Einleitung

Inhaltsverzeichnis

Im Zwange der Welt
Weben die Nornen
Sie können nichts wenden noch wandeln
Richard Wagner, Siegfried

Niemand konnte die nationale Umwälzung dieses Jahres mehr herbeisehnen als ich. Ich habe die schmutzige Revolution von 1918 vom ersten Tage an gehaßt, als den Verrat des minderwertigen Teils unseres Volkes an dem starken, unverbrauchten, der 1914 aufgestanden war, weil er eine Zukunft haben konnte und haben wollte. Alles, was ich seitdem über Politik schrieb, war gegen die Mächte gerichtet, die sich auf dem Berg unseres Elends und Unglücks mit Hilfe unserer Feinde verschanzt hatten, um diese Zukunft unmöglich zu machen. Jede Zeile sollte zu ihrem Sturz beitragen, und ich hoffe, daß das der Fall gewesen ist. Irgend etwas mußte kommen, in irgendeiner Gestalt, um die tiefsten Instinkte unseres Blutes von diesem Druck zu befreien, wenn wir bei den kommenden Entscheidungen des Weltgeschehens mitzureden, mitzuhandeln haben und nicht nur ihr Opfer sein sollten. Das große Spiel der Weltpolitik ist nicht zu Ende. Die höchsten Einsätze werden erst gemacht. Es geht für jedes der lebenden Völker um Größe oder Vernichtung. Aber die Ereignisse dieses Jahres geben uns die Hoffnung, daß diese Frage für uns noch nicht entschieden ist, daß wir – wie in der Zeit Bismarcks – irgendwann wieder Subjekt und nicht nur Objekt der Geschichte sein werden. Es sind gewaltige Jahrzehnte, in denen wir leben, gewaltig das heißt furchtbar und glücklos. Größe und Glück sind zweierlei, und die Wahl steht uns nicht offen. Glücklich wird niemand sein, der heute irgendwo in der Welt lebt; aber es ist vielen möglich, die Bahn ihrer Jahre nach persönlichem Willen in Größe oder in Kleinheit zu durchschreiten. Indessen, wer nur Behagen will, verdient es nicht, da zu sein.

Der Handelnde sieht oft nicht weit. Er wird getrieben, ohne das wirkliche Ziel zu kennen. Er würde vielleicht Widerstand leisten, wenn er es sähe, denn die Logik des Schicksals hat nie von menschlichen Wünschen Kenntnis genommen. Aber viel häufiger ist es, daß er in die Irre geht, weil er ein falsches Bild der Dinge um sich und in sich entwickelt hat. Es ist die große Aufgabe des Geschichtskenners, die Tatsachen seiner Zeit zu verstehen und von ihnen aus die Zukunft zu ahnen, zu deuten, zu zeichnen, die kommen wird, ob wir sie wollen oder nicht. Ohne schöpferische, vorwegnehmende, warnende, leitende Kritik ist eine Epoche von solcher Bewußtheit wie die heutige nicht möglich.

Ich werde nicht schelten oder schmeicheln. Ich enthalte mich jedes Werturteils über die Dinge, die erst zu entstehen begonnen haben. Wirklich werten läßt sich ein Ereignis erst, wenn es ferne Vergangenheit ist und die endgültigen Erfolge oder Mißerfolge längst Tatsachen geworden sind, also nach Jahrzehnten. Ein reifes Verständnis Napoleons war nicht vor dem Ende des vorigen Jahrhunderts möglich. Über Bismarck können selbst wir noch keine abschließende Meinung haben. Nur Tatsachen stehen fest, Urteile schwanken und wechseln. Und schließlich: Ein großes Ereignis bedarf des wertenden Urteils der Mitlebenden nicht. Die Geschichte selbst wird es richten, wenn keiner der Handelnden mehr lebt.

Aber das darf heute schon gesagt werden: Der nationale Umsturz von 1933 war etwas Gewaltiges und wird es in den Augen der Zukunft bleiben, durch die elementare, überpersönliche Wucht, mit der er sich vollzog, und durch die seelische Disziplin, mit der er vollzogen wurde. Das war preußisch durch und durch, wie der Aufbruch von 1914, der in einem Augenblick die Seelen verwandelte. Die deutschen Träumer erhoben sich, ruhig, mit imponierender Selbstverständlichkeit, und öffneten der Zukunft einen Weg. Aber eben deshalb müssen sich die Mithandelnden darüber klar sein: Das war kein Sieg, denn die Gegner fehlten. Vor der Gewalt des Aufstandes verschwand sofort alles, was eben noch tätig oder getan war. Es war ein Versprechen künftiger Siege, die in schweren Kämpfen erstritten werden müssen und für die hier erst der Platz geschaffen wurde. Die Führenden haben die volle Verantwortung dafür auf sich genommen und sie müssen wissen oder lernen, was das bedeutet. Es ist eine Aufgabe voll ungeheurer Gefahren, und sie liegt nicht im Inneren Deutschlands, sondern draußen, in der Welt der Kriege und Katastrophen, wo nur die große Politik das Wort führt. Deutschland ist mehr als irgendein Land in das Schicksal aller andern verflochten; es kann weniger als irgendein anderes regiert werden, als ob es etwas für sich wäre. Und außerdem: Es ist nicht die erste nationale Revolution, die sich hier ereignet hat – Cromwell und Mirabeau sind vorangegangen –, aber es ist die erste, die sich in einem politisch ohnmächtigen Lande in sehr gefährlicher Lage vollzieht: das steigert die Schwierigkeit der Aufgaben ins Ungemessene.

Sie sind sämtlich erst gestellt, kaum begriffen, nicht gelöst. Es ist keine Zeit und kein Anlaß zu Rausch und Triumphgefühl. Wehe denen, welche die Mobilmachung mit dem Sieg verwechseln! Eine Bewegung hat eben erst begonnen, nicht etwa das Ziel erreicht, und die großen Fragen der Zeit haben sich dadurch in nichts geändert. Sie gehen nicht Deutschland allein an, sondern die ganze Welt, und sie sind nicht Fragen dieser Jahre, sondern eines Jahrhunderts.

Die Gefahr der Begeisterten ist es, die Lage zu einfach zu sehen. Begeisterung verträgt sich nicht mit Zielen, die über Generationen hinaus liegen. Mit solchen beginnen aber erst die wirklichen Entscheidungen der Geschichte.

Diese Machtergreifung hat sich in einem Wirbel von Stärke und Schwäche vollzogen. Ich sehe mit Bedenken, daß sie täglich mit so viel Lärm gefeiert wird. Es wäre richtiger, wir sparten das für einen Tag wirklicher und endgültiger Erfolge auf, daß heißt außenpolitischer. Es gibt keine andern. Wenn sie einmal errungen sind, werden die Männer des Augenblicks, die den ersten Schritt taten, vielleicht schon längst tot sein, vielleicht vergessen und geschmäht, bis irgendeine Nachwelt sich ihrer Bedeutung erinnert. Die Geschichte ist nicht sentimental, und wehe dem, der sich selbst sentimental nimmt!

In jeder Entwicklung mit solchem Anfang liegen viele Möglichkeiten, deren sich die Teilnehmer selten ganz bewußt sind. Sie kann in Prinzipien und Theorien erstarren, in politischer, sozialer, wirtschaftlicher Anarchie untergehen, ergebnislos zum Anfang zurückkehren, so wie man im Paris von 1793 deutlich fühlte, que ça changerait . Dem Rausch der ersten Tage, der oft schon kommende Möglichkeiten verdarb, folgt in der Regel eine Ernüchterung und die Unsicherheit über den »nächsten Schritt«. Es gelangen Elemente zur Macht, welche den Genuß der Macht als Ergebnis betrachten und den Zustand verewigen möchten, der nur für Augenblicke tragbar ist. Richtige Gedanken werden von Fanatikern bis zur Selbstaufhebung übersteigert. Was als Anfang Großes versprach, endet in Tragödie oder Komödie. Wir wollen diese Gefahren beizeiten und nüchtern ins Auge fassen, um klüger zu sein als manche Generation der Vergangenheit.

Wenn aber hier das dauerhafte Fundament einer großen Zukunft gelegt werden soll, auf dem kommende Geschlechter bauen können, so ist das nicht ohne Fortwirken alter Traditionen möglich. Was wir von unseren Vätern her im Blute haben, Ideen ohne Worte, ist allein das, was der Zukunft Beständigkeit verspricht. Was ich vor Jahren als »Preußentum« gezeichnet hatte, ist wichtig – es hat sich gerade eben bewährt –, nicht irgendeine Art von »Sozialismus«. Wir brauchen eine Erziehung zu preußischer Haltung, wie sie 1870 und 1914 da war und wie sie im Grunde unserer Seelen als beständige Möglichkeit schläft. Nur durch lebendiges Vorbild und sittliche Selbstdisziplin eines befehlenden Standes ist das erreichbar, nicht durch viel Worte oder durch Zwang. Sich selbst beherrschen muß man, um einer Idee dienen zu können, zu innerlichen Opfern aus Überzeugung bereit sein. Wer das mit dem geistigen Druck eines Programms verwechselt, der weiß nicht, wovon hier die Rede ist. Damit komme ich auf das Buch zurück, mit dem ich 1919 den Hinweis auf diese sittliche Notwendigkeit begonnen habe, ohne die sich nichts von Dauer errichten läßt: »Preußentum und Sozialismus«. Alle anderen Weltvölker haben einen Charakter durch ihre Vergangenheit erhalten. Wir hatten keine erziehende Vergangenheit und wir müssen deshalb den Charakter, der als Keim in unserem Blute liegt, erst wecken, entfalten, erziehen.

Diesem Ziel soll auch dieses Werk gewidmet sein, dessen ersten Teil ich hier vorlege. Ich tue, was ich immer getan habe: Ich gebe kein Wunschbild der Zukunft und noch weniger ein Programm zu dessen Verwirklichung, wie es unter Deutschen Mode ist, sondern ein klares Bild der Tatsachen, wie sie sind und sein werden. Ich sehe weiter als andere. Ich sehe nicht nur große Möglichkeiten, sondern auch große Gefahren, ihren Ursprung und vielleicht den Weg, ihnen zu entgehen. Und wenn niemand den Mut hat zu sehen und zu sagen, was er sieht, will ich es tun. Ich habe ein Recht zur Kritik, weil ich immer wieder durch sie das gezeigt habe, was geschehen muß, weil es geschehen wird. Eine entscheidende Reihe von Taten ist begonnen worden. Nichts, was einmal Tatsache ist, läßt sich zurücknehmen. Jetzt müssen wir alle in dieser Richtung fortschreiten, ob wir sie gewollt haben oder nicht. Es wäre kurzsichtig und feige, nein zu sagen. Was der Einzelne nicht tun will, wird die Geschichte mit ihm tun.

Aber das Ja setzt ein Verstehen voraus. Dem soll dies Buch dienen. Es ist eine Warnung vor Gefahren. Gefahren gibt es immer. Jeder Handelnde ist in Gefahr. Gefahr ist das Leben selbst. Aber wer das Schicksal von Staaten und Nationen an sein privates Schicksal geknüpft hat, muß den Gefahren sehend begegnen. Und zum Sehen gehört vielleicht der größere Mut.

Dies Buch ist aus einem Vortrag »Deutschland in Gefahr« entstanden, den ich 1930 in Hamburg gehalten habe, ohne auf viel Verständnis gestoßen zu sein. Im November 1932 ging ich an die Ausarbeitung, immer noch der gleichen Lage in Deutschland gegenüber. Am 30. Januar 1933 war es bis zur Seite 106 gedruckt. Ich habe nichts daran geändert, denn ich schreibe nicht für Monate oder das nächste Jahr, sondern für die Zukunft. Was richtig ist, kann durch ein Ereignis nicht aufgehoben werden. Nur den Titel habe ich anders gewählt, um nicht Mißverständnisse zu erzeugen: Nicht die nationale Machtergreifung ist eine Gefahr, sondern die Gefahren waren da, zum Teil seit 1918, zum Teil sehr viel länger, und sie bestehen fort, weil sie nicht durch ein Einzelereignis beseitigt werden können, das erst einer jahrelangen und richtigen Fortentwicklung bedarf, um ihnen gegenüber wirksam zu sein. Deutschland ist in Gefahr. Meine Angst um Deutschland ist nicht kleiner geworden. Der Sieg vom März war zu leicht, um den Siegern über den Umfang der Gefahr, ihren Ursprung und ihre Dauer die Augen zu öffnen.

Niemand kann wissen, zu was für Formen, Lagen und Persönlichkeiten diese Umwälzung führt und was für Gegenwirkungen sie von außen zur Folge hat. Jede Revolution verschlechtert die außenpolitische Lage eines Landes, und allein um dem gewachsen zu sein, sind Staatsmänner vom Range Bismarcks nötig. Wir stehen vielleicht schon dicht vor dem zweiten Weltkrieg mit unbekannter Verteilung der Mächte und nicht vorauszusehenden – militärischen, wirtschaftlichen, revolutionären – Mitteln und Zielen. Wir haben keine Zeit, uns auf innerpolitische Angelegenheiten zu beschränken. Wir müssen für jedes denkbare Ereignis »in Form« sein. Deutschland ist keine Insel. Wenn wir nicht unser Verhältnis zur Welt als das wichtigste Problem gerade für uns sehen, geht das Schicksal – und was für ein Schicksal – erbarmungslos über uns hinweg.

Deutschland ist das entscheidendste Land der Welt, nicht nur seiner Lage wegen, an der Grenze von Asien, weltpolitisch heute dem wichtigsten Erdteil, sondern auch weil die Deutschen noch jung genug sind, um die weltgeschichtlichen Probleme in sich zu erleben, zu gestalten, zu entscheiden, während andere Völker zu alt und starr geworden sind, um mehr als eine Abwehr aufzubringen. Aber auch großen Problemen gegenüber enthält der Angriff das größere Versprechen des Sieges.

Das habe ich beschrieben. Wird es die gehoffte Wirkung tun?

München, im Juli 1933

Oswald Spengler

Der politische Horizont

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1. Deutschland ist keine Insel

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Hat heute irgendein Mensch der weißen Rassen einen Blick für das, was ringsumher auf dem Erdball vor sich geht? Für die Größe der Gefahr, die über dieser Völkermasse liegt und droht? Ich rede nicht von der gebildeten oder ungebildeten Menge unserer Städte, den Zeitungslesern, dem Stimmvieh der Wahltage – wobei zwischen Wählern und Gewählten längst kein Unterschied des Ranges mehr besteht –, sondern von den führenden Schichten der weißen Nationen, soweit sie nicht schon vernichtet sind, von den Staatsmännern, sofern es welche gibt, von den echten Führern der Politik und der Wirtschaft, der Heere und des Denkens. Sieht irgend jemand über diese Jahre und über seinen Erdteil, sein Land, selbst über den engen Kreis seiner Tätigkeit hinaus?

Wir leben in einer verhängnisschweren Zeit. Die großartigste Geschichtsepoche nicht nur der faustischen Kultur Westeuropas mit ihrer ungeheuren Dynamik, sondern eben um dieser willen der gesamten Weltgeschichte ist angebrochen, größer und weit furchtbarer als die Zeiten Cäsars und Napoleons. Aber wie blind sind die Menschen, über die dieses gewaltige Schicksal hinwegbraust, sie durcheinanderwirbelnd, erhebend oder vernichtend. Wer von ihnen sieht und begreift, was mit ihnen und um sie her geschieht? Vielleicht ein alter weiser Chinese oder Inder, der schweigend, mit einer tausendjährigen Vergangenheit des Denkens im Geiste um sich blickt – aber wie flach, wie eng, wie klein gedacht ist alles, was an Urteilen, an Maßnahmen in Westeuropa und Amerika hervortritt! Wer begreift von den Bewohnern des Mittleren Westens der Vereinigten Staaten wirklich etwas von dem, was jenseits von New York und San Franzisko vor sich geht? Was ahnt ein Mann der englischen Mittelklasse von dem, was auf dem Festland drüben sich vorbereitet, um von der französischen Provinz zu schweigen? Was wissen sie alle von der Richtung, in welcher ihr eigenes Schicksal sich bewegt? Da entstehen lächerliche Schlagworte wie Überwindung der Wirtschaftskrise, Völkerverständigung, nationale Sicherheit und Autarkie, um Katastrophen im Umfang von Generationen durch prosperity und Abrüstung zu »überwinden«.

Aber ich rede hier von Deutschland, das im Sturm der Tatsachen tiefer bedroht ist als irgendein anderes Land, dessen Existenz im erschreckenden Sinne des Wortes in Frage steht. Welche Kurzsichtigkeit und geräuschvolle Flachheit herrschen hier, was für provinziale Standpunkte tauchen auf, wenn von den größten Problemen die Rede ist! Man gründe innerhalb unserer Grenzpfähle das Dritte Reich oder den Sowjetstaat, schaffe das Heer ab oder das Eigentum, die Wirtschaftsführer oder die Landwirtschaft, man gebe den einzelnen Länderchen möglichst viel Selbständigkeit oder beseitige sie, man lasse die alten Herren von der Industrie oder Verwaltung wieder im Stile von 1900 arbeiten oder endlich, man mache eine Revolution, proklamiere die Diktatur, zu der sich dann ein Diktator schon finden wird vier Dutzend Leute fühlen sich dem schon längst gewachsen – und alles ist schön und gut.

Aber Deutschland ist keine Insel. Kein zweites Land ist in dem Grade handelnd oder leidend in das Weltschicksal verflochten. Seine geographische Lage allein, sein Mangel an natürlichen Grenzen verurteilen es dazu. Im 18. und 19. Jahrhundert war es »Mitteleuropa«, im 20. ist es wieder wie seit dem 13. Jahrhundert ein Grenzland gegen »Asien«, und niemand hat es nötiger, politisch und wirtschaftlich weit über die Grenzen hinaus zu denken, als die Deutschen. Alles was in der Ferne geschieht, zieht seine Kreise bis ins Innere Deutschlands.

Aber unsere Vergangenheit rächt sich, diese 700 Jahre jammervoller provinzialer Kleinstaaterei ohne einen Hauch von Größe, ohne Ideen, ohne Ziel. Das läßt sich nicht in zwei Generationen einholen. Und die Schöpfung Bismarcks hatte den großen Fehler, das heranwachsende Geschlecht nicht für die Tatsachen der neuen Form unseres politischen Lebens erzogen zu haben. Man sah sie, aber begriff sie nicht, eignete sie sich innerlich mit ihren Horizonten, Problemen und neuen Pflichten nicht an. Man lebte nicht mit ihnen. Und der Durchschnittsdeutsche sah nach wie vor die Geschicke seines großen Landes parteimäßig und partikularistisch an, das heißt flach, eng, dumm, krähwinkelhaft. Dieses kleine Denken begann, seit die Staufenkaiser mit ihrem Blick über das Mittelmeer hin und die Hansa, die einst von der Schelde bis Nowgorod geherrscht hatte, infolge des Mangels an einer realpolitischen Stützung im Hinterlande anderen, sicherer gegründeten Mächten erlegen waren. Seitdem sperrte man sich in zahllose Vaterländchen und Winkelinteressen ein, maß die Weltgeschichte an deren Horizont und träumte hungernd und armselig von einem Reich in den Wolken, wofür man das Wort Deutscher Idealismus erfand. Zu diesem kleinen, innerdeutschen Denken gehört noch fast alles, was an politischen Idealen und Utopien im Sumpfboden des Weimarer Staates aufgeschossen ist, all die internationalen, kommunistischen, pazifistischen, ultramontanen, föderalistischen, »arischen« Wunschbilder vom Sacrum Imperium, Sowjetstaat oder Dritten Reich. Alle Parteien denken und handeln so, als wenn Deutschland allein auf der Welt wäre. Die Gewerkschaften sehen nicht über die Industriegebiete hinaus. Kolonialpolitik war ihnen von jeher verhaßt, weil sie nicht in das Schema des Klassenkampfes paßte. In ihrer doktrinären Beschränktheit begreifen sie nicht oder wollen nicht begreifen, daß der wirtschaftliche Imperialismus der Zeit um 1900 gerade für den Arbeiter eine Voraussetzung seiner Existenz war mit seiner Sicherung von Absatz der Produkte und Gewinnung von Rohstoffen, was der englische Arbeiter längst begriffen hatte. Die deutsche Demokratie schwärmt für Pazifismus und Abrüstung außerhalb der französischen Machtgrenzen. Die Föderalisten möchten das ohnehin kleine Land wieder in ein Bündel von Zwergstaaten ehemaligen Gepräges verwandeln und damit fremden Mächten Gelegenheit geben, den einen gegen den andern auszuspielen. Und die Nationalsozialisten glauben ohne und gegen die Welt fertig zu werden und ihre Luftschlösser bauen zu können, ohne eine mindestens schweigende aber sehr fühlbare Gegenwirkung von außen her.

Die weiße Weltrevolution

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10. Die »Revolution von unten«. Zeitalter der Gracchen in Rom

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So sieht das Zeitalter der Weltkriege aus, in dessen Anfängen wir uns erst befinden. Aber dahinter erscheint das zweite Element der ungeheuren Umwälzung, die Weltrevolution. Was will sie? Worin besteht sie? Was hat das Wort im tiefsten Grunde zu bedeuten? Man versteht seinen vollen Inhalt heute so wenig wie den geschichtlichen Sinn des ersten Weltkrieges, der eben erst hinter uns liegt. Es handelt sich nicht um die Bedrohung der Weltwirtschaft durch den Bolschewismus von Moskau, wie es die einen, und nicht um die »Befreiung« der Arbeiterklasse, wie es die andern meinen. Das sind nur Fragen der Oberfläche. Vor allem: diese Revolution droht nicht erst, sondern wir stehen mitten darin, und nicht erst seit gestern und heute, sondern seit mehr als einem Jahrhundert. Sie durchkreuzt den »horizontalen« Kampf zwischen den Staaten und Nationen durch den vertikalen zwischen den führenden Schichten der weißen Völker und den andern, und im Hintergrund hat schon der weit gefährlichere zweite Teil dieser Revolution begonnen: der Angriff auf die Weißen überhaupt von Seiten der gesamten Masse der farbigen Erdbevölkerung, die sich ihrer Gemeinschaft langsam bewußt wird.

Dieser Kampf herrscht nicht nur zwischen den Schichten von Menschen, sondern darüber hinaus zwischen den Schichten des Seelenlebens bis in den einzelnen Menschen hinein. Fast jeder von uns hat diesen Zwiespalt des Fühlens und Meinens in sich, obwohl er das gar nicht weiß. Deshalb kommen so wenige zu der klaren Einsicht, auf welcher Seite sie wirklich stehen. Aber gerade das zeigt die innere Notwendigkeit dieser Entscheidung, die weit über das persönliche Wünschen und Wirken hinausgeht. Mit den Schlagworten, welche der herrschenden Mode des Denkens entstammen, Bolschewismus, Kommunismus, Klassenkampf, Kapitalismus und Sozialismus, mit denen jeder die Frage genau umschrieben glaubt, weil er nicht in die Tiefe der Tatsachen zu sehen vermag, ist da sehr wenig gewonnen. Das gleiche hat sich in allen vergangenen Kulturen auf der gleichen Stufe zugetragen, so wenig wir im einzelnen davon wissen.

Aber von der Antike wissen wir genug. Der Höhepunkt der revolutionären Bewegung liegt in der Zeit von Tib. und C. Gracchus bis auf Sulla, aber der Kampf gegen die führende Schicht und deren gesamte Tradition begann schon ein volles Jahrhundert früher durch C. Flaminius, dessen Ackergesetz von 232 Polybius (II, 21) mit Recht als den Anfang der Demoralisation der Volksmasse bezeichnet hat. Diese Entwicklung wurde nur vorübergehend durch den Krieg gegen Hannibal unterbrochen und abgelenkt, gegen dessen Ende bereits Sklaven in das »Bürgerheer« eingestellt worden sind. Seit der Ermordung der beiden Gracchen – und ihres großen Gegners, des jüngeren Scipio Afrikanus – schwinden die staatserhaltenden Mächte altrömischer Tradition schnell dahin. Marius, aus dem niederen Volk und nicht einmal aus Rom stammend, stellte das erste Heer auf, das nicht mehr auf Grund der allgemeinen Wehrpflicht, sondern aus besoldeten, ihm persönlich anhängenden Freiwilligen gebildet war, und griff mit ihm rücksichtslos und blutig in die inneren Verhältnisse Roms ein. Die alten Geschlechter, in denen seit Jahrhunderten staatsmännische Begabung und sittliches Pflichtbewußtsein herangezüchtet worden waren und denen Rom seine Stellung als Weltmacht verdankte, wurden zum guten Teil ausgerottet. Der Römer Sertorius versuchte mit den barbarischen Stämmen Spaniens dort einen Gegenstaat zu gründen, und Spartakus rief die Sklaven Italiens zur Vernichtung des Römertums auf. Der Krieg gegen Jugurtha und die Verschwörung Catilinas zeigten den Verfall der herrschenden Schichten selbst, deren entwurzelte Elemente jeden Augenblick bereit waren, den Landesfeind und den Pöbel des Forums für ihre schmutzigen Geldinteressen zu Hilfe zu rufen. Sallust hatte vollkommen recht: Am baren Gelde, nach dem der Pöbel und die reichen Spekulanten gleich gierig waren, sind die Ehre und Größe Roms, seine Rasse, seine Idee zugrunde gegangen. Aber diese großstädtische, von allen Seiten her zusammengelaufene Masse wurde – wie heute – nicht von innen heraus mobilisiert und organisiert, um ihr »Recht« auf Selbstregierung, ihre »Freiheit« vom Druck der herrschenden Schichten zu erkämpfen, sondern als Mittel für die Zwecke von Geschäftspolitikern und Berufsrevolutionären. Aus diesen Kreisen hat sich die »Diktatur von unten« als die notwendige letzte Folge der radikalen demokratischen Anarchie entwickelt, damals wie heute. Polybius, der staatsmännische Erfahrung und einen scharfen Blick für den Gang der Ereignisse besaß, sah das schon dreißig Jahre vor C. Gracchus mit Sicherheit voraus: »Wenn sie hinter hohen Staatsämtern her sind und sie nicht auf Grund persönlicher Vorzüge und Fähigkeiten erhalten können, dann verschwenden sie Geld, indem sie die Masse auf jede Art ködern und verführen. Die Folge ist, daß das Volk durch dies politische Strebertum ans Geschenknehmen gewöhnt und begehrlich nach Geld ohne Arbeit wird: Damit geht die Demokratie zu Ende, und es tritt die Gewalt und das Recht der Fäuste an ihre Stelle. Denn sobald die Menge, die von fremdem Eigentum zu leben und die Hoffnung für ihren Unterhalt auf den Besitz anderer zu gründen sich gewöhnt hat, einen ehrgeizigen und entschlossenen Führer findet, geht sie zur Anwendung der Macht ihrer Fäuste über. Und jetzt, sich zusammenrottend, wütet sie mit Mord und Vertreibung und eignet sich den Besitz der anderen an, bis sie völlig verwildert in die Gewalt eines unumschränkten Diktators gerät.« – »Die eigentliche Katastrophe wird jedoch durch die Schuld der Masse herbeigeführt werden, wenn sie durch die Geldgier der einen sich geschädigt glaubt, während der Ehrgeiz der andern, ihrer Eitelkeit schmeichelnd, sie zur Selbstüberschätzung verführt. In der Wut wird sie sich erheben, wird bei allen Verhandlungen nur der Leidenschaft Gehör geben, wird denen, welche den Staat leiten, keinen Gehorsam mehr leisten, ja ihnen nicht einmal Gleichberechtigung zugestehen, sondern in allem das Recht der Entscheidung für sich fordern. Wenn es dahin kommt, wird der Staat sich mit den schönsten Namen schmücken, denen der Freiheit und Regierung des Volkes durch sich selbst, aber in Wirklichkeit wird er die schlimmste Form erhalten haben, die Ochlokratie, die Diktatur des Pöbels.«

Diese Diktatur droht heute den weißen Völkern nicht etwa, sondern wir befinden uns unter ihrer vollen Herrschaft, und zwar so tief und so selbstverständlich, daß wir es gar nicht mehr bemerken. Die »Diktatur des Proletariats«, das heißt seiner Nutznießer, der Gewerkschaften und der Parteifunktionäre aller Richtungen, ist eine vollzogene Tatsache, ob die Regierungen nun von ihnen gebildet oder infolge der Angst des »Bürgertums« von ihnen beherrscht werden. Das hatte Marius gewollt, aber er scheiterte an seinem völligen Mangel staatsmännischer Begabung. Davon besaß sein Neffe Cäsar um so mehr, und er hat die furchtbare Revolutionszeit durch seine Form der »Diktatur von oben« beendet, die an die Stelle der parteimäßigen Anarchie die unumschränkte Autorität einer überlegenen Persönlichkeit setzte, eine Form, der er für immer den Namen gegeben hat. Seine Ermordung und deren Folgen konnten nichts mehr daran ändern. Von ihm an gehen die Kämpfe nicht mehr um Geld oder Befriedigung des sozialen Hasses, sondern nur noch um den Besitz der absoluten Macht.

Mit dem Kampf zwischen »Kapitalismus« und »Sozialismus« hat das gar nichts zu tun. Im Gegenteil: die Klasse der großen Finanzleute und Spekulanten, die römischen equites , was seit Mommsen ganz irreführend mit Ritterschaft übersetzt wird, haben sich mit dem Pöbel und seinen Organisationen, den Wahlklubs ( sodalicia ) und bewaffneten Banden wie denjenigen des Milo und Clodius, immer sehr gut verstanden. Sie gaben das Geld her für Wahlen, Aufstände und Bestechungen, und C. Gracchus hat ihnen dafür die Provinzen zur unumschränkten Ausbeutung unter staatlicher Deckung preisgegeben, in denen sie namenloses Elend durch Plünderung, Wucher und den Verkauf der Bevölkerung ganzer Städte in die Sklaverei verbreiteten, und darüber hinaus die Besetzung der Gerichte, in denen sie nun über ihre eigenen Verbrechen urteilen und sich gegenseitig freisprechen konnten. Dafür versprachen sie ihm alles, und sie ließen ihn und seine ernstgemeinten Reformen fallen, als sie ihren eigenen Vorteil in Sicherheit gebracht hatten. Dieses Bündnis zwischen Börse und Gewerkschaft besteht heute wie damals. Es liegt in der natürlichen Entwicklung solcher Zeiten begründet, weil es dem gemeinsamen Haß gegen staatliche Autorität und gegen die Führer der produktiven Wirtschaft entspringt, welche der anarchischen Tendenz auf Gelderwerb ohne Anstrengung im Wege stehen. Marius, ein politischer Tropf wie viele volkstümliche Parteiführer, und seine Hintermänner Saturninus und Cinna dachten nicht anders als Gracchus; und Sulla, der Diktator der nationalen Seite, richtete deshalb nach der Erstürmung Roms unter den Finanzleuten ein furchtbares Gemetzel an, von dem sich diese Klasse nie wieder erholt hat. Seit Cäsar verschwindet sie als politisches Element vollständig aus der Geschichte. Ihr Dasein als politische Macht war mit dem Zeitalter der demokratischen Parteianarchie aufs engste verbunden und hat es mithin nicht überlebt.

11. Nicht wirtschaftlich, sondern städtisch: Zerfall der Gesellschaft

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Diese Revolution von der Dauer mehr als eines Jahrhunderts hat im tiefsten Grunde mit »Wirtschaft« überhaupt nichts zu tun. Sie ist eine lange Zeit der Zersetzung des gesamten Lebens einer Kultur, die Kultur selbst als lebendiger Leib begriffen. Die innere Form des Lebens zerfällt und damit die Kraft, ihr durch schöpferische Werke, deren Gesamtheit die Geschichte der Staaten, Religionen, Künste bildet, nach außen hin Ausdruck zu geben, nachdem sie bis zur äußersten Höhe ihrer Möglichkeiten gereift war. Der einzelne Mensch mit seinem privaten Dasein folgt dem Zuge des Ganzen. Sein Tun, Sichverhalten, Wollen, Denken, Erleben bilden mit Notwendigkeit ein wenn auch noch so geringes Element in dieser Entwicklung. Wenn er das mit bloßen Wirtschaftsfragen verwechselt, so ist das schon ein Zeichen des Verfalls, der auch in ihm vor sich geht, ob er das nun fühlt und erkennt oder nicht. Es versteht sich von selbst, daß Wirtschaftsformen in demselben Grade Kultur sind wie Staaten, Religionen, Gedanken und Künste. Was man aber meint, sind nicht die Formen des Wirtschaftslebens, die unabhängig vom menschlichen Willen heranwachsen und vergehen, sondern der materielle Ertrag der wirtschaftlichen Tätigkeit, den man heute mit dem Sinn von Kultur und Geschichte schlechtweg gleichsetzt und dessen Sinken man ganz materialistisch und mechanistisch als »Ursache« und Inhalt der Weltkatastrophe betrachtet.

Der Schauplatz dieser Revolution des Lebens, ihr »Grund« zugleich und ihr Ausdruck ist die Großstadt, wie sie in der Spätzeit aller Kulturen sich zu bilden beginnt. In dieser steinernen und versteinernden Welt sammelt sich in immer steigendem Maße entwurzeltes Volkstum an, das dem bäuerlichen Lande entzogen wird, »Masse« in erschreckendem Sinne, formloser menschlicher Sand, aus dem man zwar künstliche und deshalb flüchtige Gebilde kneten kann, Parteien, nach Programmen und Idealen entworfene Organisationen, in dem aber die Kräfte natürlichen, durch die Folge der Generationen mit Tradition gesättigten Wachstums abgestorben sind, vor allem die natürliche Fruchtbarkeit allen Lebens, der Instinkt für die Dauer der Familien und Geschlechter. Der Kinderreichtum, das erste Zeichen einer gesunden Rasse, wird lästig und lächerlich. Es ist das ernsteste Zeichen des »Egoismus« großstädtischer Menschen, selbständig gewordener Atome, des Egoismus, der nicht das Gegenteil des heutigen Kollektivismus ist – dazwischen besteht überhaupt kein Unterschied; ein Haufen Atome ist nicht lebendiger als ein einzelnes –, sondern das Gegenteil des Triebes, im Blute von Nachkommen, in der schöpferischen Sorge für sie, in der Dauer seines Namens fortzuleben. Dafür schießt die kahle Intelligenz, diese einzige Blüte, das Unkraut des städtischen Pflasters, in unwahrscheinlichen Mengen auf. Das ist nicht mehr die sparsame, tiefe Weisheit alter Bauerngeschlechter, die so lange wahr bleibt, als die Geschlechter dauern, zu denen sie gehört, sondern der bloße Geist des Tages, der Tageszeitungen, Tagesliteratur und Volksversammlungen, der Geist ohne Blut, der alles kritisch zernagt, was von echter, also gewachsener Kultur noch lebendig aufrecht steht.

Denn Kultur ist ein Gewächs. Je vollkommener eine Nation die Kultur repräsentiert, zu deren vornehmsten Schöpfungen immer die Kulturvölker selbst gehören, je entschiedener sie im Stile echter Kultur geprägt und gestaltet ist, desto reicher ist ihr Wuchs gegliedert nach Stand und Rang, mit ehrfurchtgebietenden Distanzen vom wurzelhaften Bauerntum bis hinauf in die führenden Schichten der städtischen Gesellschaft. Hier bedeuten Höhe der Form, der Tradition, Zucht und Sitte, angeborene Überlegenheit der leitenden Geschlechter, Kreise, Persönlichkeiten das Leben, das Schicksal des Ganzen. Eine Gesellschaft in diesem Sinne bleibt von verstandesmäßigen Einteilungen und Wunschbildern unberührt oder sie hat aufgehört zu sein. Vor allem besteht sie aus Rangordnungen und nicht aus »Wirtschaftsklassen«. Diese englisch-materialistische Ansicht, die sich seit Adam Smith mit und aus dem zunehmenden Rationalismus entwickelt hat und vor fast hundert Jahren von Marx in ein flaches und zynisches System gebracht worden ist, wird dadurch nicht richtiger, daß sie sich durchgesetzt hat und in diesem Augenblick das gesamte Denken, Sehen und Wollen der weißen Völker beherrscht. Sie ist ein Zeichen des Verfalls der Gesellschaft und weiter nichts. Schon vor dem Ende dieses Jahrhunderts wird man sich mit Erstaunen fragen, wie diese Wertung gesellschaftlicher Formen und Stufen nach »Arbeitgebern« und »Arbeitnehmern«, nach der Menge von Geld also, die der einzelne als Vermögen, Rente oder Lohn hat oder haben will, überhaupt ernst genommen werden konnte, nach der Geldmenge, nicht nach der standesgebundenen Art, wie es erworben und zu echtem Besitz gestaltet wird. Es ist der Standpunkt von Proleten und Parvenüs, die im tiefsten Grunde derselbe Typus sind, dieselbe Pflanze des großstädtischen Pflasters, vom Dieb und Agitator der Gasse bis zum Spekulanten der Börse und der Parteipolitik.

»Gesellschaft« aber bedeutet Kultur haben, Form haben bis in den kleinsten Zug der Haltung und des Denkens hinein, Form, die durch eine lange Zucht von ganzen Geschlechtern herangebildet worden ist, strenge Sitte und Lebensauffassung, welche das gesamte Sein mit tausend nie ausgesprochenen und nur selten ins Bewußtsein tretenden Pflichten und Bindungen durchdringt, damit aber alle Menschen, die dazugehören, zu einer lebendigen Einheit macht, oft weit über die Grenzen einzelner Nationen hinaus wie den Adel der Kreuzzüge und des 18. Jahrhunderts. Das bestimmt den Rang; das heißt »Welt haben«. Das wird schon unter den germanischen Stämmen beinahe mystisch mit Ehre bezeichnet. Diese Ehre war eine Kraft, welche das ganze Leben der Geschlechter durchdrang. Die persönliche Ehre war nur das Gefühl der unbedingten Verantwortung des einzelnen für die Standesehre, die Berufsehre, die nationale Ehre. Der einzelne lebte das Dasein der Gemeinschaft mit, und das Dasein der andern war zugleich das seine. Was er tat, zog die Verantwortung aller nach sich, und damals starb ein Mensch nicht nur seelisch dahin, wenn er ehrlos geworden, wenn sein oder der Seinen Ehrgefühl durch eigene oder fremde Schuld tödlich verletzt worden war. Alles was man Pflicht nennt, die Voraussetzung jedes echten Rechts, die Grundsubstanz jeder vornehmen Sitte, geht auf Ehre zurück. Seine Ehre hat das Bauerntum wie jedes Handwerk, der Kaufmann und der Offizier, der Beamte und die alten Fürstengeschlechter. Wer sie nicht hat, wer »keinen Wert darauflegt«, vor sich selbst wie vor seinesgleichen anständig dazustehen, ist »gemein«. Das ist der Gegensatz zur Vornehmheit im Sinne jeder echten Gesellschaft, nicht die Armut, der Mangel an Geld, wie es der Neid heutiger Menschen meint, nachdem man jeden Instinkt für vornehmes Leben und Empfinden verloren hat und die öffentlichen Manieren aller »Klassen« und »Parteien« gleich pöbelhaft geworden sind.