Ingo Schymanski

Im Teufelskreis der Lust


Raus aus der Belohnungsfalle!

Mit einem Geleitwort von Hans Hopf

Dr. med. Ingo Schymanski

Facharzt für Allgemeinmedizin, Psychotherapie, Suchtmedizin, Chirotherapie, Akupunktur

Usterstrasse 2

9620 Zürich (Wetzikon)

Schweiz

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E-Book: ISBN 978-3-608-16933-1

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Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Der Spezialist weiß immer mehr über immer weniger,

bis er am Ende alles weiß über nichts.

Der Generalist weiß immer weniger über immer mehr,

bis er am Ende nichts mehr weiß über alles.

Die Wahrheit liegt vermutlich nicht auf irgendeinem Punkt zwischen den Extremen,

sondern auf allen zugleich.

Oder eben daneben.

Carl Wilde

Geleitwort

Vor einigen Jahren hat mir Ingo Schymanski einen Artikel seines Modells über den Zusammenhang des Belohnungssystems im Gehirn mit den häufigsten psychischen Störungen in Europa zugesandt. Das spannende war, dass er in seine Überlegungen Beziehungen, gesellschaftlichen Veränderungen und die Bedeutung der zivilisationsbedingten Überstimulation mit einbezogen hatte. Zuvor hatte er einen Beitrag von mir zu den spezifischen Störungen der Jungen gelesen und wusste, dass ich kein Arzt oder gar Hirnforscher bin, sondern praktizierender Kinderpsychoanalytiker.

In der Tat war ich von seinem Artikel bald fasziniert, denn ich erkannte ein „Missing Link“ zu meinen Beschäftigungen mit den externalisierenden Störungen von Kindern und Jugendlichen, ihren Aufmerksamkeitsdefiziten, von Schymanski zutreffend „Konzentrationsdefizite“ genannt, und der Bedeutung von Überstimulation. Seit vielen Jahren hatte ich mich aus kinderpsychoanalytischer Sicht mit dem Störungsbild „ADHS“ befasst. Auch in den vergangenen Jahrzehnten hatte es immer eine abgrenzbare „hirnorganische Kerngruppe“ von etwa 1–2 Prozent gegeben. Dabei herrschte die Annahme vor, dass die beobachteten Symptome auf frühkindliche diskrete Hirnschädigungen zurückzuführen seien, was allerdings nie nachzuweisen war. Doch ab den 90er-Jahren war diese ursprüngliche „Zappelphilipp-Diagnose“ systematisch auf alle sozialen Störungen ausgeweitet worden: Seelische Ursachen wurden ausgeblendet, stattdessen wurden alle sozialen Störungen mit einem angeborenen Defekt im Gehirn erklärt. Diese neurophysiologische Erklärung ist allerdings unbefriedigend, weil sie den Einfluss der Umwelt vernachlässigt: Die Bedeutung von psychosozialen Ansätzen wird zwar eingeräumt, familiären Belastungsfaktoren käme jedoch keine primäre ätiologische Bedeutung zu. Auch die Neuroplastizität wird dabei außen vor gelassen, denn jedes Gehirn passt sich bekanntlich unterschiedlichen Nutzungsbedingungen an.

Dabei sind Erziehung und Psychotherapie heutzutage in höchster Not: Viele Kinder und Jugendliche leiden unter den Auswirkungen von Beschleunigung, von fehlender begrenzender, väterlicher Struktur und den Folgen der Habituation. Aber diese Konflikte werden verschleiert, und ihre Folgen – Bewegungsunruhe, Konzentrationsprobleme und Unbeherrschtheit – so gut wie ausschließlich mit Medikamenten behandelt. Schymanskis Erklärungen haben mich darum so überzeugt, weil er die gesellschaftlichen Probleme in seine Theorien nicht nur einbezieht, sondern sie als Hauptursachen beschreibt und dabei die neurophysiologischen Zusammenhänge höchst überzeugend herausarbeitet.

Ich will seine Erkenntnisse mittels zweier Bilder in die heutige gesellschaftliche Realität übersetzen:

Eine Szene aus Schymanskis Buch: Versuchstiere, die entsprechend präpariert sind, können ihr Belohnungszentrum über einen schwachen Stromstoß reizen. Bald tun sie den ganzen Tag nichts anderes mehr, als es ununterbrochen zu stimulieren. Sie vernachlässigen die Nahrungsaufnahme genauso wie die Körperpflege oder soziale Kontakte. Nicht einmal an Sex haben sie noch Interesse. Einzig allein trachten sie danach, auf allereinfachste Weise ihr Belohnungszentrum zu stimulieren. Der „Genuss“ des über den Tastendruck vermittelten Stromstoßes im Belohnungszentrum ist so groß, dass die Versuchstiere den entsprechenden Hebel mehr als tausend Mal pro Stunde auslösen – bis zur völligen Erschöpfung, ja sogar bis zum Tod.

Eine zweite Szene, aus einer Supervision: Ein siebzehnjähriger Jugendlicher verbringt seine gesamte freie Zeit vor dem Computer, bei Ego-Shooter-Spielen oder „World of Warcraft“. Im Wechsel damit betrachtet er Webseiten mit Pornografie und masturbiert exzessiv. Seine Schulleistungen werden immer schlechter, es ist ihm gleichgültig. Seine Freundin verlässt ihn, weil er sie kaum mehr sieht. Er nimmt das unbewegt zur Kenntnis. Mit seiner Klasse muss er ins Schullandheim; dort fleht er den Lehrer an, ihm Zugang zu Computer und Internet zu gewähren. Dies wird nicht erlaubt. Wenige Tage später erleidet der Jugendliche aufgrund des Entzugs eine schwere Panikattacke und muss in eine Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie gebracht werden, wo seine Computersucht behandelt wird.

Ich könnte vielerlei solcher und ähnlicher Szenen aus dem kinderpsychoanalytischen Alltag berichten, von Flucht in die Lust und Verweigerung der Realität, natürlich auch bei Erwachsenen. Beim Tier oder beim Menschen kann das Belohnungszentrum durch zahllose Reize stimuliert werden. Durch schmackhaftes Essen, Sex, Geld oder Macht, durch Alkohol, Nikotin oder andere Drogen. Das Ergebnis ist für alle Auslöser gleich: Da wir, gemäß Schymanski, in der „zivilisierten“ Welt kaum mehr einer Ressourcenbegrenzung unterworfen sind, verfügen wir über die Möglichkeit, unser Belohnungszentrum unaufhörlich zu stimulieren. Genau das hatte ich in meinen Beobachtungen von Störungen bei Kindern und Jugendlichen festgestellt, jedoch ohne es neurophysiologisch begründen zu können.

Die Notwendigkeit, Triebe und Affekte auszuhalten und aufzuschieben, ist offensichtlich geringer geworden. Viele Kinder meiden Realitäten und suchen das Lustprinzip, viele verabscheuen Anstrengungen. In einer Gesellschaft, in der das Trommelfeuer von Medien ununterbrochen auf alle einprasselt, verlieren viele Dinge bald den Reiz des Neuen. Alles wird für langweilig und uninteressant erklärt, nur noch die Sensation findet Beachtung. In einer solchen Welt wird auch die Aneignung von Wissen keinen Wert mehr besitzen.

Ingo Schymanski hat mittlerweile das vorliegende Buch verfasst, das drei zentrale, höchst bedeutsame Botschaften enthält:

Das Buch von Schymanski ist geeignet, in allen Fachrichtungen, die sich mit Menschen befassen, entscheidende Impulse zu setzen, in der Hirnphysiologie und Medizin, in der Psychologie und in der Pädagogik – in der institutionellen Erziehung und in der Familie. Es ist in lebendiger, sehr anschaulicher Sprache verfasst, noch dazu höchst unterhaltsam. Ich wünsche diesem Buch eine sehr weite Verbreitung, viele Rezensionen und vor allem, dass es eine fruchtbare Diskussion in der gesamten Gesellschaft in Gang setzen möge.

Hans Hopf

Dr. Hans Hopf ist psychoanalytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut und Autor zahlreicher Sach- und Fachbücher mit den Themenschwerpunkten AD(H)S, Traum, Aggression und Angststörungen. In Kürze erscheint sein Buch "Jungen verstehen". Neben zahlreichen anderen Ehrungen wurde ihm 2013 mit dem Diotima-Preis die höchste Auszeichnung der deutschen Bundestherapeutenkammer verliehen. Er gilt als Brückenbauer zwischen traditionellen und modernen psychotherapeutischen Therapieansätzen.

„Protect me from what I want“

Jenny Holzer

Vorwort

Das Leben wird immer schneller. Und obwohl der zivilisierte Mensch heute so viel besitzt, über so viele Möglichkeiten verfügt, so abgesichert, gesund und so lange lebt wie wohl keine Generation vor ihm, läuft er Gefahr, sich im Überangebot zu verlieren. Statt zu genießen, fühlt er sich oft nur noch gehetzt, erschöpft und unglücklich wie wohl ebenfalls noch keine Generation zuvor. Woran kann das liegen?

Als ich anfing, die Gründe für diese Entwicklung zu recherchieren, wusste ich über das Thema vermutlich genauso viel wie Sie in diesem Augenblick. Ich ahnte, dass die Antwort auf diese Frage im Belohnungssystem unseres Gehirns zu finden sein müsste. Deswegen fing ich an dieser Stelle an zu graben: Ich las Bücher und eine Unmenge von wissenschaftlichen Veröffentlichungen, wobei mir meine ärztliche, psychotherapeutische und suchtmedizinische Ausbildung sowie meine tägliche Arbeit mit Patienten beim Verstehen und Einordnen der schier zahllosen Fakten halfen. Zu guter Letzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Alle Tatsachen, die meine Eingangsfrage beantworteten, sind lange bekannt. Das einzige, was bis heute zum Verständnis fehlte, war das „geistige Band“ zwischen den mittlerweile nahezu unüberschaubaren Einzelbefunden der aktuellen Hirnforschung.

Das in diesem Buch vorgestellte Modell erklärt nicht nur die sattsam bekannte Beschleunigung aller Lebensvorgänge. Es liefert darüber hinaus auch sehr gute Erklärungen für die häufigsten seelischen Erkrankungen. Und damit nicht genug: Sehr viele bislang in ihrem Ursprung unklare psychosomatische und soziale Erscheinungen lassen sich durch die Belohnungsmechanismen in unserem Kopf erst wirklich verstehen. Richtig geordnet, machen die Befunde der Neurowissenschaften deutlich, warum wir durch unser Streben nach „immer mehr“ nicht nur unsere eigene Gesundheit gefährden, sondern auch die Zukunft der Menschheit auf unserem Planeten. Letztlich liefert das Wissen um die Vorgänge in unserem Gehirn sogar eine Antwort auf die Frage, wie der Einzelne sein Leben entschlacken und entschleunigen kann – um dafür auch noch mit einem Gewinn an Lebensqualität (und aller Wahrscheinlichkeit nach auch noch an Lebensjahren!) belohnt zu werden – vom Nutzen für das globale Ökosystem ganz zu schweigen.

Um die wesentlichen Mechanismen zu begreifen, muss niemand gleich selbst zum Hirnforscher werden. Im Gegenteil: Die Vielzahl der Einzelbefunde scheint die Spezialisten so sehr zu verwirren, dass sie den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr erkennen. Dabei lassen sich die bekannten und von keinem Forscher mehr ernsthaft bezweifelten Fakten zu einem so einfachen Modell zusammensetzen, dass man sich hinterher fragt, warum die häufigsten Zivilisationserscheinungen überhaupt jemals als völlig unterschiedliche Phänomene missverstanden werden konnten.

Vorab möchte ich versprechen, dass ich Ihnen Ausdrücke wie „frontostriatale Dysfunktion“ oder „Dopamin- Transporter-Protein-Synthese-Induktion“ im gesamten Buch erspare. Denn viel interessanter als jedes einzelne neurophysiologische Puzzleteil ist das Gesamtbild, das sich aus den faszinierenden Einzelbefunden der letzten Jahrzehnte zusammensetzen lässt. Um die grundlegenden Prinzipien zu verstehen, reicht das allgemein verständliche Vokabular vollständig aus.

Die möglichen Konsequenzen des in diesem Buch vorgestellten Modells sind allerdings gewaltig. Angefangen bei der täglichen Lebensgestaltung über die Therapie der häufigsten psychischen Erkrankungen wie Ängste, Depressionen, ADHS und andere zivilisationsbedingte Störungen reichen die Folgen bis hin zu dem, was unser Glück und unsere Lebensqualität eigentlich ausmacht – und welche Alternative zu unserer gegenwärtig immer noch als „alternativlos“ dargestellten Wachstumsphilosophie existiert. Denn einerseits liegt auf der Hand, dass sich durch immer mehr Wohlstand genau wie durch die Einnahme von immer mehr Tabletten kein dauerhaftes Wohlbefinden erschaffen lässt. Andererseits erscheint es schwierig, tatsächlich auf das zu verzichten, was uns vordergründig schnell und einfach glücklich macht. Das in diesem Buch vorgestellte neue Verständnis der Belohnungsmechanismen beantwortet die Frage, warum „immer mehr“ nicht „immer besser“ sein muss. Und es gibt Auskunft, wie es vermutlich aussieht, das „richtige Leben“. Denn auch wenn es jeder Mensch individuell gestalten wird: Das Belohnungssystems funktioniert für uns alle gleich.

Die größte Stärke des in diesem Buch vorgestellten Modells ist vielleicht auch seine größte Schwäche: Es erklärt „zu viel“. Eine einfache Erklärung für eine Vielzahl von Phänomenen und Krankheitsbildern provoziert in der Welt der Wissenschaft beinahe reflexhaft Widerspruch. Ich möchte dem Text daher vorausschicken, dass das Habituationsmodell keineswegs den Anspruch darauf erhebt, alle geschilderten Krankheiten und Erscheinungen vollständig zu begründen. Dieses Buch stellt eine neue Sichtweise zur Diskussion, die sich nach dem Sparsamkeitsprinzip der Wissenschaften („Ockhams Rasiermesser“1) als äußerst potentes Werkzeug erweisen könnte, die Folgen und vor allem auch die wünschenswerte Zielrichtung unserer zivilisatorischen Entwicklung besser zu verstehen.

Lassen Sie sich überraschen! Ich wünsche Ihnen eine spannende und gewinnbringende Lektüre!

Ulm, im Februar 2015

Ingo Schymanski

Inhalt

1 Das Belohnungssystem in unserem Kopf

1.1 Das „Lustzentrum“: Die Quelle von Glück und Zufriedenheit

1.2 Sichtlich glücklich: Das „Lustzentrum“ in Aktion

1.3 Habituation

1.4 Der Teufelskreis der Lust

1.5 Der Sinn der Habituation am „Lustzentrum“

Das „Wohlfühlparadoxon“

Noch mehr vom Zuviel: Kompensationsstrategien des Lustverlusts

Immer häufiger

Immer doller

Immer verrückter

Immer dringlicher

Gebrauch von Stimulanzien

Drogen

Das Ende jeder Zufriedenheit: Der Vergleich

Einheitliche Ursache – unterschiedliche Wirkungen?

2 Seelische Folgen: die häufigsten psychischen Erkrankungen in Europa

2.1 Psychovegetative Erregung, psychovegetative Erschöpfung

2.2 Angst

2.3 Schlafstörungen

2.4 Depression

Die Serotonin-Hypothese

Depression als Folge von Überstimulation im Belohnungssystem

Exkurs: Frühere Modelle zur Depressionsentstehung

Depression als Zivilisationserscheinung?

Depression ohne Zivilisation – die Amish-People

Die bipolare Störung – eine Erkrankung der Astrozyten?

Der Sinn der Übersättigungsdepression

2.5 Demenz

2.6 Krankheit oder Warnsignal der Überstimulation:
ADHS, ADS

2.7 Krankheitsgefühl ohne Krankheit: Somatoforme Störungen

2.8 Süchte

Stoffgebundene Süchte

Weiche und harte Drogen

Die am häufigsten verwendeten Substanzen

Behandlung von stoffgebundenen Suchterkrankungen

Akute Entgiftung

Langzeittherapie

Drogen legalisieren?

Stoffungebundene Süchte

Starke Drogen, schwache Drogen

Burnout

Wie vermeide ich Burnout?

2.9 Stress: eine Theorie zu seiner Entstehung

Stress und Gedächtnis

2.10 Exkurs: Schizophrenie

2.11 Krankheit oder Warnsignal?

3 Körperliche Folgen: Die typischen Zivilisationskrankheiten

3.1 Ernährung und das Belohnungssystem

4 Gesellschaftliche Folgen

4.1 Die Colanisation der Welt

4.2 Lebenssinn, Glück und Zufriedenheit

4.3 Der Unterschied im „westlichen“ und „fernöstlichen“ Denken

Flow

Der Sinn von Exzessen

„Bruttonationalglück“ – Bhutan

4.4 Der Happy-Planet-Index

4.5 Was brauchen wir wirklich?

Frau Mujahi

Andrea Petkovic: Genug ist nicht genug

Wirtschaftswachstum, Verteilungsgerechtigkeit und Lebensqualität

Mehr ist nicht genug

Glück und Lebenszufriedenheit subjektiv und objektiv

Kalorien und Lebenserwartung

Die Maslow-Pyramide

Familie, Freunde, Anerkennung – soziale Kontakte als Lebenssinn?

Sinn und Selbstzweck

4.6 Die Freiheit des Willens

5 Persönliche Konsequenzen für den Alltag

5.1 Der Start in den Tag

Freiwilligkeit

Volle Speicher

5.2 Der Tagesverlauf

5.3 Ernährung

Alles Bio?

5.4 Schlaf

5.5 Beziehungen

Paarbeziehungen

Sex

Kindererziehung

5.6 „Hirndoping“ – Neuro-Enhancement

5.7 Frühwarnzeichen der Erschöpfung

5.8 Glutamat

5.9 Fazit

6 Mögliche Schwächen des Habituationsmodells

6.1 GABA – der häufigste Botenstoff im Gehirn

6.2 GABA, der Schlüssel zum Gedächtnis?

6.3 Unterschiedliche Geschwindigkeiten im Belohnungssystem

6.4 Leben ohne „Lustzentrum“

7 Schlusswort

7.1 Erste Schritte auf dem Weg zur Entschleunigung

7.2 Entschleunigung für Fortgeschrittene

Literatur

Glossar

Sachverzeichnis

Danke!

1 Das Belohnungssystem in unserem Kopf

1.1 Das „Lustzentrum“: Die Quelle von Glück und Zufriedenheit

Was Mensch und Tier antreibt, ist das sogenannte „Lust-“ oder auch „Belohnungszentrum“ – eine ungefähr erbsengroße Ansammlung von Nervenzellen mitten im Gehirn. Weniger als seine Dimension verdeutlicht seine Lage die Wichtigkeit dieser Struktur: Das restliche Gehirn wirkt wie um das „Lustzentrum“ herum gebaut. Was kein Zufall ist: Das Belohnungszentrum ist von zentraler Bedeutung für unser Gehirn, für unseren Körper, ja, für unser ganzes Leben. Es garantiert im natürlichen Umfeld sogar den Erhalt der ganzen Art, wahrscheinlich sogar des ganzen Ökosystems. Wir werden sehen, auf welche Weise das Belohnungszentrum diese Aufgaben bewältigt.

Stechen wir mit einer Elektrode in diese Nervenzellansammlung und geben Versuchstieren oder Menschen die Möglichkeit, sich über einen schwachen Stromstoß selbst zu reizen, tun die Betroffenen den ganzen Tag nichts anderes mehr, als eben ihr Belohnungszentrum zu stimulieren. Sie vernachlässigen die Nahrungsaufnahme genauso wie die Körperpflege oder ihre sozialen Kontakte. Nicht einmal an Sex haben sie noch Interesse. Sie trachten nur noch danach, auf allereinfachste Weise ihre Belohnungsstrukturen zu stimulieren – per Tastendruck. Der „Genuss“ des über den Tastendruck vermittelten Stromstoßes ist so groß, dass beispielsweise die Ratten in den ersten Versuchen von Olds und Milner (1954) den entsprechenden Hebel mehr als tausend Mal pro Stunde auslösten – bis zur völligen Erschöpfung, ja sogar bis zum Tod.

Da der Mensch in aller Regel nicht über Elektroden zur Eigenstimulation des entsprechenden Hirnbereichs verfügt, greift manch einer zu chemischen Hilfsmitteln wie Alkohol und Nikotin, natürlich aber auch zu „harten Drogen“ wie Heroin und Kokain. Diese Substanzen führen zu einer exzessiven Stimulation des Belohnungszentrums. Die Folgen dieser chemischen Reizung präsentieren sich beim Betroffenen häufig leider genauso eindrücklich wie in den beschriebenen Versuchen bei Tieren: Interessensverlust, Verwahrlosung und selbst bleibende gesundheitliche Schäden werden in Kauf genommen. Nichts erscheint mehr wichtig außer der Droge.

Rauschmittel bewirken deshalb angenehme Gefühle, weil sie genau die gleichen Hirnstrukturen erregen wie die von Natur aus vorhandenen belohnenden Botenstoffe im Gehirn. Auch „normale“ Tätigkeiten wie Essen, Trinken, Sex, Erfolg oder sogar Bewegung (Sport) und Spiel können das Belohnungszentrum stimulieren. Aus diesem Grund bergen alle hier genannten Substanzen und Tätigkeiten prinzipiell eine Suchtgefahr in sich, selbst wenn sie „nur“ natürliche Botenstoffe benutzen wie das als „das Lusthormon schlechthin“ bekannte Dopamin. Selbstverständlich gibt es auch andere Botenstoffe, die das Belohnungszentrum stimulieren (z. B. Glutamat, Endorphine, Endocannabinoide, Oxytocin). Zum prinzipiellen Verständnis der Belohnungsmechanismen aber reicht die Konzentration auf sehr wenige Botenstoffe vollständig aus. Um den Überblick zu behalten, beschränkt sich die Darstellung in diesem Buch im Wesentlichen auf zwei Transmitter: Das bekannte, „belohnend“ wirkende Dopamin sowie den „beruhigend“ wirkenden Botenstoff GABA, auf den wir gleich zu sprechen kommen.

Ebenfalls erwähnt sei hier der für das Lusterleben bedeutsame Botenstoff Glutamat. Glutamat spielt als belohnender Botenstoff eine dem Dopamin mindestens gleichwertige Rolle. Zudem können die Nervenzellen des Belohnungszentrums aus Glutamat durch eine einfache chemische Reaktion den Botenstoff GABA herstellen. Auf die Bedeutung dieser Besonderheit soll aber erst am Ende des Buches eingegangen werden (Kap. 5.8). Für das prinzipielle Verständnis des „Teufelskreises“ reicht die Konzentration auf Dopamin und GABA vollständig aus.

Halten wir also fest: Egal ob es sich um künstliche oder natürliche Auslöser handelt – was bei Mensch und Tier das Belohnungszentrum stimuliert, wird als angenehm empfunden. Deswegen verführen Tätigkeiten und Stimulanzien, die das „Lustzentrum“ erregen, stets dazu, die Lust vermittelnde Tätigkeit zu wiederholen.

1.2 Sichtlich glücklich: Das „Lustzentrum“ in Aktion

Mit den bildgebenden Methoden der modernen Hirnforschung lässt sich das „Lustzentrum“ sichtbar machen. Denken oder tun wir etwas Angenehmes, wird das Belohnungszentrum stimuliert und beginnt in der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) als orangefarbener Bezirk zu „leuchten“ (Abb. 1). In Wirklichkeit leuchtet es natürlich nicht; das fMRT macht lediglich den bei Stimulation vermehrten Stoffwechsel sichtbar.

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Abb. 1 Das Belohnungszentrum „bei der Arbeit“, wie es sich in der funktionellen Magnetresonanztomografie darstellt (fMRT) (aus: Spitzer 2008).

Auch wenn wir die Stimulation des Belohnungszentrums mit moderner Technik sichtbar machen können, erschließt sich daraus noch keineswegs seine komplette Funktion. Es existieren nämlich auch Stoffe, die das Belohnungszentrum nicht stimulieren und dennoch eine starke Abhängigkeit bewirken können.

Denn das Belohnungszentrum (wissenschaftlich korrekt auch als Nucleus accumbens bezeichnet) ist keineswegs der Endpunkt von Lust erregenden Tätigkeiten. Vielmehr ist es eine Zwischenstation. Das Belohnungszentrum sendet bei Erregung nämlich selbst Botenstoffe aus. Der wichtigste all dieser Transmitter ist der stärkste dämpfend wirkende Botenstoff im Gehirn. Er besteht – ähnlich wie Dopamin – aus einer einfachen chemischen Verbindung, aus der sich sein Name ableitet: Gamma-Amino-Butyric-Acid, kurz GABA.

Wir kennen die Wirkung von GABA im Gehirn sehr genau. Denn die Medizin verfügt über Substanzen, die an den gleichen Rezeptor binden wie GABA. Das bekannteste derartige Medikament heißt Valium®. In den 70er-Jahren war es als „Tranquilizer“ und Lifestyle-Droge weit verbreitet. Kein Wunder, denn Valium® und alle Medikamente, die die Wirkung von GABA imitieren, simulieren im Gehirn die „Endstrecke des Glücks“: Eine Tablette Valium® gaukelt dem Hirn vor, einen ganzen Tag voller Lust vermittelnder Tätigkeiten verbracht zu haben. Ohne auch nur einen Finger zu krümmen, fühlen wir uns geborgen, entspannt und wohlig müde. So ist es kein Wunder, dass von diesen Mitteln eine erhebliche Suchtgefahr ausgeht: GABA-artig wirkende Substanzen sind die am häufigsten missbrauchten Psychopharmaka überhaupt.

Valium® und andere Vertreter seiner Gruppe (Benzodiazepine) werden aufgrund ihrer Eigenschaften medizinisch eingesetzt. Benzodiazepine wirken:

Da wir wissen, welche Wirkungen Valium® und verwandte Substanzen im Gehirn besitzen, können wir daraus ziemlich genau schließen, was die Freisetzung von GABA nach Stimulation unseres Belohnungszentrums letztlich bewirkt: Angstfreiheit, wohlige Müdigkeit und eine wunderbare Muskelentspannung. Wir werden auf diese drei Effekte von GABA noch verschiedentlich zurückkommen.

Exkurs

Der modernen Pharma-Forschung ist es gelungen, Medikamente zu entwickeln, die zwar nicht direkt an den GABA-Rezeptor binden, aber dennoch die gleichen Wirkungen entfalten. Forschungsziel war gewesen, Wirkstoffe zu finden, von denen keine Suchtgefahr mehr ausgeht. Die klinische Erfahrung allerdings zeigt, dass die gefundenen Substanzen (z. B. Gabapentin, Handelsname Neurontin oder Pregabalin, Handelsname Lyrica und sogenannte Z-Medikamente wie Zopiclon oder Zolpidem) genauso stark abhängig machen wie Benzodiazepine.

An dieser Stelle haben wir bereits einen Gutteil dessen verstanden, was Mensch und Tier antreibt: Einerseits ist es das Streben nach Lustempfinden, also der Stimulation des „Lustzentrums“ durch Dopamin und weitere belohnende Botenstoffe, was uns Lust, Selbstbewusstsein und Sinnerfüllung vermittelt. Andererseits wollen wir Befriedigung empfinden, die sich aus der Aktivität des Belohnungszentrums durch die Freisetzung des beruhigenden Transmitters GABA ergibt, der uns angstfrei macht, angenehm müde und entspannt. Aus diesen beiden Befunden ergibt sich ein Regelkreis, wie ihn Abbildung 2 veranschaulicht.

Das Belohnungssystem ist entwicklungsgeschichtlich sehr alt. Es ist schon in primitiven Lebensformen wie dem Fadenwurm (Caenorhabditis elegans) nachweisbar (Chase et al. 2004). Kriecht der Fadenwurm durch eine bakterienreiche Gegend, wird sein aus nur wenigen Nervenzellen bestehendes Belohnungszentrum auf den Nahrungsreiz hin durch Dopamin stimuliert und stößt GABA aus. GABA hemmt beim Fadenwurm die Nervenzellen, die für die Vorwärtsbewegung des Wurms verantwortlich sind. Durch diesen Mechanismus verweilt der Fadenwurm in Gebieten, in denen er seine Lieblingsspeise findet: Bakterien. Es muss uns also nicht verwundern, wenn sich heute unsere Schritte immer noch verlangsamen, wenn wir hungrig an einem Restaurant vorübergehen: Im Prinzip gehorchen wir dem gleichen natürlichen Mechanismus wie der Fadenwurm. Die Wahrnehmung von etwas, was Lust stimuliert, führt zur Freisetzung von GABA. Und GABA hemmt alle Aktivitäten, die uns von der Quelle der Lust entfernen wollen.

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Abb. 2 Das Belohnungssystem unseres Gehirn, dargestellt als Regelkreis. NAC = Nucleus accumbens („Lustzentrum“), A = Aktivierung (psychovegetative und psychomotorische Erregung), B = Belohnungsneurone (Speicherzellen für Dopamin, Glutamat u. a. Botenstoffe, die bei Planung, Umsetzung und Erfolg einer Handlung ausgeschüttet werden). Die maximale Ausschüttung belohnender Transmitter wie Dopamin erfolgt im Moment des Erreichens eines Ziels.

Als Regelkreis betrachtet, wird deutlich, welche Funktion das Belohnungszentrum besitzt: Es dient dem Überleben. Denn alle Handlungen, die uns am Leben erhalten, werden durch Lustempfindung „belohnt“ – ob es sich um Essen, Trinken oder Sex handelt, um Revierverteidigung, Balzen oder Putzen, um Protzen, Schminken oder Aufreizen. Lust dient dem Überleben des Individuums und dem Fortbestand seiner ganzen Art. Fehlt die Lust, resultiert daraus ein Mangel an GABA, was zu psychovegetativer Erregung und psychomotorischer Unruhe führt. Dieser unangenehme Zustand lässt erst nach, wenn wir wieder „Lust“ empfinden und in der wohligen Befriedigung schwelgen, die uns der Hauptbotenstoff des „Lustzentrums“ – GABA – vermittelt. Es ist dieser einfache Regelkreis, der Drang nach Lust und Befriedigung, der Mensch und Tier dazu bringt, ihr angeborenes biologisches Programm abzuarbeiten: Nahrung suchen, Reviere erobern und für die Erhaltung der Art sorgen. Wird das Belohnungszentrum durch die Verknappung äußerer Ressourcen nicht mehr stimuliert, motiviert der resultierende psychovegetativ-psychomotorische Erregungszustand das Individuum, für den Selbsterhalt und den Erhalt der Art aktiv zu werden.

Warum Mensch und Tier gefährdet sind, über das eigentliche Ziel der Luststeuerung des Verhaltens (die Sicherung des Überlebens des Individuums und der Art) hinauszuschießen, mehr zu essen, als gesund ist, mehr Ressourcen zu verbrauchen als nachwachsen und sich – vor allem beim Menschen zu beobachten – in Exzessen zu verlieren, ergibt sich aus einem zweiten, einfachen Mechanismus, der im nächsten Kapitel besprochen wird.

1.3 Habituation

Habituation bedeutet „Gewöhnung“. Beklopft man mit einem Finger die Stelle zwischen den Augenbrauen, schließen sich reflexartig die Augenlider („Glabellareflex“). Löst man diesen Reflex wieder und wieder aus, wird die Reflexantwort innerhalb von Sekunden und Minuten schwächer und schwächer, bis der Reflex am Ende vollständig erlischt. Setze ich eine rosa Brille auf, erscheint nach wenigen Minuten die weiße Wand wieder weiß – trotz der farbigen Brille.

Wenn ich Süßigkeiten esse, antwortet der Körper mit der Freisetzung von Insulin. Insulin bewirkt, dass der aufgenommene Zucker in die Körperzellen aufgenommen und verstoffwechselt wird. Nehme ich jeden Tag zu viele Kohlenhydrate zu mir, gewöhnen sich die Körperzellen an das ständige Insulin-Signal; ihre Reaktion darauf wird immer schwächer, bis sie trotz hohen Insulin-Spiegels nur noch wenig Zucker aufnehmen. In diesem Moment wird der Mensch „zuckerkrank“, er leidet an Diabetes mellitus.

Der Vorgang der Habituation ist ein Mechanismus, der bei vermutlich jeder Signalübertragung im Körper stattfindet. Ein Signal, das ständig vorhanden ist, verliert seine Wirkung. Stellen Sie sich vor, in Ihrer Straße stünde eine Fußgängerampel immer auf Rot. Nach wenigen Minuten würde das Signal von den ersten Fußgängern ignoriert werden, spätestens nach ein paar Tagen von nahezu allen. Die Anwohner hätten sich an die funktionslose Ampel „gewöhnt“.

Was wir am Verhalten des Gesamtorganismus beobachten können, hat seine Entsprechung an den Schaltstellen im Körper. Nahezu alle Hormone und Neurotransmitter werden nicht kontinuierlich freigesetzt, sondern stoßweise („pulsatil“). Ein Botenstoff, der zu häufig oder gar permanent vorhanden ist, verliert seine Wirkung. Dieser „automatische Weißabgleich“ dient der ständigen Kalibrierung unseres Belohnungssystems und damit der Anpassung des Organismus an die sich ständig verändernden Umweltbedingungen.

Habituation ist überlebensnotwendig. Durch sie adaptieren wir uns an unterschiedliche Nahrungsmengen und -beschaffenheiten, an unterschiedliche Temperaturen, Lärmpegel, soziale Umgangsformen, an sehr verschiedene Lebensbedingungen, ja sogar an unterschiedliche Lebenserwartungen. Was wir häufig erleben, wird auf diese Weise zur „Normalität“, die wir ohne besondere Aufregung zur Kenntnis nehmen.

Selbstverständlich gilt dieser durch Habituation vermittelte Mechanismus der kontinuierlichen Selbstkalibrierung auch für das Gehirn insgesamt – einschließlich der Signalübertragung am Belohnungszentrum. „Toujours perdrix!“, fluchte der Beichtvater des Königs Heinrich IV von Frankreich, nachdem dieser ihm eine Woche lang seine Leibspeise, Rebhuhn (frz. perdrix), vorgesetzt hatte.2 Jeder kennt es von sich selbst: Jede Lust verflacht zur Routine, wenn sie wieder und wieder abgerufen wird.

Aus Versuchen ist bekannt, dass das Belohnungszentrum am stärksten von überraschenden Reizen stimuliert wird (Bassareo u. Di Chiara 1997). Eine erwartete Belohnung, ein erwartetes Geschenk lösen – genau wie das jeden Tag servierte Lieblingsessen – kaum noch Freude aus. Deswegen werden Versuche, in denen das Belohnungszentrum in Funktion dargestellt werden soll, am besten mit hungrigen Tieren durchgeführt. Denn diese können sich – im Gegensatz zu satten Tieren – über kleine Belohnungen noch richtig freuen.

1.4 Der Teufelskreis der Lust

Kehren wir zurück zur obigen Darstellung des Belohnungssystems in unserem Gehirn als Regelkreis (s. Abb. 2). Das Belohnungszentrum kann durch zahllose Reize stimuliert werden. Sei es leckeres Essen, Sex, Geld oder Macht, Alkohol, Nikotin oder jede andere Droge, die Endstrecke ist für alle Auslöser gleich: die Stimulation von Rezeptoren für belohnende Botenstoffe. Da wir in der „zivilisierten“ Welt kaum mehr einer Ressourcenbegrenzung unterworfen sind, verfügen wir über die Möglichkeit, unser Belohnungszentrum pausenlos zu stimulieren. Hier liegt der Schlüssel zu der Frage, warum in der heutigen Zeit alle Lebensvorgänge immer schneller werden, warum wir immer mehr haben, gleichzeitig aber Gefahr laufen, unseren Überfluss kaum mehr zu genießen, ja an ihm krank zu werden. Denn durch die gemeinsame Endstrecke aller Lüste – die Stimulation des Nucleus accumbens, des Belohnungszentrums – kommt es über den Mechanismus der Habituation zu einer Abstumpfung des Lustempfindens. Die Auslöser, die Genüsse, müssen immer größer und ausgefeilter werden, um überhaupt noch Lust hervorzurufen. Vereinfacht ließe sich sagen, der Vorrat an Dopamin erschöpft sich beim Versuch, ständig Lust zu erleben – genau wie die Rezeptoren für alle belohnenden Botenstoffe bei ständiger Stimulation ihre Empfindlichkeit verlieren oder freigesetztes Dopamin immer schneller aus dem synaptischen Spalt entfernt wird.

Welche molekularen Mechanismen im Einzelnen hinter dem Effekt der Habituation am Belohnungszentrum stehen, ist von geringerer Bedeutung. Wichtig ist die Folge des „Lustverlusts“: Wenn die Nervenzellen des Belohnungszentrums aufgrund von Gewöhnung nicht mehr stimuliert werden können, vermindern sie ihren Ausstoß des beruhigenden Transmitters GABA. Ohne die dämpfende Wirkung von GABA aber gerät der Gesamtorganismus in den bereits erwähnten psychovegetativen und psychomotorischen Erregungszustand.

Erinnern Sie sich an die oben erklärte Wirkung von Benzodiazepinen, jenen Medikamenten, die den Rezeptor des natürlichen Botenstoffs GABA stimulieren? Eine Verringerung der GABA-Freisetzung durch Habituation am Belohnungszentrum führt zu den genau gegenteiligen Erscheinungen: Statt angstfrei, wohlig müde und entspannt zu sein, verursacht die fehlende Freisetzung von GABA Ängste, Schlaflosigkeit und Muskelverspannungen – und einige andere Erscheinungen, die viele Menschen früher oder später unglücklich und unzufrieden machen und sie sehr häufig mit psychischen, somatischen oder auch sozialen Problemen zum Arzt führen.

Halten wir also fest: Die Betrachtung des Belohnungssystems im Gehirn als anpassungsfähiger Regelkreis verdeutlicht, warum eine dauerhafte Überstimulation des Belohnungszentrums die gleichen Symptome verursacht wie eine längere Unterstimulation. Beides führt letztlich zu psychovegetativ-psychomotorischer Unruhe und weiteren, individuell unterschiedlichen Folgeerscheinungen, auf die wir später in diesem Buch zu sprechen kommen.

1.5 Der Sinn der Habituation am „Lustzentrum“

Evolutionsgeschichtlich betrachtet besitzt die Habituation am Belohnungszentrum einen Sinn: Steht eine Ressource in einem gewöhnlich kargen natürlichen Umfeld phasenweise reichlich zur Verfügung, muss sich das Individuum einen möglichst großen Anteil daran sichern. Habituationsvorgänge am Nucleus accumbens führen dazu, dass beispielsweise Nahrung nach einiger Zeit vielleicht nicht mehr so lustvoll verzehrt werden kann. Gleichzeitig aber nimmt die nach Befriedigung verlangende psychovegetative und psychomotorische Erregung des Individuums zu. Denn die via Habituation im Überfluss verringerte Lustempfindung führt über die nachfolgend reduzierte GABA-Freisetzung paradoxerweise zu einer gesteigerten Bedürftigkeit. Auf diese Weise sichert die Natur, dass das Individuum in Zeiten des Überflusses möglichst viel Nahrung zu sich nimmt – als Vorrat für die unweigerlich folgenden kargen Phasen.

Besaß dieser Mechanismus in grauer Vorzeit auch für den Menschen einen Sinn, entwickelte sich aus ihm im Überfluss der Zivilisation eine Eigendynamik. Wo keine jahreszeitliche Schwankung das Überangebot und damit auch den psychovegetativ-psychomotorischen Erregungszustand beendet, bewirkt das permanente Streben nach weiterer Stimulation erhebliche seelische, körperliche, soziale und ökologische Konsequenzen.

Das „Wohlfühlparadoxon“

Jeder Versuch, den Wirkverlust von Botenstoffen am Lustzentrum am Belohnungszentrum auszugleichen, führt über Habituation nur immer tiefer in den Teufelskreis aus Lustverlust und gesteigerter Bedürftigkeit. Fast jeder Mensch ist anfällig dafür, innere Unruhe (GABA-Mangel!) durch Tätigkeiten zu bekämpfen – selbst wenn er weiß, dass diese ihm auf Dauer eher schaden als nützen. Der eine mag mehr essen, als ihm gut tut, der nächste kauft Dinge, die er eigentlich nicht braucht. Wieder ein anderer protzt mit Geld oder Statussymbolen, obwohl er ahnt, dass die Angeberei weder seinem Gegenüber noch ihm selbst dauerhaft Wohlbefinden verschafft. Durch „immer mehr“ erreicht niemand, wonach eigentlich alle streben: innere Ruhe und Gelassenheit.

Jeder „billige Genuss“ ist durch die regelmäßig sofort einsetzende Gewöhnung in Wahrheit nichts als ein „Kredit auf das Glück von morgen“. Doch ist es schwierig, sich der Verlockung des „schnellen Glücks“ zu entziehen. Dies liegt an der Herkunft der zugrunde liegenden Mechanismen: Das Belohnungssystem ist entwicklungsgeschichtlich sehr alt und tief im Mittelhirn verankert. Das Mittelhirn wird gerne auch als „Reptiliengehirn“ bezeichnet, weil es wie bei Reptilien ohne jedes Nachdenken reflexartig reagiert. Die Großhirnrinde hingegen, die unsere bewussten Gedanken und unsere „Vernunft“ beherbergt, ist entwicklungsgeschichtlich betrachtet sehr jung. Das Belohnungssystem im Reptiliengehirn arbeitet daher nahezu autonom, sehr weit entfernt von allem, was wir mit kühler Logik berechnen. Deswegen stehen wir – wider besseres Wissen – häufig spät abends doch wieder vor dem Kühlschrank anstatt gleich ins Bett zu gehen. Was wir bräuchten, ist nicht über noch mehr Lusterleben ausgeschüttetes GABA. Eigentlich benötigten wir Ruhe, damit sich unsere Speicher auffüllen und die Rezeptoren erholen. Aber: Wir sind angefixt durch ein Zuviel an Genuss. Die innere Rastlosigkeit schreit nach Befriedigung, und ihre Stimme klingt in uns sehr viel intensiver als die der Vernunft. Essen zur Beruhigung funktioniert bei den meisten Menschen. Vermutlich ist deswegen Übergewicht vor allem in „zivilisierten“ Ländern ein solch schwerwiegendes Problem – ebenso wie Stress und Hektik und das vorgeblich alternativlose Streben nach mehr und immer mehr.

Wir sollten uns nichts vormachen: Wir sind größtenteils keine vernunftgesteuerten Wesen. Im Gegenteil: Unsere sogenannte Ratio ist viel eher nichts als die willfährige Dienerin unserer Gelüste. Selbst wenn uns das ständige Lusterleben schon jeder Lust beraubt hat und uns jedes Mehr längst nur noch unruhiger und bedürftiger werden lässt, selbst wenn uns das ständige Zuviel schon körperlich geschadet hat: Die Einsicht nutzt uns wenig. Jeder zweite Amerikaner ist zu dick. Die Deutschen stehen dieser Entwicklung – führend in Europa! – nur wenig nach. Wir wissen, dass wir abnehmen sollten und schaffen es trotzdem nur selten. Der Geist ist willig, doch das Mittelhirn bleibt schwach. Wenn wir wirklich nichts mehr essen können, weil wir voll sind, übervoll, so finden wir doch immer neue Wege, unsere innere Unruhe zu bekämpfen: Genussmittel, Konsum, Macht, Geltung, Drogen, Tabletten – jeder Kanal ist unserem Reptiliengehirn recht, um seinen Hunger nach Dopamin und GABA zu stillen. Niemand ist gern lustlos, ängstlich, schlaflos und angespannt. Deswegen rennen wir immer schneller, solange es noch etwas zu erhaschen gibt, das uns Lust verschafft und befriedigt – und sei es auch für einen noch so kurzen Augenblick.

Im Folgenden möchte ich kurz die üblichen Strategien des „homo zivilisatus“ zum Ausgleich seines Lustverlusts darstellen.

Noch mehr vom Zuviel: Kompensationsstrategien des Lustverlusts

Immer häufiger

Das erste Verhalten, das den Wirkverlust von Dopamin im Überfluss ausgleichen soll, äußert sich im Drang, lustauslösende Ereignisse immer häufiger zu erleben. Die hieraus resultierende Beschleunigung aller Lebensvorgänge lässt sich individuell wie in größerem gesellschaftlichen Rahmen ablesen: Das Phänomen der Langeweile ist aus unserem Leben nahezu vollständig verschwunden, jede Sekunde ist angefüllt mit Informationen, Arbeit oder Genüssen. Gab es früher im Jahr ein oder zwei große Feste (Weihnachten und Erntedank), feiern wir heute das ganze Jahr: Geburtstage, Jubiläen, Volksfeste, Musikveranstaltungen, internationale Feste, kulturelle Highlights. Selbst die Geschwindigkeit von Fußgängern in Großstädten hat sich einer Studie zufolge innerhalb eines Jahrzehnts um durchschnittlich 10 % erhöht (Wiseman 2009). Das Überangebot lässt niemandem mehr zur Muße kommen: Jeder fürchtet, etwas zu versäumen. Aber statt zu genießen, wirken viele Menschen im Überfluss nur noch gehetzt.

Immer doller

Die nächste Möglichkeit zur Kompensation des nachlassenden Lustempfindens besteht in der Intensivierung der auslösenden Reize. Auch diese Strategie lässt sich überall in zivilisierten Ländern beobachten: Alles wird größer, schneller, bunter, schriller, lauter. Lebensmittel werden mit Farb- und Aromastoffen „attraktiver“ gestaltet, die Packungsgröße und die Kalorienzahl von Getränken und Speisen nehmen zu. Auch hier macht sich der Unterschied zwischen Stadt und Land, zwischen Zivilisation und naturnaher Lebensweise bemerkbar.

Jeder Bereich ist betroffen: Die Dimensionen von Bildschirmen wachsen genauso wie die durchschnittliche Kilowattzahl von neu zugelassenen Autos. Der durchschnittlich von einer Person beanspruchte Wohnraum vergrößert sich seit Jahren, jedes Accessoire muss immer edler und erlesener werden.

Immer verrückter

Eine weitere Strategie zur Kompensation des Wirkverlusts von Lust-Botenstoffen besteht in der Kombination von Stimulanzien. In der Anfangszeit des Films wurde ein schwarz-weißer Stummfilm schon als Sensation erlebt. Bald schon gesellte sich eine Klavierbegleitung hinzu. Ein Stummfilm mit Ragtime lockt Besucher heute allenfalls noch als Kuriosum ins Kino. Selbst das 3D-Erlebnis mit Dolby surround muss noch aufgehübscht werden, um attraktiv zu sein. Während sich auf der Megaleinwand überirdische Schönheiten in surrealen Abenteuern beweisen, benötigt der Besucher im Polstersessel zusätzlich Getränke, Süßigkeiten und Pikantes, damit er seinen Kinobesuch überhaupt als lohnenswert und befriedigend empfinden kann.

Immer dringlicher

Selbst wenn wir uns Karenz verordnen, halten wir diese kaum lange durch. Wir hungern drei, vier Wochen, um uns die verlorenen Pfunde an einem einzigen Wochenende wieder anzufressen. Selbst im Urlaub gelingt es uns nicht, von unseren Sünden zu lassen, soll doch gerade er uns entschädigen für den Stress und die Entbehrungen, denen wir im Alltag ausgeliefert sind. Und wieder schlägt es zu, das Wohlfühlparadoxon: Wir essen mehr als uns gut tut, vielleicht rauchen wir und trinken Alkohol, und es fällt schwer aufs Handy zu verzichten – wo wir doch endlich mal Zeit haben, zu chatten, ungestört im Internet zu surfen oder auch mal eine lange Mail zu diktieren. Die Vorstellung, drei Wochen am Stück offline zu bleiben, bei ganz einfacher Kost, ohne Genussmittel, ohne Elektronik, ist für viele verlockend – in der Theorie. Im wirklichen Leben lassen wir´s dann doch lieber krachen, um „wenigstens“ im Urlaub einmal „richtige“ Befriedigung zu verspüren – um anschließend genauso übersättig und erregt, so erschöpft wie bedürftig in den Alltag zurückzukehren.

Gebrauch von Stimulanzien

Und da weder die Beschleunigung, noch die Intensivierung oder die Kombination von Reizen die Entleerung von Transmitterspeichern, die Abstumpfung der Rezeptoren und andere Habituationsmechanismen auf die Dauer kompensieren können, wird das Nachlassen von Lust und Befriedigung von vielen Menschen gerne durch den Gebrauch von Stimulanzien ausgeglichen. Morgens bringen wir uns mit Koffein und schnell verfügbaren Kohlenhydraten in Schwung, tagsüber greifen wir zu legalen und sozial akzeptierten Aufweniger steigern