleugnet wurden, machten es noch lebendiger.

Ihr war viel genommen worden im Leben, unsagbar viel, aber für sie galt auch die Volksweisheit, daß man mit einem Geldpolster doch leichter über Schmerz und Leid hinwegkommen könnte.

Sie hatte sich selbst manchmal gefragt, ob sie überhaupt noch leben würde, wenn nicht einmal mehr das Geld dagewesen wäre, Jochen und Sabine über die Runden zu bringen.

Jürgen und Kathrin waren die beiden Leuchten gewesen unter den Kindern. Sie studierten, hatten große Pläne. Jochen hatte für die Schule nie viel übriggehabt, hatte sie wirklich nur bis zum Abitur, seiner Mutter zuliebe, absolviert, um sich dann ganz seiner Leidenschaft, dem Fotografieren, zu widmen. Damit hatte er es jedoch schnell zu Erfolg und einem Namen gebracht, und die bezaubernde Heidi, die er dann bald geheiratet hatte, war ihm dabei nicht nur mit ihrem ausdrucksvollen und fotogenen Gesicht hilfreich gewesen, sondern auch mit dem gewissen Etwas, das ihn vorantrieb, weil er ihr alles bieten wollte.

Irmtraut hatte nüchtern gedacht. Sie hielt das Vermögen zusammen. Sie nahm dann selbst auch die Stelle ihres Mannes ein in der Kommanditgesellschaft, und sie behauptete sich auch, als man sie drastisch übers Ohr hauen wollte, nach dem Motto, daß jeder sich selbst der Nächste sein solle.

Sehr geschickt hatte sie taktiert, und in der Hochkonjunktur war sie dann ausgestiegen und hatte sich auszahlen lassen.

Sabine hatte nämlich den jungen und auch sehr tüchtigen Exportkaufmann Rudolf Zöllner kennengelernt, und als es beschlossen war, daß sie heiraten würden, als sich Irmtraut ganz genau über ihn informiert hatte, da stieg sie in die neugegründete Firma ein. Und das Risiko, das sie einkalkuliert hatte, lohnte sich. Für Irmtraut lohnte sich auch wieder das Leben, als sie dann zwei Enkelkinder betreuen konnte. Und als Jochen seine Heidi geheiratet hatte und sie auch ein Baby erwartete, war das Glück für Irmtraut wieder einmal vollkommen gewesen.

Als sie nun im Flugzeug saß, und über all dies nachdachte, nahm sie sich vor, nie mehr an das Glück zu glauben, sondern wirklich nur noch von einem Tag zum andern zu leben und alles so zu ertragen, wie es ihr vom Schicksal auferlegt wurde.

Irmtraut Kelling wurde in London nicht erwartet, und damit hatte sie auch nicht gerechnet. Aber sie kannte die Stadt.

Sie setzte sich in ein Taxi, gab die Adresse von Jochen an und legte sich während der Fahrt zurecht, was sie ihm sagen wollte. Das war überflüssig, denn niemand öffnete auf ihr Läuten.

Es kam dann ein Mann mittleren Alters aus einer anderen Wohnung, den sie fragte, ob er wüßte, wo Jochen sei. Ihre guten Sprachkenntnisse halfen ihr auch weiter, denn sie konnte auch übersetzen, was ihr erwidert wurde.

Es sei ein sehr trauriges Ereignis, das alle schwer erschüttert hätte, erklärte ihr der Mann, und Mr. Kelling würde jetzt wohl im Hospital oder auf dem Friedhof sein. Er war überaus höflich und bot Irmtraut dann sogar an, sie zum Hospital zu fahren.

Irmtraut nahm dieses Angebot auch an, da ihr Mr. Ellis, so stellte er sich vor, sagte, daß das Hospital nur zehn Minuten entfernt läge und er ohnehin in diese Richtung fahren müsse. Er benahm sich auch sehr taktvoll und zeigte sich nicht geschwätzig.

Das Hospital war ein graues, unfreundlich wirkendes Gebäude, und Irmtraut dachte für sich, daß dies allein schon auf eine werdende Mutter deprimierend wirken müsse.

Jochen war auch nicht hier, aber sie konnte mit dem Chefarzt sprechen, der einen sehr deprimierten Eindruck machte und ihr zuerst versicherte, daß die Operationsschwester bereits suspendiert worden sei.

Dadurch würde ihre Schwiegertochter auch nicht mehr lebendig, erklärte Irmtraut und fragte, was ihr Sohn angeordnet hätte.

Die Verstorbene würde nach München überführt und dort beigesetzt werden, erfuhr sie. Das hätte Mr. Williams, der Chef von Mr. Kelling, bereits alles geregelt.

»Kann ich das Baby sehen?« fragte Irmtraut.

»Selbstverständlich. Aber Mr. Kelling hat es bereits zur Adoption freigegeben«, bekam sie zur Antwort.

»Das kommt überhaupt nicht in Frage. Er ist augenblicklich nicht zurechnungsfähig«, erwiderte Irmtraut Kelling sehr energisch. »Ich werde mit ihm reden. Das Baby bleibt natürlich bei uns.«

»Wir räumen in solchen Fällen immer eine Überlegungszeit von sechs Wochen ein«, erklärte der Arzt. »Dann kann man auch absehen, ob das Kind sich normal entwickelt, und außerdem liegen so viel Bewerbungen für Adoptionen vor, daß man die Anwärter genau prüft.«

Irmtraut konnte das Kind sehen. Es lag nicht mehr im Inkubator, sondern auf der Säuglingsstation, die einen sehr ordentlichen Eindruck machte, in einem Bettchen.

Es war ein zartes kleines Mädchen. Irmtraut wurde sofort an Sabine erinnert, die auch die Zarteste und Kleinste ihrer Kinder gewesen war. Am liebsten hätte sie das Baby gleich aus dem Bettchen und mitgenommen. Aber sie wollte jetzt erst ihren Sohn finden und sprechen, und als sie zum zweitenmal zu seiner Wohnung fuhr, war sie entschlossen, dort solange zu warten, bis er kam. Aber auf dem Weg bekam sie es mit der Angst, daß Jochen sich tatsächlich etwas antun könnte oder schon angetan hatte.

Wenigstens diese Angst erwies sich als überflüssig, denn als sie diesmal läutete, tat sich die Tür auf. Aber sie blickte in ein fremdes bleiches Gesicht mit leeren Augen, die sie befremdet anstarrten.

»Jochen«, sagte sie erschüttert.

»Mutti?« murmelte er. »Wieso bist du da, oder wo bin ich?«

»Ich mußte doch kommen«, sagte sie bebend, aber er wich zurück, als sie ihn umarmen wollte.

»Ich komme nicht mit«, flüsterte er. »Für mich ist alles vorbei. Meine Heidi ist mir genommen worden, mein ganzes Glück.«

»Aber du hast das Kind«, sagte sie.

»Ich will dieses Kind nicht«, stieß er hervor. »Was soll ich mit dem Kind, wenn meine Heidi nicht mehr lebt.«

Es war ein schwerer Augenblick in Irmtrauts Leben, der schwerste nach dem Drama vor vierzehn Jahren überhaupt. Aber sie wußte, daß sie sich ganz stark machen mußte.

»Jetzt will ich dir mal etwas sagen, Jochen, was du vielleicht nicht gern hören möchtest, weil du damals zu jung warst, um zu begreifen, was ich verloren habe, und weil man schneller vergessen kann, wenn man jung ist und auch glücklich ist. Ich habe vor sechs Särgen gestanden vor vierzehn Jahren. Ich habe nicht nur meinen über alles geliebten Mann verloren, der auch dein Vater war, sondern auch deine Geschwister Jürgen und Kathrin und deine Großeltern, und hätte ich sagen sollen, daß ich euch auch nicht mehr will, daß ich nicht mehr leben will?«

Er starrte sie blicklos an. »Ich bringe mich nicht um. Es ist mit Mr. Williams schon verabredet, daß ich nach Indien gehe, dann noch woanders hin, für lange Zeit. Vielleicht erwischt es mich auch.«

»Dazu konntest du dich also schnell entscheiden und auch dazu, dein Kind zur Adoption freizugeben«, sagte sie mit fester Stimme. »Was deine Mutter und deine Schwester empfinden, hast du nicht bedacht. Wir sind erschüttert. Wir haben Heidi auch geliebt, und ich weiß, was es bedeutet, geliebte Menschen zu verlieren. Jetzt frage ich mich tatsächlich, wieviel es dir bedeutet hätte oder auch nicht, wenn wir, Sabine und ihre Familie und ich umgekommen wären, und du Heidi dafür hättest behalten können.«

Sie wußte, wie hart das klang, aber sie wußte auch, daß es das einzige war, was ihn aufrütteln konnte.

»Du darfst so etwas nicht sagen«, stöhnte er.

»Und ich will von dir nicht hören, daß du dein und Heidis Kind aufgibst. Sie würde dich nicht mehr lieben, wüßte sie das. Du kannst gehen, wohin du willst, du kannst dich auch aus der Verantwortung schleichen, aber ich werde dafür sorgen, daß das Kind bei uns bleibt. Und ich meine, daß es richtig wäre, wenn du auch bei der Beisetzung von Heidi dabeisein würdest.«

»Ich kann es nicht, Mutti«, murmelte er.

»Ja, du kannst dich drücken, aber es wird dich dein Leben lang nicht loslassen, Jochen«, sagte sie. »Du wirst vielleicht einmal zur Ruhe kommen und dir dann immer Vorwürfe machen müssen, weil du versagt hast. Ja, versagt! Wir fühlen und wir leiden mit dir. Aber wir sind auch bereit, Heidis Kind zu lieben und für dieses Kind zu sorgen. Manche Männer, die in einer ähnlichen Situation waren wie du, empfinden ein Kind als Vermächtnis, weil es lebendig gewordene Liebe ist.«

»Für die Heidi sterben mußte.« Er wandte sich ab und ging zur Tür.