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Für meine Eltern, die mir das Laufen beibrachten

ISBN 978-3-492-97834-7
© Piper Verlag GmbH, München, 2018
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas
Covermotiv: iStock
Datenkonvertierung: psb, Berlin

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Der Sinn des Laufens lag nicht im Gewinnen. Die wahre Schönheit des Laufens war … war … ja, was?

Christopher McDougall, Born to Run

Inhalt

Kilometer 0. Wie jeden Tag Dutzende Läufer vor meinem Küchenfenster vorbeiziehen und ich mich dunkel erinnere: Ich war auch mal einer von ihnen.

Flussabwärts. Ich laufe wieder los.

Kleine Korrekturen am Trainingsplan. Ich bleibe schon wieder stehen.

Nachhilfestunde. Ich erkundige mich: Wie machen das eigentlich die anderen? Loslaufen, ohne schlapp zu machen.

Mit Stil. Große Fragen: Was ist der perfekte Laufstil? Gibt es ihn überhaupt? Und warum habe ich ihn nicht?

Dieses Gefühl. Wie ich für einen Moment glaube: Es läuft wieder.

Die Frauen und der Landarzt. Ich treffe Maria Strickling, die zu einer Zeit loslief, als Laufen nicht als gesund galt. Sondern für Frauen praktisch verboten war.

Im Flow (nur ein kurzer Augenblick). Andere nennen es runner’s high, und manchmal, ganz selten, weiß ich, was sie meinen.

Jens, nach dem Laufen. Mit Deutschlands bestem Theaterschauspieler suche ich danach, was Laufen fürs Leben (und den Beruf) bringt.

In Fahrt. Laufen ist schön, aber richtig schön ist für mich eigentlich doch nur schnelles Laufen. Oder besser gesagt: Laufen, so schnell es halt noch geht.

Die unerwünschte Entdeckung der Plantarsehne. Über das Nervigste am Laufen: Verletzungen. Wobei wir mal Eishockeyspieler fragen sollten, was wirkliche Sportverletzungen sind.

Weiterlaufen. Wie das Laufen Teresa Enke half, den Tod von Mann und Tochter zu überstehen.

Hunger. Warum die Rote Bete das Mega-Hammer-Ding ist und andere Einblicke in die Ernährungslehre von Läufern.

Ein Versuch. Ich weiß, dass ich mit der Verletzung pausieren sollte; ich will ja auch gar nicht richtig laufen – nur ein bisschen traben.

Die Freiheit zu laufen. Laufen kann man überall. Auch im Gefängnis. Mit Olympiasieger Dieter Baumann hinter Gittern, bei seinem ungewöhnlichsten Laufprojekt.

Ein neuer Versuch. Ich weiß immer noch, dass ich mit der Verletzung pausieren sollte; ich will ja auch gar nicht richtig laufen, sondern nur …

Bis ans Ende der Welt. Früher spielte Anne-Marie Flammersfeld Handball. Dann wollte sie mal etwas anderes machen. Und begann durch die Sahara, die Antarktis und den Kilimandscharo hinauf zu laufen.

Nur noch ein Versuch. Natürlich weiß ich weiterhin, dass ich mit der Verletzung pausieren sollte, aber …

Der Not-Lauf. Wie ich in einem bayrischen Dorf erfahre, wozu wir wirklich laufen: nicht zum Vergnügen, nicht zum Training, sondern, weil es ohne Auto, Bus oder Fahrrad die einzige schnelle Fortbewegungsart ist.

Am Fußboden. Wohl oder übel widme ich mich nach meiner Fußverletzung der Gymnastik, obwohl ich doch wie alle Läufer bin: Einzig Laufen, glauben wir, bringe uns im Training wirklich voran.

Laufen ohne Ball. Wie das Laufen sogar die letzte Bastion der Lauf-Hasser eroberte: den Fußball.

Ich werde modern. Ich weiß nicht einmal, wie man beim Handy den Klingelton ändert, aber ich zwinge mich dazu, mich mit der modernen Lauftechnologie auseinanderzusetzen, Pulsuhr, Runtastic, ach, was weiß ich.

Der Herr über unseren Atem. Daniel Holzinger trainierte früher selbst viel zu hart, denn nur was weh tut, bringt was, dachte er. Hat er heute den Stein des Weisen bei der Trainingssteuerung gefunden?

Die Entdeckung der Langsamkeit. Ich will Daniel Holzingers Trainingsmethode der langsamen Dauerläufe testen, auch wenn mir das Kriechtempo peinlich ist. Ich mache das nur für Sie, liebe Leser; ich opfere mein Selbstwertgefühl für Sie!

Aus was der Erfolg gemacht ist. Talent oder Training – was macht einen Läufer erfolgreich? Es ist die falsche Frage, zeigt eine Rekonstruktion von Deutschlands größtem Laufwunder.

Im Schlaf. Langsam muss ich aufpassen, beim laschen Dauerlauftempo der Holzinger-Methode nicht einzunicken.

Annäherung an den Mond. »Sehne« Orthmann war der coolste Typ im deutschen Laufsport. Nun lehrt er uns auch noch, wie man im Alter das Laufen genießt.

In Erwartung eines Wunders. Jetzt werden wir mal sehen, was drei Monate Training nach der Holzinger-Methode gebracht haben.

Die Schlacht von Altwarmbüchen. Als ich, 26 Jahre nach dem Ende meiner Wettkampfläufer-Karriere, wieder an der Startlinie stehe.

Anmerkungen

Kilometer 0

Mit 13 lernte ich laufen, und schon nach den ersten Schritten beschloss ich, nie mehr stehen zu bleiben.

Meine Eltern hatten mich bei den lokalen Waldlaufmeisterschaften angemeldet. Ich zog die Laufschuhe meines Vaters an, Größe 46 und somit mindestens drei Nummern zu groß für mich, was mir das ziemlich 13-jährige Gefühl gab, plötzlich erwachsen zu sein. Die Laufstrecke führte uns einmal den Berg hinauf und dann den Berg hinunter, was sich als ideal für mich herausstellte: In dem Moment, als ich erschöpft war, konnte ich mich einfach den Berg hinunterrollen lassen. Im Bericht des Höchster Kreisblatts erschien ich mit falschem Vornamen, Roland. Ich strich den Roland mit Kugelschreiber und Lineal durch, fügte samt Asterisk »Ronald« an und hängte den Bericht an meine Pinnwand, wo bis dahin Urlaubssouvenirs wie die Verpackungen Schweizer Schokolade hingen. Ich vermute, dass es heutigen 13-Jährigen eher nicht mehr in den Sinn kommt, ihre Wände derart zu schmücken. Am nächsten Nachmittag lief ich alleine, ohne dass mich irgendwer dazu aufgefordert hätte, in den Feldern hinter unserem Haus los. Ich kann nicht genau festmachen, ob es an der Begeisterung für die Riesen-Laufschuhe meines Vaters lag, am Ehrgeiz, einmal meinen richtigen Namen in der Zeitung zu lesen, oder am Stolz, dass mich beim semi-bewusstlosen Hinunterrollen vom Berg niemand mehr überholt hatte: Ich war jetzt ein Läufer.

33 Jahre später brauche ich nur irgendwo in der Ferne einen Läufer zu sehen, und ich glaube sofort, einen Seelenverwandten zu erkennen. Geradezu zwanghaft taxiere ich jeden Läufer. Was für ein Tempo hat er drauf? Setzt er mit den Vorderfüßen auf? Hält er die Hände locker? Dieses reflexartige Durchchecken jeden Läufers scheint seit meinen Tagen als Wettkampfläufer in meinem Gehirn programmiert. Manchmal lehne ich mich dagegen auf: Mein Gott, es ist eine ganz gewöhnliche Joggerin, die dort drüben durch den Park trabt, eine 60-jährige Frau, was geht sie dich an, lass sie doch laufen! Aber die peinliche Wahrheit ist, dass ich besessen weiterschaue, auf jeden einzelnen Läufer.

Wenn sie die Arme ein klein wenig tiefer halten würde, ein klein bisschen enger am Körper, könnte sie ökonomischer laufen.

Sie dagegen hat einen kraftvollen Abdruck! Sicher eine Wettkampfläuferin, wie sauber sie die Unterschenkel nach hinten wirft, wie gerade sie die Füße aufsetzt, top, ich wette, eine 5000-Meter-Läuferin, kein Marathon, dazu läuft sie zu energisch, gewohnt, Tempo zu machen.

Aber, oh je, der Mann mit den roten New-Balance-Schuhen und diesem schmerzverzerrten Gesicht, wenn ich ihm einen Spiegel vorhalten könnte, er würde selbst verstehen, dass, wer das Gesicht beim Laufen so verzerrt, im gesamten Körper verkrampft.

Irgendwann, vor einigen Wochen, stellte ich mir dann die Frage: Und du, wie läufst du?

Gar nicht mehr.

In meiner Fantasie bin ich noch immer der junge Mittelstreckenläufer: In meinem Selbstverständnis bin ich immer ein Läufer geblieben. Einige Tage verdrängte ich die Erkenntnis, dass dieses Selbstbild nichts mehr mit der Realität zu tun hat. Aber wir leben in Bozen direkt an den Talferauen, der Laufstrecke der ganzen Stadt. Wirklich alle paar Minuten zieht ein Läufer vor unserem Küchenfenster vorbei – und plötzlich schien mir jeder vorbeihuschende Läufer zuzurufen: »Und du?«

Ich wandte mich vom Küchenfenster ab. Die Frage jedoch blieb: Warum hatte ich das Laufen bloß aufgegeben?

Natürlich kenne ich die Antworten: Familie, Arbeit, es sind dieselben Antworten, die Zehntausende geben, denen mit den Jahren eine Leidenschaft langsam, fast unbemerkt entglitten ist.

Zum Stillstand gekommen vor dem Küchenfenster, dachte ich weiter nach. Vor mir lagen die Auen mit ihren perfekten Laufwegen, flach, auf festem Erdboden, zwischen Wiesen und dem singenden Fluss, unter majestätischen Bäumen, die Reisende aus der ganzen Welt nach Bozen gebracht haben, Himalaja-Zedern, Affenrutschbäume, in dem milden Klima der Stadt wächst und gedeiht die Natur. Allein beim Blick auf die pittoreske Szenerie stellte sich das alte, vertraute Gefühl des Laufens wieder ein: die Einbildung, im Laufschritt fliegen zu können. Der gesamte Körper ist von Lebendigkeit und Leichtigkeit erfüllt, ich setze, aus schierem Übermut, mit dem Vorder- statt dem Hinterfuß auf, das verstärkt den Eindruck zu federn, bei jedem Schritt abzuheben, für einen langen Moment in der Luft zu sein.

Als jugendlicher Mittelstreckler absolvierte ich jeden zweiten Tag ein Intervalltraining auf der Tartanbahn in Frankfurt. An den Zwischentagen lief ich bei uns im Taunus durch den Wald, 10 bis 15 Kilometer, ein Tempo von 4:20 Minuten pro Kilometer, keine Anstrengung, einfach laufen lassen. Den Berg vor dem Rettershof, hinter dem streng riechenden Reitplatz, sprintete ich jedes Mal hoch, 30, 40 Sekunden im Sprint bergauf, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, die Schritte kürzer gesetzt. Oben angekommen lief ich, ohne zu verschnaufen, anstandslos im normalen Dauerlauftempo weiter. Nur mein Herz pochte etwas heftiger, lebhafter. Bei diesen Sprints den Berg am Reitplatz hinauf wusste ich besser denn je, was die Leute meinen, wenn sie sagen: vor Energie bersten. Vor Freude platzen.

Mit dem gemächlichen Laufschritt nach dem Berg-Sprint verfiel ich wieder ins Träumen. Manchmal erreichte ich nach 45 Minuten unser Haus und konnte nicht rekapitulieren, ob ich wirklich gelaufen war, so sehr war ich in Träumen abwesend gewesen. Meine Träume waren damals nicht sehr fantasiereich: Es ging darin nur darum, schneller zu laufen, als ich es konnte.

Schnell zu laufen war Teil der Faszination, dieses Gefühl, beim 1500-Meter-Lauf im Pulk mitzurollen, aber jederzeit das Tempo erhöhen zu können, aus der Kurve herauszuschießen, die Schritte länger zu ziehen, immer seltener den Boden berühren: schwerelos werden. Oft genug, und jedes Mal aufs Neue völlig verblüfft, merkte ich dann, aus der vorletzten Kurve herauskommend, dass die Beine mich nur noch zum Boden hinzogen.

Damals, mit 17, hätte ich wohl gesagt, die Schönheit des Laufens sei der Rausch der Geschwindigkeit. Heute weiß ich es besser: Laufen gab mir ein Gefühl von Wachheit wie sonst nichts im Leben. Körper und Geist funktionierten parallel auf Hochtouren. Ich lief, schwebte dabei in diesem fantastischen Zustand körperlicher Anstrengungslosigkeit, den man nur bei voller Fitness erlebt, und gleichzeitig strömten die Gedanken, blitzte der Geist.

Ich schrieb einen gesamten Roman beim Laufen. 2005 arbeitete ich an einer fiktiven Erzählung aus der Welt der Londoner Investmentbanker, als mir eines Abends beim Laufen im Park plötzlich das gesamte nächste Kapitel zuflog, solch eine Schärfe der Gedanken hatte ich noch nicht erlebt. Zu Hause, die Schweißperlen auf dem Vorderarm, kritzelte ich das gesamte Kapitel in einen Notizblock, der Schweiß tropfte und verschmierte ein paar Worte. Ich ging jeden Tag wieder laufen, um weiterschreiben zu können. Die letzten Kilometer rannte ich meistens, aus Angst, mir könnten die Romanideen wieder entgleiten. Ich halte jenes Buch, Fremdgänger, für mein bestes. Oder habe ich nur das Hochgefühl meiner damaligen Läufe, als die Gedanken blitzten, auf den Roman übertragen? Es hat sich von all meinen Büchern fast am schlechtesten verkauft.

Das muss das letzte Mal gewesen sein, als ich regelmäßig lief. 2005.

Vor meinem Küchenfenster laufen Kinder eine Runde durch die Auen. Sie trainieren mit ihrer Lehrerin für die Südtiroler Schulmeisterschaften. An der Brücke biegen sie ab und verwandeln sich für mich zu bunten Punkten hinter der Trauerweide mit ihren abwärtshängenden Ästen. Obwohl die grellen Kunststoffleibchen der Kinder nicht weiter von der natürlichen Pracht der Auen entfernt sein könnten, nehme ich die Schüler automatisch als Einheit mit der Landschaft wahr. Weil ich mich beim Laufen immer im Einklang mit der Natur glaubte. Laufen ist Wachheit, Abschalten, Gedankenströme, Träumen, Leichtigkeit, Geschwindigkeit, die Schönheit der Einsamkeit, die Euphorie des Gruppengefühls, die Frische danach. Laufen ist auch Leiden, Schmerz, Sucht, Verführung zum Extremen und vor allem der Irrsinn, dass man all diesen unangenehmen Erfahrungen etwas Erhabenes abgewinnt. Laufen ist für mich eines der schönsten Gefühle, die ich erlebte. Als ich, am Küchenfenster, bei dieser Erkenntnis angekommen bin, verändert sich die Frage zwangsläufig. Aus »Wie konnte ich dieses Gefühl aufgeben?« wird: Warum läufst du nicht wieder los?

Es sind fünf Tage vergangen, seit ich mir die Frage stellte. In der Zwischenzeit spielte ich mit unserer fünfjährigen Tochter in der Frühlingssonne an der Talfer Fangen, und jedes Mal, wenn ich losrennen sollte, um sie einzuholen, spürte ich, wie ich über einen inneren Widerstand hinweg musste, körperlich wie geistig: Meine Achillessehnen und Knie wollten nicht los, nicht raus aus dieser vertrauten Steifheit. Und mein Kopf wollte nicht wieder diesen Ruck, dieses Rumpeln ertragen, wenn sich der Körper in Bewegung setzt.

Will ich wirklich wieder laufen?

Ich ging mit unserem zehnjährigen Sohn Fußball spielen. Ich überwand das Rucken, das Rumpeln, ist der Körper in Bewegung, ging es mit dem Laufen eigentlich recht gut. Nach 20 Minuten spielte ich fast nur noch aus dem Stand. Mein Atem pfiff.

Will ich wirklich wieder …?

Ich habe nicht den Ehrgeiz, einen Marathon zu bestreiten oder ein ähnliches konkretes Laufziel zu erreichen. Ich jage auch nicht der ewigen Jugend hinterher und bilde mir ein, das Laufen könnte sie mir zurückbringen. Ich will einfach schauen, ob ich dieses schöne Gefühl vom Laufen wiederfinden kann, mit 46. Ich will möglichst genau herausfinden, warum Millionen das Laufen lieben, ganz gleich ob sie nun zweimal die Woche ein wenig traben oder ob sie Ultramarathons bestreiten. In den vergangenen Jahren staunte ich oft: Wer auf einmal alles lief! Der dicke Joschka Fischer, Vorstandsbosse, Schriftsteller, unsere Nachbarin, von der ich nicht gewusst hatte, dass sie anderes Schuhwerk als Stöckelschuhe besaß. Nur ich, der selbstdefinierte Läufer, lief nicht mehr.

Als ich in meiner Jugend um die Wette rannte, war Laufen ein Sport, den halt einige betrieben, so wie andere Tischtennis oder Schach. Heute ist Laufen ein Lebenselixier. Bei der Lektüre so mancher Laufbücher entsteht der Eindruck, es gebe kein Problem der Welt, das sich nicht mit Laufen lösen ließe. Laufen kille den Stress, Laufen schenke Ausgeglichenheit, Laufen mache schlanker, schöner, schlauer. Und manches davon stimmt wohl auch noch.

Ich bin selbst gespannt, ob ich am Ende wieder sechs Mal die Woche laufen werde oder gar nicht mehr, ob ich es bei Drei-Kilometer-Entspannungsläufen belasse oder wieder bei Wettkämpfen antreten werde. Wie weit werde ich wieder der Läufer, für den ich mich halte?

Meine Eltern waren Läufer, meine Schwester war Läuferin, jeden Nachmittag ging bei uns in Fischbach im Taunus einer nach dem anderen laufen. Immer verabschiedeten wir uns voneinander mit demselben Satz. Es waren nur vier beiläufige Worte, doch in keinem Moment waren wir uns näher. Der Satz versicherte uns, dass wir dieses Gefühl teilten.

Wir sagten, und ich möchte nichts weiter, als es wieder mit der alten Selbstverständlichkeit zu sagen: »Ich laufe dann los.«

Flussaufwärts

Meinen ersten Lauf sollen allenfalls ein paar Drogendealer sehen. Ich warte mit dem Start, bis die Dunkelheit kommt und mich schlucken wird. Nach 21 Uhr im März sind die Talferauen ein Stillleben, nur vereinzelt tauchen Gestalten zwischen den Bäumen am Flussufer auf, aus der Lektüre der Lokalzeitung weiß ich, dass es Haschischhändler sein müssen. Sie erscheinen mir, nach zwölf Jahren ohne ernsthafte sportliche Betätigung, ein angemesseneres Publikum für meinen Comebacklauf als all die Spaziergänger, Nachbarn, Bekannten, die sich zur besten Laufzeit nachmittags um fünf auf der Promenade tummeln.

So lasse ich den milden Südtiroler Märztag vorbeiziehen, der einen geradezu auffordert, sich an die Luft zu begeben und zu vergnügen. Meine Frau stammt aus der Region, deshalb zogen wir hierher. Nachmittags um fünf leuchtet auf der Talferpromenade das mächtige, frische Blätterwerk der Weiden und Eschen in der Sonne, an den Trampolinen hat sich eine lange Schlange schnatternder Kinder gebildet. Niemand trägt mehr eine Jacke. Für Läufer ist das ein feierlicher Tag: der erste im Jahr, an dem man in kurzer Hose laufen kann. Es ist eine Befreiung, plötzlich keinen Stoff mehr an den Unterschenkeln zu tragen, die Luft an den Knien zu spüren. Die Leichtigkeit der kurzen Kleidung überträgt sich auf das Laufgefühl. An solchen Tagen musste ich es vor lauter Euphorie immer gleich übertreiben. Ich lief in Schuhen ohne Socken. Es war das ultimative Glücksgefühl. Ich spürte mit den Zehen den Boden, die nackten Fesseln machten mich in meiner Einbildung schlanker, schneller. Nach dem Lauf, in der Umkleidekabine, protestierten die Freunde aus meiner Trainingsgruppe wegen des unerträglichen Gestanks. Ich lachte nur. Ich lachte wie verrückt vor Freude.

Heute stehe ich mit unserer Tochter an den Trampolinen. Wie immer, wenn sie merkt, dass ich in Gedanken versinke und die Aufmerksamkeit für ihre Kunststücke nur vorgebe, bombardiert sie mich mit Anweisungen: »Schau mal, Papa! Schau doch her! Wirf mir den Ball zu! Wirf ihn genau, wenn ich in die Luft gesprungen bin!« Während ich den kleinen Gummiball werfe, ihr »Bravo!« oder »Schade, fast!« zurufe, beobachte ich die Läufer, die am Tag der kurzen Hose explosionsartig aufgetaucht sind. Die ersten tragen bereits ultraleichte Trägertrikots. Das würde ich nie machen. Es braucht eine Steigerungsmöglichkeit, etwas noch Leichteres, in das man schlüpfen kann, wenn der Sommer kommt.

Ich ziehe meine lange schwarze Trainingshose an, als ich mich gegen 21.15 Uhr zum Laufen fertig mache. Die kurze Hose muss man sich erarbeiten, finde ich.

Ich kombiniere die schlabbrige Trainingshose mit einem weiten, fast formlosen T-Shirt. Ich besitze keine spezielle Laufbekleidung mehr, und ich werde mir auch keine hautenge Laufhose oder eine neonfarbene Windstopper-Jacke kaufen. Die unprofessionelle Kleidung ist mein Selbstschutz. Von einem Mann, der nicht einmal richtige Laufkleidung trägt, kann niemand, auch nicht er selbst, erwarten, dass er gleich wieder leichtfüßig rennt.

Herr Siebert kommt mir in den Sinn, ein Nachbar aus meinen Kindertagen in Fischbach. Herr Siebert ging mehrmals die Woche mit Lederschuhen, Bundfaltenhose und perfekt gebügeltem Hemd in den Wald. Wenn ihn niemand mehr sah, lief er los. Es waren die Achtzigerjahre. Er arbeitete in einer angesehenen Position bei der Hoechst AG. Sah er mich im Wald von ferne entgegenkommen, fiel er abrupt in den Spazierschritt. Er grüßte mich jedes Mal mit einem Pokerblick. Seine geröteten Wangen passten nicht dazu. Ich mochte ihn. Heute weiß ich, warum.

Von unserem Wohnhaus führen einige Treppenstufen zur Talferpromenade hinauf; 28 Treppenstufen, wie ich nun weiß. Ich bin sie im Sprint nach oben gestürmt, auf jede Stufe einen Tritt, explosive Schritte, hoher Kniehub, um die Muskeln zu aktivieren, die Stufen dabei gezählt, um mein Keuchen nicht zu hören. Dann stehe ich in der Dunkelheit.

Es ist tatsächlich kein Mensch zu sehen, offensichtlich muss selbst kein Hund mehr austreten.

Ich habe mir gar nicht überlegt, wohin ich laufen will. Einfach auf einer Seite der Talfer entlang, über eine der unzähligen Brücken hinüber und auf der anderen Seite wieder zurück, dachte ich und entscheide, mich zunächst Richtung Norden zu wenden; flussaufwärts. So wird es, falls ich mit der Zeit die Erschöpfung spüren sollte, auf dem Rückweg flussabwärts gehen.

Ich finde vom ersten Schritt an meinen alten Stil. Die Hände halb geöffnet, um dem Rest des Körpers die Lockerheit vorzugeben. Die Füße nach dem Bodenkontakt bewusst anheben, um den federnden Effekt zu verstärken. Ich schlage das Tempo an, von dem ich glaube, dass es mein altes ist. Ich könnte nicht sagen, ob es ein 4:15er-Schnitt ist oder ein 4:45er, früher hätte ich das gekonnt, das Tempo, ob bei den Intervall- oder den Dauerläufen, ohne Uhr auf die Sekunde genau timen. Jetzt habe ich nur ein Gefühl: Das ist mein Tempo. Die Sorge, dass es zu schnell sein könnte, ignoriere ich. Ich muss mein Tempo laufen, mein Instinkt gibt es mir unweigerlich vor. Wann immer ich durch die Vorgabe meines Trainers oder einen Mitläufer gezwungen wurde, langsamer als mein Tempo zu laufen, wurde es schrecklich anstrengend, ich konnte die Schritte nicht mehr natürlich setzen, meine Beine wurden schwer, der Geist müde von der Langsamkeit.

Der weiße Staubweg direkt am Flussufer hebt sich leuchtend von der Dunkelheit ab. Die Drogenhändler scheinen heute frei zu haben. Dabei könnte mich ruhig jemand sehen. Ich bin einfach losgelaufen und in einen angenehmen Rhythmus gefallen. Unterschwellig merke ich sehr wohl, wie sich der Körper für das mühelose Laufgefühl anstrengen muss, aber der Stil, das Tempo, das leichte Laufen ist offenbar für immer in mir, eingebrannt auf Tausenden Kilometern zwischen meinem vierzehnten und fünfunddreißigsten Lebensjahr. Nach 600 Metern entfernt sich der Staubweg neben dem Faustballplatz vom Fluss, in einer kleinen Steigung führt er zur Promenade hinauf. Den Anstieg werde ich hinaufsprinten, wie früher den Berg am Rettershof. Natürlich nicht jetzt, beim ersten Mal, da reicht die Vision, wie ich irgendwann, bald, die Steigung mit Schwung nehme. Nach ungefähr 15 Schritten den Anstieg hinauf kommt es mir vor, als würde ich den Oberkörper viel zu weit nach vorne legen; als könnte, als müsste der Rumpf die Beine nach oben ziehen.

Es waren nicht mehr als 70 Meter, die es sanft bergauf ging. Oben richte ich den Oberkörper auf, die Hände unverändert zur lockeren Faust geformt. Aber die Oberschenkel gehorchen nicht mehr. Sie wollen sich nicht mehr heben lassen, folglich verlassen die Füße kaum den Boden. Ich meine, auf der Stelle zu laufen. Ich versuche, wenigstens dem Atem wieder einen Rhythmus aufzuzwingen. Es wird nur eine kurze Überlastung wegen des Bergauflaufens sein. Aber auf der Promenade geht es weiterhin stromaufwärts, verdammt noch mal, es geht immer noch bergauf! Spaziergänger und halbwegs geübte Läufer würden den minimalen Anstieg auf der Promenade nicht wahrnehmen, die Steigung kann nicht mehr als 0,5 Prozent betragen. Mir kommt es vor wie eine Bergbesteigung. Die Hände locker halten, befehle ich mir. Doch ich habe das Gefühl, als würden nur noch meine Arme laufen. Sie pendeln weiter locker im Rhythmus, in meinem Tempo. Während sich der Rest des Körpers von jeglichem Tempo, jeglichem Rhythmus verabschiedet hat. Ich spüre, wie sich meine Unterschenkel nicht mehr gerade vor- und zurückbewegen, sondern nach außen ziehen, wie bei einem X-Beinigen. Ich habe nicht mehr die Kraft, sie zu kontrollieren.

Ich sollte umkehren. Dann würde ich flussabwärts laufen, dann könnte ich mich auf der nicht sichtbaren Neigung stabilisieren. Aber dann wäre ich nur 1,2 Kilometer gelaufen! Dann wäre ich nach sechs Minuten schon wieder zu Hause!

Meine Frau würde fragen: »Wolltest du nicht laufen gehen?«

Und ich müsste antworten: »Nein, ich wollte nur den Müll runterbringen.«

Und wenn sie fragte: »Was ist passiert?«

Dann müsste ich antworten: »Ich bin ein alter, nasser Sack geworden.«

So schleppe ich den alten, nassen Sack weiter. Die Talfer aufwärts, am verlassenen Minigolfplatz vorbei, es wird nicht besser, die Schritte werden nicht länger. Die ersten 600 Meter hat mich allein die Euphorie getragen, kein wundersames Läufer-Gen, wird mir bewusst. Ich stecke zu sehr im Kampf mit meinen frei schwingenden Unterschenkeln, um über meine Naivität zu schimpfen oder gar zu lächeln.

Aus den Augenwinkeln sehe ich rechts, dreißig Meter vor mir auf der Geraden, einen Schatten. Ein Hund. Ruckartig laufe ich wieder runder, schneller. Denn wo ein Hund ist, muss auch ein Herrchen sein. Die Scham, in meinem Zustand gesehen zu werden, gibt mir Kraft für ein gleichmäßigeres Laufen. Welche Reserven der Körper doch in Notsituationen aktivieren kann. Ich könnte mich natürlich auch von dem Hund beißen lassen, dann wäre mein Versuch, wieder ein Läufer zu werden, heldenhaft beendet, ich könnte auch vor mir selbst bestehen: Ich habe es wieder versucht, aber leider kam mir der blöde Hund dazwischen.

Der Hund schnüffelt am Bein einer Parkbank, als ich vorbeilaufe. Sein Herrchen blickt zu Boden.

Auf der Sankt-Anton-Brücke, nur 200 Meter später, melden meine Knie, dass sie keinen Asphalt mögen. Meine Knie sind mir in diesem Moment allerdings egal. Ich bin über die Brücke hinweg. Das zählt. Es geht flussabwärts.

Ich halte die Arme etwas tiefer, um den Schwung des minimalen Gefälles mitzunehmen. Langsam komme ich wieder dazu zu denken. Doch es kommt mir vor, als schwimme das Gehirn in meinem Schädel. Ich habe Schwierigkeiten, außer dem direkten Stück Boden vor mir noch etwas von meiner Umgebung aufzunehmen.

Ich laufe neben dem Fahrradweg, im Gras, wo Tausende Läufer, die den Asphalt meiden wollten, mit ihren Schritten einen schmalen Pfad geschaffen haben. Die geringfügige Neigung ermöglicht es mir, wieder die Haltung zu finden. Der Atem beruhigt sich, die Beine folgen halbwegs dem Armschwung. An meinem Grundgefühl ändert das nichts. Ich möchte nicht laufen, ich möchte es hinter mir haben.

Zweieinhalb, vielleicht drei Kilometer, tippe ich, bin ich gelaufen, 13, vielleicht 14 Minuten. Nüchtern betrachtet, ist das eine lächerliche Distanz. Ich habe Schwierigkeiten, die Treppe von der Talferpromenade wie ein Homo erectus hinunterzusteigen. Die Knie kippen bei jeder Stufe so merkwürdig weg. Vorsichtig schließe ich die Wohnungstür auf und schleiche unbemerkt ins Bad. Dort schließe ich mich 20 Minuten lang ein. Dann ist die Röte aus meinem Gesicht gewichen.

Kleine Korrekturen am Trainingsplan

Meine eher spontane als ausgeklügelte Trainingsplanung sieht für den Tag danach Regeneration in der Eisdiele vor. Das ist – egal, wie wenig ich gelaufen bin, egal, in welcher Form ich mich befinde – das ewig Schöne am Laufen: Es ist stets ein Vorwand, mich zu belohnen.

»Ach, geben Sie mir bitte noch Sahne obendrauf«, sage ich zu der Bedienung, die meine Eiswaffel mit zwei Kugeln Schokolade füllt.

Weil ich ein Läufer bin, kann ich so viel Süßes essen, wie ich will. Ich werde sowieso nicht dick. Das glaubte ich unverdrossen all die Jahre hindurch, in denen ich gar nicht mehr lief und die Hosen beim ersten Tragen nach dem Waschen immer so spannten. Mittlerweile ist diese Selbsttäuschung aufgeflogen, würde ich sagen: Ein Hintergedanke meines Lauf-Comebacks ist, dass es meiner Figur nicht schaden wird. Aber deswegen werde ich doch nicht aufs Schokoladeneis mit Sahne verzichten. Ich ernähre mich ganz entspannt, ohne Obsessionen; man kann sich doch auch mal was Süßes gönnen. Warum aber bekomme ich dann sofort, als das Eis verspeist ist, Gewissensbisse? Ich verspüre den Drang, sofort auf dem Boden der Eisdiele Liegestützen zu machen. Morgen laufe ich ja wieder, beschwichtige ich mein Gewissen.

Hättest du bloß das Eis nicht gegessen oder wenigstens die Sahne weggelassen, warum musstest du auch gleich zwei Kugeln nehmen; es wird ja wohl nicht an dem einen Eis liegen, woran denn sonst, an den 213 Eis, die du letztes Jahr gegessen hast, zum Beispiel – an dem Punkt versuche ich, den Gedankenstrom zu stoppen und mich auf die Laufbewegungen zu konzentrieren. Das muss es nur schlimmer machen. Denn meine Laufschritte scheinen auf jegliche Koordination zu verzichten. Tumb und stumpf schlagen die Füße auf den Boden auf. Ich trample. Ich eiere. Ich finde keinen Rhythmus und bin gleich schon an der sanften Steigung am Faustballplatz, die mit jedem Schritt steiler wird, zum Mount Everest wird. Die Erinnerung, wie ich vor zwei Tagen bei meinem ersten Comeback-Lauf das Hügelchen hochkroch, ist noch frisch. Ich bekomme Angst vor dem fauchenden Schmerz in den Oberschenkeln, ich will den unkontrollierbar rasselnden Atem nicht noch einmal hören, und da wird mir bewusst, dass ich, noch 100 Meter vom Hügel entfernt, schon viel stärker keuche als vorgestern nach der Steigung.

Zu Hause fragt meine Frau: »Und wie war’s?«

Einen Lauf steht man auch nach Jahren Pause halbwegs mit Anstand durch, wird mir bewusst. Schlimm wird erst der zweite, wenn einem der erste noch in den Knochen steckt.

Ich korrigiere meinen Trainingsplan ein klein wenig. Einen Tag laufen, zwei Tage Pause.

Gestern Abend hätte ich demnach wieder laufen sollen, aber dann wollte ich doch lieber bügeln. Beim Bügeln hat man den Erfolg direkt vor Augen: Welch ein wunderbarer Anblick ein faltenloses Hemd ist!

Ich werde also heute laufen. Wenn ich daran denke, überfällt mich bereits eine bleierne Müdigkeit. Ich spiele mit unserer Tochter an den Tischtennisplatten in den Talferwiesen. Weil wir den Ball äußerst selten treffen, gehen wir dazu über, die Schläger als Zielscheibe auf den Plattenrand aufzustellen und mit dem Ball darauf zu werfen. Wir treffen nicht viel öfter als beim Tischtennis, aber weil es ein selbst ausgedachtes Spiel ist, bereitet es uns mehr Spaß. Ich kann heute Abend nicht laufen, denke ich, ich muss den Koffer für eine Dienstreise nach München packen.

Ich packe den Koffer in zehn Minuten, setze mich auf das Sofa und lese ein Buch.

In drei Wochen laufe ich fünfmal. Dreimal in der ersten Woche, zweimal in der zweiten, gar nicht in der dritten.

Wenigstens eine Linie ist im Training zu erkennen: Es wird immer weniger.

Nach nicht einmal einem Monat habe ich den vermutlich schlimmsten Zustand eines Läufers erreicht, den wahrscheinlich aber jeder Laufsportler schon einmal kennengelernt hat: Denke ich ans Laufen, denke ich an die Anstrengung, Erschöpfung, Schmerzen. Ausschließlich. Denke ich ans Laufen, spüre ich postwendend einen inneren Widerstand.

Vom Küchenfenster aus betrachte ich die vorbeiziehenden Läufer. Wie schnell die Frau im orangefarbenen Trägertrikot ihre Füße aufsetzt, wie die Nadeln einer Nähmaschine hämmern die Füße auf den Asphalt, tack-tack-tack, sie hebt die Füße kaum, um Kraft zu sparen, tack-tack-tack. Wie gelassen wenig später ein Mann vorbeitrabt, seine Oberarme sind von einem Fell von Haaren bedeckt, die eigene Langsamkeit ignoriert er mit einem stoischen, unangestrengten Gesichtsausdruck. Wie schaffen sie es alle, einfach zu laufen?

Wie machen das andere Laufanfänger, wo nehmen sie die Zeit, die Disziplin, die Unverdrossenheit her, um die Anfangsschwierigkeiten zu überwinden? Und mir kommt eine Idee, wo ich Antworten finden könnte.

Nachhilfestunde

Stefan Wohllebe sieht auch ohne Laufkleidung wie ein Läufer aus. Jeans und Sweatshirt-Jacke betonen den austrainiert schlanken Körper. Nur den Mullverband trägt er für einen Läufer an einer merkwürdigen Stelle: Nicht an der Achillessehne oder der Wade ist er verletzt, sondern am Daumen. »Ich habe beim Heimwerken mit dem Hammer auf einen Schlag zwei Nägel getroffen«, den in der Wand und den am Daumen.

In meinen Läufererinnerungen habe ich mir ein vages Bild von Stefan Wohllebe bewahrt, wie er, im weißen Trikot mit rotem Brustring, bei irgendeinem Crosslauf als Erster durchs Ziel läuft, die blonden Haare von der Geschwindigkeit aus der Stirn geweht. Er stammt ebenfalls aus Hessen, aus dem Rheingau, wo jedes Dorf sein eigenes Schloss hat und Läufer, die den Wald suchen, immer erst einmal den Berg hinauf müssen. Wir liefen regelmäßig dieselben Rennen, wenngleich in verschiedenen Altersklassen, er ist Jahrgang 1968, ich 1970, deshalb ist die Erinnerung nur verschwommen: Alle, die mindestens zwei Jahre älter oder zwei Jahre jünger waren, interessierten mich in der Jugend nicht. Ich lebte in den Grenzen meiner Altersklasse, meine ganze Aufmerksamkeit war darauf konzentriert, was irgendwo auf der Welt Läufer der Jahrgänge 1969 bis 1971 taten. Eine Beschränkung, die Wettkampfläufer nach meinen Beobachtungen nie mehr ablegen: Bis zum Tod denken sie in Altersklassen, U17, U19, schon bald M30, M35, bis zur M100, »welcher Jahrgang bist du?« ist unter Läufern eine Frage wie in anderen Kreisen die Erkundigung nach dem Beruf.

Stefan Wohllebe lief weiter, als mir der Sport entglitt, er wurde 1999 Deutscher Berglaufmeister, bewältigte den Marathon in 2:20,51 Stunden, studierte Informatik und erfand sich nach dem Fachhochschul-Abschluss Ende der Neunziger einen Beruf: Er wurde Running Coach.

»Irgendwie muss ich mich ja nennen«, sagt er mit gesenkter Stimme, als müsse er sich für den Anglizismus entschuldigen. Lauftrainer kam als Bezeichnung nicht infrage, ein Lauftrainer arbeitete mit Athleten im Leichtathletik-Verein. Stefan Wohllebe aber würde alle coachen, die, mit 24 oder 87, schneller oder einfach nur leichter laufen wollten, genauso wie jene, die endlich einmal loslaufen wollten und es alleine irgendwie nie richtig schafften.

Es ist unmöglich festzustellen, ob er Mitte der Neunziger der erste Running Coach Deutschlands war oder einer der ersten. Auf jeden Fall ernährte ihn der neue Beruf vom ersten Tag an. Wohllebe bietet Einzelstunden oder Gruppentraining an, er hält Seminare in Laufshops und Firmen, er erstellt individuelle Trainingspläne; man kann mit ihm in den Urlaub auf Mallorca oder in die Toskana fahren, zum einwöchigen Lauftraining. Er hat dabei nie einen Kunden anwerben müssen. Die Läufer kommen zu ihm. Manche reisen zwei, drei Stunden an, um eine Stunde mit ihm zu trainieren. Dann fahren sie wieder zwei, drei Stunden zurück.

Running Coach zu werden war kein Geistesblitz; der Job hat sich ihm praktisch aufgedrängt. Mitte der Neunziger kam, als Symptom der neuen Freizeitgesellschaft, nicht nur die zweite oder dritte Laufwelle in Schwung, es begann auch die Epoche der Fragen. Die Leute fragten, denn dazu waren sie in den Siebzigern und Achtzigern in der Schule erzogen worden: Sie wollten erklärt haben, was der Zahnarzt da genau in ihrem Mund tat, warum die Bahn schon wieder Verspätung hatte; wie man richtig lief.

»Ich feierte damals meine größten Erfolge als Langstreckenläufer, und so lud mich der eine oder andere Laufshop-Besitzer ein, einmal einen Vortrag über Trainingslehre oder den richtigen Laufstil in seinem Laden zu halten. Nach jedem Vortrag fragten die Leute weiter: ›Können Sie mich nicht persönlich beraten? Könnten Sie mir nicht einen Trainingsplan schreiben?‹«

So wuchs sein – welch kurioses Wort für Läufer – Kundenstamm. Als er mit Mitte 30 das Informatikstudium beendete und in Vollzeit als Running Coach zu arbeiten begann, besaß er bereits ein florierendes Unternehmen, ohne dass er es damals richtig realisiert hätte, denn es gab ja noch nicht einmal einen Namen für das, was er tat: Leute im Laufen zu unterrichten.

Zu Stefan Wohllebe kam der eine oder andere Triathlon-Europameister, es kommen Läufer, die seit fünf Jahren bei jedem 10-Kilometer-Rennen das Ziel nach 40 Minuten erreichen und diese Schallmauer – immer diese blöden 40 Minuten! – endlich durchbrechen wollen. Aber »zu 95 Prozent«, sagt er, »wenden sich Leute an mich, die mit dem Laufen anfangen oder wieder anfangen wollen«. Ich nicke und sage ihm natürlich nicht, dass ich mittlerweile einer von ihnen bin.

Wir sitzen bei einem Kaffee im Le Frog, der Brasserie im Magdeburger Rotehornpark. Hier ist es wie bei mir in der Küche in Bozen: Alle paar Minuten kommt vor dem Fenster ein Läufer vorbei. Seine Frau fand als Richterin in Magdeburg Anstellung, so verschlug es Stefan Wohllebe vor vier Jahren in die Stadt. Er redet über sie mit der Kenntnis eines Mannes, der sich hier zu Hause fühlt, »die Einwohnerzahl steigt, 238.000, was gar nicht so wenig ist«. Magdeburg ist, neben der alten Heimat im Frankfurter Raum, die Basis seiner Tätigkeit als Running Coach. Wenn ich wolle, sagt Stefan Wohllebe, könne ich gerne einmal beim Anfängertraining vorbeischauen.

Immer wenn ich einen nervösen Menschen sehe, werde ich ganz ruhig. Ich habe auf die Selbstanalyse verzichtet, warum das so ist: Ob mich die Gewissheit beruhigt, dass andere genauso leicht unsicher werden wie ich? Oder ob ich vor lauter Verwunderung über die Aufregung der anderen die eigene einfach vergesse?

Der nervöse Mann mit der silbernen Haartolle neben mir wendet sich an Stefan Wohllebe: »Sie meinen also, es ist kein Problem, dass ich noch nie gelaufen bin?« Dasselbe hat er ihn eine Minute zuvor mit anderen Worten schon einmal gefragt. »Ich bin noch nie gelaufen. Meinen Sie, ich kann trotzdem mitmachen?« Geduldig schenkt ihm Wohllebe zum zweiten Mal ein angedeutetes Lächeln. »Hier sind Sie genau richtig. Alle hier sind Laufanfänger.« Aber ich kann die Nervosität des älteren Herrn nachvollziehen. Er und ich sind die Einzigen, die wie Anfänger aussehen. Wir tragen weite Baumwolljogginghosen, Modell Achtzigerjahre. Was bei ihm vielleicht tatsächlich die Zeit war, als er letztmalig Sport trieb. Ich schätze ihn auf Anfang 70. Um uns herum auf dem Parkplatz am Rotehornpark tragen ansonsten alle schnittige Laufhosen und Running Shirts. Angetrieben vom Wunsch, jetzt doch auch mal zu laufen, schaffen es die meisten offensichtlich zumindest bis ins Sportgeschäft. Warum ist das vermeintlich so simple Loslaufen dann so kompliziert?

»Vielen fehlt so ein bisschen die Eigenmotivation, alleine loszulaufen«, sagt Stefan Wohllebe. »Da hilft es, einen Termin mit dem Running Coach zu haben. Der Termin ist konkret, da sagt niemand: Ach, eigentlich wollte ich heute doch laufen, aber ach, jetzt sitze ich so gemütlich auf dem Sofa.« Andere, fährt er fort, liefen durchaus einfach mal los – und seien logischerweise ziemlich schnell erschöpft. Folglich falle das Laufen schwer, es wird zur Last, und dann lässt man es schnell wieder. Ich denke, ich lasse mir mit meinem Pokergesicht nicht anmerken, dass ich mich ertappt fühle.

Stefan Wohllebe schaut ein paar Mal auf die Uhr, als könne er es kaum erwarten, dass es 18 Uhr schlägt, dass er loslegen kann; als spüre selbst er die Vorfreude. Vielleicht sehnt er sich auch nur danach, all die nervösen Fragen von uns Anfängern und Wiederanfängern hinter sich zu lassen, »wie viele Kilometer laufen wir denn?«, »sollte ich eigentlich erst mal einen Ergospirometrie-Test machen, um meinen natürlichen Grenzbereich zu erfahren?«.

Es ist einer jener mitteldeutschen Tage, die zum Laufen geschaffen wurden, 16 Grad, die milde Wärme des Tages mischt sich mit der erfrischenden Kühle des Abends. Gut 50 Laufwillige haben sich um Wohllebe versammelt, ich sehe dünne Beine, breite Hüften, durchtrainierte Waden, hängende Schultern; ein guter Bevölkerungsschnitt von 20 bis 75. Die AOK bietet das Lauftraining an und hat Wohllebe dafür engagiert. Einmal die Woche über drei Monate geht der Kurs, am Ende sollen alle Teilnehmer fünf Kilometer an einem Stück laufen können.

Diejenigen, die wissen wollten, wie viele Kilometer wir heute laufen, sind überrascht, dass wir praktisch gar nicht laufen. Zumindest nicht im klassischen Sinne. Nach ein paar Minuten Traben zum Aufwärmen bittet Wohllebe auf eine Art Start- und Landebahn.

Mit blinkenden Fahrradlämpchen hat er auf einem Parkweg eine Gerade von gut 70 Metern abgesteckt. Wir werden ein Lauf-ABC absolvieren, Kniehubläufe, Skippings, seitliche Sprünge. Der nervöse, sympathische Mann tritt unmerklich an den Rand, um lieber erst einmal zuzuschauen. Stefan Wohllebe hat eine nette Art, uns zu motivieren: »Morgen werden Sie dann vielleicht sogar etwas Muskelkater spüren, das wäre doch schön. Dann wissen Sie, was Sie getan haben.« Eifrig nehmen wir Aufstellung. Nach drei Durchgängen mogelt sich der nervöse Mann in die Reihen.

Zweimal die Woche Training, meint Stefan Wohllebe, sei ein gutes Maß für Anfänger. Er hat seiner Gruppe erklärt, wie sie die zweite Einheit der Woche alleine bestreiten können, nicht einfach losrennen, sondern ruhig Gehpausen einlegen, drei Minuten Laufen, zwei Minuten Gehen, so ungefähr, aber bloß nicht sklavisch an diese Vorgaben halten. Besser sollten sie versuchen, ein Gefühl zu entwickeln, welche Anstrengung für sie die richtige sei. Das berühmte Laufgefühl. Dieses Gefühl sei bei Anfängern zuverlässiger als eine Pulsuhr, »der Puls eines Anfänger ist schnell mal über 160, und dann erschrecken viele, weil der Pulsmesser ihnen piepend meldet, sie würden sich überanstrengen. Dabei können sie sich noch locker unterhalten.«

Drei Kilometer Laufen und Gehen reiche bei den meisten für den Anfang, am besten eine Pendelstrecke oder eine bekannte Runde wählen; zu wissen, wo das Ende ist, hilft.

Mit diesen Anhaltspunkten »können die meisten das reine Laufen alleine absolvieren«, sagt Wohllebe, »ich setze dann in unserer gemeinsamen Stunde dort an, wo ich den größten Trainingserfolg sehe: bei der Lauftechnik. Das Laufen wird leichter, es macht mehr Spaß, wenn sich der Laufstil verbessert.«

So heben wir, in Viererreihen auf der Landebahn, die Knie bewusst an, strecken die Beine nach der Landung des Fußes ganz durch und geben den Armen aus den Ellenbogen und den Schultergelenken Schwung. Einer jungen Frau, die mit dem springenden Elan einer Gazelle läuft, aber die Arme dabei unbeteiligt hängen lässt, ruft Stefan Wohllebe zu: »Aus der Schulter heraus Schwung holen«, und augenblicklich schwingen die Arme höher, natürlicher zu ihren Schritten.

Ich habe in meinen jungen Laufjahren Tausende Skippings und Kniehubläufe hinter mich gebracht. Doch an diesem Abend in Magdeburg bekomme ich zum ersten Mal detailliert erklärt, wie ich die Koordinationsläufe korrekt ausführe, die Höhe des Armschwungs, das Aufsetzen des Fußes. Dabei hatte ich damals bei Eintracht Frankfurt einen der besten deutschen Mittelstreckentrainer, Franz Eckhardt, er formte Deutsche Meister und tüftelte wie ein Professor an den Trainingsinhalten. Aber erklärt wurde damals beim Laufen eigentlich selten etwas. Es wurde vorausgesetzt, dass man es konnte.

Stefan Wohllebe weist uns an, beim nächsten Durchgang aus dem schnellen Trippeln des Skippings ins normale Laufen überzugehen, das Tempo dabei langsam zu steigern, und ich spüre, wie mein Körper bei der Beschleunigung plötzlich wieder ganz leicht wird, wie die Beine mit ihrem explosiven Abdrücken vom Boden den Körper mit geradezu übermütiger Kraft vorwärtstragen. Wir starten in Zehn-Meter-Abständen, um uns nicht in die Quere zu kommen, und der alte Rausch, der alte Ehrgeiz erfasst mich, ich setze mir heimlich das Ziel, beim Steigerungslauf mindestens drei Reihen vor mir zu übersprinten. Vermutlich werden die Läufer vor mir entrüstet sein, dass ich Unordnung in die Reihen bringe, vermutlich werden sie mich für einen alten Angeber halten, der hier bei Anfängern den dicken Max raushängen lässt. Aber das ist mir egal. Ich muss die Geschwindigkeit spüren, ich beschleunige, beschleunige mehr, immer mehr, überhole drei Reihen, sogar vier, und brauche vor lauter Tempo 30 Meter Auslauf, um zum Stehen zu kommen. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass niemand über mich den Kopf schüttelt. Stattdessen rennen fast alle im hohen Tempo, zwei sogar im vollen Sprint. Die reine Freude, schnell zu laufen, einfach zu laufen, hat sehr viele ergriffen. Stefan Wohllebe, der vor der Übung gesagt hatte, »nur das Steigern des Tempos ist wichtig, dabei müssen Sie gar nicht schnell laufen«, schweigt. Aber ich bilde mir ein zu wissen, dass er innerlich über uns lächelt, und zwar durchaus glücklich.

Wie so viele, die laufen, hat Stefan Wohllebe nie abstrakt darüber nachgedacht, warum er läuft. Laufen ist etwas, was man tut und fühlt, nicht aber philosophisch betrachtet. So trifft ihn meine Frage unvorbereitet, was für ihn das Glück des Laufens ist. Er überlegt. »Ich denke«, sagt er schließlich, »am Anfang machte es mir Spaß, weil ich darin gut war.«

Die Kinderärztin hatte ihm Bewegung verordnet, weil er eine lasche Körperhaltung habe, keine Spannung in den Muskeln. Also musste er zur Rückengymnastik, sich auf den Bauch legen, die Beine in die Luft und 100-mal den Beinschlag des Brustschwimmens simulieren, die Ärzte hielten die Übung für fortschrittlich, damals. Der Leichtathletikverein war zunächst einmal nur die nicht ganz so schlimme Alternative, um dem Rückentraining zu entkommen. Er brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass er auf den längeren Laufdistanzen besser zurechtkam als im Kugelstoßen. »Irgendwann, wann genau lässt sich nicht sagen, war es dann eine doppelte Freude: am Gewinnen und am Laufen.«