Stefan aus dem Siepen

Aufzeichnungen eines Käfersammlers

Unzeitgemäße Erzählungen

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Stefan aus dem Siepen

Stefan aus dem Siepen wurde 1964 in Essen geboren, studierte Jura in München und trat in den Diplomatischen Dienst ein. Über Stationen in Bonn, Luxemburg, Shanghai und Moskau führte ihn sein Weg nach Berlin, wo er seit 2009 im Auswärtigen Amt arbeitet. Er veröffentlichte die Romane ›Luftschiff‹, ›Die Entzifferung der Schmetterlinge‹, ›Das Seil‹, ›Der Riese‹ sowie die Sammlung von Betrachtungen ›Das Buch der Zumutungen‹. Stefan aus dem Siepen lebt mit seiner Familie in Potsdam.

Über das Buch

Artisten, Eigenbrötler, Hochbegabte – Stefan aus dem Siepens Helden haben sonderbare Passionen, in die sie sich immer tiefer verstricken und die schließlich ihre Existenz bedrohen. Das Leben eines Käfersammlers erfährt eine prekäre Wendung, als er bemerkt, dass seine riesige Sammlung dem Untergang verfallen ist. Arturo, der weltberühmte Entfesselungskünstler, erringt seinen größten Sieg: Er erfindet eine Fesselung, der selbst er sich nicht entwinden kann. Der »Mann mit den zwei Daumen« lebt in Angst, dass seine außergewöhnliche Kunst, die überall Bewunderung erregt, eines Tages als Scharlatanerie verachtet wird. Und nie hat es wohl einen Mann gegeben wie das Genie Näglinger: Obwohl er viele überragende Talente besitzt, kann er kein einziges davon anwenden.

Impressum

Von Stefan aus dem Siepen sind bei dtv außerdem erschienen:

Die Entzifferung der Schmetterlinge (14208)

Das Seil (14345)

Luftschiff (14513)

Der Riese (26025)

Das Buch der Zumutungen (28061)

 

 

2018

Originalausgabe

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München 2018

 

Umschlaggestaltung: Wildes Blut, Atelier für Gestaltung, Stephanie Weischer unter Verwendung eines Fotos von plainpicture/Reilika Landen

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43402-7 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-28149-2

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423434027

Aufzeichnungen eines Käfersammlers

Der Mann mit den zwei Daumen

 

Der »Mann mit den zwei Daumen« war die Attraktion, die im ganzen Land bekannte Glanznummer des Zirkus. Die bunten Plakate, die zu Reklamezwecken an Bäumen und Litfaßsäulen angeschlagen wurden, kündigten marktschreierisch, in schmetternden Lettern, wie ein vorauseilender Tusch der Zirkuskapelle, sein Kommen an. Außer ihm fand nur noch die Löwennummer Erwähnung, doch schon in deutlich kleinerer Schrift, wie eine Nebensächlichkeit, die in Anbetracht des Ruhmes, den der Mann mit den zwei Daumen genoss, kaum der Erwähnung wert war. Alle übrigen Nummern – die Kunstreiterin Isabella mit ihren sieben Schimmeln; der Clown Wladimir, der auf der Trompete spielen und dabei einen Kopfstand machen konnte; Herkules, der Muskelmann, der Eisenstangen verbog und Ketten zerbiss –, sie alle blieben ungenannt. Neben dem Mann mit den zwei Daumen wären sie abgefallen, zugleich jedoch hätten sie ihm, weil auch das Unbedeutende imstande ist, ablenkende Wirkung zu entfalten, einen Teil der ihm zustehenden Aufmerksamkeit entzogen. Selbst die Löwennummer wurde nur erwähnt, um den Eindruck zu vermeiden, als habe das Programm außer der Daumennummer nichts Spektakuläres zu bieten – dies konnte der Zirkus, so viel Wert er auch darauf legte, sich seiner Hauptattraktion zu rühmen, dann doch nicht zulassen.

In früheren Zeiten, als seine Laufbahn begann, war der Mann mit den zwei Daumen nicht im Zirkus, sondern in Nachtclubs und Varietés aufgetreten. Dort hatte er sich wie ein Fremdkörper, ein Verirrter gefühlt; stets hatte ihn der Gedanke bedrückt, er biete seine Kunst am verkehrten Ort, auf der falschen Bühne dar. So war ihm der Tag, als er zum ersten Mal im Zirkus auftrat, und gleich in einem der bedeutenderen des Landes, als ein Schritt nach vorn, eine Befreiung aus verqueren Verhältnissen erschienen. Freilich, auch an seiner neuen Wirkungsstätte geschah es noch, dass ihn ein Gefühl der Unzugehörigkeit, der Deplatziertheit beschlich; zwar war er überzeugt, dass der Zirkus derjenige Ort war, an dem seine Kunst sich am besten darbieten ließ, und doch wurde er die Sorge nicht ganz los, es könne auch hier zu einer Verwechslung der Sphären, einer Verwischung der Rangverhältnisse kommen: Durfte man ihm wirklich zumuten, in einer mit Sand bestreuten Manege aufzutreten, umgeben von Spaßmachern, Kraftmenschen und Tierbändigern?

Die eigentliche Schwierigkeit bestand darin, dass seine Kunst etwas Außerordentliches, mit gewöhnlichen Begriffen nicht zu Fassendes, über alle bekannten Kategorien Hinausschießendes besaß. Daher konnte es auch keinen Ort geben, der für sie ganz und gar passend gewesen wäre, der für all ihre Eigentümlichkeiten und Finessen einen vollkommenen Rahmen abgegeben hätte. Aber – wog dies letztlich so schwer? In seinen zuversichtlichsten Stunden, in denen er alles Selbstvertrauen und allen Künstlerstolz zusammenraffte, konnte er sich sagen: »Wenn es für meine Daumen keinen rechten Ort gibt, dann ist jeder Ort für sie der rechte.« Tatsächlich war die Wirkung, die seine Kunst auf die Menschen entfaltete, so stark, dass es ohne Bedeutung war, wo er sie darbot. Der äußere Rahmen konnte die Wirkung seiner Daumen weder steigern, noch vermochte er ihr Abbruch zu tun – sobald die Nummer begann, vergaßen die Zuschauer schier, wo sie sich befanden.

Wer den Mann mit den zwei Daumen je erlebt hatte (oder den »Daumen-Mann«, wie er, um der leichteren Sprechbarkeit willen, zumeist genannt wurde), bewahrte in der Erinnerung für immer jene gesteigerte, sozusagen festliche Empfindung, die der Anblick des Einmaligen erzeugt. Gewöhnlich erfolgte der Auftritt in der Mitte des Programms, wenn das Publikum durch die vorangehenden Nummern bereits in fröhlich-animierte Stimmung versetzt war, jedoch noch keine Zeichen von Sättigung und beginnender Zerstreutheit zeigte. Der Daumen-Mann betrat die Manege, er trug einen schwarzen, schlicht geschnittenen, unauffällig wirkenden Anzug, der sich in merklicher Weise von den überkandidelten, ins Phantastische und Operettenhafte spielenden Kostümen der übrigen Artisten unterschied. Dergleichen hatte er nicht nötig: Er vermied in seiner Erscheinung alle Übertriebenheiten, es war sein Ehrgeiz, ohne trickreiche Hilfsmittel, dick aufgetragene Effekte auszukommen, stattdessen wollte er allein durch seine Kunst wirken, nur das Eigentliche und Wesentliche zum Publikum sprechen lassen – seine Daumen.

Eines immerhin fiel doch an ihm ins Auge: Seine Hände waren in einem besonderen, eigens für ihn angefertigten, um nicht zu sagen: erfundenen Kleidungsstück verborgen, einer Art Muff, wie ihn die Damen an kalten Wintertagen tragen – jedoch nicht aus Pelz, sondern aus weinroter Seide. Er hielt die Hände in Höhe der Brust, ein Stück vom Körper abgerückt, trug sie gleichsam vor sich her und in die Manege hinein, wie etwas Empfindliches und Kostbares, das seiner Obhut anvertraut war. Diese Haltung stand zu seiner sonstigen Zurückgenommenheit in Widerspruch, in ihr mochte man eine Spur von Theatralik, von herausgekehrtem Anspruch erkennen, doch wie auch nicht: Die Aufmerksamkeit auf seine Hände zu lenken, folgte aus dem Wesen der Darbietung – wenn er seine Bescheidenheit auch auf diesen Punkt erstreckt hätte, wäre sie ins Unglaubwürdige und Heuchlerische umgeschlagen.

Immer empfing ihn ein großer, wohlgenährter Begrüßungsapplaus. Es war nicht jener kurze und routinemäßige Beifall, der noch dem unbedeutendsten Artisten als freundlicher Vorschuss auf seine kommenden Bemühungen ausgezahlt wird – nein, die Zuschauer verneigten sich vor dem überragenden Künstler, dessen Name überall mit Respekt und Bewunderung genannt wurde. Sie wussten, dass die vorherigen Darbietungen nur ein Vorspiel gewesen waren, und gaben sich dem erregenden Gefühl hin, dass nun der Höhepunkt bevorstand. Der Daumen-Mann vollführte kleine Verbeugungen und drehte sich dazu im Kreis – er wollte den Zuschauern im gesamten Rund, mit gleichmäßig ausgeteilter Höflichkeit, für die Begrüßung danken. Der Ausdruck seines Gesichts war ernst und gesammelt: Er genoss diesen erhebenden Augenblick, kostete die Verehrung aus, die ihm zuteilwurde, und hielt sich doch zugleich im Griff: Er durfte seinen Gefühlen nicht nachgeben, musste alle geistigen und seelischen Kräfte auf das Kommende richten. Als er sich zweimal gedreht hatte, ließ er noch eine kleine Weile verstreichen, gab dem Publikum Gelegenheit, seine Begeisterung zu verströmen, dann machte er eine Verbeugung, die ausgeprägter als die vorangegangenen war – die Zuschauer verstanden den Wink, und der Beifall verebbte.

Der Daumen-Mann steht regungslos da. Plötzlich erlöschen alle Lichter, die Manege hüllt sich in Finsternis. Ein Scheinwerfer strahlt auf, in der Schwärze gleißend, er ist auf den Daumen-Mann gerichtet, hüllt ihn in einen weißen Kreis. Der dunkle Anzug, der rote Muff, das helle Gesicht treten scharf, wie mit einem Stift nachgezeichnet, hervor. Stille verbreitet sich auf den Rängen; es ist, als habe der Daumen-Mann selbst, unter Einsatz seiner Autorität, den Befehl zum Schweigen gegeben. Die Erwartung füllt wie eine starke, fast schon körperliche, mit Händen zu ertastende Macht das Zelt.

Eine schemenhafte Gestalt wird sichtbar, es ist die Gehilfin des Daumen-Mannes, sie huscht mit affektierten Schritten durch die Manege. Als sie in den Lichtkreis tritt, lodert ihr üppig-blondes Haar, das mit einer Feder geschmückt ist, wie entzündet auf; ihr Kleidchen ist mit silbernen Pailletten bestickt und glitzert und funkelt im Licht. Trommelwirbel setzt ein. Der Daumen-Mann hebt den Muff in die Höhe, rückt mit einer Bewegung, die voll gespanntester Konzentration ist, seine Schultern zurecht. Die Gehilfin tritt nahe an ihn heran, streckt ihre Arme aus und umfasst, während die Feder über ihrem Kopf tänzelt, den Muff. Der Trommelwirbel schwillt an, wird zu einem metallischen Rauschen, der Daumen-Mann beginnt, seine Hände hervorzuziehen – langsam gleiten sie aus der Umhüllung, erst werden die weißen Manschetten des Hemdes sichtbar, dann ein Streifen der Handgelenke –, er hält inne, scheint vor dem Letzten, dem Entscheidenden zurückzuscheuen, seine Augen schließen sich – jetzt reißt er die Hände hervor und hebt sie mit triumphierendem Schwung in die Höhe. Die Zuschauer sind starr, niemand nimmt einen Atemzug, alle blicken auf die Daumen, die in die Helligkeit ragen. Klein sind die Daumen, zum Verschwinden klein, nur zwei winzige Striche in der Weite des Zeltes – wie Daumen eben sind. Die ersten regen sich auf ihren Plätzen, es gelingt ihnen, die Lähmung ihrer Körper zu überwinden, einzelne rufen »Ja!« und »Bravo!« in die Schwärze hinein, da löst sich der Bann, mit plötzlicher Gewalt bricht der Beifall los, alle springen von ihren Sitzen, klatschen in die Hände, trampeln mit den Füßen –

Der Daumen-Mann zeigt seine Daumen nach allen Seiten, ruhig und würdig, wie man etwas Großes den Blicken der Menschen darbietet, zugleich voller Ergriffenheit, denn er ist diesem Augenblick, in dem seine Kunst sich erfüllt, ganz hingegeben. Dann setzt er sich in Bewegung und schreitet, die Daumen hoch erhoben, die Manege ab. Der Lichtkreis zieht mit ihm, ist sein treuer Begleiter in der Schwärze, umfängt ihn wie eine schimmernde Aureole. Die Zuschauer lehnen sich auf ihren Plätzen vor, genießen die wunderbare Szene, auf die sie so lange gewartet haben und die sich vielleicht nie in ihrem Leben wiederholen wird. Bei jedem Schritt bewegt der Daumen-Mann rhythmisch die Daumen auf und ab, teils weil sich der Takt des Gehens seinen Händen mitteilt, teils weil er die Spannung, die in seinem Körper vibriert, nicht zu zügeln vermag. Dreimal macht er die Runde; dann verbeugt er sich und geht mit zielstrebigem Schritt, so rasch, dass der Sand unter seinen Füßen aufwirbelt, aus der Manege.

Während draußen die Lichter aufleuchten, die Zuschauer ihren Beifall zu neuer Kraft anschwellen lassen, steht der Daumen-Mann, erschöpft und tief atmend, hinter der Arena. Sein Körper ist mit Schweiß bedeckt, der Anzug spannt sich, als sei er unversehens zu eng geworden, um seine Brust, der Kragen seines Hemdes ist durchfeuchtet und drückt ihm gegen den Hals. Zwar hat seine Darbietung nicht lange gedauert, scheint wie im Fluge vorübergeeilt zu sein, und doch hat sie ihn angegriffen, ihm ein Letztes an Anstrengung und Einsatz abgefordert. Während der kurzen Spanne, in der sein Auftritt sich zusammenballt, muss er mit jeder Faser seines Selbsts gegenwärtig sein, muss alle seelischen und geistigen Kräfte auf die Daumen richten, sie in ihnen bündeln …

Er lauscht hinaus. Das Publikum fordert ein Da capo, noch einmal soll er vor sie hintreten und seine Daumen zeigen. Nun, er wird es tun, dies gehört zum wohlkomponierten Ablauf, doch nicht sogleich. Er darf es seinen Bewunderern nicht zu leicht machen, sie müssen ihn rufen, müssen sich sein Erscheinen durch geduldiges Klatschen verdienen; auch sollen sie eine Weile ihren eigenen Jubel auskosten, nach der überstarken Erregung, in die sein Auftritt sie versetzt hat, neue Spannkraft für den Fortgang des Spektakels sammeln.

Er blickt auf den Vorhang, der ihn von der Manege trennt. Es ist ein rosafarbenes Stück Stoff, so dünn, dass das Licht hindurchschimmert, nicht mehr als ein Hauch, schwebend zwischen ihm und dem Publikum. Ein sonderbares Gefühl steigt in ihm auf, das er kennt, immer wieder befällt es ihn in jener flüchtigen Pause nach dem ersten Auftritt. Die Manege, das Klatschen und Rufen der Zuschauer scheinen ihm fern, in eine unheimliche Weite entrückt. Zwar braucht er nur ein paar Schritte zu tun, um wieder im grellen Licht zu stehen, und doch ist ihm zumute, als müsse er eine gewaltige Strecke durchmessen, sich ein Äußerstes an Anstrengung abringen, um dort hinauszugelangen. Auch gewinnt der Beifall jetzt einen trügerischen, unwirklichen Klang, es ist, als gelte all die Begeisterung gar nicht ihm, sondern einem anderen – er lauscht ihr wie ein Unbeteiligter, ein Außenstehender, ein Gleichgültiger …

Er zieht ein Taschentuch hervor, um sich die feuchte Stirn, die vor Erregung glühenden Wangen zu betupfen. Eine Verzagtheit packt ihn, ein nervöses Missgefühl, dem er keinen Namen geben kann. Wie wäre es, wenn der Applaus dort draußen … plötzlich schwächer klänge, oder wenn er gar ausbliebe? Wenn die Zuschauer sich spröde und abweisend zeigten, mit dem Anblick seiner Daumen nicht zufrieden wären? Gewiss, der Gedanke ist absonderlich, keine Sorge könnte unbegründeter sein, gerade jetzt, da der Jubel seinen Höhepunkt erreicht, jenseits allen Zweifels steht – und doch, das Unbehagen ist da, und mit jeder Sekunde, die er auf den Vorhang blickt, dem Klatschen und Johlen lauscht, gewinnt es an Kraft …

Wer weiß, vielleicht ist dies nur die Angst, die jeder Künstler kennt: dass das Publikum ihn verschmähen, seiner Kunst die kalte Schulter zeigen könnte. Die Zuschauer sind ja nicht etwa blind und kritiklos – im Gegenteil! Sie verfolgen jede einzelne Darbietung mit wacher Aufmerksamkeit, es fällt ihnen nicht im Traum ein, ihre Gunst mit leichter Hand zu verschenken, stattdessen spenden sie ihren Beifall mit Bedacht, können anspruchsvoll bis zum Übertriebenen und Heiklen sein, und wenn sie nicht zufrieden sind, lassen sie alle Zurückhaltung fahren, brechen in Pfiffe und hemmungslose Buhrufe aus – so wie letztens bei der Pferdenummer, als einer der Schimmel, wild mit den Hufen stampfend und ausschlagend, seiner Gebieterin Isabella den Gehorsam verweigerte …

Wie dürfte er erwarten, dass es im Publikum nicht diesen oder jenen gibt, der seine Daumen reserviert, mit heimlichem Kopfschütteln betrachtet? Wie sollten unter so vielen Menschen nicht auch ein paar Zweifler sitzen, die für die Reize seiner Kunst unempfänglich sind, die nicht begreifen können, warum die Welt so großes Aufhebens von ihr macht? Gewiss, noch mögen es nur Einzelne sein, über das Zelt hin Verstreute, und sie sind klug genug, sich ihre Ablehnung nicht anmerken zu lassen, denn sie wissen, dass die Mehrheit keinen Sinn für sie hat – noch nicht. Doch der Widerstand wird wachsen, die Zweifel werden sich heimlich, im Unterirdischen, auf verborgenen Kanälen verbreiten, die Zahl der Gegner wird größer und größer werden – und bald werden sie aufhören, mit ihrer Ablehnung hinter dem Berg zu halten, werden sie laut und klar, in auftrumpfenden Worten verkünden, und was heute nur die Sache einiger weniger ist, steigert sich bald zu einer großen, allgemeinen Opposition!

Gerade dass die Menschen jenseits des Vorhangs ihm so enthusiastisch applaudieren, dass seine Daumenkunst, wo immer er sie darbietet, mit vollkommener Regelmäßigkeit, ohne je die geringsten Spuren von Abnutzung zu zeigen, bewährt: Gerade dies besitzt einen verdächtigen Zug. Muss nicht, was sich zu solcher Höhe emportürmt, früher oder später ins Wanken geraten? Irgendwann hat jede Kunst die Zeitspanne erschöpft, die ihr zugemessen ist, in der sie es vermag, die Menschen für sich einzunehmen. Jede große Wirkung, die ein Künstler hervorbringt, ist letztlich ein Wunder: Auf geheimnisvolle Weise entsteht sie, und auf geheimnisvolle Weise erlischt sie wieder. Das Klatschen dort draußen – hat es nicht etwas Krampfhaftes, Überspanntes, Hysterisches? Droht es nicht, jeden Augenblick an sich selbst irre zu werden, in sein Gegenteil umzuschlagen? Je länger er hinaushört, desto mehr scheint ihm, dass der Beifall kaum noch Ähnlichkeit mit einem Klatschen hat, dass er vielmehr einem Johlen gleicht, einem überdrehten, höhnischen, bis zum Wahnsinn sich steigernden Gelächter …

Der Daumen-Mann ballt die rechte Hand zur Faust und presst sie sich gegen die Stirn. Er darf die Zuschauer nicht länger warten lassen, darf ihren guten Willen nicht überfordern – es wäre ein handwerklicher Fehler. Gerade wenn es stimmt, dass sich im Zelt auch Gegner verborgen halten, ist er gut beraten, sich nicht die kleinste Ungeschicklichkeit zu leisten. Die Zweifler würden sich die Hände reiben, wenn er jetzt den Selbstgefälligen gäbe, der sich allzu lange bitten lässt, den Verwöhnten und Koketten, der mit der Gunst seiner Anhänger ein Spiel treibt …

Er führt seine Daumen, erst den rechten, dann den linken, an die Lippen und drückt auf sie einen Kuss. So tut er es vor jedem Auftritt, aus einem törichten Aberglauben heraus, einer Künstlermarotte, über die er selber manchmal lächeln muss und die er doch niemals aufgeben wird. Der Kuss flößt ihm Kraft ein, er ist wie eine Besiegelung des Glaubens an sich selbst und seine Kunst. Dann zieht er den Vorhang beiseite und geht hinaus.

Ich verlange eine Aussprache

 

Gestern Abend habe ich mich mit Stucken getroffen, in der Kneipe neben dem Rathaus, wo wir jeden Dienstag unseren Schoppen Rotwein trinken. Bis Mitternacht saßen wir unter den gemauerten Bögen, wussten uns so viel zu erzählen, als hätten wir uns seit Monaten nicht gesehen, und am Ende waren wir in so übermütiger Laune, redeten so weinselig und lautstark aufeinander ein, dass die Kellner sich genötigt sahen, uns dämpfende Blicke zuzuwerfen. Und doch, als ich später durch die Dunkelheit nach Hause ging, war ich niedergeschlagen, spürte wieder jenen unterschwelligen Zorn, der mich nach jedem Zusammensein mit Stucken befällt, denn die Aussprache, die ich mit ihm führen will, jenes große, die Dinge zwischen uns klärende Gespräch, das seit Jahren zwar nicht der einzige, doch ohne Zweifel der wichtigste Grund ist, der mich Woche um Woche in diese Kneipe treibt, hatte wieder nicht stattgefunden.

Jedes Mal, wenn ich zu der Aussprache ansetzte, bemerkte Stucken es sogleich, denn an Klugheit und Wachsamkeit fehlt es ihm nicht, und nach so vielen Jahren kann er bereits an winzigsten Veränderungen meines Tonfalls oder Augenausdrucks erkennen, worauf ich hinauswill. Dann ließ er auf seinem rundlichen, um nicht zu sagen feisten Gesicht ein Lächeln erscheinen und zog fast unmerklich, nicht länger als für den Bruchteil einer Sekunde, die Brauen über der Nasenwurzel zusammen – mehr bedurfte es nicht, um mich in die Schranken zu weisen, gleich lenkte ich das Gespräch in eine andere Richtung, denn auch ich habe inzwischen ein feines Sensorium für Stuckens Andeutungen entwickelt, und kein noch so diskreter, nur eben die Schwelle zur Wahrnehmbarkeit erreichender Wink, mit der er die Aussprache von sich abwehren will, könnte mir entgehen.

Früher hielt ich seinen Widerstand gegen die Aussprache für eine bloße Laune, eine halb spielerische Unwilligkeit, hinter der sich nichts Bemerkenswertes verbarg und die ich, aus freundlicher Rücksichtnahme, gern zu akzeptieren bereit war. Die Angelegenheit, um die es bei der Aussprache gehen soll, schien mir belanglos, und ebenso wenig konnte ich mir vorstellen, dass sie für Stucken irgendeine Bedeutung besitzen sollte – daher wäre ich der Letzte gewesen, ihm die Aussprache aufzudrängen. Mit der Zeit jedoch stellte ich fest, dass ich seinen Widerstand unterschätzt hatte, dass er mit eigensinniger Zähigkeit an ihm festhielt, ja dass er offenbar die Absicht hatte, sich der Aussprache ein für allemal zu entziehen. Dies nun wiederum irritierte mich, ich konnte oder wollte nicht verstehen, warum Stucken ein Gespräch über eine Angelegenheit, der keiner von uns beiden die geringste Wichtigkeit beimaß, so hartnäckig verweigerte; ich fühlte mich herausgefordert, auch meinerseits nicht nachzugeben, und schließlich kam es so weit, dass ich mit der gleichen planmäßigen Entschlossenheit auf die Aussprache hinarbeitete, mit der Stucken sie zu hintertreiben suchte.

Womöglich hofft Stucken, dass sich die Aussprache eines Tages, wenn er mich nur lange genug hinhält, von selbst erledigen wird. Und tatsächlich scheint es, dass ihm die Zeit in die Hände spielt, denn die besagte Angelegenheit liegt nun schon eine beträchtliche Weile zurück, und mit jeder neuen Weigerung, sich ihr zu stellen, nimmt der zeitliche Abstand zu. Vermutlich baut Stucken darauf, dass es früher oder später überflüssig, als ein verschrobenes und lächerliches Unterfangen erscheinen wird, über ein Ereignis, das so weit in der Vergangenheit liegt, noch eine Aussprache zu führen, ja, es würde mich nicht einmal wundern, wenn er der Ansicht wäre, dass dieser Zeitpunkt längst gekommen ist. Hier allerdings irrt er sich. Gerade weil er die Aussprache immer wieder verweigert, kann die Angelegenheit nicht in die Vergangenheit rücken. Jedes Mal, wenn wir in der Kneipe beisammensitzen und uns über gänzlich andere Dinge unterhalten, steht die Angelegenheit unentwegt zwischen uns – sie schwebt als etwas zwar nicht Sichtbares, mit keinem Wort Berührtes, aber doch sehr Wirkliches, ja geradezu mit Händen zu Greifendes im Raum, und so wird sie, obwohl wir nicht über sie sprechen, oder gerade weil wir nicht über sie sprechen, immer wieder aufgefrischt und vergegenwärtigt.

Stucken ist mein Freund. Wir kennen uns seit über zwanzig Jahren, immer herrschte ein gutes Einvernehmen zwischen uns, auch Aussprachen hat es immer gegeben, sie waren, wenn sie sich einmal als nötig erwiesen, selbstverständlich, nie brauchten wir sie lange zu suchen; nötig waren sie allerdings nicht oft, denn es gab so gut wie niemals Reibungen zwischen uns, auch das beweist, wie nahe wir einander standen. Die Freundschaft ist noch immer vorhanden, trotz allem; gerade dass sie den Schwierigkeiten standhält, die wegen der unterbliebenen Aussprache auf ihr lasten, führt mir vor Augen, wie lebendig und widerstandskräftig sie ist. Andere Freundschaften wären unter einer solchen Last schon längst zusammengebrochen! Auch dass ich mir die Aussprache so eindringlich wünsche, dass sie mein Nachdenken oft viele Stunden am Tag und manchmal bis zur Erbitterung beschäftigt, sagt viel aus: Zwischen oberflächlichen Bekannten wäre sie unnötig, schon lange hätte ich die Angelegenheit als etwas Kleinliches auf sich beruhen lassen, gleichmütig den Mantel des Schweigens über sie gebreitet – aber mit Stucken, meinem Freund, muss ich über sie sprechen.

Andererseits hat unsere Freundschaft natürlich auch gelitten. Wie könnte es anders sein! Das angestrengte Ausweichen, das verlegene Schweigen, das krampfhafte Drumherumreden: Dafür zahlen wir einen Preis, es gibt unserem Verhältnis, wie ich immer deutlicher spüre, einen zwielichtigen und unaufrichtigen Zug. Dürfen sich zwei Menschen wirklich Freunde nennen, die es nicht einmal fertigbringen, über eine Angelegenheit, an deren Bedeutungslosigkeit sie nicht im Geringsten zweifeln, eine Aussprache zu führen? Manchmal werde ich an unserem Verhältnis geradezu irre, und dann scheint es mir, dass es ehrlicher wäre, eine Frage der Achtung, die jeder von uns sich selbst und dem anderen schuldet, dem Spiel der sogenannten Freundschaft ein Ende zu machen. Zugleich aber weiß ich, dass eben dies nicht sein darf; denn wenn ich die Freundschaft lösen würde, würde ich im selben Zug auch die Aussprache unmöglich machen. Mag das Verhältnis zwischen uns noch so angespannt und verquer sein, und mag es bei jedem Zusammentreffen, bei dem Stucken die Aussprache verweigert, einen neuen Schlag erleiden: Ich komme doch nicht umhin, es als ein notwendiges Vehikel zu erhalten. Ohne Freundschaft keine Aussprache!

Immer wieder frage ich mich, wie ich am geschicktesten vorgehen soll, um Stucken zu der Aussprache zu überreden, oder sie ihm gegen seinen Willen, auf eine listige Weise abzunötigen. Eine Möglichkeit wäre, ihn gleich zu Beginn des Abends, kaum dass wir am Tisch Platz genommen haben, energisch und ohne Umschweife um die Aussprache zu bitten. Diese Methode besitzt einen gewissen Reiz, denn sie scheint den Gordischen Knoten mit einem Hieb zu durchschlagen, und doch habe ich sie noch nie in die Tat umgesetzt: Stucken lässt sich nicht überrumpeln, dafür ist er nicht der Mann, und die Gefahr ist groß, dass er die offene Aufforderung mit einer offenen Zurückweisung beantwortet. Daher ziehe ich es vor, mich der Aussprache auf Umwegen zu nähern, mit unverfänglichen, alles und nichts bedeutenden, scheinbar nur so hingesagten Worten. Ich mache das harmloseste Gesicht, dessen ich fähig bin, und spiele die Angelegenheit, ehe sie überhaupt zur Sprache gebracht ist, weit unter den Wert herab, der ihr zukommt. Freilich hat dieses Vorgehen den Nachteil, dass ich gegenüber Stucken den Eindruck erwecke, als legte ich auf die Aussprache keinerlei Wert. Wenn es früher oder später zu der Aussprache kommen sollte, und wenn ich Stucken dann die Frage stelle, warum er sich so lange gegen sie gesperrt habe, wird er mir womöglich entgegenhalten, dass er ja gar nicht gewusst habe, wie sehr mir an der Aussprache gelegen war, denn schließlich hätte ich kein einziges Mal in deutlicher, unmissverständlicher Form nach ihr verlangt – und dann werde ich ihm nicht widersprechen können.

Dennoch halte ich an meiner vorsichtigen, gleichsam auf Zehenspitzen um die Aussprache herumschleichenden Art fest. Eine sonderbare Scheu lähmt mich, ich bringe nicht den Mut auf, das Gespräch in die ersehnte Richtung zu lenken, denn allzu lange schon warte ich nun darauf, dass die Aussprache endlich stattfindet, und so hat sie in meinen Augen ein immer bedeutsameres und einschüchternderes Ansehen gewonnen. Auch ahne ich, dass die Aussprache wohl nicht so leicht, mit einigen wenigen Sätzen abzutun sein wird, wie ich es mir früher oft vorstellte. Im Laufe der Zeit habe ich die Angelegenheit immer wieder durchdacht, und dabei bin ich auf gewisse Einzelheiten, Nuancen, Verästelungen gestoßen, die in der Aussprache, wenn sie denn mit einem gewissen Ernst geführt werden soll, nicht unerwähnt bleiben dürfen. Zwar ändert dies nichts daran, dass die Angelegenheit einfach ist – doch auch das Einfache hat nun einmal seine besondere Gestalt, seinen eigentümlichen Charakter. Stucken und ich dürfen es uns nicht zu leicht machen, wir müssen das Gespräch, wohl oder übel, auch auf einige Nebengesichtspunkte bringen, sonst ist die Aussprache zur Oberflächlichkeit verdammt, das Eigentliche, das, worum es im Kern geht, bliebe womöglich ungesagt – und so könnte der wahrhaft widersinnige Fall eintreten, dass die Aussprache an ihrer eigenen Einfachheit scheitert.

Vor jedem Zusammensein mit Stucken bereite ich mich gründlich vor, lege mir alle Gedanken, die ich ihm darlegen will, genau und übersichtlich zurecht; denn wenn es zur Aussprache kommt, muss ich meiner Sache vollkommen sicher sein, darf um keinen Preis ins Schwanken geraten oder eine wichtige Einzelheit vergessen. Sitze ich Stucken dann gegenüber, fühle ich mich wohlpräpariert, kann die Aussprache jederzeit beginnen, gebe mich mit Lust dem Bewusstsein hin, alle Sätze klar und fertig in mir zu tragen – sie liegen gleichsam auf der Lauer, ich brauche ihnen nur einen Wink zu geben, schon fletschen sie die Zähne und stürzen hervor … Wenn die Aussprache jedoch unterbleibt, ich mir den erlösenden Wink versagen muss, verwandeln sich die Gedanken in eine Last: Das Ungesagte beginnt mich zu bedrängen, es wehrt sich gegen die Gefangenschaft, zu der ich es verurteile, zerrt und rüttelt an den Gitterstäben meines Schweigens …

Einmal steigerte sich meine Unruhe so sehr, dass ich angestrengt und verkrampft zu atmen begann, das Weinglas schwankte in meiner Hand, ich konnte den Druck der zurückgestauten Gedanken nicht mehr ertragen, musste mich um jeden Preis von ihm befreien – mit einem Ruck stand ich auf, verabschiedete mich von Stucken unter einem fadenscheinigen Vorwand und eilte hinaus. Kaum war ich auf der Straße, brach das Unterdrückte in einem heftigen Schwall aus mir hervor, ich sprach es mit lauter Stimme in die Dunkelheit hinein, gestikulierte wie ein Betrunkener mit den Armen, die wenigen Passanten, die um diese Stunde unterwegs waren, wandten die Köpfe …