Arendt, Hannah; Ludz, Ursula Menschen in finsteren Zeiten

PIPER

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Die amerikanische Originalausgabe wurde für die deutschsprachige Ausgabe um vier Beiträge erweitert.

Soweit die Texte nicht in einer deutschen Übersetzung der Autorin vorhanden waren, besorgten die Übersetzung aus dem Amerikanischen Meinhard Büning, Wolfgang von Einsiedel, Hellmut Jaesrich und Ursula Ludz.

ISBN 978-3-492-96921-5

© 1955, 1964, 1965, 1966, 1967, 1968, 1971, 1972, 1975

Arendt Blücher Literary Trust, 1983 Mary McCarthy

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Men in Dark Times«, Harcourt, Brace and World, New York 1968

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 1989

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Archive Photos/Getty Images

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Vorwort

Die im Laufe von zwölf Jahren geschriebenen Essays und Artikel, die in diesem Buch gesammelt sind, verdanken ihre Entstehung bestimmten Anlässen oder Gelegenheiten. Hauptsächlich befassen sie sich mit Personen – mit der Art und Weise, wie diese ihr Leben lebten, wie sie sich in der Welt bewegten und wie sie von der geschichtlichen Zeit berührt wurden. Die Menschen, die hier zusammengebracht werden, könnten kaum verschiedener sein, und man kann sich unschwer vorstellen, wie sie sich, wenn befragt, gewehrt hätten, sozusagen in einem gemeinsamen Raum versammelt zu werden. Denn weder in ihren Begabungen noch in ihren Überzeugungen, weder hinsichtlich ihres Berufs noch in bezug auf ihr Milieu weisen sie Gemeinsamkeiten auf; sie haben auch kaum etwas voneinander gewußt. Doch waren sie Zeitgenossen, als solche allerdings verschiedenen Generationen zugehörig – ausgenommen natürlich Lessing, der aber im einleitenden Essay so behandelt wird, als sei er ihr Zeitgenosse. Gemeinsam also ist allen das Zeitalter, in das ihre Lebenszeit fiel, die Welt der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mit ihren politischen Katastrophen, moralischen Desastern und einer erstaunlichen Entwicklung von Kunst und Wissenschaft. Und wiewohl dieses Zeitalter einige von ihnen tötete und Leben und Werk anderer bestimmte, gibt es ein paar nahezu Unberührte und keinen, von dem behauptet werden könnte, daß er durch dieses Zeitalter bedingt sei. Wer Ausschau hält nach epochalen Figuren, nach Menschen, die zum »Mundstück der Zeit« wurden, nach Exponenten der Geschichte: Der wird hier vergeblich suchen.

Dennoch ist, denke ich, überall in diesem Buch die geschichtliche Zeit, sind die im Titel angesprochenen »finsteren Zeiten« sichtbar. Ich entnehme den Ausdruck Brechts berühmtem Gedicht »An die Nachgeborenen«, in dem von der Unordnung und dem Hunger die Rede ist, von den Schlachten und Schlächtern, von der Empörung über Ungerechtigkeit und der Verzweiflung, »wenn da nur Unrecht war und keine Empörung«, vom legitimen Haß, der gleichwohl häßlich macht, vom wohlbegründeten Zorn, der die Stimme heiser werden läßt.[1] All dies war durchaus wirklich, weil es sich in der Öffentlichkeit abspielte; es hatte nichts Geheimes oder Mysteriöses an sich. Dennoch war es keineswegs für alle sichtbar, ja überhaupt nur schwer wahrnehmbar; denn bis zu dem Augenblick, da die Katastrophe alles und jeden überraschte, war es zugedeckt – nicht von Wirklichem, sondern von dem in höchstem Maße wirkungsvollen und doppelzüngigen Gerede nahezu aller Amtsträger, die unliebsame Tatsachen und berechtigte Besorgnisse unaufhaltsam und einfallsreich weginterpretierten. Wenn wir an finstere Zeiten denken und an Menschen, die darin leben und sich bewegen, dann müssen wir diese Camouflage, die vom »Establishment« – oder dem »System«, wie es seinerzeit hieß – ausging und gefördert wurde, mitberücksichtigen. Falls es die Funktion des öffentlichen Bereichs ist, Licht auf die menschlichen Angelegenheiten zu werfen – durch Bereitstellung eines Erscheinungsraumes, in dem die Menschen mit Taten und Worten, zum Guten oder Schlechten, zeigen können, wer sie sind und was sie tun können –, so ist es dunkel, wenn dieses Licht gelöscht wird von »Glaubwürdigkeitslücken« und »unsichtbarer Herrschaft«, von einer Rede, die das, was ist, nicht offenlegt, sondern unter den Teppich kehrt, von moralischen und sonstigen Ermahnungen, die unter dem Vorwand, alte Wahrheiten hochzuhalten, jede Wahrheit in bedeutungslose Trivialität verwandeln.

Nichts von all dem ist neu. Es sind dies die Bedingungen, die bereits vor dreißig Jahren Sartre in seinem Roman Der Ekel (den ich noch immer für sein bestes Buch halte) in den Begriffen der Unaufrichtigkeit und des »esprit de sérieux« beschrieben hat: eine Welt, in der jeder, der öffentliche Anerkennung genießt, zu den »salauds« gehört, und in der alles, was ist, in einer undurchsichtigen, bedeutungslosen Diesseitigkeit, welche die Sinne trübt und Ekel erregt, existiert.[2] Und es sind die gleichen Bedingungen, die vor vierzig Jahren Heidegger (wenn auch mit ganz anderen Absichten) unheimlich treffsicher in jenen Paragraphen von Sein und Zeit beschrieb, die sich mit dem »Man«, dem »Gerede« beschäftigen,[3] allgemein gesprochen mit allem, was, unverborgen und von der Privatheit des Selbst nicht geschützt, in der Öffentlichkeit erscheint. In der menschlichen Existenz, wie er sie beschrieb, wird alles, was wirklich oder authentisch ist, von der überwältigenden Macht des »Geredes« angegriffen. Jenes wächst unwiderstehlich aus dem öffentlichen Bereich heraus und bestimmt jeden Aspekt der alltäglichen Existenz; es antizipiert und nihiliert den Sinn oder Unsinn all dessen, was die Zukunft bringen mag. Aus der »Unverständlichkeit der Trivialität« dieser gemeinsamen Alltagswelt gibt es, nach Heidegger, keinen anderen Ausweg als den Rückzug in jene Einsamkeit, die die Philosophen seit Parmenides und Plato dem politischen Bereich entgegengesetzt haben. Wir befassen uns hier nicht mit der philosophischen Relevanz von Heideggers Analysen (die m. E. unleugbar ist), noch mit der hinter ihnen stehenden Denktradition, sondern ausschließlich mit gewissen unterschwelligen Zeiterfahrungen und ihrer begrifflichen Beschreibung. Der entscheidende Punkt in unserem Zusammenhang ist, daß die sarkastische, widersinnig klingende Feststellung: Das Licht der Öffentlichkeit verdunkelt alles,[4] die Sache im Kern trifft, ja nichts anderes ist als die prägnanteste Zusammenfassung bestehender Bedingungen.

»Finstere Zeiten« – in dem weiteren Sinne, in dem ich den Ausdruck hier verwenden will – sind als solche mit den Ungeheuerlichkeiten dieses Jahrhunderts nicht identisch; denn jene sind, wie wir wissen, von einer erschreckenden Neuheit. Finstere Zeiten sind, im Gegenteil, nicht nur nichts Neues in der Geschichte, sondern auch nichts Seltenes, selbst wenn es sie vielleicht in der amerikanischen Geschichte nicht gegeben hat – einer Geschichte, die allerdings, in Vergangenheit und Gegenwart, ein anderes durchaus vergleichbares Maß an Verbrechen und Katastrophen aufzuweisen hat. Die Überzeugung, daß wir selbst dann, wenn die Zeiten am dunkelsten sind, das Recht haben, auf etwas Erhellung zu hoffen, und daß solche Erhellung weniger von Theorien und Begriffen als von jenem unsicheren, flackernden und oft schwachen Licht ausgehen könnte, welches einige Männer und Frauen unter beinahe allen Umständen in ihrem Leben und ihren Werken anzünden und über der ihnen auf der Erde gegebenen Lebenszeit leuchten lassen – diese Überzeugung bildet den unausgesprochenen Hintergrund für die hier vorgelegten Persönlichkeitsprofile. Ob das Licht dieser Menschen das einer Kerze oder einer strahlenden Sonne war: Das vermögen wir mit unseren so sehr an die Dunkelheit gewöhnten Augen wohl kaum zu sagen. Doch eine objektive Bewertung dieser Art scheint mir von zweitrangiger Bedeutung zu sein; sie kann ruhig den Nachgeborenen überlassen werden.

Januar 1968

Gedanken zu Lessing

Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten

I

Die Auszeichnung, die eine freie Stadt verleiht, und ein Preis, der sich auf den Namen Lessings beruft, sind eine große Ehrung. Ich gebe zu, daß ich nicht weiß, wie ich dazu gekommen bin, und auch, daß es mir nicht ganz leicht gefallen ist, damit zu Rande zu kommen. Dabei darf ich von der heiklen Frage des Verdienstes ganz absehen. Gerade in dieser Hinsicht erteilt uns die Ehrung ja eine sehr eindringliche Lektion in Bescheidenheit, indem sie uns einfach die Kompetenz abspricht, über uns selbst und unsere eigenen Verdienste so urteilen zu können, wie wir über die Verdienste und Leistungen anderer Menschen urteilen. In der Ehrung meldet sich die Welt zu Wort, und wenn wir sie annehmen und für sie danken, so können wir es nur ohne alle Selbstreflexion im Rahmen unserer Haltung zur Welt, zu einer Welt und Öffentlichkeit nämlich, welcher wir den Raum verdanken, in den wir sprechen und in dem wir gehört werden.

Aber die Ehrung mahnt uns nicht nur auf besondere, unüberhörbare Weise an die Dankbarkeit, die wir der Welt schulden; sie ist darüber hinaus in einem sehr hohen Maße weltverpflichtend, weil sie uns, da wir sie ja auch immer ablehnen können, in unserer Stellung zur Welt nicht nur bestärkt, sondern uns auch auf sie festlegt. Daß ein Mensch in der Öffentlichkeit überhaupt erscheint, daß die Öffentlichkeit ihn akzeptiert und bestätigt, ist keineswegs selbstverständlich. Nur das Genie wird von seiner Begabung selbst in die Öffentlichkeit gedrängt und braucht sich zu ihr nicht erst zu entschließen. In diesem einzigen Fall setzt die Ehrung dann den Einklang mit der Welt nur fort, läßt den Grundakkord nochmals in aller Öffentlichkeit erklingen, der unabhängig von Überlegungen und Entschlüssen, unabhängig auch von allen Verpflichtungen, gleichsam wie ein Naturphänomen bereits in die Menschengesellschaft geklungen ist. Hier gilt in der Tat, was Lessing einmal in zwei seiner schönsten Verszeilen über den genialen Mann gesagt hat:[1]

Was ihn bewegt, bewegt; was ihm gefällt, gefällt.

Sein glücklicher Geschmack ist der Geschmack der Welt.

Nichts, scheint mir, ist in unserer Zeit fragwürdiger als unsere Haltung zur Welt, nichts weniger selbstverständlich als der Einklang mit der Öffentlichkeit, zu dem die Ehrung verpflichtet und den sie bestätigt. In unserem Jahrhundert hat selbst das Geniale sich nur im Widerspruch und Streit mit der Welt und ihrer Öffentlichkeit entfalten können, wiewohl es natürlich wie eh und je den ihm eigenen Einklang in die Menschengesellschaft findet. Aber die Welt und die Menschen, welche sie bewohnen, sind nicht dasselbe. Die Welt liegt zwischen den Menschen, und dies Zwischen – viel mehr als, wie man häufig meint, die Menschen oder gar der Mensch – ist heute der Gegenstand der größten Sorge und der offenbarsten Erschütterung in nahe-zu allen Ländern der Erde. Selbst wo die Welt noch halbwegs in Ordnung ist oder halbwegs in Ordnung gehalten wird, hat die Öffentlichkeit doch die Leuchtkraft verloren, die ursprünglich zu ihrem eigensten Wesen gehört. Mehr und mehr Menschen in den Ländern der westlichen Welt, die seit dem Untergang der Antike die Freiheit von Politik als eine der Grundfreiheiten begreift, machen von dieser Freiheit Gebrauch und haben sich von der Welt und den Verpflichtungen in ihr zurückgezogen. Dieser Rückzug aus der Welt braucht den Menschen nicht zu schaden, er kann sogar große Begabungen bis ins Genialische steigern und so auf Umwegen wieder der Welt zugute kommen. Nur tritt mit einem jeden solchen Rückzug ein beinahe nachweisbarer Weltverlust ein; was verlorengeht, ist der spezifische und meist unersetzliche Zwischenraum, der sich gerade zwischen diesem Menschen und seinen Mitmenschen gebildet hätte.

Wenn man sich so überlegt, wie es denn eigentlich um Ehrungen und Preise der Öffentlichkeit unter den gegenwärtigen Weltumständen bestellt sei, kann man wohl auf den Gedanken kommen, der Hamburger Senat habe eine dem Ei des Kolumbus nicht unähnliche Lösung des Problems gefunden, als er beschloß, den Preis der Stadt gerade mit dem Namen Lessings zu verbinden. Denn Lessing hat den Einklang in die Welt und die Öffentlichkeit nie gefunden, wohl auch nie finden wollen, und hat sich doch auf seine Weise ihr immer verpflichtet gefühlt. Dabei waren besondere, einmalige Umstände mit im Spiel. Die deutsche Öffentlichkeit war auf ihn nicht vorbereitet und hat ihn, wohl auch zu Lebzeiten, nie geehrt. Ihm selbst fehlte, seinem eigenen Urteil zufolge, der glücklich-natürliche Einklang mit der Welt, die Verkettung von Verdienst und Glück, die er wie Goethe für das Zeichen des Genies hielt. Lessing glaubte, der Kritik etwas zu schulden, was »dem Genie sehr nahekommt«, was aber dennoch das natürliche Eingespieltsein mit der Welt, wo Fortuna lächelt, wenn Virtù sich zeigt, niemals erreicht. All das mag wichtig genug gewesen sein, war aber nicht ausschlaggebend. Man möchte meinen, er habe irgendwann einmal sich entschlossen, das Genie, den Mann des »glücklichen Geschmacks«, zwar zu bewundern, selbst aber denen nachzugehen, die er einmal halb ironisch die »Weltweisen« genannt hat, die »überall, wo sie ihre Augen hinfallen lassen, … die Stützen der bekanntesten Wahrheiten (erzittern)«[2] machen. Seine Haltung zur Welt war weder positiv noch negativ, sondern radikal kritisch und, was die Öffentlichkeit anlangte, durchaus revolutionär; aber sie blieb der Welt verpflichtet, verließ ihren Boden niemals und übersteigerte nichts in die Schwärmerei einer Utopie. Das Revolutionäre paarte sich bei Lessing mit einer eigentümlichen Parteiischkeit, die ihn mit einer manchmal fast übertrieben anmutenden Genauigkeit an das konkrete Detail band und die vielen Mißverständnissen ausgesetzt gewesen ist. Lessings Größe nämlich bestand unter anderem darin, daß er sich niemals von einer sogenannten Objektivität oder Sachlichkeit dazu verführen ließ, das eigentliche Weltverhältnis und den Weltstand der von ihm angegriffenen oder gepriesenen Sachen und Männer aus den Augen zu verlieren. Das ist ihm gerade in Deutschland schlecht genug bekommen, wo man noch weniger als anderswo begreifen mag, was Kritik ist, und daß Gerechtigkeit mit Objektivität im gewöhnlichen Verstande wenig zu tun hat.

Lessing hat mit der Welt, in der er lebte, seinen Frieden nie gemacht. Sein Vergnügen war, »den Vorurteilen die Stirne zu bieten« und dem »vornehmen Hofpöbel … die Wahrheit zu sagen«; und wie teuer er für diese Vergnügungen bezahlt haben mag, es waren Vergnügungen im wörtlichen Sinne. Er selbst hat einmal – als er sich darüber Rechenschaft zu geben suchte, worin eigentlich die »tragische Lust« bestände – gesagt, daß »alle Leidenschaften, auch die allerunangenehmsten, als Leidenschaften angenehm« sind, weil »wir uns bei … (ihnen) eines größern Grads unsrer Realität bewußt sind«[3]. Dieser Satz mahnt auf auffällige Weise an die griechische Affektenlehre, die den Zorn zum Beispiel unter die angenehmen Gemütsempfindungen rechnete, dafür aber die Hoffnung zusammen mit der Furcht als Übel verbuchte. Genau wie bei Lessing ist diese Unterscheidung an dem Grad der Realität orientiert, allerdings nicht in dem Sinne, daß die Realität an der Stärke gemessen würde, mit der der Affekt die Seele erschüttert, sondern daran, wie viel Wirklichkeit die Leidenschaft der Seele vermittelt. In der Hoffnung überspringt die Seele die Wirklichkeit, wie sie in der Furcht sich vor ihr zurückzieht. Aber der Zorn, und vor allem der Lessingsche Zorn, stellt die Welt bloß, so wie das Lessingsche Lachen in der Minna von Barnhelm dazu anlocken will, sich mit der Welt zu versöhnen, in ihr einen Platz zu finden, aber lachend-ironisch, das heißt ohne sich ihr zu verschreiben. Das gesteigerte Realitätsbewußtsein, das als solches Lust ist, entstammt einer leidenschaftlichen Weltoffenheit und Weltliebe, die sich in der »tragischen Lust« nicht einmal dadurch beirren läßt, daß der Mensch an der Welt zugrunde geht.

Wenn die Lessingsche Ästhetik im Gegensatz zu der des Aristoteles selbst die Furcht noch als eine Abart des Mitleids erkennen möchte, als das Mitleid, das wir mit uns selbst empfinden, so ist es, als sollte hier die Weltflucht der Furcht rückgängig gemacht werden, um auch sie noch als Leidenschaft zumindest zu retten, als einen Affekt nämlich, in dem wir von uns selbst so affiziert sind wie sonst von anderen Menschen in der Welt. Damit hängt aufs engste zusammen, daß für Lessing das Wesen der Poesie Handlung war (wie Haym richtig erkannte) und nicht, wie für Herder, eine Kraft – »die Zauberkraft, die auf meine Seele … wirkt« –, oder wie für Goethe eine gestaltete Natur. Ihm ging es gerade nicht um »die Vollendung des Kunstwerks in sich selbst«, die Goethe für »die ewige, unerläßliche Forderung« hielt, sondern – und darin ist er mit Aristoteles wieder ganz einig – um die Wirkung auf den Zuschauer, der gleichsam die Welt, nämlich das, was sich zwischen dem Künstler oder Dichter und seinen Mitmenschen als eine ihnen gemeinsame Welt gebildet hat, repräsentiert.

Lessing hat die Welt im Zorn und im Lachen erfahren, und Zorn und Lachen sind ihrem Wesen nach parteiisch. Deshalb war er unfähig oder nicht willens, ein Kunstwerk »in sich selbst« zu beurteilen, unabhängig von seinem »Effekt« in der Welt, und deshalb konnte er in seinen Polemiken angreifen oder verteidigen, je nachdem wie die in Frage stehende Sache gerade in der Öffentlichkeit beurteilt wurde, und ganz unabhängig davon, wie wahr oder falsch sie sein mochte. Es ist nicht nur Noblesse, wenn er sagte, daß von ihm jeder Frieden habe, auf den alle losschlagen,[4] es ist auch eine zum Instinkt gewordene Besorgnis um das relative Recht, das gemeinhin auch die Meinungen und Standpunkte haben, welche aus guten Gründen den kürzeren ziehen. So hat er selbst in dem Streit um das Christentum keine ein für allemal festgelegte Stellung bezogen, sondern ist, wie er in großartiger Selbsterkenntnis einmal sagte, unwillkürlich an ihm zweifelhaft geworden, »je bündiger mir der eine (es) erweisen wollte«, und hat es unwillkürlich in seinem »Herzen aufrecht zu erhalten« getrachtet, »je mutwilliger und triumphierender mir es der andere ganz zu Boden treten wollte«.[5] Dies aber heißt, daß er da, wo alle sich um die »Wahrheit« des Christentums stritten, vorzüglich für seine Stellung in der Welt eintrat – heute besorgt, es könnte wieder einen Anspruch auf Herrschaft geltend machen, und morgen schon wieder in Angst, es könnte aus der Welt ganz und gar verschwinden. Lessings so vieles vorwegnehmende Einsicht, daß die aufgeklärte Theologie seiner Zeit »uns unter dem Vorwande, uns zu vernünftigen Christen zu machen, zu höchst unvernünftigen Philosophen« mache, war nicht nur eine Parteinahme für die Vernunft. Sie war vor allem eine Parteinahme für die Freiheit, welche von denen, die »den Glauben durch Beweise erzwingen« wollen, in erheblich größere Gefahr geraten war als durch diejenigen, welche den Glauben als eine Gnade Gottes ansahen. Sie war aber darüber hinaus eine Parteinahme für die Welt, in der seiner Ansicht nach sowohl Religion wie Philosophie ihren Platz haben sollten, aber voneinander geschiedene Plätze, damit hinter der »Scheidewand … eine jede ihren Weg fortgehen (könne), ohne die andere zu hindern«.[6]

Kritik im Sinne Lessings ist diese Gesinnung, die immer Partei ergreift im Interesse der Welt, ein jegliches von seiner jeweiligen weltlichen Position her begreift und beurteilt und so niemals zu einer Weltanschauung werden kann, die von weiteren Erfahrungen in der Welt unabhängig bleibt, weil sie sich auf eine mögliche Perspektive festgelegt hat. Uns täte es schon not, uns von Lessing in dieser Gesinnung belehren zu lassen, und was uns das Lernen so schwer macht, ist nicht unser Mißtrauen gegen die Aufklärung oder den Humanitätsglauben des achtzehnten Jahrhunderts. Nicht das achtzehnte, sondern das neunzehnte Jahrhundert steht zwischen Lessing und uns; seine Geschichtsbesessenheit und Ideologieverschworenheit sind gerade im politischen Denken unserer Zeit noch so wirksam, daß wir ein ganz und gar freies Denken, das sich weder der Geschichte noch des logischen Zwanges als Krücken bedient, für unverbindlich zu halten geneigt sind. Daß zum Denken nicht nur Intelligenz und Tiefsinn, sondern vor allem auch Mut gehört, ist uns noch halbwegs vertraut; viel erstaunlicher für uns ist, daß Lessings Parteinahme für die Welt so weit gehen konnte, daß er für sie sogar die Widerspruchslosigkeit mit sich selbst, die wir doch bei allen, die schreiben und sprechen, als selbstverständlich voraussetzen, opfern konnte. Denn er meinte in allem Ernst: »Ich bin … nicht verpflichtet, alle die Schwierigkeiten aufzulösen, die ich mache. Meine Gedanken mögen immer sich weniger zu verbinden, ja wohl gar sich zu widersprechen scheinen: wenn es denn nur Gedanken sind, bei welchen (die Leser) Stoff finden, selbst zu denken.«[7] Er wollte nicht nur von niemandem gezwungen werden, sondern auch niemanden zwingen, weder mit Gewalt noch durch Beweise; und er hat die Tyrannei derer, die durch Räsonieren und Vernünfteln, durch zwingendes Argumentieren, das Denken zu beherrschen suchen, für die Freiheit für gefährlicher gehalten als die Orthodoxie. Er hat vor allem aber sich selbst niemals gezwungen, und statt mit einem widerspruchslosen System seine Identität in der Geschichte festzulegen, hat er, wie er selbst wußte, »nichts als Fermenta cognitionis« in die Welt gestreut.

So ist das berühmte Lessingsche Selbstdenken keineswegs eine Tätigkeit, die aus einem in sich einheitlichen und geschlossenen, organisch gewachsenen und gebildeten Individuum aufsteigt, um sich dann gewissermaßen umzusehen, wo in der Welt der günstigste Platz für seine Entfaltung liegen könne, um so das Individuum auf dem Umwege über das Denken in Harmonie mit der Welt zu bringen. Das Lessingsche Denken steigt nicht aus dem Menschen auf, und in ihm gibt sich nicht ein Selbst kund, sondern der Mensch – nach Lessing zum Handeln und nicht zum Vernünfteln geschaffen – entschließt sich zu ihm, weil er im Denken schließlich auch eine Art und Weise entdeckt, sich in Freiheit in der Welt zu bewegen. Von allen spezifischen Freiheiten, die uns in den Sinn kommen mögen, wenn wir das Wort Freiheit hören, ist die Bewegungsfreiheit nicht nur die historisch älteste, sondern auch die elementarste; das Aufbrechen-Können, wohin man will, ist die ursprünglichste Gebärde des Freiseins, wie umgekehrt die Einschränkung der Bewegungsfreiheit seit eh und je die Vorbedingung der Versklavung war. Auch für das Handeln, in dem menschliche Freiheit in der Welt primär erfahren wird, ist Bewegungsfreiheit die unabläßliche Bedingung. Daß Menschen, wenn ihnen der weltliche Raum, der durch Zusammenhandeln konstituiert wird und sich dann mit Ereignissen und Geschichten anfüllt, geraubt ist, sich auf ihre Denkfreiheit zurückziehen, ist natürlich sehr alt; und irgendein solches Rückzugsphänomen scheint auch bei Lessing vorzuliegen. Wenn wir von solchem Rückzug auf Gedankenfreiheit aus weltlicher Versklavung hören, fällt uns naturgemäß das stoische Vorbild ein, weil es geschichtlich das wirksamste gewesen ist. Dies Vorbild aber stellt genau genommen nicht so sehr einen Rückzug aus dem Handeln auf das Denken dar als eine Flucht aus der Welt in das eigene Selbst, von dem man hofft, es würde in souveräner Unabhängigkeit von der Außenwelt sich halten können. Davon ist bei Lessing keine Rede. Lessing zog sich auf das Denken zurück, aber ganz und gar nicht auf sein Selbst, und wenn es für ihn eine geheime Verbundenheit zwischen Handeln und Denken gegeben hat (was ich in der Tat glaube, aber nicht belegen kann), so lag sie darin, daß beide, Handeln wie Denken, in der Form einer Bewegung vor sich gehen, daß also die Freiheit, die beiden zugrunde liegt, die Bewegungsfreiheit ist.

Lessing hat wohl nie geglaubt, daß das Handeln durch Denken ersetzt werden könne oder daß Denkfreiheit ein Ersatz für die nur dem Handeln eigentümliche Freiheit sein könne. Er wußte sehr gut, daß er in dem damals »sklavischsten« Lande Europas lebte, wiewohl es in ihm sehr wohl möglich war, »gegen die Religion so viel Sottisen zu Markte zu bringen, als man« wollte; unmöglich nämlich war, »für die Rechte der Untertanen, … gegen Aussaugung und Despotismus seine Stimme« zu erheben, also zu handeln.[8] Der heimliche Bezug, den sein Selbstdenken mit dem Handeln verband, lag gerade darin, daß er sein Denken nie an Resultate band, ja, daß er auf Resultate, sofern sie die endgültige Auflösung von Schwierigkeiten bringen sollten, die das Denken sich selbst macht, ausdrücklich verzichtete, und zwar sogar um den Preis der Wahrheit, weil ja jede Wahrheit notwendigerweise das Denken als reine Tätigkeit zum Stillstand bringen muß. Die Fermenta cognitionis, die Lessing in die Welt streute, sollten keine Erkenntnisse mitteilen, sondern andere zum Selbstdenken anregen, und dies eigentlich für keinen anderen Zweck, als um ein Gespräch zwischen Denkenden in Gang zu bringen. Das Lessingsche Denken ist nicht ein Sprechen mit sich selbst, sondern ein vorweggenommenes Sprechen mit anderen, und dies ist der Grund, warum es wesentlich polemisch ist. Aber selbst wenn es ihm gelungen wäre, sein Gespräch mit anderen Selbstdenkenden in Gang zu bringen und so einer Einsamkeit zu entkommen, die gerade ihm sich lähmend über alle Fähigkeiten legte, so hätte er sich schwerlich je weismachen lassen, daß damit nun alles in bester Ordnung sei. Was nicht in Ordnung war und was auch durch kein Gespräch und kein Selbstdenken hätte in Ordnung kommen können, war die Welt – das nämlich, was zwischen den Menschen entsteht, und wo das, was ein jeder durch Geburt mitbringt, sichtbar und hörbar werden kann. In den zweihundert Jahren, die uns von Lessings Lebenszeit trennen, hat sich in dieser Hinsicht manches geändert, aber weniges zum Besseren. Die »Stützen der bekanntesten Wahrheiten« (um in der von ihm geprägten Metapher zu bleiben), die damals erzitterten, liegen heute am Boden, und um sie zu erschüttern, bedarf es keiner Kritik mehr und keines Weltweisen. Wir dürfen unsere Augen nur nicht schließen, um zu erkennen, daß wir uns in einem wahren Trümmerfeld solcher Stützen befinden.

Nun könnte dies in gewissem Sinne ein Vorteil sein, nämlich für ein Denken, das sich ohne Stützen und Krücken, gewissermaßen ohne das Geländer der Tradition frei bewegt. Aber es ist schwer, dieses Vorteils in der Welt froh zu werden. Denn es hat sich längst herausgestellt, daß die Stützen der Wahrheiten auch die Stützen der weltlich-politischen Ordnung gewesen sind, und die Welt – im Unterschied zu den sie bewohnenden und in ihr frei sich bewegenden Menschen – bedarf der Stützen, um die Beständigkeit und Dauerhaftigkeit zu garantieren, ohne welche sie den sterblichen Menschen nicht die relativ gesicherte, relativ unvergängliche Heimat bieten kann, derer sie bedürfen. Man könnte wohl sagen, daß die lebendige Menschlichkeit eines Menschen in dem Maße abnimmt, in dem er auf das Denken verzichtet und sich den Resultaten, den bekannten oder auch unbekannten Wahrheiten, anvertraut und sie ausspielt, als seien sie Münzen, mit denen man alle Erfahrungen begleichen kann. Aber mit der Welt steht es gerade umgekehrt. Die Welt wird unmenschlich, ungeeignet für menschliche Bedürfnisse, welche die Bedürfnisse von Sterblichen sind, wenn sie in eine Bewegung gerissen wird, in der es keinerlei Bestand mehr gibt. So hat man denn auch seit dem großen Fehlschlag der Französischen Revolution die alten Stützen, die damals schon eingestürzt waren, immer wieder aufgerichtet, um dann immer wieder zusehen zu müssen, wie sie erst erzitterten und dann von neuem einstürzten. An die Stelle der »bekanntesten Wahrheiten« haben sich die furchtbarsten Irrlehren gesetzt, aber der Irrtum dieser Lehren ist kein Beweis, keine neue Stütze für die alten Wahrheiten. So kann auch im Politischen die Restauration niemals ein Ersatz werden für eine notwendig gewordene Neugründung; sie ist bestenfalls eine Notmaßnahme, die allerdings unvermeidlich ist, wenn die Neugründung nicht gelingt. Gleichermaßen unvermeidlich aber ist, daß in einer solchen Konstellation, noch dazu wenn sie sich über so lange Zeiträume erstreckt, das Mißtrauen der Menschen gegen Welt und Öffentlichkeit ständig wächst. Denn die Zerbrechlichkeit dieser immer wieder restaurierten Stützen der öffentlichen Ordnung wird naturgemäß nach jedem Einsturz evidenter, so daß schließlich die Öffentlichkeit gerade diejenigen »bekanntesten Wahrheiten« als allen ohne weiteres einleuchtend voraussetzt, an die doch im geheimen kaum noch einer glaubt.

II

In der Geschichte sind die Zeiten, in denen der Raum des Öffentlichen sich verdunkelt und der Bestand der Welt so fragwürdig wird, daß die Menschen von der Politik nicht mehr verlangen, als daß sie auf ihre Lebensinteressen und Privatfreiheit die gehörige Rücksicht nehme, nicht selten. Man kann sie mit einigem Recht »finstere Zeiten« (Brecht) nennen. Denjenigen, die in solchen Zeiten leben und von ihnen erzogen worden sind, hat es wohl immer nahegelegen, die Welt und ihre Öffentlichkeit gering zu achten, sie so weit als möglich zu ignorieren oder auch sie zu überspringen und gleichsam hinter sie zu greifen – als wäre die Welt nur eine Fassade, hinter der sich Menschen verbergen –, um sich dann mit Menschen ungeachtet der Welt, die zwischen ihnen liegt, zu verständigen. In solchen Zeiten entfaltet sich, wenn es gut geht, eine Menschlichkeit eigener Art. Um ihre Möglichkeiten recht einzuschätzen, brauchen wir nur an Nathan den Weisen zu denken, dessen eigentliches Thema: »Es genügt, ein Mensch zu sein«, das Schauspiel durchherrscht und dem der Appell: »Sei mein Freund!«, der wie ein Leitmotiv durch das Ganze klingt, entspricht. Wir könnten mit gleichem Recht an die Zauberflöte denken, die ebenfalls eine solche Menschlichkeit zum Thema hat, deren Humanität tiefer liegt, als wir gemeinhin meinen, wenn wir nur an die durchschnittlichen Theorien des achtzehnten Jahrhunderts von einer einheitlichen Menschennatur denken, die hinter der Vielfalt der Nationen, Völker, Rassen und Religionen liegen sollte, in die das Menschengeschlecht sich aufteilt. Wenn es eine solche Menschennatur geben sollte, so wäre sie ein Naturphänomen, und ein ihr entsprechendes Verhalten menschlich zu nennen, würde voraussetzen, daß menschliches und natürliches Verhalten ein und dasselbe sind. Der größte und geschichtlich wirksamste Vertreter dieser Menschlichkeit im achtzehnten Jahrhundert war Rousseau, für den sich die allen Menschen gemeinsame Menschennatur nicht in der Vernunft, sondern im Mitleid manifestierte, in einem eingeborenen Widerwillen, wie er sagte, einen Mitmenschen leiden zu sehen. In merkwürdiger Übereinstimmung hat auch Lessing gemeint, der mitleidigste Mensch sei der beste Mensch. Aber im Unterschied zu Rousseau, den der egalitäre Charakter des Mitleids nicht störte – die Tatsache, daß wir, wie Lessing betonte, »etwas Mitleidähnliches« auch dem Bösewicht gegenüber empfinden –, und der daher ganz im Sinne der Französischen Revolution, die sich dann auf ihn berief, die Verwirklichung der Menschlichkeit in der »fraternité«, in der Brüderlichkeit erblickte, hat Lessing die Freundschaft, die ja so wählerisch ist wie das Mitleid egalitär ist, für das zentrale Phänomen gehalten, in dem allein sich Menschlichkeit beweisen könne.

Bevor wir auf diesen Lessingschen Begriff von Freundschaft und seine politische Relevanz zu sprechen kommen, müssen wir noch etwas bei der Brüderlichkeit, wie sie das achtzehnte Jahrhundert verstand, verweilen; und dies nicht nur, weil auch Lessing sie gut kannte, wenn er von den »philanthropischen Empfindungen« spricht, von einer brüderlichen Zuneigung zu den Menschen nämlich, die aus einem Haß auf die Welt, in der Menschen »unmenschlich« behandelt werden, entspringt, sondern vor allem weil in solcher Brüderlichkeit sich Menschlichkeit in der Tat am häufigsten in »finsteren Zeiten« zeigt und erweist. Diese Art der Menschlichkeit wird sogar unausweichlich, wenn die finsteren Zeiten sich für bestimmte Menschengruppen so verdüstern, daß es für sie gar keiner Erkenntnis oder freien Entscheidung mehr bedarf, um sich aus der Welt zurückzuziehen. Als ein geschichtlich beschreibbares und geradezu fixierbares Phänomen finden wir die Menschlichkeit im Sinne der Brüderlichkeit eigentlich bei allen verfolgten Völkern und allen versklavten Menschengruppen, und es muß im Europa des achtzehnten Jahrhunderts sehr nahe gelegen haben, sie gerade bei den Juden zu erfahren. Diese Menschlichkeit ist das große Vorrecht der Pariavölker, sie ist das, was die Parias dieser Welt immer und unter allen Umständen vor allen anderen voraushaben können. Dies Vorrecht ist teuer genug bezahlt; ihm entspricht oft ein so radikaler Weltverlust, eine so furchtbare Verkümmerung aller Organe, mit denen wir der Welt zugewandt sind – von dem Gemeinsinn oder gesunden Menschenverstand angefangen, mit dem wir uns in einer gemeinsamen Welt orientieren, bis zu dem Schönheitssinn oder Geschmack, mit dem wir die Welt lieben –, daß man in extremen Fällen, in denen das Pariatum über Jahrhunderte angedauert hat, von wirklicher Weltlosigkeit sprechen kann. Und Weltlosigkeit ist leider immer eine Form der Barbarei.

Bei dieser gewissermaßen natürlich gewachsenen Menschlichkeit ist es, als ob unter dem Druck der Verfolgung die Verfolgten so eng zusammengerückt sind, daß der Zwischenraum, den wir Welt nannten (und der zwischen ihnen vor der Verfolgung natürlich auch bestand und sie in Distanz voneinander hielt), einfach verschwunden wäre. Dabei entsteht leicht eine Wärme menschlicher Beziehungen, die denjenigen, die einige Erfahrung mit solchen Menschengruppen haben, fast wie ein physikalisches Phänomen anmuten mag. Das soll natürlich nicht heißen, daß diese Wärme verfolgter Völker nicht eine große Sache ist. In ihrer vollen Entfaltung kann sie der Nährboden einer Güte werden, deren Menschen sonst kaum je fähig sind. Auch ist hier oft eine Vitalität beheimatet, eine Freude des schier Lebendigseins, bei der es ist, als käme das Leben zu seinem vollen Recht erst unter denen, die, weltlich gesprochen, die Erniedrigten und Beleidigten sind. Dabei darf man aber nicht vergessen, daß der Charme und die Intensität der Atmosphäre, die sich hier entwickelt, auch dem geschuldet sind, daß die Parias dieser Welt das große Privileg genießen, von der Sorge um die Welt unbelastet zu sein.

Die Brüderlichkeit, welche die Französische Revolution der Freiheit und Gleichheit, die seit eh und je die politische Sphäre des Menschen charakterisierten, hinzufügte, hat ihren natürlichen Ort in der Lebenssphäre der Unterdrückten und Verfolgten, der Ausgebeuteten und Erniedrigten, welche das achtzehnte Jahrhundert die Unglücklichen, »les malheureux«, und das neunzehnte Jahrhundert die Elenden, »les misérables«, nannte. Das Mitleid, das bei Lessing wie Rousseau, wenn auch in sehr verschiedenen Zusammenhängen, eine so außerordentliche Rolle für die Entdeckung und Bestätigung einer allen Menschen gemeinsamen Menschennatur spielte, ist dann bei Robespierre zum ersten Mal zu dem zentralen Motiv des Revolutionärs geworden; seither gehört es untrennbar und unübersehbar in die Geschichte der europäischen Revolutionen. Nun ist das Mitleid zweifellos ein natürlich kreatürlicher Affekt, von dem jeder normal geartete Mensch unwillkürlich beim Anblick auch des fremdesten Leides noch ergriffen wird, und es scheint daher sehr nahe zu liegen, diesen Affekt zur Grundlage eines Fühlens zu machen, das sich auf die ganze Menschheit erstrecken sollte, um dann eine Menschengesellschaft zu etablieren, in welcher wirklich alle Menschen Brüder werden. Durch das Mitleid versuchte die revolutionär gesinnte Humanität des achtzehnten Jahrhunderts, sich mit dem Unglück und dem Elend zu solidarisieren, gleichsam in die Sphäre zu dringen, in der die Brüderlichkeit beheimatet ist. Dabei stellte sich sehr bald heraus, daß diese Art der Menschlichkeit, wie sie in ihrer reinsten Ausprägung ein Vorrecht der Parias ist, nicht übertragbar ist und von denen, die nicht dazugehören, nicht ohne weiteres, auch nicht durch den Affekt des Mitleids oder selbst durch Mitleiden, angeeignet werden kann. Auf das Unheil, das das Mitleid in die modernen Revolutionen getragen hat, weil es versuchte, die Unglücklichen glücklicher zu machen, anstatt für alle Gerechtigkeit zu etablieren, können wir hier nicht eingehen. Aber wir mögen, um ein wenig Abstand von uns selbst und der modernen Art des Fühlens zu gewinnen, uns kurz erinnern, wie die in allem Politischen so viel erfahrenere antike Welt das Mitleid und die Menschlichkeit der Brüderlichkeit eingeschätzt hat.

In einem sind Neuzeit und Antike sich einig: Beide sehen im Mitleid etwas ganz Natürliches, dem sich der Mensch ebensowenig entziehen kann wie etwa der Furcht. Um so auffallender ist, daß, wenn es zur Beurteilung des Mitleids kommt, die Antike im schärfsten Widerspruch zu der großen Schätzung des Mitleids in der Neuzeit steht. Für sie war der mitleidigste Mensch so wenig der beste Mensch wie der furchtsamste Mensch, gerade weil sie so deutlich den rein affektiven Charakter des Mitleids erkannte, von dem wir wie von der Furcht befallen werden, ohne uns wehren zu können, und das als reines Erleiden auf jeden Fall das Handeln unmöglich macht. Dies ist der Grund, warum Aristoteles Mitleid und Furcht zusammen behandelt, wobei es ganz abwegig wäre, das Mitleid auf die Furcht – als errege fremdes Leid in uns die Furcht für uns selbst – oder die Furcht auf das Mitleid – als ob wir in der Furcht mit uns selbst Mitleid empfänden – zu reduzieren. Noch überraschender für uns ist, wenn wir von Cicero[9] hören, daß die Stoiker das Mitleid mit dem Neid auf eine Stufe stellten: Wer Leid empfindet an eines anderen Unglück, der leidet auch an eines anderen Glück. Cicero selbst kommt dem, worum es sich hier handelt, allerdings erheblich näher, wenn er in dem gleichen Zusammenhang fragt: Sollten wir beklagen anstatt zu helfen, sollten wir etwa unfähig sein, Hilfe zu leisten, ohne von Mitleid befallen und affiziert zu sein?[10] Sollten, mit anderen Worten, Menschen so schäbig sein, daß sie ohne den Affekt des Mitleids, ohne von ihrem eigenen Mitleiden angestachelt und gleichsam gezwungen zu werden, unfähig sind, sich menschlich zu verhalten?

Wir können schwerlich umhin, bei Beurteilungen dieser Affekte die Frage der Selbstlosigkeit oder besser die Frage der Offenheit für andere, die in der Tat Vorbedingung der Menschlichkeit in jedem Verstande ist, aufzuwerfen. Aber gerade da scheint es evident, daß die Mitfreude dem Mitleiden an Offenheit absolut überlegen ist. Gesprächig ist die Freude, nicht das Leid, und das wahrhaft menschliche Gespräch unterscheidet sich von der bloßen Diskussion dadurch, daß es von Freude an dem anderen und dem, was er sagt, ganz durchdrungen ist, gleichsam auf den Ton der Freude gestimmt ist. Das, was diese Freude unmöglich macht, ist der Neid, der in der Welt der Humanität das böseste Laster ist; aber das eigentliche Gegenteil des Mitleids ist die Grausamkeit, die genau wie das Mitleid ein Affekt ist, nämlich eine Perversion, die Lust empfindet, wo natürlicherweise Schmerz empfunden wird, wobei entscheidend ist, daß Lust und Schmerz wie alles Natürlich-Kreatürliche in die Stummheit drängt und von sich aus wohl zum Ton, aber nicht zur Sprache und zum Gespräch findet.

Dies alles sagt nur auf andere Weise, daß die Menschlichkeit der Brüderlichkeit denen nicht zusteht, die nicht zu den Erniedrigten und Beleidigten gehören und nur durch das Mitleid an ihr Anteil haben können. Das Recht auf die Wärme der Pariavölker erstreckt sich nicht mehr auf diejenigen, die auf Grund ihrer andersgearteten Stellung in der Welt eine Verpflichtung für die Welt haben und die Unbekümmertheit des Parias nicht teilen dürfen.[11] Aber es ist richtig, daß in »finsteren Zeiten« die Wärme, die den Parias das Licht ersetzt, eine große Faszination hat für alle, die sich der Welt, so wie sie ist, so schämen, daß sie sich in die Unsichtbarkeit flüchten möchten. Und in der Unsichtbarkeit, in dem Dunkel, in dem man selbst verborgen auch die sichtbare Welt nicht mehr zu sehen braucht, kann allerdings nur die Wärme und die Brüderlichkeit der eng aneinander gerückten Menschen für die unheimliche Realitätslosigkeit entschädigen, die menschliche Beziehungen überall da annehmen, wo sie schlechterdings weltlos, unbezogen auf eine den Menschen gemeinsame Welt, sich entfalten. In dieser Welt- und Realitätslosigkeit liegt nichts näher als zu meinen, daß das den Menschen Gemeinsame nicht die Welt sei, sondern eine so oder anders gedeutete Menschennatur – wobei es verhältnismäßig gleichgültig ist, ob man den Akzent auf eine allen Menschen gleiche Vernunft oder eine ihnen allen gleichermaßen zukommende Empfindung, zum Beispiel die Fähigkeit des Mitleids, legt. Der Rationalismus und die Sentimentalität des achtzehnten Jahrhunderts sind nur zwei Seiten der gleichen Sache, die beide gleichwohl in den schwärmerischen Überschwang führen konnten, in dem man sich allen Menschen brüderlich verbunden fühlt. Auf jeden Fall waren diese Rationalität und diese Sentimentalität nur der innere, im Unsichtbaren lokalisierte Ersatz für den Verlust der gemeinsamen, sichtbaren Welt.

Was nun diese Menschennatur und die ihr entsprechende Menschlichkeit anlangt, so gilt für sie leider nicht nur, daß sie sich nur im Dunklen manifestiert und also weltlich nicht feststellbar ist, sondern auch, daß sie in der Sichtbarkeit sich gleich einem Phantom in nichts auflöst. Die Menschlichkeit der Erniedrigten und Beleidigten hat die Stunde der Befreiung noch niemals auch nur um eine Minute überlebt. Das heißt nicht, daß sie nichts sei, sie macht in der Tat die Erniedrigung tragbar; aber es heißt, daß sie politisch schlechterdings irrelevant ist.

III

Diese und ähnliche Fragen der richtigen Haltung in »finsteren Zeiten« sind natürlich der Generation und der Menschengruppe, der ich angehöre, besonders vertraut. Ist schon der Einklang mit der Welt, den die Ehrung verlangt, in unserer Zeit und unter unseren Weltumständen nirgends selbstverständlich, so gilt dies für uns in erhöhtem Maße. Uns sind Ehrungen sicher nicht an der Wiege gesungen worden, und es wäre nicht zu verwundern, wenn wir die Weltoffenheit und Unbefangenheit, das, was die Welt im Guten gibt, einfach dankbar hinzunehmen, nicht mehr erlernen können. Auch diejenigen unter uns, die sich im Reden und Schreiben an die Öffentlichkeit wagten, taten dies nicht aus einer ursprünglichen Lust am Öffentlichen, und sie haben schwerlich erwartet, von der Öffentlichkeit je bestätigt zu werden. Ihnen mußte es erheblich näher liegen, sich auch in der Öffentlichkeit nur menschlich zu verhalten, wiewohl man dies eigentlich nie kann; sie waren jedenfalls geneigt, auch hier sich nur an Freunde zu wenden und an jene unbekannten, vereinzelten Leser und Hörer, mit denen sich natürlich jeder, der überhaupt schreibt und spricht, unwillkürlich verbrüdert weiß.[12] Ich fürchte, ihre Bemühungen fühlten sich der Welt sehr wenig verpflichtet und waren eher von der Hoffnung geleitet, in einer unmenschlich gewordenen Welt nicht nur so etwas wie Menschlichkeit zu bewahren, sondern auch, so gut es eben gehen wollte, der unheimlichen Realitätslosigkeit der reinen Menschlichkeit zu widerstehen – jeder auf seine Weise, und einige Wenige dadurch, daß sie nach Möglichkeit auch das Unmenschliche noch zu verstehen und auch das Ungeheuerliche in der Vorstellung noch nachzuvollziehen suchten.[13]