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Butler Parker
– 129 –

Der weiße Hai

Günter Dönges

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-433-1

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Sie freuten sich auf das kleine Intermezzo.

Die fünf jungen Männer, im Schnitt vielleicht knapp zwanzig Jahre alt, beobachteten ihr Opfer durch die Scheibe des Spielclubs. Dann nickten sie sich grinsend zu und verließen die Spielhalle, die vollgestopft war mit Musik- und Spielautomaten und sonstigem elektronischem Zeitvertreib. Die fünf schlenderten um ihr Opfer herum und warteten den günstigsten Moment ab.

Es handelte sich um einen seltsam gekleideten Mann undefinierbaren Alters. Er trug einen schwarzen, korrekt sitzenden Zweireiher, einen weißen Eckkragen und einen schwarzen Binder. Über seinem angewinkelten linken Unterarm hing ein altväterlich gebundener Regenschirm. Auf seinem Kopf saß eine schwarze Melone. Dieses Opfer war ganz offensichtlich ein hochherrschaftlicher Butler, der da gemessen seines Weges schritt und keine Ahnung hatte, was sich hinter seinem Rücken zusammenbraute.

Die fünf Männer waren fast wie in Uniform gekleidet. Sie trugen schmale, röhrenartige Lederhosen, Tennisschuhe und Lederwesten. Schwarz war die Grundfarbe ihrer Kleidung. Und schwarz mußten wohl auch ihre Seelen sein, denn die fünf jungen Männer hatten die Absicht, den Butler in den Staub zu treten.

Sie holten ihn an einer breiten Treppe ein, die hinunter zum Strand führte, bildeten einen Halbkreis und riefen ihr Opfer fast höflich an.

»Meine Herren?« Der Butler blieb stehen und wandte sich um. »Was kann und darf ich für Sie tun?«

»Bist schon einmal geflogen« erkundigte sich der Anführer der Gruppe fast freundlich. Seine Augen waren aber kalt.

»In der Tat, meine Herren«, erwiderte das Opfer würdevoll. »Es handelt sich dabei um einen Vorgang, den ich sehr zu schätzen weiß.«

»Biste auch schon mal ’ne Treppe runtergeflogen?« fragte der Anführer.

»Auch das«, lautete die Antwort.

»Solch einen Vorgang schätze ich allerdings kaum, wie Sie verstehen werden.«

Das Opfer der fünf jungen Männer machte einen völlig beherrschten Eindruck. Von Angst oder Nervosität war nichts festzustellen. Der Butler schien darüber hinaus keine Ahnung zu haben, in welcher Gefahr er sich befand. Die fünf jungen Männer, die irgendwie an heimtückische Ratten erinnerten, beschäftigten sich nicht mit dem Butler, um Konversation zu treiben.

»Willst mal erleben, wie schnell man ’ne Treppe nach unten schaffen kann?« erkundigte der Anführer sich inzwischen.

»Sie dürfen versichert sein, meine Herren, daß ich andere Interessen habe«, erwiderte das Opfer gemessen. »Aber möglicherweise sind Sie so gütig, mir dies zu demonstrieren.«

»Der wird frech«, sagte der nächste junge Mann empört.

»Lassen wir den Alten doch mal segeln«, meinte der übernächste.

»Sollte ich mir aus irgendeinem mir unbekannten Grund Ihren Unwillen zugezogen haben?« fragte das Opfer würdevoll. »Mir scheint, Sie haben etwas gegen einen alten, müden und relativ verbrauchten Mann.«

»Los, Opa, spring!« Der Anführer hatte die Geduld verloren und wollte endlich aktiv werden. Er hatte natürlich bemerkt, daß die Touristen und Feriengäste auf der Promenade sich bereits auf breiter Front abgesetzt hatten. Männer und Frauen jeden Alters standen längst im Schutz der Strandhotels oder hatten sich sogar ins Innere dieser Häuser zurückgezogen.

Man kannte Banden dieser Art.

Sie terrorisierten seit Wochen die Badeorte an der Südküste Englands und wurden von Tag zu Tag immer aufdringlicher und brutaler. Sie schienen die gesamte Küste bereits in ihren Besitz gebracht zu haben, und die Polizei war kaum in der Lage, etwas gegen sie zu unternehmen. Die Opfer hüteten sich, Anzeigen zu erstatten oder gar Personenbeschreibungen zu liefern.

»Wie darf und sollte ich Ihre Aufforderung interpretieren?« erkundigte sich der Mann, der wie ein hochherrschaftlicher Butler aussah. »Sie meinen, ich sollte über die Treppe nach unten springen?«

»Schlaues Kerlchen«, freute sich der Anführer mürrisch. »Los jetzt, Alter, sonst bring ich dir Schwung bei!«

»Sie werden hoffentlich verstehen, daß ich Ihrer Aufforderung nicht nachkommen möchte«, antwortete das Opfer höflich. »Wie leicht könnte man dabei einen gewissen gesundheitlichen Schaden nehmen.«

»Los, Jungens«, sagte der Anführer aufbrausend. »Gebt ihm Starthilfe!«

Auf dieses Signal hatten sie nur gewartet.

Während der Anführer gelangweilt zurücktrat, rückten die vier anderen jungen Männer dem müden, alten und relativ verbrauchten Mann auf den Pelz und langten brutal zu ...

*

»Wir stehen dicht vor einer Katastrophe«, sagte Sir Edward Lance mit bebender Stimme. »Wenn sich nur noch einige Vorfälle dieser Art wiederholen, werden die Feriengäste die Küste fluchtartig verlassen.«

»Zur Sache, mein Bester.« Agatha Simpsons Stimme klang ungeduldig. »Bisher haben Sie immer nur von Katastrophen gesprochen, ohne mir Details zu liefern. Zur Sache also, wenn ich bitten darf!«

Lady Agatha war das, was man eine stattliche Erscheinung nannte. Sie war groß, von junonischer Figur und hatte vor einigen Jahren beschlossen, ihr Alter, wenn überhaupt, mit »etwas über sechzig« anzugeben. Sie trug ein derbes Tweedkostüm, das wie ein Sack an ihr herunterhing. Ihre großen Füße befanden sich in derben Schuhen, die nicht gerade elegant aussahen. Unter ihrem Hut, der an den Südwester eines Seemanns erinnerte, schauten kleine, weiße Löckchen hervor.

Lady Agatha war eine reiche Dame, die mit dem Blut- und Geldadel der Insel verschwistert und verschwägert war. Sie pflegte diese Verwandtschaft jedoch nur oberflächlich, denn sie war eine abenteuerliche Natur, die Aktionen liebte und brauchte. Sie betätigte sich schon seit geraumer Zeit als Amateur-Detektivin und suchte darüber hinaus nach einem passenden Stoff, um endlich ihren Krimi-Bestseller zu schreiben.

Lady Agatha war eine liebenswertskurrile Persönlichkeit, die die Dynamik eines schweren Panzers besaß. Einmal in Fahrt geraten, war sie kaum zu stoppen. Sie konnte ungemein liebenswürdig sein, aber sie konnte auch fluchen wie ein Fuhrknecht. Begriffe wie Angst oder Vorsicht waren ihr fremd. Sie stolperte von einem verrückten Abenteuer ins andere und bekam eigentlich nie mit, wie gefährlich sie im Grund lebte. Darin erinnerte sie lebhaft an den legendären Reiter über den Bodensee.

Ihre Fahrt nach Bournemouth war nicht zufällig erfolgt. Sir Edward Lance hatte dringend um einen Besuch gebeten und ihr natürlich geneigtes Ohr gefunden. Listigerweise hatte er von einem sehr rätselhaften und unheimlichen »Fall« gesprochen.

»Worauf warten Sie eigentlich noch, Edward?« erkundigte sie sich grollend wie immer, was ihre dunkel gefärbte Stimme nur noch zusätzlich unterstrich. »Glauben Sie, ich hätte meine Zeit gestohlen?«

»Ich... Ich geniere mich fast, darüber zu sprechen«, schickte der Adlige voraus. Er war ein schlanker, großer, distinguiert aussehender Mann von etwa fünfunddreißig Jahren.

»Nun haben Sie sich nicht so! Was bedrückt Sie?« Lady Agatha versuchte sich in Mütterlichkeit, was ihr jedoch nur schlecht gelang.

»Hier an unserer Südküste treibt sich ein weißer Hai herum«, flüsterte Sir Edward und schaute unwillkürlich zur Tür.

»Ein weißer Hai?«

»Nur nicht so laut, Mylady«, bat Sir Edward händeringend.

»Den weißen Hai gibt es nur im Kino«, stellte Agatha Simpson energisch fest. »Und er bestand nur aus Plastik und viel Technik. Was soll also dieser Unsinn?«

»Der weiße Hai ist verschiedentlich gesehen worden, Mylady«, flüsterte Sir Edward weiter. »Es gibt da eine große Zahl von Augenzeugen. Erfreulicherweise hat die lokale Presse noch keine Notiz davon genommen.«

»Erzählen Sie der Reihe nach.« Agatha Simpson richtete sich auf. Ihre Augen glitzerten und zeigten großes Interesse.

»Dieser weiße Hai ist bisher hier in Bournemouth, Portland, Exmouth, Torquay und Paignton beobachtet worden. Also genau am schönsten Teil unserer Ferienküste. Dies muß man sich mal vorstellen! Ein Hai! Er soll so groß sein wie der aus dem Film, Mylady.«

»Existieren Fotos von ihm?«

»Bisher nicht. Er wurde relativ weit draußen gesehen. Die Beobachtungen stammen von Seglern. Aber es ist doch nur eine Frage der Zeit, bis dieses Monster sich an die Strände heranwagt. Ich darf gar nicht daran denken, was passieren wird, wenn mal ein Wassersportler angegriffen wird.«

»Wen haben Sie bisher informiert, Edward?« Agatha Simpsons Hände spielten mit dem großen Pompadour, der auf ihrem Schoß lag. Dieser perlenbestickte Handbeutel, wie ihn um die Jahrhundertwende die Damen trugen, glich schon fast einem kleinen Seesack, so üppig waren seine Formen.

»Wen ich informiert habe? Nun, die Küstenwache und die Polizei. Alles unter dem absoluten Siegel der Verschwiegenheit, wie Sie sich vorstellen können. Falls die Öffentlichkeit davon erfährt, können wir hier an der Küste einpacken. Ich weiß, wovon ich spreche, Mylady. Als Vorsitzender der Seebädergemeinschaft habe ich so etwas schon mal vor Jahren erlebt. Damals trieben sich ein paar vorwitzige Heringshaie nahe der Küste herum. Die Feriengäste reisten in Massen ab und brachten unsere Hotels an den Rand des Ruins.«

»Warum haben Sie ausgerechnet mich alarmiert?« wollte die ältere Dame wissen. »Soll ich den weißen Hai etwa harpunieren?«

»Das auch, Mylady«, antwortete Sir Edward. Er griff nach einem geöffneten Briefumschlag, der auf seinem Schreibtisch lag, und zerrte mit nervösen Bewegungen einen Brief hervor, den er der Lady reichte. »Lesen Sie, Mylady! Der Text wird alles erklären.«

Agatha Simpson überflog die wenigen Zeilen.

Der Verfasser, der seinen Namen unterschlagen hatte, teilte kurz und knapp mit, sein weißer Hai würde in den kommenden Tagen zuschnappen. Er empfahl, die Polizei aus dem Spiel zu lassen, um den erwähnten Hai nicht blutrünstig zu machen.

»Wann ist der Brief gekommen?« fragte die Detektivin.

»Gestern abend«, erwiderte Sir Edward. »Ich rief Sie daraufhin sofort an.«

»Eine hübsche Botschaft«, urteilte die Sechzigjährige wohlwollend.

»Sie werden den weißen Hai jagen, Mylady?« erkundigte Sir Edward sich hoffnungsfroh.

»Dumme Frage«, grollte sie. »Natürlich! Ein weißer Hai fehlte noch auf meiner Liste. Ich werde sofort mit meinem Butler reden. Er wird mitmachen müssen, ob er will oder nicht!«

*

Die vier jungen Männer langten herzhaft zu und sahen darin kein Problem, ihr Opfer über die Treppe nach unten zu befördern. Sie nahmen die Sache derart auf die leichte Schulter, daß sie ganz bewußt auf ihre gewohnten Schlaginstrumente verzichteten.

Bruchteile von Sekunden später – ihre Fäuste befanden sich in Bewegung – erlebten die vier jungen Männer eine peinliche Überraschung. Ihr Opfer, das sich als alt, müde und relativ verbraucht bezeichnet hatte, wußte mit dem altväterlich gebundenen Regenschirm schnell und geschickt umzugehen.

Dieser Regenschirm blockte zwei Schläge ab und ließ die Handgelenke der jeweiligen Besitzer knacken. Dann schwang der Bambusgriff herum und umschmeichelte die Kinnlade des dritten Schlägers. Die Kinnlade krachte diskret, knirschte ein wenig und veranlaßte den Inhaber des Unterkiefers, erst mal zu Boden zu gehen. Der vierte Mann bekam gar nicht erst mit, wie abenteuerlich seine Nase sich verformte, als der Bambusgriff sich auf das Nasenbein senkte. Deshalb verdrehte er nur die Augen, schnaufte beeindruckt und rollte über die Stufen nach unten.

Der Anführer der Schläger hatte sich beim Angriff seiner Freunde fast gelangweilt umgedreht und starrte herausfordernd auf die Feriengäste vor einem der Strandhotels. Er grinste ausgesprochen höhnisch und wartete wohl nur darauf, daß dort eine falsche, ihm nicht passende Bewegung gemacht wurde. Dieser Anführer hatte die Abwehrschläge, das Stöhnen und Schnaufen seiner Partner zwar mitbekommen, doch er deutete die Geräusche völlig falsch. Er war der festen Ansicht, sie müßten vom malträtierten Opfer stammen.

»Kann ich möglicherweise auch etwas für Sie tun?« hörte er plötzlich eine höfliche Stimme hinter sich. Der Anführer stutzte, glaubte nicht recht zu hören und drehte sich um.

Das vermeintliche Opfer sah nach wie vor korrekt und tadellos aus. Es lüftete die schwarze Melone und blickte den jungen Mann abwartend an.

Der Anführer sah am vermeintlichen Opfer vorbei und traute seinen Augen nicht.

Zwei seiner Leute kollerten gerade recht schwungvoll über die Stufen nach unten in Richtung Strand. Der dritte junge Mann hielt sich stöhnend das rechte Handgelenk, der vierte schluchzte ein wenig und tastete seinen Unterarm vorsichtig ab.

»Verzeihen Sie meine gewiß zu heftige Reaktion«, entschuldigte das Opfer sich gemessen. »Möglicherweise habe ich einen harmlos gedachten Scherz völlig mißverstanden. Ich würde das ungemein bedauern.«

Der Anführer schluckte, trat unwillkürlich einen Schritt zurück und verstand die Welt nicht mehr. Seine Spezialisten hatten eine kollektive Niederlage erlitten! So etwas war noch nie passiert. Die Welt dieses jungen Mannes stand quasi auf dem Kopf.

»Du Miststück!« Endlich hatte der Anführer zu seiner Sprache zurückgefunden und explodierte förmlich vor Wut und Zorn. »Dafür tätowier’ ich dich!«

»Was sollte man sich darunter vorstellen?« fragte das Opfer höflich.

»Das hier!« Der Anführer der Schläger langte blitzschnell in die Innentasche seiner schwarzen Lederjacke und riß eine Fahrradkette hervor, die er wie eine Peitsche schwang. Er fintierte, wollte sein Opfer zu einer Abwehrreaktion bringen und schlug dann heimtückisch zu.

Das Opfer hatte bisher nicht reagiert, doch nun, als die Kette sein Gesicht treffen sollte, fuhr der altväterlich gebundene Regenschirm hoch und wurde dabei von zwei Händen gehalten, die von schwarzen Zwirnshandschuhen bedeckt waren.

Die Fahrradkette wickelte sich prompt um den waagerecht gehaltenen Schirm und verlor ihre Wirkung. Das Opfer ließ den Regenschirm los und grüßte erneut mit der schwarzen Melone. Die sanfte Rundung kam dabei in innigen Kontakt zur Nasenspitze des Rowdys.

Diesem Kontakt war sie nicht gewachsen.

Die Nasenspitze klappte zur Seite und ließ das Wasser in die Augen des Mannes schießen.

»Ich fürchte, ich werde mich gehenlassen müssen«, sagte das Opfer sich und verabreichte dem Anführer zwei Ohrfeigen, die den Kopf des Rowdys hin- und herpendeln ließen. Der Mann fuhr zurück, stolperte über ein Bein des Opfers, verlor sein Gleichgewicht und setzte zu einen Tiefflug an, der nicht gerade als gekonnt zu bezeichnen war.