Peter S. Beagle

In
Kalabrien

Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Oliver Plaschka

Impressum

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Hobbit Presse

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Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »In Calabria«

im Verlag Tachyon Publications LLC, San Francisco

© 2017 by Peter S. Beagle

Für die deutsche Ausgabe

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung und Illustration: Birgit Gitschier, Augsburg

unter Verwendung von Bildern von Shutterstock.com

Einhorn-Grafik im Text: © CanStockPhoto/Krisdog

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96217-8

E-Book: ISBN 978-3-608-11025-8

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für Ayesha L. Collins,
tapfer und schön,
jederzeit,
selbst traurig und matt

Das Problem mit deinem Hof«, sagte Romano Muscari, »ist nur, dass er zu hoch für die amerikanischen Sonnenanbeter und zu tief für die deutschen Skifahrer liegt. Lage ist alles.«

»Das Problem mit meinem Hof«, knurrte Claudio Bianchi durch seinen schweren, gerade noch schwarzen Schnurrbart, »ist, dass der postino trotz der Lage zweimal die Woche den Weg hierher findet. Bei jedem Wetter, ob es Post gibt oder nicht.«

Romano grinste. »Ab nächstem Monat sogar dreimal die Woche. Neue Regierung.« Er war kaum halb so alt wie Bianchi, aber lange genug dessen Freund, um an den Worten des Kalabriers keinen Anstoß zu nehmen. Romano war in den Abruzzen geboren, und wenn er schlechter Laune war, wies Bianchi ihn gerne darauf hin, dass sein Name perfekt zu ihm passte, weil er nämlich wie ein Römer sprach. Das war nicht als Kompliment gemeint. Er lehnte sich an den kleinen blauen Lieferwagen, der ihm als Posttransporter diente, und fuhr fort: »Nein, das ist mein Ernst. Wohin du auch siehst – runter Richtung Scilla, Tropea oder hoch zum Monte Sant’Elia, deine Lage zieht einfach keine Touristen an. Es schmerzt mich, das zu sagen, aber es ist unwahrscheinlich, dass es dir je gelingen wird, diesen Hof in eine beliebte Touristenattraktion zu verwandeln. Keine Bikinis, keine Skilifts und hübsche Schneekleidung. Es ist wirklich ein Jammer.«

»Es ist ein Segen. Was will ich mit Touristen, wenn schon du mich mit nutzloser Werbung belästigst und Domenico unten im villaggio mir altersschwache Hühner verkauft und dieser Dieb Falcone mich um mein Geld betrügt, wo ich in Reggio doch das Doppelte für mein Obst und Gemüse bekäme …«

»Wenn dein alter Laster wenigstens den halben Weg nach Reggio schaffen würde, meinst du …«

»Es ist ein guter Laster – Studebaker, aus Amerika, ein Klassiker. Man müsste lediglich mal sein Getriebe erneuern lassen, aber bestimmt nicht von Giorgio Malatesta, weil der nämlich Billigteile aus Albanien benutzt. In der Zwischenzeit ertrage ich, was ich ertragen muss. Und wen ich ertragen muss.« Er richtete den mürrischen Blick flüchtig auf den Postboten. »Hast du wirklich nichts Besseres zu tun? Ganz im Ernst? An einem schönen Tag wie heute?«

»Nun ja …« Romano dehnte die Worte nachdenklich. »Tatsächlich habe ich Giovanna versprochen, dass ich ihr eine Fahrstunde gebe. Sie lernt meine Route, weißt du, für Notfälle. Wenn ich zum Beispiel auch mal schlafen muss.«

»Deine Schwester? Deine Schwester ist nicht alt genug zum Fahren!«

Langsam und bedauernd schüttelte Romano den Kopf. »Nichts ist trauriger, als dem Niedergang eines einst großen Geistes zuzusehen. Du kannst dich nicht mal mehr erinnern, dass Giovanna nächsten Monat dreiundzwanzig wird.« Er verdrehte vorwurfsvoll die Augen zum Himmel. »Sie kann nicht ewig bei mir wohnen. Die Leute reden sonst noch. Sobald sie ihren Abschluss hat, wird sie wahrscheinlich mit ihrer Freundin Silvana zusammenziehen, bis sie Arbeit und eine eigene Wohnung findet. So wie du zweifellos mal ein ruhiges Zimmer brauchst, wo du ungestört den ganzen Tag deine Gedichte schreiben kannst. Und man dir zu regelmäßigen Zeiten Essen und Beruhigungsmittel bringt.« Er streichelte die ergraute Schnauze von Garibaldi, Bianchis theoretischem Wachhund, behielt den kleinen, breitbrüstigen Bauern aber mit halbem Auge im Blick. »Du hast in letzter Zeit nicht zufällig ein paar schöne Gedichte geschrieben?«

»Ich schreibe keine Gedichte. Wie du sehr gut weißt. Manchmal – manchmal – lese ich meinen Kühen welche vor, denn es scheint ihnen zu gefallen. Das sind aber nicht meine Gedichte, niemals meine. Ich lese ihnen Leopardi vor, oder Pavese, Pozzi, Montale – Dichter von Format, von Menschlichkeit, Dichter, die meinen Kühen vielleicht einen Eindruck davon vermitteln, was es heißt, ein Mann oder eine Frau zu sein.« Er räusperte sich und spuckte zielsicher in ein Büschel Unkraut, wodurch er die schwanzlose, dreibeinige Katze Sophia aufschreckte, die gerade einem Spatz nachstellte. »Und wenn ich tatsächlich einmal selbst Gedichte schriebe, würde es mir nie einfallen, sie meinen Kühen vorzulesen. Mittlerweile haben sie ein feines literarisches Gespür. Ich würde mich bloß blamieren.«

»Deine Bescheidenheit ist bewundernswert. Wirklich bewundernswert.« Romano schnalzte anerkennend mit der Zunge. »Also, ich muss mich jetzt von deinem friedlichen Reich losreißen, sonst komme ich mit meiner Werbung nicht durch, und die arme Giovanna wartet vergebens auf ihre Stunde.« Er tätschelte den linken Kotflügel des blauen Lieferwagens, so wie immer, ehe er einstieg; wenn Claudio ihn dafür als abergläubisch verspottete, erklärte Romano stets feierlich, dass er sich lediglich versichern wollte, dass der Kotflügel nicht abfiel. Er ließ den Motor an, lehnte sich noch einmal heraus und sagte über das rauhe Stottern: »Du wirst das Mädchen noch erleben, wie es diese Kiste eines Tages den Berg hoch zu deiner Haustür fährt, genau wie ich. Sie lernt sehr schnell.«

Bianchi schnaubte wie eine Schrotflinte. »Sie ist zu jung. Sie wird immer zu jung sein. Du bist zu jung.« Er trat einen Schritt zurück und hob die Hand in einer Geste, die möglicherweise ein Abschiedsgruß war, genauso gut aber auch einer lästigen Stechmücke gelten konnte.

Romano und seine Schwester waren gerade erst eingeschult worden, als Bianchi den weitläufigen Hof westlich Sidernos und nördlich Reggios geerbt hatte, von einem Vetter zweiten Grades väterlicherseits, den er nie persönlich getroffen hatte. Generell mochten die Bianchis Südkalabriens einander nicht sonderlich, aber Außenseiter mochten sie noch weniger, und es stand außer Frage, den Hof zu verkaufen, solange noch ein Splitter des Stammbaums blieb, ihn zu übernehmen. In der Gegend kannte man den Hof noch immer als den »Griechenhof«, weil ein Verwandter aus der Bovesia vor ein paar Generationen angeblich noch ein paar Brocken Griko, die alte Sprache der Region, gesprochen hatte. Claudio Bianchi hatte seine Zweifel daran, wie an den meisten Dingen.

Er war siebenundvierzig Jahre alt: klein, stämmig und breitschultrig wie die meisten in seiner Familie und die meisten Männer, die er im Laufe seines Lebens gekannt hatte. In sein schwarzes Haar mischte sich immer mehr Grau, doch war es noch so dicht wie eh und je, und seine Haut hatte die Farbe der Erde, die er jeden Tag in der Sonne des Mezzogiornos bearbeitete. Die Falten um seine Augen waren so streng wie das Land und vermutlich weit eher von Erschöpfung, Wut und knochenhartem Argwohn als von Freude gegraben; doch die großen Augen selbst waren von einem tiefen Braun, und ihre wache Wärme hätte keinen Platz im grobknochigen Gesicht eines kalabrischen Bauern haben sollen, der sich keine Illusionen darüber machte, dass Gott und seine Engel sich je so weit in den Süden verirrten. Bianchis Augen hatten ihn schon mehr als einmal in Verlegenheit gebracht.

Der Nachmittag war sonnig, aber kühl, unüblich für die Region, selbst im November. Bianchi hatte bereits bemerkt, dass den Tieren, die er täglich sah, ein dichterer Pelz als üblich wuchs: von seinen drei Katzen und dem alten Ziegenbock Cherubino bis zu den Wieseln, Füchsen, Hasen und Raupen auf seinem Land. Auch den Kuhstall hatte er begonnen nachts zu beheizen, mindestens einen Monat zu früh, außerdem musste er die Hähne und Schläuche im Freien gegen die Kälte schützen – selbst den Motor seines Studebaker. Er beschwerte sich bei Romano, Domenico oder Michaelis, dem Gastwirt des Ortes – der wirklich ein Grieche war –, dass man ja ebenso gut in England oder Dänemark leben könnte. Oder in Südtirol, was das anging. Bianchi hielt gemeinhin nicht viel vom Italien nördlich von Mailand.

In Wahrheit jedoch genoss er diesen merkwürdigen Kälteeinbruch oder Klimawandel oder was immer es war sogar. Er schadete weder seinem Weiß- und Grünkohl noch seinen Zwiebeln und Winterzwiebeln oder den Auberginen und Kartoffeln, die er längst geerntet und diesem Dieb Falcone verkauft hatte; und solange es nicht übermäßig regnete, auch nicht dem verkümmerten Weinberg, den er aus reiner Sturheit behielt, wo er sonst doch so vieles zerfallen und verwehen ließ. Seinen schlummernden Apfelbäumen war das Wetter sogar zuträglich und würde ihnen im Frühjahr eine frische Säure bescheren. Obgleich seine drei Kühe Gianetta, Martina und Lucia seit über einem Jahr nicht gedeckt worden waren – und so jungfräulich wie Giovanna Muscari sterben mochten, solange Cianelli, dieser schamlose Pirat, derart haarsträubende Gebühren für den Einsatz seines angeblichen Holstein-Bullen verlangte –, floss ihre Milch doch nach wie vor und hielt die Katzen und die Rosmini-Brüder in der kleinen Käserei bei Laune. Obwohl sein altes Haus aus wenig mehr als einer Küche, dem Schlafzimmer, dem Bad, einem Stückchen Flur und einem seit Langem verriegelten Dachboden bestand, hielt es die Wärme seines Herdes und Kamins doch besser als ein größeres Haus; und je dunkler und stiller die Nächte waren, desto besser ließ es sich nachdenken und friedlich eine Pfeife rauchen. Oder Gedichte schreiben.

Denn in dieser Hinsicht hatte Romano durchaus recht: Claudio Bianchi schrieb tatsächlich Gedichte, zu höchst unregelmäßigen Gelegenheiten während seines einsiedlerischen Bauernalltags in der Zehe des Italienischen Stiefels. Nur wenige seiner Bekannten – Romano wiederum die Ausnahme – wussten, dass er das Gymnasium abgeschlossen hatte, ehe er zu arbeiten anfing; oder dass er, ungeachtet beider Umstände, nie seine Kindheitsliebe zu Gedichten eingebüßt hatte, die er mit der Zeit auch nachzuahmen begann. Das war kein Gegenstand von Eitelkeit für ihn, von Phantasien literarischen Ruhms: Es bereitete ihm schlichtweg Freude, Wörter aneinanderzureihen, genau wie er im Frühjahr seine Sämlinge setzte, und sie hinterher zu kosten, wie er frische, junge Winterzwiebeln und reife Tomaten kostete oder Minze und Knoblauch an seinen Händen roch. Er war nie der Ansicht, dass seine Gedichte von etwas Bestimmtem handelten: Sie kamen, wie es ihnen beliebte, und manchmal spiegelten sie wider, was er den Tag über berührt und gedacht hatte – manchmal wurden sie zu seiner Überraschung aber auch Visionen der Tage und Nächte, welche sein Vater erlebt haben mochte oder Romano oder gar Cianellis alternder Bulle. Oftmals murmelte er die Ahnung eines Gedichts vor sich hin, während er den Studebaker oder seinen Traktor reparierte, den Stall strich oder zum Abendessen rote Chilis zu den Auberginen in die Pfanne gab. Sie kamen, wie es ihnen beliebte, und wenn eines vollendet war, dann wusste er es. Häufig meinte er, dass nichts sonst je wirklich einen Abschluss fand; es gab immer etwas hinzuzufügen, zu reparieren oder zu verbessern, bis es richtig war. Aber wenn ein Gedicht fertig war, war es fertig. Darin lag Befriedigung.

Genau wie darin, in diesem alten Haus am Ende der ungepflasterten Straße zu wohnen und ein Leben zu führen, das man, wie er sich sehr wohl bewusst war, auch im neunzehnten Jahrhundert hätte führen können, abgesehen vielleicht vom Strom, dem Benzin und dem Telefon, das er oft wochenlang nicht benutzte. Gelegentlich, wenn der Empfang nicht gerade wieder zu unzuverlässig war, sah er Nachrichten auf dem kleinen Fernseher, den er als Bezahlung von einem Nachbarn dafür angenommen hatte, dass er dessen schwarze Schweine (zu Besuch bei seinem eigenen halben Dutzend) wieder eingefangen und das Loch im Zaun repariert hatte, durch das sie entwischt waren. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er zuletzt einen Film gesehen hatte, geschweige denn einen Arzt; und wenn er bei der Arbeit pfiff, dann eher eine altertümliche neapolitanische canzone als Opernarien. Seine Zähne waren in bester Verfassung; sein Haar schnitt er in aller Regel selbst, ebenso wie er seine Kleider wusch und stopfte und seine bescheidenen Kochkünste durchaus genoss. Er hatte seine Erfahrung mit Leid gesammelt, erinnerte sich an Zeiten der Freude und hoffte inständig – insoweit er überhaupt auf etwas anderes als das angebrachte Verhältnis von Sonne und Regen hoffte –, niemals wieder einem dieser beiden alten Ärgernisse zu begegnen. Hätte man ihn danach gefragt, so hätte er gegrummelt: »Sono contento«, insofern ihm denn eine solche Einmischung eine Antwort wert gewesen wäre.

Das Universum und Claudio Bianchi waren lange übereingekommen, einander in Ruhe zu lassen; und er war dankbar dafür, denn er wusste sehr wohl, wie selten so ein Handel war und wie selten er auch eingehalten wurde. Und wenn er irgendwelche Klagen hatte, dann stellte er sicher, dass weder das Universum noch er selbst je davon erfuhren.