Elisabeth von Heyking

Briefe die ihn nicht erreichten

e-artnow, 2018
Kontakt: info@e-artnow.org
ISBN 978-80-268-8216-9

INHALTSVERZEICHNIS

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Inhaltsverzeichnis

Vancouver, August 1899.

Ihr Brief hat mich unendlich erfreut – vor allem, weil er weniger traurig klingt, als ich gefürchtet hatte. Es wäre mir ja beinahe beschämend, wenn Ihnen Peking ohne mich nicht ein bißchen grauer und öder erschiene, und ich möchte etwas von Ihnen vermißt werden – aber nicht zu sehr. Es ist alles eine Frage von Nuancen, und Sie haben, vielleicht durch das jahrelange Studium alter chinesischer Brokate und Porzellane, ein merkwürdig feines Verständnis für Nuancen, und haben genau diejenige getroffen, die mir wohltuend sein mußte.

Haben Sie also Dank für Ihren Brief, wie für so manches andere!

Unsere kurzen Ferien in Japan sind mit jener erschreckenden Geschwindigkeit vergangen, die den guten Zeiten nun einmal eigen ist. Ich will Ihnen keine nachträgliche Reisebeschreibung schicken, kennen Sie doch Madame Chrysanthêmes Heimat so viel besser als ich; ich will Ihnen nur sagen, daß ich dort viel an Sie gedacht habe, denn durch alles, was Sie mir erzählt, und durch die Bücher, die Sie mir darüber geliehen, kannte ich Japan schon, als ich hinkam. Es war mir, als fände ich dort lauter alte Bekannte wieder; in den Teehausmädchen, die unsern Rickshaw-Kulis mit derselben Grazie und Höflichkeit wie uns selbst Tee servierten, wie in den Landarbeitern, welche, hoch aufgeschürzt oft bis an die Knie in den sumpfigen Reisfeldern versanken und sich bei Regenwetter Strohdecken überbanden, deren abstehende Halmenden ihnen das Aussehen riesiger, emsiger Igel verliehen. Sie alle erschienen mir wie Gestalten aus einem wohlbekannten Bilderbuch, denen man zunickt, sieh da, sieh da, da seid ihr ja alle.

Das erfreulichste Wiedersehen feierte ich aber in Japan mit den vielen Blumen, die ich daheim und anderswo als japonica oder japonicum kennengelernt hatte, und die ich nun in ihrer Heimat wiedersah, nur viel schöner und duftender; wie ja auch wahrhaft nette Menschen meist am nettesten in ihrem eigenen Hause sind.

Japan ist das erste und einzige außereuropäische Land, in dem ich mich ankaufen und »for good« bleiben möchte, oder vielmehr »for better for worse«, was ja ein so viel größeres Versprechen und Zeichen von Vertrauen enthält.

An unserem letzten Morgen in Yokohama hatten wir noch zwei Erlebnisse, ohne die Japan nicht recht Japan gewesen wäre: wir wurden früh durch ein Erdbeben geweckt, und wir sahen den Fusiyama. Der hohe weiße Herr hatte sich bis dahin übellaunig hinter einer Wolkenkappe verborgen, was ich den hohen, einsamen Bergesgipfeln nie verdenke, denn auch jüngeren, geringeren Wesen ist der Anblick der Welt ja oft verdrießlich genug. Als wir schon im Boot saßen, um hinaus an unseren Dampfer zu fahren, wurde es plötzlich lichter, und wir sahen die schneeweiße Kuppe, die in Wirklichkeit ganz ebenso unwahrscheinlich aussieht wie auf ihren zahllosen Abbildungen. Es war mir gesagt worden, daß, wer am Tage der Abfahrt den großen Herrn Fusi sieht, sicher nach Japan zurückkehrt. Sie wissen, daß ich, faute de mieux, ziemlich abergläubisch bin – nun wollen wir sehen, ob mich mein Nomadenschicksal noch einmal nach dem Lande des Lächelns und der Blumen zurückführen wird.

Der erste Mensch, den wir auf dem Dampfer trafen, war Bartolo, der große Konzessionenjäger, der so viele Monate im Hotel de Pékin saß, während Sie gerade eine Ihrer geheimnisvollen Reisen in das Innere Chinas unternommen hatten. Damals wollte Bartolo zuerst die nicht vorhandene chinesische Armee mit einem von ihm selbst erfundenen Gewehr versehen, später versuchte er dann einen Plan zur Bewässerung der Wüste Gobi an die chinesische Regierung zu verkaufen. – Wer alle Projekte gehört, die Bartolo und außer ihm so viele andere zur Beglückung der Chinesen ersannen, der kann das tiefe Mitleid begreifen, mit dem Sie »pauvre, pauvre Chine« zu sagen pflegten. Viel weniger Mitleid hatten Sie für die armen Gesandten, die alle einige Bartolos besaßen, von denen sie gedrängt wurden, ihre Wünsche nach phantastischen Konzessionen mit politischer Pression zu unterstützen und nach deren Ansicht die Gesandten nie genug taten, was sich bisweilen in Zeitungsangriffen oder parlamentarischen Interpellationen äußerte.

Bartolo erzählte uns gleich strahlend, er hätte seine letzte Konzession erlangt, nicht die von der Wüste Gobi, sondern eine allerletzte, zur Ausbeutung von Rubinminen. Anfänglich sei er nicht recht sicher gewesen, für welche Provinz er die Konzession erbitten solle, ob Kwangsü oder Kwangtung, da er ja beide nicht persönlich kannte und nicht wisse, ob es dort Rubinen gäbe. Schließlich habe er sich für Kwangtung entschieden, nachdem er etwas im Richthofen nachgeschlagen, diesem Evangelium aller Jünger des neuen Glaubens »Heil durch China«.

Mein Bruder und ich waren etwas erstaunt, daß Bartolo diese Konzession so rasch erlangt haben will, um so mehr, als die Chinesen ja gerade eine Minenbehörde ernannt haben, deren Hauptaufgabe darin besteht, derartige Angelegenheiten zu verschleppen. Bartolo erzählte uns aber, in dieser Behörde säßen als einflußreichste Mitglieder der alte Tsü und der junge Tsi – dem jungen Tsi habe er in Tientsin die Bekanntschaft einer ebenso gefälligen wie schönen Amerikanerin vermittelt, und der »Nebenfrau« des alten Tsü habe er nächtlicherweile ein goldenes Teeservice zugesandt. Von da ab seien seinem Anliegen in der Kommission von den Chinesen nur noch pro forma ein paar kleine Schwierigkeiten gemacht worden.

Bartolo ist nun auf dem Wege nach London, um eine Aktiengesellschaft zu gründen zur Ausbeutung seiner Rubinminen, von denen er sich Millionen verspricht. Er hatte sich für die Überfahrt mit einer Menge Konserven und Delikatessen versehen, von denen er all seinen Bekannten auf dem Schiffe bei jeder Mahlzeit reichliche Portionen zusandte. Da er eigentlich ein sehr gutmütiger Mensch ist, wollte er hierdurch schon jetzt alle gewissermaßen an seinen Zukunftsschätzen teilnehmen lassen.

Ich werde immer ganz traurig über die schönen Illusionen, wenn ich Menschen so reden höre von all den Reichtümern, die sie in China erwerben wollen, und mich dabei der unendlichen, herzbeklemmenden Armut erinnere, die ich dort, ärger als irgend sonst wo, gesehen habe. Wo sollen nur die Reichtümer herkommen? Ich mag mich aber irren, denn ich kenne ja nur den trostlosen Norden Chinas, und vielleicht liegen wirklich Rubinen auf den Straßen in Kwangtung, wo ich so wenig wie Bartolo je gewesen bin.

Ich muß meinen heutigen Brief schließen, denn wir wollen hinaus in den Wald, aber ich werde Ihnen noch von hier weiter schreiben, da wir einige Tage hier bleiben wollen, um uns von der bisherigen für die weitere Reise zu erholen. Dieser erste Gruß soll Ihnen nur sagen, daß ich jenseits des großen Wassers gut angelangt bin. Nun schlage ich in Gedanken eine große Brücke darüber, deren eines Ende hier ruht, während das andere in der Gegend von Pei-ta-ho die Erde berührt, und über diese Brücke eilen tausend herzliche Gedanken freundschaftlichen Erinnerns zu Ihnen.

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Inhaltsverzeichnis

Vancouver, August 1899.

Mein gestriger Brief, lieber Freund, handelte so sehr von Bartolo, daß ich fürchte, er wird den Eindruck bei Ihnen erwecken, als seien wir mit ihm die einzigen Passagiere auf dieser langen Fahrt gewesen. Drum sende ich gleich diesen zweiten Brief nach, der Ihnen von unserer übrigen Reisegesellschaft erzählen soll.

Am interessantesten waren mir zwei Japaner, die sich ein Stückchen Heimat mitnahmen, in Gestalt einer zwei Quadratfuß großen, erdgefüllten Kiste, in der mit Steinen und verkrüppelten Zwergbäumchen eine japanische Miniaturlandschaft dargestellt war. Sie hüteten dies Gärtchen mit rührender Sorgfalt. Beide litten offenbar sehr an Seekrankheit, und ihre gelbliche Haut hatte allmählich seltsam grüne und violette Schattierungen angenommen, aber, mochten sie noch so elend sein, sobald ein Sonnenstrahl durch das dicke, schwere Gewölk drang, krochen sie aus der Kajüte und trugen ihr Kästchen auf das Deck in die Sonne, und sobald sich der Wind dann erhob und es kälter wurde, schwankten sie wieder hinunter, ihr Stückchen Japan in den Armen. Sie reisten nach Amerika zu Studienzwecken, und schon auf der Fahrt diente ihnen alles und jeder als Beobachtungsobjekt. Sie hatten offenbar ein großes Gefühl der Verantwortlichkeit, besonders für die ihnen gegebene Zeit, eine Verantwortung, mit der es die meisten Menschen nicht so genau nehmen, und die doch vielleicht die ernsteste von allen ist. Jeder unserer beiden reisenden Japaner hätte vor Jahren einmal das kleine japanische Schulkind sein können, von dem erzählt wird, daß man es nach einem starken Erdbeben zwischen den Trümmern des Hauses fand, wie es auf einen herabgefallenen Ziegel die Zahlen des letzten ihm aufgegebenen Rechenexempels eifrig weiter schrieb.

Auf unserem Schiff waren auch ein paar russische Reisende sowie englische und belgische Ingenieure, die aus Peking zurückkamen. Sie hatten sich dort um Konzessionen für Eisenbahnen beworben, die möglicherweise erst in Jahrzehnten, vielleicht auch nie gebaut werden dürften. Ich erinnere mich sehr gut, wie Sie mir oftmals sagten, gerade dies Drängen um Eisenbahnen erbittere die Chinesen besonders. Und dabei waren die meisten dieser nur mit Drohungen errungenen Zugeständnisse für lange hinaus ganz zwecklos und wurden nur verlangt, um etwaigen anderen Bewerbern zuvorzukommen. Man prahlte in Peking mit den erlangten Konzessionen, wie die Indianer mit erbeuteten Skalpen. Nirgends habe ich so sehr die Empfindung unendlichen Raumes gehabt wie gerade in China, und doch schien es nirgends so sehr wie in Peking, als ob die weite Welt für die Ansprüche der Menschen nicht ausreichte. Der Kampf wurde dort mit jener neidischen Eifersucht geführt, die ein Gebiet lieber wüst und leer sieht, als daß sie es fremden Händen überließe. Der Schwächere wird, so reich und ausgedehnt die Welt auch ist, stets leer ausgehen, denn die Gier der Starken ist größer als der größte Raum.

Auf dem Schiff hörte man endlose Debatten über die Zukunft Chinas, über »offene Tür« und »Interessensphären«, über Aufteilung und die Ansprüche der einzelnen Länder. Was aber in Pekinger Kreisen nur leicht angedeutet wurde, das sprachen diese Reisenden mit brutaler Offenheit aus. Man sah sich da plötzlich der bête humaine gegenüber, wie sie wirklich ist: stets erscheint ihr der eigene Anteil zu klein, der des anderen zu groß. Mit harmloser Naivität wurde da enthüllt, was jedes einzelnen Herzenswunsch war: für sich selbst abgeschlossene und möglichst große Interessensphären, bei dem Nachbar dagegen ein möglichst offenes Scheunentor. Mich stimmten diese Debatten oft unendlich traurig, denn sie eröffneten für die Zukunft weite häßliche Aussichten auf Kampf und Unterdrückung. Es waren ja nur einzelne Leute, die da redeten, zumeist einflußlose, unbedeutende Menschen, aber aus ihren Worten konnte man doch auf den allgemeinen Geist der Zeit schließen, mit seiner Skrupellosigkeit, seiner Abhängigkeit vom Erfolg, seiner Grausamkeit gegen alles auf Erden, was sich nicht wehren kann. Die beiden Japaner hörten dem allem zu, und wenn sie auch selbst wenig sagten, so merkte man ihnen doch an, daß für sie Buddha und seine Lehren in ebenso weiter vergessener Ferne liegen, wie für die anderen Christus und sein Wort, und daß auch sie sich den europäisch-amerikanischen Grundsatz zu eigen gemacht haben: »Friß, auf daß du nicht gefressen werdest.«

Draußen war es sehr neblig, sehr grau und eisig kalt geworden.

Ein oder der andere Passagier fragte wohl mal, ob keine Kollisionsgefahr sei. Dann wurde geantwortet: »In diesen nördlichen Breitengraden fahren gar keine anderen Dampfer, und sollten wir unwahrscheinlicherweise einem Segelschiff begegnen, so sind wir eben die Wuchtigeren.«

So ging es im dicken Nebel weiter, und in langen gleichmäßigen Zwischenräumen ertönte das schauerliche Nebelhorn.

Die übrigen Reisenden hatten das Rauchzimmer oder ihre Kajüten aufgesucht; ich war allein auf Deck, in meinen dicksten Pelz gewickelt.

Der Nebel war dichter als je zuvor, die sichtbare Welt schien auf ein paar Fuß zusammengeschrumpft zu sein, darüber hinaus war alles ein unheimliches Grau, das lautlos hin und her wogte. Zentnerschwer fühlte ich eine Last, die sich mir aufs Herz legte, so daß ich kaum zu atmen wagte – und diese Last war eine namenlose Angst vor dem grauen Etwas, das die ganze Welt um mich her erfüllte. Ich kam mir so einsam vor wie noch nie im Leben, als sei ich ganz allein, als letztes Lebewesen, und als schwebte ich angstvoll suchend durch den endlos leeren Weltenraum. Und wie ich so hinausstarrte, begann es in dem Grau zu wogen, zu steigen und zu sinken; es war, als wehe der Wind dicke, schwere Schleier hinweg, und plötzlich lag klar und dicht vor mir ein Stück kalte, dunkle, nordische See. Ein Felsen erhob sich daraus, schneebedeckt und an all seinen Zacken Eiszapfen tragend, die bis zu dem schaurigen Wasser herabhingen. Oben aber auf dem Felsen saß ein riesiger Eisbär, in den Tatzen das Gerippe des letzten Tieres haltend, das er in der Einöde gefunden. Er schaute sich um, als wollte er sagen, »nun bin ich Alleinherrscher der Welt«. – Aber da tat sich das schwarze Wasser auf, und heraus tauchte ein Ungeheuer mit Schlangenleib, Fischflossen und rot bemähntem Walroßhaupt; Seetang hing ihm am nassen Maule und Reste kleiner Fische – die letzten, die es noch in der See gefunden; auch seine grünlich-glasigen Augen schienen zu sagen: »Nun bin ich ganz allein Herr der Welt.« Da aber erblickten sich die beiden, der riesige Eisbär und das Seeungetüm. Die Flossen peitschten die Wogen, die Tatzen umkrallten den Felsen. Noch waren beide gesättigt, aber schon maßen sie sich mit den feindlichen Blicken künftiger Gegner. Sie hatten die ganze Welt entvölkert und trafen sich nun hier in der Einöde zu letztem Kampfe. Der würde entscheiden, wer Herr der Welt blieb! –

»Wir waren heute den Alëuten ganz nahe,« sagte der Kapitän beim Abendbrot, »einen Augenblick konnte man eine der kleinen Inseln durch den Nebel sehen.«

Ich aber hatte die Empfindung, als hätten sich die Wolken, die uns umgeben, einen Augenblick geteilt, und ich hätte einen Blick getan in die Geschichte der Welt, die ja oft eine Geschichte wilder Tiere ist. –

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Inhaltsverzeichnis

Vancouver, August 1899.

Wir sind noch immer hier, ohne besonderen Grund. Aber es ist herbstlich kühl und schattig, und die kleine Ruhepause gibt uns die kurze Illusion, wie andere Menschen seßhafte Wesen zu sein.

In den meisten Straßen sind hier Alleen grüner Bäume gepflanzt, unter denen rotbäckige Kinder morgens zur Schule radeln. Überall sieht man Gärten voll später Rosen, Rittersporn und Astern; die Mauern sind mit Kapuzinerblumen bedeckt, und an den kleinen Kieswegen blühen Reihen von Georgìnen und Malven. Gärten in so nordischen Ländern wie hier haben mir immer etwas Rührendes: es ist, als wollten die Pflanzen in der kurzen Sommerzeit möglichst viel leisten, und die Blumen, die es so eilig haben, zu erblühen, mahnen, daß wir ja alle nicht wissen, wie kurz uns die Spanne Zeit bemessen sein mag, in der uns noch die Sonne scheint.

Inmitten der wohlgepflegten Gärtchen stehen kleine Landhäuser; sie alle sehen behaglich und behäbig aus. Bei ihrem Anblick denkt man unwillkürlich an jene Gattung englischer Romane, die junge Mädchen lesen dürfen, und in denen alle Menschen täglich nicht nur drei tüchtige Mahlzeiten einnehmen, sondern auch noch gemütliche Nachmittagstees mit Kuchen und Sahne.

Die Leute, denen wir an diesem fichtenumwachsenen, bergumgebenen Hafen begegnen, sehen alle tüchtig und tätig aus; man merkt ihnen gleich an, daß es freie, kräftige Persönlichkeiten sind, die sich hier, unabhängig von obrigkeitlicher Hilfe wie von Bevormundung, eine Heimat gegründet haben. Sie sind stolz auf das, was sie schon jetzt aus dieser entlegenen Bucht gemacht haben, und voll Zuversicht auf das, was die eigene, selbständige Expansions- und Betätigungskraft noch schaffen wird.

Wir sind hier weit von jenen künstlich gezüchteten Kanzlei-Kolonien, denen durch einen Geheimrat aus der Hauptstadt des Mutterlandes als wichtigste Grundlage eines beginnenden Gemeinwesens das Schema eines heimatlichen Grundbuches, sowie Polizeivorschriften für die Stunde des Lichtauslöschens und für das Maulkorbtragen der Hunde gesandt werden.

Maulkörbe trägt hier niemand.

Es wird auch wenig regiert. Die Gesetze, die sich allmählich als notwendig herausbilden, entspringen den örtlichen Bedürfnissen und Erfahrungen – sie werden nicht »ready made« importiert.

Im Gegensatz zu so manchen anderen, beruhen die englischen Kolonien auf der einzig gesunden Grundlage, auf einem tüchtigen Mittelstand, der sich hier frei und ungehindert entfaltet. In den Rändern, wo die demokratische Partei in kurzsichtiger Opposition sich gegen koloniale Bewegungen stellt, beraubt sie sich selbst eines fruchtbaren Tätigkeitsfeldes, wo sie viel mehr Aussicht als daheim hätte, ihre politischen Ideale zu verwirklichen. Diejenigen Kolonien, die von oben herab geschaffen werden, erinnern mich immer an ein künstliches Homunkuluschen in der Flasche, das mit chemischen Pillen gepäppelt wird und seine Nahrung nie an der Brust der großen Volksmutter gesogen hat.

Ich entbehre es sehr, mich über diese und tausend andere Fragen nicht mehr mit Ihnen, lieber Freund, aussprechen zu können. Wer weiß, wann ich eine Antwort von Ihnen erhalten werde, denn in Ihrem Brief, den ich hier vorfand, schreiben Sie ja, daß Sie nächstens wieder eine große Reise in das Innere Chinas unternehmen müßten. All meine Briefe werden Sie wohl lange erwarten und Sie erst nach Ihrer Rückkehr erreichen. Könnte ich dem kleinen weißen Bogen doch Flügel geben, um Ihnen wie Brieftauben auf Ihrer Expedition nachzufliegen – dann fänden Sie jeden Abend, wenn Sie müde in einem elenden chinesischen Gasthause oder einem mongolischen Zeltlager anlangen, solch einen Boten von mir vor, der Ihnen erzählte, wieviel ich an Sie denke und wie sehr ich wünsche, daß Sie nicht mehr in die Wildnis zu ziehen brauchten, weil ich mich dann immer so sehr um Sie sorge. 

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Vancouver, August 1899.

Meine große Freude hier in Vancouver ist es, endlich einmal wieder lange Spaziergänge im Schatten schöner Bäume machen zu können. Wer, wie ich, in einem Waldland aufgewachsen, sehnt sich immer danach zurück. Bäume sind mir wie lebende Wesen und jeder hat seine eigene Physiognomie, seinen Ausdruck, den er, wie wir Menschen auch, durch besondere Erfahrungen und Erlebnisse allmählich gewonnen hat. Ich begreife so gut, daß die alten Germanen sich die Bäume als Sitz besonderer Gottheiten dachten, und schon als Kind hatte ich einen wahren Abscheu vor Sankt Bonifazius, der den heiligen Baum fällte.

Sie erinnern sich gewiß noch, wie oft ich Ihnen von meiner Sehnsucht nach schattigen Waldespfaden sprach, wenn wir zusammen nach der Hitze des Tages auf die Pekinger Stadtmauer stiegen und auf diesem einzigen reinlichen Weg der chinesischen Kaiserstadt auf und ab gingen. Die Stadt liegt tief unter uns, all die einstöckigen Häuser eintönig grau mit aufwärts geschweiften Dächern, auf deren Kanten Reihen kleiner Steinhunde sitzen. In die Höfe der nächstgelegenen konnten wir von oben hineinschauen, und was wir sahen, waren immer dieselben uns unverständlichen Wesen, die dasselbe Dasein führten, das seit Jahrtausenden ihnen ähnliche Wesen genau ebenso geführt haben. In den Straßen war immer dasselbe Gewühl zahlloser Menschen, die unseren Augen so rätselhaft in ihrer Gleichheit und Einförmigkeit erschienen, deren elfenbeinerne Stirnen wie geschlossene Tore waren, von Welten, in die wir nie eindringen werden. Jahraus, Jahrein zog dies Gewühl von Menschen durch die Straßen, die monatelang voll dicken, schwarzen, klebrigen Schlamms lagen und die übrige Zeit des Jahres in dichten, grauen Staubwolken verschwanden. Und niemand rührte die Hand, etwas zu ändern, etwas zu verschönern. Denn es war ja von jeher so gewesen; niemand hatte es ja anders und besser gekannt; niemand störte es – vor allem niemand von denen, die hinter den roten Mauern und den goldig schimmernden Dächern der Kaiserpaläste ein noch geheimnisvolleres, noch rätselhafteres Dasein als all die anderen führten.

Erinnern Sie sich, wie oft wir dort oben auf der Mauer standen und hinüberschauten auf die verbotene Stadt mit ihren verfallenden Mauern? Stets hatte ich das Gefühl, als läge ein Alp auf der Stadt, wie der Schatten kommenden Unheils! Mit welcher Sehnsucht habe ich von dort oben weit hinausgeschaut über die unendliche Ebene und dabei anderer Länder gedacht, wo uns nicht alles unverständlich ist, wo die Menschen sich grüßen, freuen und küssen, sprechen, lachen und trauern wie wir. Am Vorabend meiner Abreise haben wir noch einmal dort oben zusammen gestanden, und Sie wiederholten die Worte, die Sie in den letzten Wochen so oft gesagt hatten: »Ja, Sie müssen fort von hier – es ist besser so.«

Als wir dann nach Hause gingen über die Kanalbrücke und an dem kleinen Tempel vorbeikamen, in dessen Hof ein Kuriositätenhändler seinen kleinen Laden alter Vasen und seltsamen Gerümpels eröffnet hatte, da sagten Sie mir: »Ihr nächster Spaziergang wird Sie unter alte schattige Bäume führen, wie Sie es sich hier so oft gewünscht haben.«

Sie schienen so traurig, als Sie das sagten, lieber Freund, und doch haben Sie uns selbst zur Abreise gedrängt und sie beeilt – warum?

Und jetzt bin ich in einem Lande schattiger, grüner Bäume und täglich, seit wir hier sind, gehe ich stundenlang tief in den Wald hinein. Das Schönste hier ist der Viktoria-Park, mit seinen uralten Bäumen und den herrlichen Blicken auf die See, vor allem mit seiner Ruhe, seinem Schweigen und Frieden. Wie würde ein Böcklin diesen Wald genießen, der dem unberührten Naturzustand noch so nahe scheint, daß man sich gar nicht wundern würde, über das dicke, weiche Moos Faune und Einhorne schreiten zu sehen.

Gestern bin ich besonders lange im Park gewesen. Ich ging träumend immer weiter, bis ich an sein äußerstes Ende kam, wo er zur schmälsten Stelle einer Meerenge führt. Das felsige Ufer fällt dort steil ab und tief unten strömt das Wasser reißend vorbei. Ich setzte mich nieder zwischen Farnen und allerhand Ranken und schaute in die Tiefe auf die Meeresstraße, durch die alle Schiffe fahren, die vom fernen Osten nach Vancouver kommen. Und ich träumte, wie hübsch es sein müßte, hier irgendwo ein waldverborgenes Häuschen zu besitzen; dann würde ich alle Tage bis zu dieser äußersten Spitze gehen, setzte mich dort unter die alten Bäume und schaute aus, ob Schiffe aus Far-away Cathay kommen. Und an einem Tage würde endlich ein Schiff kommen, auf dem ständen Sie, und ich würde Ihnen von meinem Felsen aus einen großen Strauß frischer Waldblumen herabwerfen.

Denn nicht wahr, Sie bleiben doch nur gerade so lange in China, als es durchaus nötig ist? Ich mache ja schon so viele schöne Pläne für die Zeit, wo wir uns wiedersehen werden. Wann, wo wird das sein?

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Inhaltsverzeichnis

Banff, September 1899.

Die Frühsonne scheint in mein Zimmer, lieber Freund, draußen zwitschern Spatzen, die sich in der Jahreszeit irren und jetzt beim nahenden Herbst noch an Frühlingsidyllen denken, und ich will den Tag beginnen, indem ich Ihnen guten Morgen zurufe, hinaus in die unergründliche Weite. Möge Ihnen ein freundlicher Lufthauch meinen Gruß bringen – wo Sie auch sein mögen. Ich fürchte, es kann dort nicht so schön sein wie hier.

Das hiesige Hotel liegt auf waldigem Bergrücken, in größter Einsamkeit, und erinnert an manche Tiroler Burgen. Von unseren Fenstern aus haben wir einen weiten Blick auf ein Gebirgstal, in dessen Tiefe, zwischen hohen Fichten, ein Bach fließt, der, zur Zeit da Eis und Schnee schmelzen, zum reißenden Strome wird. Im Hintergrund erheben sich steile, schneebedeckte Felsen.

Nach der langen Reise ist die hiesige Behaglichkeit an sich ein Genuß. Es ist herrlich, wieder mal in einem Bett zu schlafen, das weder schwankt noch schüttelt, und Mahlzeiten einzunehmen, ohne Sorge, daß der Zug abfährt, oder daß der gegenübersitzende Reisende seekrank wird.

Dicht neben dem Hotel ist ein großes, offenes Schwimmbassin, das von warmen Schwefelquellen gespeist wird. Fichten stehen ringsherum, und das laue Wasser, der Sonnenschein und die köstliche würzige Luft bilden zusammen einen so wonnigen Aufenthalt, daß man im Sommer sicher gern Stunden dort verbrachte. Weiter unten, dem Tale zu, sind natürliche Grotten mit sprudelnden Quellen und tiefen Teichen, die geheimnisvoll unter den überhängenden Felsen verschwinden. Das Wasser ist so klar, daß man tief unten auf dem Grund die weißen Sandflächen und die einzelnen Kieselsteinchen schimmern sieht. Ich muß dort immer an die schöne Undine denken. In solch tiefen, klaren Wassern ist sie gewiß, unbewußt glücklich, wie die silbrigen Fischchen, herumgeschwommen, bis sie hinauf zur Welt stieg und unglücklich wurde, weil sie sich einbildete, daß es nötig sei, eine Seele zu haben. Hätte doch irgendein welterfahrenes Wesen der armen Undine erklärt, daß Seelenbesitz der entbehrlichste von allen ist, und daß die kalten, schlüpfrigen Fischchen am besten durch die Welt kommen, mit ihren geheimnisvoll grünlichen Augen, die so tief scheinen und auf deren Grund gar nichts ist.

Wir haben hier einen Offizier kennengelernt, der die Mounted Police des Distriktes befehligt. Im Winter muß das ein recht einsamer Posten sein, wenn das Hotel geschlossen ist und die ganze Welt weit und breit unter tiefem Schnee begraben liegt. Im Sommer dagegen und auch jetzt noch in den schönen Herbsttagen scheint Kapitän White ein ganz lustiges Leben zu führen. Er ist beständig hier im Hotel und die Damen sehen ihn alle als eine Art Badedirektor an, der für die Vergnügungen der ganzen Gesellschaft verantwortlich ist. In der Halle, wo in zwei großen Kaminen halbe Baumstämme knisternd verbrennen und an den Wänden und auf dem Boden herrliche dicke Felle liegen, flirtet er mit schönen, blauäugigen Kanadierinnen, die hier mit allerhand Sport die Saison zubringen; er flirtet mit amerikanischen »Summer Girls«, die es origineller gefunden haben, sich Kanada statt Europa anzusehen, und er flirtet mit blassen, verwaschen aussehenden Engländerinnen aus Hongkong, die alljährlich in immer größerer Zahl hierherkommen, um sich vom dortigen erschlaffenden Klima zu erholen. Es werden täglich große Ausflüge unternommen, zu denen die ganze Gesellschaft meist in Kapitän Whites Coach fährt. Er kutschiert vortrefflich, aber es sieht ganz abenteuerlich aus, wenn er mit seinem Viergespann die steilen Korkenzieherwege hinauffährt, in so scharfen Windungen, daß das erste Paar Pferde oft genau eine Etage höher zu stehen kommt, als das zweite und der Wagen. Gestern saß ich bei solcher Fahrt neben Kapitän White, und auch bei den halsbrecherischen Stellen erzählte er lustig weiter, besonders vom Wintersport und von den hiesigen Indianern. Er sagte mit dem Brustton englischer Selbstgefälligkeit, die Regierung sorge für sie mit Geld und Proviant – ich finde das eigentlich das mindeste, nachdem man den armen Leuten ihr Land weggenommen und ihnen als besondere Gastgeschenke Trunksucht und allerhand Epidemien gebracht hat. Von Zeit zu Zeit sollen die Indianer noch jetzt große Versammlungen abhalten, bei denen ungeheure Mengen Branntwein getrunken werden und die alten Krieger sich unter lautem Beifall all ihrer einstmaligen Morde und Diebstähle rühmen. Um den Alten nicht an Mut nachzustehen, und da Raub und Totschlag im modernen Kulturstaate doch sehr unangenehme Konsequenzen haben, bringen sich die jungen Männer in den Versammlungen eigenhändig große Wunden bei und werden dann auch als Krieger in den Bund aufgenommen.

Wir fuhren gestern nach dem Devil's Lake, einem tiefblauen See klarsten Wassers, der von hohen Felsen umgeben ist. Warum er gerade mit diesem Namen bedacht worden ist, konnte ich nicht ergründen. In allen Ländern kommt aber diese Benennung so häufig vor, daß man unwillkürlich annehmen muß, der Glaube an die Allgegenwart des Teufels sei weit mehr als derjenige an eine andere Allgegenwart im tiefinnersten Bewußtsein der Menschen lebendig.

Der Glaube an Gespenster, an böse Geister, anders auch Teufel genannt, ist ja sicherlich älter als der eigentliche Gottesglauben, denn aus der Angst vor bösen, unerklärlichen Mächten ist aller Kultus entstanden; er diente anfänglich immer dazu, Unheil von den armen Menschen abzuwenden, die von den bösen Geistern verfolgt wurden: die ursprünglichen Kultformen sind immer abwehrender Art und vielen, vielleicht den meisten Menschen, erscheint ihre Gottheit auch heute ja noch als ein erzürntes Wesen, das versöhnt werden muß.

Dieser kanadische Teufelssee erinnerte mich sehr an einen kleinen See in den Pyrenäen, den ich vor Jahren einmal sah. Dort steht auf einem Felsen ein kleines Kreuz, und der baskische Führer zog das breite wollene Barett ab, bekreuzigte sich und sagte, an der Stelle sei ein Liebespaar ertrunken. Jung, wie ich damals war, rührte mich das sehr. Als ich aber bis zu dem Kreuz geklettert war, las ich eine so alte Jahreszahl, daß das Liebespaar, wenn es statt zu ertrinken, alt und grau geworden wäre, und Urenkel erlebt hätte, unter allen Umständen doch längst hätte tot sein müssen. Das dämpfte meine Rührung. So oder so – ein Kreuzchen wäre doch schon längst das Ende – vielleicht war's besser so.

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Inhaltsverzeichnis

Banff, September 1899.

Lieber Freund! Die Welt ist hier so schön, daß ich Ihnen gleich wieder schreiben muß! Ich fürchte, dieser Briefanfang ist nicht sehr logisch – aber Sie werden ihn doch verstehen, Sie haben ja immer alles verstanden – Gesprochenes und Unausgesprochenes.