Toni der Hüttenwirt – 179 – Du musst lieben, um zu verstehen!

Toni der Hüttenwirt
– 179–

Du musst lieben, um zu verstehen!

Für Petra beginnt das Leben neu

Friederike von Buchner

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-490-4

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Es war früher Abend. Meta und Xaver Baumberger hantierten in der Küche. Toni war mit den Kindern in Kirchwalden gewesen und besuchte kurz seine Eltern. Franzi und Basti liefen gleich hinaus in den Garten. Toni setzte sich an den Küchentisch und trank einen Kaffee.

Sie hörten Schritte auf der Terrasse. Augenblicke später stand Franz Boller in der Tür. Verlegen drehte er seinen Hut in den Händen.

»Grüß Gott«, sagte er leise.

»Mei, Franz, du kommst hinten herein? Xaver, hast du die Eingangs­tür net aufgeschlossen?«, bemerkte Meta.

»Sicher ist die offen«, brummte Xaver.

»Meta, ich bin lieber hinten he­rumgekommen, wenn es euch nichts ausmacht. Ich möchte mich net so gern in den Gastraum setzen.«

Toni und seine Eltern warfen sich Blicke zu und schauten Franz Boller überrascht an.

Er blickte auf seine Schuhspitzen und sagte: »Meta, Xaver, kann ich bei euch was Warmes essen? Ich meine, hier in der Küche, oder draußen auf der Terrasse hinterm Haus, wo mich niemand sieht?«

»Des musst du uns näher erklären, Franz. Warum willst du net vorn sitzen?«, fragte Xaver.

Er betrachtete Franz genau, und es kam ihm vor, als hätte er abgenommen.

»Du schaust net gut aus, Franz. Setz dich! Ich gebe dir erst mal ein Bier.«

»Danke, Xaver, kein Bier und keinen Obstler! Einen Kaffee, den nehme ich gern. Kaffee, belegte Brote und ein paar Fertiggerichte aus Dosen, das war alles, was ich die letzten beiden Wochen zwischen die Zähne bekommen habe. Aber die Konserven schmecken nimmer, wenn du sie jeden Tag essen tust.«

Toni und seine Eltern verstanden Franz Boller immer weniger.

Xaver gab ihm einen Becher Kaffee. Franz gab Milch und Zucker hinein und rührte um.

Ohne aufzusehen, sagte er:

»Ich habe versucht, mir etwas zu kochen, aber ich kann es nicht. Den Magen hat es gefüllt, aber des war alles.«

»Und was ist mit deiner Veronika? Ist sie verreist? Ich habe sie schon ein paar Wochen nimmer im Laden gesehen«, fragte Meta.

Meta füllte einen großen Teller mit einer riesigen Portion Rösti, legte die Beilagen dazu und stellte ihn vor Xaver hin.

»Der geht aufs Haus, Franz. Jetzt sag aber, was los ist! Du siehst wirklich nicht gut aus«, sagte Xaver.

»Die Veronika ist net mehr im Laden. Sie redet nimmer mit mir, macht nix mehr im Haushalt und kocht nix mehr für mich. Sie macht sich Essen, wenn sie daheim ist, was allerdings selten vorkommt. Sie ist abends meistens in Kirchwalden oder sogar in München und hängt mit diesen Großkopferten zusammen. Des gibt ein Unglück, habe ich ihr gesagt, lass die Finger davon. Statt auf mich zu hören, macht sie mir Vorwürfe.«

»So, was für Vorwürfe macht sie dir?«, fragte Xaver.

»Ich würde sie in ihrer Entfaltung behindern. Sie wäre für Größeres geboren. Ich würde verhindern, dass sie ihre Talente ausleben kann. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, Anteilseignerin einer Modekette zu werden, die neu gegründet werden soll, und gleich eine große Filiale zu übernehmen.«

»Des heißt im Klartext, dass sie sich mit Geld daran beteiligen will«, sagte Toni.

Franz Boller nickte.

»Viel Geld soll das kosten, sehr viel! Ich sehe da ein Risiko. Außerdem haben wir doch den Laden. Uns geht es gut. Sicher sind wir keine Millionäre, aber es geht doch. Das genügt ihr nicht mehr. Mit ihr ist nicht mehr zu reden. Jetzt muss ich alles allein machen, den Laden, den Haushalt und so weiter. Ich weiß nimmer, wo mir der Kopf steht. Ich hatte so große Lust auf ein gutes warmes Essen. Da dachte ich, ich esse hier. Ihr behaltet das doch für euch, dass ich hier bin! Ich will net, dass geredet wird.«

»Du kannst dich auf uns verlassen, Franz. Jetzt tust essen«, sagte Meta, »und wenn du willst, kannst du jeden Abend herkommen zum Essen, wenn du den Laden zugemacht hast. Magst du?«

»Das mache ich gern, wenn ich hier in der Küche sitzen kann. Ich will net angesprochen werden. Dann reden alle darüber, das will ich net. Ich bin in dieser Beziehung anders als Veronika. Ich finde, Privates sollte innerhalb der Familie bleiben.«

»Du hast im Prinzip schon recht, Franz«, sagte Toni. »Aber es ist auch net gut, still zu sein, wenn man Kummer hat. Wie sollte man sich sonst einen Rat holen? Wie kann man sonst erfahren, dass es anderen genau so erging? Vielleicht können deren Erfahrungen nützlich sein.«

Franz Boller nickte und aß. Er schwieg, bis er fertig war. Dann erzählte er, dass Veronika sich einen Laden angeschaut hatte. Wo genau dieser war, das wisse er nicht, irgendwo in München.

Veronika sei nicht mehr zu bremsen.

»Dabei ist das alles ganz schön viel. Sie muss Anteile kaufen, um dazuzugehören. Sie muss sich verpflichten, die Ladeneinrichtung nach detaillierten Vorgaben einzurichten. Diese Ladeneinrichtung bekommt sie nur bei einer Spezialfirma. Sie muss Ware kaufen, Leute einstellen, einen Teil der Werbung bezahlen und die Miete des Ladens muss sie ganz allein tragen. Außerdem kann sie ausschließlich die Kleidung der Kette verkaufen, keine anderen Sachen.«

Toni rieb sich das Kinn.

»Das hört sich nicht gut an, Franz. Des ist ein erhebliches Risiko. Des kann Jahre dauern, bis sie die Investitionen wieder drin hat. Hat sie Unterlagen?«

Franz Boller nickte.

»Hat sie die prüfen lassen?«, fragte Toni weiter.

»Sie sagt, die wären geprüft. Ich habe sie mir heimlich angeschaut, als sie auf dem Friedhof war. Die Unterlagen sind voll von schönen Bildern und Rechenbeispielen, was Umsatz und Gewinn betrifft. Aber sie müsste doch wissen, dass es dafür keine Garantie gibt. Jedenfalls bekommt sie von mir keinen Cent. Für so ein Abenteuer habe ich kein Geld.«

Franz schnäuzte sich die Nase und wischte sich die Augen. Toni und seine Eltern sahen ihm an, dass er sehr verzweifelt war.

»Was soll ich nur machen?«, stöhnte er. »Veronika rennt in ihr Unglück, das fühle ich. Auf den ers­ten Blick lesen sich die Dokumente gut, aber ich muss gestehen, dass sie auch sehr verwirrend sind, und mir einige Sachen schleierhaft vorkommen. Ich habe versucht, mit Veronika darüber zu reden, aber dann wurde unser Streit immer größer.«

Toni trank einen Schluck Kaffee.

»Franz, ich habe eine Idee. Du sagst deiner Veronika, dass du die Unterlagen in Ruhe studieren wolltest. Ihr habt doch einen Kopierer im Laden. Und wenn sie nicht will, dann kopierst du die Papiere eben heimlich. Damit kommst du rauf auf die Berghütte. Anna wird sich alles ansehen. Als ehemalige Bankerin sieht und versteht sie manches, was andere nicht gleich erkennen oder verstehen. Ich verspreche dir, dass sie die Papiere gründlich studiert. Dann kannst du der Anna alle Fragen stellen. Sie wird dir alles erklären.«

»Das ist eine gute Idee, Toni«, rief Xaver Baumberger aus. »Die Anna wird alles auf Herz und Nieren prüfen. Dann weißt du genau, was Sache ist, Franz.«

Franz Boller trank einen Schluck Kaffee.

»Ich danke dir, Toni. Ich danke euch allen. Das ist eine gute Idee. Ich werde die Papiere kopieren und sie hierherbringen, Toni. Dann kannst du sie mit hinauf auf die Berghütte nehmen. Ich würde gern selbst hinaufkommen, aber das ist im Augenblick nicht möglich. Ich bin allein im Laden. Wir haben jeden Werktag auf und ein paar Stunden am Sonntag, wenn auch nur im Sommer, wegen der Touristen. Aber wenn die Anna die Dokumente gelesen hat, dann komme ich rauf auf die Berghütte. Wenn die Veronika mal wieder mit diesen Herren unterwegs ist, dann mache ich den Laden einfach zu und besuche euch auf der Berghütte.«

»So machst du es, Franz«, sagte Toni. »Und bis die Anna sich alles genau angesehen hat, machst du dir keine Gedanken mehr! Grübeln hilft net. Zum Essen kommst du jetzt jeden Tag her. Du schaust nicht gut aus, Franz.«

»Ich weiß, aber das ist alles sehr belastend. Veronika und ich haben uns so gut verstanden. Wir führten eine glückliche Ehe und waren zufrieden. Doch jetzt gilt alles nichts mehr. Ich bin ihr nimmer gut genug. Das tut weh.«

Franz Boller schnäuzte sich wieder in sein Taschentuch.

»Meta, dein Essen war gut.«

»Das freut mich. Morgen bekommst du auch etwas Feines, Franz. Du wirst uns nicht verhungern.«

Franz Boller stand auf. Er bedankte sich und gab Toni, Xaver und Meta die Hand.

»Ich werde noch einen Spaziergang zum Bergsee machen. Vielleicht tut mir das gut.«

»Das wird es mit Sicherheit«, sagte Xaver.

Er brachte Franz hinaus und sprach ihm Mut zu.

Als Xaver hereinkam, sprachen Toni und seine Mutter über Franz Boller.

»Also, der Franz, der sieht wirklich schlecht aus. Ganz grau ist er im Gesicht und mager ist er geworden. Ja, ja, des kommt net nur vom wenigen Essen, sondern in erster Linie vom Kummer, den ihm seine Veronika macht. Das geht ihm unter die Haut. Himmel, welch ein Elend! Der arme Franz hat das nicht verdient. Er liebt seine Veronika, das weiß jeder in Waldkogel. Deshalb muss ihn das schwer treffen«, sagte Meta.

»Mutter, wir wissen keine genauen Einzelheiten. Anna wird alles prüfen. Erst dann wissen wir, was Sache ist. Vielleicht ist es wirklich eine Chance.«

»Oder eine große Dummheit, Toni«, fiel ihm seine Mutter ins Wort.

»Warten wir es ab«, sagte Xaver mit ruhiger Stimme.

»Ja, warten wir ab«, stimmte Toni zu.

Er trank den Kaffee aus. Er muss­te gehen. Er rief Franziska und Sebastian zu sich. Die Baumberger Großeltern gingen mit zum Auto und winkten, als Toni mit den Kindern davonfuhr.

*

Markus und Jutta Müller saßen auf der Terrasse des Einfamilienhauses. Markus schaute auf die Uhr.

»Wo Petra bleibt? Sie ist doch sonst immer die Pünktlichkeit in Person.«

Jutta sah kurz von ihrem Kreuzworträtsel auf.

»Petra wird noch zum Friedhof gegangen sein. Heute ist der Todestag ihrer Mutter.«

»Stimmt, daran habe ich nicht gedacht. Hat sie gesagt, dass sie zum Grab will?«

»Nein, sie hat nichts gesagt, Markus. Du kennst sie doch. Alles, was mit ihrer Mutter und ihrer …, sagen wir einmal …, mit ihrer nicht vorhandenen Familie zusammenhängt, darüber spricht sie nicht. Das macht sie mit sich allein aus.«

Markus Müller seufzte.

»Ich denke, wir waren ihr gute Eltern.«

»Das waren wir, Markus. ›Ihr seid die besten. Ich hätte mir keine besseren Pflegeeltern wünschen können‹, das sagt Petra oft.«

»Das stimmt. Sie wollte nur nie von uns adoptiert werden«, sagte Markus.

»Sie ist trotzdem dein Mädchen, Markus.«

»Ja, Jutta, das ist sie. Doch wenn wir sie hätten adoptieren können, wäre es noch einmal etwas anderes gewesen. Wir haben drei Jungs, prächtige Buben. Petra war für sie immer ihre Schwester. Ich verstehe nicht, dass sie sich gegen eine Adoption ausgesprochen hat. Wenn ihre Mutter damals diese Verfügung nicht getroffen hätte, dann hätten wir Petra schon als Kleinkind adoptieren können.«

»Markus, höre auf darüber nachzugrübeln! Petra ist eine erwachsene Frau von fünfundzwanzig Jahren. Wir haben ein sehr gutes Verhältnis zu ihr. Sie wird immer wie eine Tochter sein.«

Jutta legte ihr Kreuzworträtsel zur Seite.

»Du hast Angst, dass irgendwann doch noch ihr Vater auftaucht und sie mit ihm fortgeht?«

»Ja, Jutta, ja! Dabei wissen wir wenig über ihn. Das heißt, ich weiß wenig über ihn. Ich vermute, du weißt mehr und sagst es mir nicht.«

»Richtig, ich weiß etwas mehr, aber ich habe Ute damals das Versprechen gegeben, nichts zu sagen.«

»Ist das nicht unfair Petra gegenüber?«

Jutta zuckte mit den Achseln.

»Sie hat nie viel gefragt, sondern sich mit den Informationen zufriedengegeben, die sie von mir bekam.«

»Deine Sätze darüber kenne ich auswendig, Jutta. ›Deine Mutter hat deinen Vater sehr geliebt. Sie hat mir nie gesagt, wer er war, nur dass er plötzlich nicht mehr zu den heimlichen Verabredungen kam. Trotzdem hat sie ihn sehr geliebt, und sie hat dich auch geliebt, Petra. Sie sagte immer, du würdest deinem Vater sehr ähnlich sein. Jeder Blick in deine Augen erinnere sie an ihn.‹ Das sind doch deine Worte, Jutta, oder?«

»Ja, das sind sie. Sie entsprechen der Wahrheit. Das, was ich mehr weiß, entnahm ich Sätzen, die Ute im Fieber gesprochen hatte, unter dem Einfluss starker Medikamente. Vielleicht hat sie das nur geträumt, vielleicht ist ein Teil wahr oder alles. Ich weiß es nicht, Markus. Wir waren uns doch immer einig, dass wir Petra nicht beunruhigen wollen.«

»Das waren wir, Jutta. Doch jetzt ist sie eine erwachsene Frau, und du solltest ihr die Postkarte geben, die du in Utes Sachen gefunden hast, diese Postkarte aus Waldkogel ohne Absender, nur mit der unleserlichen Unterschrift. Wie lange willst du sie noch zurückhalten?«

Jutta seufzte.

»Du hast recht, Markus. Es wird Zeit, dass Jutta die Sachen ihrer Mutter bekommt. Sie ist alt genug. Weißt du, ich habe mich all die Jahre gefragt, wann der richtige Zeitpunkt ist. Ute wollte, dass Petra älter ist, wenn sie mehr erfährt, damit sie ihre Mutter vielleicht besser verstehen kann. Es war leicht, die ganzen Jahre zu schweigen. Petra stellte keine Fragen. Manchmal wünschte ich mir, sie würde fragen. Doch sie tat es nicht.«