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Helmut Schwalb Georg Theunissen (Hrsg.)

Inklusion, Partizipation und Empowerment in der Behindertenarbeit

Best-Practice-Beispiele: Wohnen – Leben – Arbeit – Freizeit

3., aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Anmerkung der Autoren:

Die Personenbezeichnungen beziehen sich gleichermaßen auf Frauen und Männer. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde jedoch darauf verzichtet, in jedem Fall beide Geschlechter ausdrücklich zu benennen.

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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3. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033427-4

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-033428-1

epub:   ISBN 978-3-17-033429-8

mobi:   ISBN 978-3-17-033430-4

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Inhalt

 

 

 

  1. Vorwort
  2. Einführung: Von der Integration zur Inklusion im Sinne von Empowerment
  3. Georg Theunissen & Helmut Schwalb
  4. 1 Wohnen und Leben in der Gemeinde
  5. Georg Theunissen
  6. 1.1 Die Auflösung von Großeinrichtungen ist möglich!
  7. Dieter Kalesse & Team
  8. 1.2 Gemeinwesenintegration und Vernetzung
  9. Christian Bradl & Angelika Küppers-Stumpe
  10. 1.3 Aktion Menschenstadt
  11. Georg Herrmann
  12. 1.4 »Teilhabe konkret« – Entwicklungen bei der Lebenshilfe in Baden-Württemberg und ihre Motive
  13. Sandra Fietkau, Stephan Kurzenberger & Rudi Sack
  14. 2 Unbehindert am Arbeitsleben teilhaben
  15. Helmut Schwalb
  16. 2.1 Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt – es geht!
  17. Renata Neukirchen
  18. 2.2 Die Virtuelle Werkstatt Saarbrücken
  19. Kerstin Axt
  20. 2.3 »Fit für die Werkstatt« oder eher »fit durch die Werkstatt«?
  21. Michael Zobeley
  22. 2.4 Aus Prinzip: So normal wie möglich
  23. Werner Neubrandt
  24. 2.5 Unbehindert miteinander arbeiten und lernen
  25. Jürgen Dangl
  26. 2.6 Arbeitsplatzreife: Lernen im Leben
  27. Klaus Hotz
  28. 3 Freizeit und Erwachsenenbildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten
  29. Reinhard Markowetz
  30. 3.1 »Freizeit Inklusive« – ein saarländisches Projekt
  31. Thomas Fertig
  32. 3.2 Nix besonderes – Pfadfinden mit und ohne Behinderung
  33. Jörg Duda
  34. 3.3 Freizeit miteinander erleben – sich gegenseitig beleben
  35. Bertram Goldbach
  36. 3.4 Nachtrag zum Thema Freizeit für Menschen mit Lernschwierigkeiten
  37. Reinhard Markowetz
  38. 3.5 Das Bildungszentrum Nürnberg auf dem Weg zu einer Erwachsenenbildung für alle
  39. Michael Galle-Bammes
  40. 4 Empowerment und Inklusion durch Positive Verhaltensunterstützung
  41. Georg Theunissen
  42. Die Autorinnen und Autoren

 

Vorwort

 

 

 

Die gesellschaftliche Situation von Menschen mit Behinderungen befindet sich derzeit in einem hochdynamischen Umbruch: War sie bisher vom Prinzip der Integration gekennzeichnet, so geht es heute um Empowerment, Inklusion und Partizipation von Menschen mit Behinderungen. Dazu gibt es mittlerweile in der deutschsprachigen Literatur bemerkenswerte Überlegungen, so zum Beispiel in der 3. Auflage der Monographie »Empowerment und Inklusion behinderter Menschen« (Theunissen 2013), die als eine Einführung in die Heilpädagogik und Soziale Arbeit mit Menschen mit Behinderungen konzipiert wurde. Wenngleich dieses Werk als Wegweiser für eine zeitgemäße Behindertenarbeit hohe Wertschätzung erfährt, wünschen sich Professionals aus der Praxis weitaus mehr Beiträge, welche sich auf konkrete Beispiele, ja auf Best-Practice beziehen. Mit dem Buch »Inklusives Wohnen mit Behinderung« (Theunissen & Kulig 2016) wurde hierzu soeben ein wichtiger Schritt getan, der zeitgemäße Wohnformen und Unterstützungsangebote aufgreift.

Ferner ist die Thematik in Bezug auf Empowerment, Inklusion und Partizipation durch die von Deutschland ratifizierte UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen verstärkt angeregt worden. Insofern lohnt es sich, kurz darauf einzugehen – handelt es sich doch um eine Konvention, der es explizit um Empowerment, Partizipation und Inklusion zu tun ist.

Unter Hinweis auf die Allgemeine Charta der Menschenrechte der Vereinten Nationen, welche die Anerkennung der Würde und Werte sowie der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Menschen betont, wird mit der Behindertenrechtskonvention das Verständnis von einer Gesellschaft bekräftigt, in der alle Menschen mit oder ohne Behinderungen willkommen sind, respektiert werden, sich als zugehörig erleben sollen sowie ein selbstbestimmtes Leben führen können. Mit Blick auf Menschen mit Behinderungen werden hierzu im Artikel 3 der Konvention allgemeine Prinzipien herausgestellt, so zum Beispiel »Nichtdiskriminierung«, »Respekt für Differenz und Akzeptanz von Behinderung als Bestandteil menschlicher Vielfalt und Menschlichkeit«, »Chancengleichheit« oder »Gleichberechtigung der Geschlechter«. Eine prominente Rolle spielt die Forderung der »vollen und effektiven Partizipation und Inklusion in der Gesellschaft«, die sich auf alle Aspekte menschlichen Lebens, auf die verschiedensten Lebensbereiche, Dienstleistungssysteme und gesellschaftlichen Bezugsfelder erstreckt (z. B. Erziehungs-, Bildungs- und Gesundheitswesen, Arbeitswelt, Freizeit, Wohnen, öffentlicher Nahverkehr, Einkaufsstätten, kulturelle Einrichtungen). Dabei tritt die Konvention als ein kritisches Korrektiv in Erscheinung, indem sie sich gegen alle Erscheinungen wendet, die Menschen mit Behinderungen aus der Gesellschaft ausgrenzen, ihnen den Zugang erschweren oder gar verwehren. Dies wird ausdrücklich mit der Forderung der »vollen »Zugänglichkeit« unterstrichen. Als menschenrechtswidrig gelten in diesem Zusammenhang beispielsweise ein unfreiwilliger Ausschluss eines behinderten Kindes vom Unterricht mit nichtbehinderten Kindern einer Allgemeinen Schule (vgl. Artikel 24 § 2), eine unfreiwillige Beschulung behinderter Kinder in Sonderschulen, eine Verweigerung einer unterstützten Beschäftigung eines jungen Erwachsenen mit geistiger Behinderung auf dem 1. Arbeitsmarkt zugunsten einer Unterbringung in einer Behindertenwerkstatt (vgl. Artikel 27) oder die Verweigerung eines unterstützten, häuslichen Wohnens in einer eigenen Wohnung mit dem Verweis auf freie Plätze in einem Wohnheim (vgl. Artikel 19).

Indem die UN-Konvention das Recht auf Inklusion mit dem Recht auf persönliche Wahl und eigene Entscheidungen verknüpft (vgl. Präambel § n; Artikel 3 § a), hat sie nicht nur eine gleichberechtigte Inklusion, sondern gleichfalls eine freiheitliche im Blick. Selbstbestimmung erscheint wie in dem von uns vertretenen Empowerment-Konzept als eine soziale Kategorie (vgl. Präambel § w), sie gehört unauflöslich zu den Bindegliedern einer Gemeinschaft und Gesellschaft, die im Gegenzug durch Inklusion und Partizipation Raum und Rückhalt für Individualität und Selbstverwirklichung, für ein selbstbestimmtes Leben und eine persönliche Entfaltung geben muss.

Ein solches im Bewusstsein der Menschenwürde rechtlich kodifiziertes Gesellschaftskonzept verträgt sich nicht mit der traditionellen Behindertenarbeit, die von einem defekt- oder defizitorientierten Denken und Handeln geprägt war und da und dort noch ist, welches Menschen mit Behinderungen als versorgungs-, behandlungs- und anweisungsbedürftige Mängelwesen betrachtet. Demgegenüber argumentiert die Konvention auf der Grundlage der Erkenntnis, »dass Behinderung aus der Interaktion zwischen Personen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren resultiert, die die volle und effektive gesellschaftliche Partizipation auf gleichberechtigter Basis mit anderen hindern« (Präambel § e). Vor diesem Hintergrund ist es geradezu konsequent, wenn sich die Konvention in ihrer Präambel (§ o) und mit Artikel 29 (§ b) dem Empowerment-Gedanken verpflichtet, der Menschen mit Behinderungen als »Experten in eigener Sache« eine Stimme verleiht und ihre direkte Beteiligung an Entscheidungsprozessen über Konzepte der Behindertenpolitik sowie die Selbstvertretung zum Programm erklärt. Wohl wissend, dass es auch Menschen mit Behinderungen gibt, die nicht als »empowered persons« für sich selber sprechen können, sieht die Konvention assistierende Hilfen und Bildungsprogramme vor, die die Betroffenen stärken und unter anderem auch zu einem »Bewusstsein ihrer Würde und ihres Selbstwertes« (Artikel 24 § 1a) verhelfen sollen. Bewusstseinsbildung ist aber nicht nur ein Programm für Personen mit Behinderungen, sondern eine »inklusive Gesellschaft« und kann nur dann gedeihen, wenn ebenso alle anderen ein entsprechendes Bewusstsein, eine positive innere Einstellung behinderten Menschen gegenüber entwickelt haben. Dementsprechend soll gesellschaftliche Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit geleistet werden (vgl. Artikel 8).

Erfreulich ist es, dass sich Deutschland mit der Ratifizierung der Konvention zu einer zeitgemäßen Behindertenarbeit bekennt. Das soll zukünftig durch das Ende 2016 verabschiedete Bundesteilhabegesetz erreicht werden, welches unter anderem an dem Verständnis von Behinderung der UN-Behindertenrechtskonvention anknüpft. Gleichwohl erreicht das Bundesteilhabegesetz an mehreren Stellen (z. B. mit Blick auf Wohnmöglichkeiten von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, vor allem in Bezug auf selbstbestimmtes Wohnen und Partizipation betroffener Personen) nicht das Niveau der UN-Behindertenrechtskonvention. Möglicherweise ist dies neben spezifischen Interessen von sozialpolitischen Instanzen, Kostenträgern, Fachorganisationen oder Einrichtungsbetreibern Missverständnissen oder Fehlauslegungen durch die deutschsprachige Übersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention geschuldet, die an mehreren Stellen dem Anliegen des regulären englischsprachigen Dokuments nicht gerecht wird. Vor einer Orientierung an der deutschen Übersetzung ohne Blick auf die Originalversion sei daher ausdrücklich gewarnt. Das betrifft zum Beispiel den Begriff der Teilhabe, der als Übersetzung von »participation« in der Gefahr steht, zur »Leerformel« zu gerinnen, indem ihm das Potenzial genommen wird, das im angloamerikanischen Sprachraum und letztlich auch mit der UN-Konvention intendiert ist. Partizipation steht nämlich nicht nur für aktive Beteiligung in einem sozialen System oder als Teil oder Mitglied einer Gemeinschaft oder Gesellschaft, sondern gleichfalls – wie im Empowerment-Konzept angelegt – für das Recht auf Mitsprache, konkrete Mitgestaltungsmöglichkeiten sowie Mitbestimmung.

Als besonders kritisch muss der Umgang mit dem Begriff der Inklusion gesehen werden, der in der deutsprachigen Version der UN-Konvention durch »Einbeziehung« oder »Integration« ersetzt wurde. Das hat an mehreren Stellen zu inhaltlichen Verzerrungen geführt, die die Intention der UN-Konvention verfehlen (vgl. Artikel 3 und 19). Haben wir es im Original unter »Inclusion« mit einer unmittelbaren gesellschaftlichen Zugehörigkeit behinderter Menschen zu tun, so wird mit den Übersetzungen aus einer »Außenperspektive«, aus der Position eines nichtbehinderten Menschen bzw. einer mächtigen, handlungsbestimmenden Instanz argumentiert. Anders gesagt: Von einer Einbeziehung kann nur der sprechen, der sich am Pol der Macht befindet. Genau das aber soll mit dem Grundanliegen der Inklusion und Partizipation vermieden werden, welches zugleich dem Empowerment behinderter Menschen dienen soll.

Genau an dieser Stelle setzt unser Sammelband an, der mit seinem ersten Beitrag »Von der Integration zur Inklusion im Lichte von Empowerment« in die Leitterminologie einführt.

Nachfolgend greift die Veröffentlichung einen häufig geäußerten Wunsch aus der Praxis auf, indem sie in Bezug auf drei zentrale Themen Best-Practice-Beispiele vorstellt. Mit dieser Fokussierung betritt der Sammelband Neuland und will zugleich eine beklagte Lücke schließen.

Im ersten Teil geht es um Best-Practice-Beispiele zum Wohnen und Leben in der Gemeinde. Hierzu ist uns eine Zusammenstellung bundesweit bedeutsamer Projekte und Reformen gelungen, die von herausragenden Fachleuten aus der Praxis präsentiert werden.

Der zweite Teil imponiert mit Best-Practice-Beispielen zum Thema Arbeit, die allesamt eines gemeinsam haben: das Ziel, Menschen mit Lernschwierigkeiten eine Teilhabe am allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Wie steinig, aber auch Erfolg versprechend ein solcher Weg sein kann, wird uns unmittelbar aus der Praxis plastisch vor Augen geführt.

Teil drei befasst sich mit dem Thema der Freizeit und Erwachsenenbildung, welches gleichfalls von erfahrenen Praktikern mit anregenden Beispielen für die Praxis aufbereitet wurde.

Abgerundet wird unser Sammelband mit einem Beitrag zum Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Lernschwierigkeiten oder auch hohem Unterstützungsbedarf. Dieser Beitrag von Georg Theunissen hat »übergreifenden« Charakter, insofern Verhaltensauffälligkeiten oder Problemverhalten in allen Lebens- oder Arbeitsbereichen auftreten können. Zudem wird mit diesem Beitrag der Nachweis erbracht, dass es uns nicht nur um »Elite-Behinderte« zu tun ist, sondern dass sich Konzepte wie zum Beispiel Empowerment oder Leitideen wie Inklusion auf alle Menschen mit Lernschwierigkeiten beziehen.

Irritierend könnte vielleicht der Begriff der Lernschwierigkeiten sein. Er steht in unserem Buch für Personen, die hierzulande üblicherweise als geistig behindert oder stark lernbehindert bezeichnet werden. Aus internationaler Sicht sind damit Personen mit »intellectual disabilities« gemeint (nähere Ausführungen dazu in Theunissen 2013). Genau um diesen Personenkreis geht es. Seine genaue Bezeichnung haben wir jeweils den einzelnen Autorinnen und Autoren überlassen. Das betrifft auch die Wahl der männlichen oder weiblichen Schreibweise (z. B. Assistent/Assistentin). Auf jeden Fall sind bei Bevorzugung einer Schreibweise (z. B. Schüler) die des anderen Geschlechts (Schülerin) stets mitgedacht.

Alles in allem hoffen wir, ein attraktives und lesenswertes Buch zusammengestellt zu haben. Wichtig waren uns eine leichte Zugänglichkeit der Texte sowie eine Auswahl mit interessanten, Impuls gebenden und richtungsweisenden Beiträgen. Hierzu möchten wir allen Autorinnen und Autoren herzlich danken. Unser Dank gilt ferner unserem Redaktionsteam sowie Herrn Dr. K.-P. Burkarth vom Kohlhammer-Verlag für die gute Zusammenarbeit. Erfreulich waren die positiven Rückmeldungen zu den bisherigen Auflagen dieses Buches und die rege Nachfrage, die zu einer 3. durchgesehenen und aktualisierten Herausgeberschrift geführt hat.

 

Oktober 2017

Helmut Schwalb (Sölden bei Freiburg i.Br.)
Georg Theunissen (Freiburg i.Br. und Halle a.S.)

 

Einführung: Von der Integration zur Inklusion im Sinne von Empowerment

Georg Theunissen & Helmut Schwalb

Die gesellschaftliche Situation von Menschen mit einer Behinderung und damit auch die Behindertenarbeit befinden sich derzeit in einem dynamischen Umbruch: Hatte sie sich bisher den Prinzipien der Integration und im Zusammenhang damit der pädagogisch-therapeutischen Förderung verschrieben, so steht heute das Paradigma Inklusion, verbunden mit dem Empowerment-Konzept, auf der Tagesordnung. Unser Beitrag greift diesen Perspektivwechsel auf und möchte ihn im Hinblick auf Fragen der Teilhabe am Arbeitsleben und des Lebens in der Gesellschaft, insbesondere des Wohnens und der Freizeit, beleuchten. Dabei konzentrieren wir uns auf die Situation von Menschen mit Lernschwierigkeiten, also jener Menschen, die bisher mit dem Begriff »Menschen mit einer geistigen Behinderung« etikettiert wurden.

Historische Entwicklung: Von der Exklusion zur Inklusion

Mit dem Schweizer Heilpädagogen Bürli (1997) lassen sich in der Begriffsgeschichte der Arbeit mit behinderten Menschen seit dem 19. Jahrhundert vier Phasen ausmachen:

Die erste Phase benennt er als Phase der Exklusion. In dieser Phase waren Menschen mit Behinderung von der Teilhabe an gesellschaftlichen Regelsystemen ausgeschlossen, sie wurden weggeschlossen (zuhause oder in Anstalten für von der Norm abweichende Menschen).

In der zweiten Phase, die Bürli als Phase der Segregation bezeichnet, wurden Menschen mit Behinderung zwar weiterhin als krank, behandlungs- und versorgungsbedürftig bezeichnet, dem Fürsorgeansatz folgend wurden für sie aber nunmehr eigene, abgetrennte Sozialisationseinrichtungen geschaffen, in denen sie gefördert werden konnten. Diese Phase war gekennzeichnet durch die in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts forcierte Institutionalisierung von Menschen mit Behinderungen. Damals war es in vielen Industrienationen zu zahlreichen Heim- oder Anstaltsgründungen gekommen. Die Beweggründe dafür waren recht unterschiedlich. Neben den christlichen Impulsen der Nächstenliebe und Barmherzigkeit ging es um »Heilung« und Erziehung zur »Brauchbarkeit« für die Gesellschaft. Dabei zeigte sich jedoch, dass es behinderte Menschen gab, die die Anforderungen nicht oder kaum erfüllen konnten und diese Erfahrung förderte die Vorstellung, dass es sinnvoll sei, das Heim- und Anstaltswesen in Anstalten oder Abteilungen für »bildbare« Personen auf der einen Seite und in Pflegeheime oder Pflegeabteilungen für »bildungs- und erziehungsunfähige« Menschen auf der anderen zu differenzieren.

Im 20. Jahrhundert wurde weltweit dieses von der Psychiatrie gestützte Zwei-Klassen-System zunächst uneingeschränkt fortgeschrieben (dazu Theunissen 2012). Allerdings war es in einigen hoch entwickelten Industrienationen (USA, skandinavische Länder) alsbald zu scharfer Kritik am Ausschluss der Menschen mit Behinderung von der Teilhabe an gesellschaftlichen Regelsystemen gekommen. Kritisiert wurde insbesondere die Unterbringung behinderter Menschen in Institutionen, denen ein »totaler Charakter« (Goffman) attestiert wurde. Das betraf vor allem staatliche Behindertenanstalten. Hierzulande war die Kritik an der Institutionalisierung verhaltener, da kirchliche Anstalten im Versorgungssystem behinderter Menschen die dominierende Rolle spielten, die sich durch eine christlich geprägte Philosophie von den staatlichen Institutionen (z. B. psychiatrischen Landeskrankenhäusern) abzuheben versuchten. Die Auseinandersetzung wurde dabei von betroffenen Menschen, von ihren Eltern und Familien sowie von engagierten Fachwissenschaftlern, Professionellen und Bürgerrechtlern geführt.

Hier setzte eine dritte Phase der Entwicklung an, die Bürli als Phase der Integration bezeichnet. Menschen mit Behinderung wurden zwar immer noch als »defizitär ausgestattet« beschrieben, es wurde jedoch nunmehr erkannt, dass die diagnostizierten Defizite durch Förderung soweit reduzierbar seien, dass Menschen mit Behinderung an normale Lebensbedingungen herangeführt werden können. Dies war die Stunde der heilpädagogischen Förderung.

Inzwischen beginnt eine vierte Phase Kontur zu bekommen, deren Leitbegriff Inklusion heißt. Sie hat ihren Ausgangspunkt in der Kritik an der Priorisierung von Eigeninteressen der Kostenträger, Wohlfahrtsverbände und Organisationen der Behindertenhilfe sowie einer Fremdbestimmung durch die heilpädagogische Helferkultur. Stattdessen wird ein Autonomie-Modell eingefordert, das sich auf die Rechte-Perspektive behinderter Menschen (Menschen- und Bürgerrechte) bezieht. Im Kern geht es hierbei ganz im Sinne von Empowerment um einen Wechsel der Zuständigkeit und Umverteilung von Macht, indem behinderte Menschen als »Experten in eigener Sache« selbst darüber entscheiden möchten, was für sie gut, sinnvoll und hilfreich ist und was nicht (Theunissen 2013). Die Vorstellungen in Bezug auf Arbeiten und Wohnen im Erwachsenenalter sind dabei eindeutig: Kein Arbeiten in Sondereinrichtungen, sondern Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt und keine Unterbringung in stationären Einrichtungen, sondern ein Leben in kleinen, gemeindeintegrierten Wohnungen, die mit einer Öffnung nach außen als Ort des gesellschaftlichen Zusammenlebens betrachtet werden. Das Paradigma der Inklusion geht davon aus, dass Menschen mit Behinderung sehr wohl in der Lage sind, trotz ihrer Behinderung, aber auch mit daraus resultierenden spezifischen Fähigkeiten an normalen Lebensbedingungen in den gesellschaftlichen Regelsystemen teilzuhaben, dass sie ein Recht haben auf ein selbstständiges und selbst verantwortetes Leben in der Gesellschaft.

Integration – kritisch reflektiert

Der geschilderte Entwicklungsprozess hat insbesondere unter dem Stichwort der gesellschaftlichen Integration einen hohen Bekanntheitsgrad. Unzweifelhaft handelt es sich hierbei um ein wichtiges Leitprinzip, das angesichts des Wohnens und Arbeitens vieler Menschen mit Lernschwierigkeiten in großen Institutionen bis heute seine Bedeutung hat. Allerdings sind im Zuge der Integration mehrere Probleme deutlich geworden, die zur Weiterentwicklung und Neubestimmung des Konzepts geführt haben. Im Folgenden werden einige Probleme genannt:

1.             Integration als Eingliederung

Bis heute wird unter Integration zumeist nur eine strukturelle Eingliederung in die Gesellschaft verstanden. Dabei handelt es sich um ein Input-Prinzip, bei dem anstelle abseits gelegener Einrichtungen auf der grünen Wiese oder auf dem Lande Wohnangebote möglichst innerhalb einer Gemeinde und Arbeitsangebote auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt geschaffen werden. Wir können dieses Prinzip auch als räumliche Integration bezeichnen, die aber noch kein Garant dafür ist, dass eine funktionale Integration stattfindet, indem Menschen mit Lernschwierigkeiten allgemeine Dienstleistungsangebote nutzen, am gesellschaftlichen Leben partizipieren und sich soziokulturell integriert erleben. Was nutzt es einem behinderten Menschen, wenn er zwar räumlich integriert in einem Wohnheim oder einer Wohngemeinschaft lebt, aber kaum Kontakt zu seiner Außenwelt hat und ihm das Leben in der Gesellschaft fremd bleibt?

2.             Dekapitierter Integrationsbegriff und Vernachlässigung des Kontextes

Abgeleitet vom lateinischen »integrare« kann Integration mit »heil, unversehrt machen, wiederherstellen, ergänzen« (Duden 1997, 308) in Verbindung gebracht werden. Oder anders gesagt: Integration bedeutet die Wiederherstellung eines Ganzen. Demzufolge handelt es sich bei der Auslegung von Integration als Eingliederung um ein verkürztes Begriffsverständnis, welches die innere und äußere Wiederherstellung eines Ganzen ignoriert1.

Die Reduktion des Integrationsbegriffs auf strukturelle Eingliederung führt auf handlungspraktischer Ebene zur Vernachlässigung des Kontextes. Das gilt zum Beispiel für alle Wohnkonzepte, die nur auf die Schaffung von räumlich integriertem Wohnraum hinauslaufen, ohne dabei infrastrukturelle, soziale und kulturelle Bedingungen sowie eine Vernetzung und Einbettung der Wohnformen in einem eng umschriebenen Sozialraum (Stadtteil, Wohnviertel) zu beachten. Vernetzung und Einbettung ist weitaus mehr als bloße Eingliederung nach dem Input-Prinzip. Auch in Bezug auf Werkstätten für behinderte Menschen wird nicht selten der Kontext vernachlässigt, wenn sie abseits gelegen und mit öffentlichen Verkehrsmitteln schwer zugänglich sind. Das hat unter anderem die Konsequenz, dass potenzielle Selbstfahrer daran gehindert werden, ihre Selbstständigkeit durch Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel beständig unter Beweis zu stellen.

3.             Zwei-Welten-Theorie

Des Weiteren wird durch die Reduktion des Integrationsbegriffs auf Eingliederung letztlich die Vorstellung zum Ausdruck gebracht, dass es zwei Welten gibt: zum einen die Welt der nichtbehinderten Menschen und zum anderen die der behinderten Personen. Die Welt der nichtbehinderten Menschen gilt als Normalität und wird durch das Input-Prinzip der Eingliederung zur Norm für Personen mit Behinderungen erklärt. Wir stoßen hier auf das Problem der Anpassung behinderter Menschen an Normen und Werte einer Gesellschaft aus nichtbehinderten Menschen. Zugleich wird durch das dekapitierte Integrationsverständnis das Trennende betont und eine systemökologische Sicht und Praxis der Integration, die das Ganze durch beidseitige Anpassungsprozesse sowie durch die Akzeptanz von Differenz und eines »Lebens im Plural« (Welsch) im Blick hat, vernachlässigt.

4.             Integration durch vorausgegangene Segregation

Die bisherigen Ausführungen lassen erkennen, dass Integration im Sinne von Eingliederung eine vorausgegangene Ausgrenzung voraussetzt. Anders gesagt: Es wird davon ausgegangen und zugleich hingenommen, dass Menschen mit Behinderungen zunächst einmal aus dem allgemeinen gesellschaftlichen Lebensraum ausgegrenzt werden, in dem sie dann später mit Blick auf das Wohnen wieder eingegliedert werden sollen. In einer ähnlichen Bahn bewegt sich der Integrationsbegriff im Sinne der Wiederherstellung des Ganzen. Auch hier werden Störungen, Beeinträchtigungen oder Ausgrenzungen als Ausgangspunkt für ein »Heil- oder Unversehrtmachen« zugrunde gelegt.

5.             Top-down-Praxis und Profizentrierung

Typisch für die Integration als Eingliederungsprinzip ist die Gepflogenheit, vom grünen Tisch aus Angebote zu planen und zu implementieren. Eine solche Top-down-Praxis geht nicht selten an den Interessen von Menschen mit Behinderungen oder Lernschwierigkeiten vorbei. Das gilt gleichfalls für die Helferzentrierung, die mit der Top-down-Praxis eng verknüpft ist. Zumeist sind es Organisationen, Funktionäre, Sachbearbeiter und Professionelle, die das Sagen haben und eigene Interessen bei der Entwicklung und Schaffung von Angeboten in einer Gemeinde geschickt einzubringen wissen. Welche Folgen z. B. entsprechende Wohnkonzepte haben können, zeigen einige Maßnahmen der Deinstitutionalisierung aus dem westlichen Ausland auf, die als Top-down-Reformen unbedacht realisiert wurden und in vielerlei Hinsicht skandalös waren (vgl. Dalferth 1999; Theunissen 2013). Aber auch hierzulande gibt es Negativbeispiele, wenn beispielsweise anstelle einer Enthospitalisierung eine Umhospitalisierung betrieben wurde (vgl. Theunissen 2007).

6.             Selektion und Ausgrenzung

Zudem scheint vielerorts die Vorstellung noch weit verbreitet zu sein, dass die Integration durch unterstütztes (sog. betreutes) Einzel-, Paar- oder Gruppenwohnen nur für behinderte Menschen mit einem relativ hohen Grad an Selbstständigkeit in Betracht zu ziehen sei. Menschen mit schweren (kognitiven) Beeinträchtigungen gehören demnach ins Heim, und bei einem hohen pflegerischen Assistenzbedarf werden zumindest von Kostenträgern Unterbringungsformen (Pflegeheime, Pflegegruppen bzw. eingestreute Pflegeplätze in Großeinrichtungen) unter der Regie der Pflegeversicherung favorisiert. Dass hier nahtlos an das eingangs skizzierte Zwei-Klassen-System angeknüpft wird, ist unschwer zu erkennen. Letztlich tritt eine Eingliederungspraxis in Kraft, die zwischen »integrationsfähigen« und »integrationsunfähigen« Personen differenziert und damit eine Selektion und Ausgrenzung betreibt. Dieser »Erblast« in Bereich der Behindertenpolitik und -hilfe (vgl. Theunissen 2012) begegnen wir gleichfalls in Bezug auf Werkstätten für behinderte Menschen, wo vor dem Hintergrund der Aufnahmebedingungen, die besser als Ausschlusskriterien bezeichnet werden sollten, zwischen »werkstattfähigen« und »arbeits- bzw. integrationsunfähigen« Personen unterschieden wird. Leider ist es mit dem SGB IX oder Bundesteilhabegesetz nicht gelungen, diese angesprochene Problematik grundlegend zu überwinden.

7.             Ergänzende Angebote

Die etymologische Bedeutung von Integration verweist auch auf ein Ergänzungsprinzip. Diesem wird in der Tat Rechnung getragen, wenn unter dem Etikett der gesellschaftlichen Integration Wohnformen wie das unterstützte (sog. betreute) Einzel-, Paar- oder Gruppenwohnen nicht als zeitgemäße Ablöse-, Nachfolge- und Regelsysteme, sondern nur als Alternativ- oder Ergänzungsangebote zu einem Wohnheim, einer Anstalt oder einer Komplexeinrichtung betrachtet werden. Gleichfalls gelten Werkstätten für behinderte Menschen als »Regelsysteme« und Außenarbeitsplätze, Außengruppen oder Formen unterstützter Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als additive Angebote. So wird am Behinderungsbild und an der davon abgeleiteten Notwendigkeit einer Besonderung festgehalten, was letztlich die Institutionalisierung von Menschen mit Behinderungen aufrechterhält.

Inklusion – kontrapunktisch aufbereitet

All diese Probleme sind von Aktivistinnen und Aktivisten der Behindertenbewegungen und mittlerweile von großen Teilen der Fachwissenschaft, Elternorganisationen oder Fachorganisationen erkannt worden, weshalb es Bestrebungen gibt, sie durch eine Praxis der Inklusion zu überwinden. Was aber bedeutet Inklusion?

Der Begriff der Inklusion stammt aus dem angloamerikanischen Sprachraum, vor allem aus Nordamerika. Nicht selten wird er mit »Nicht-Aussonderung« oder »unmittelbare Zugehörigkeit« übersetzt oder in Verbindung gebracht. Um einen Zugang zu Vorstellungen zu finden, die mit dem Begriff der Inklusion einhergehen, macht es Sinn, das Statement der US-amerikanischen Organisation The Arc of New Jersey (1995) aufzugreifen (zit. und übersetzt nach Theunissen 2013, 16):

»Alle Menschen, mit oder ohne Behinderung, haben das Recht auf eine volle Zugehörigkeit in unterschiedlichsten Gemeinschaften.

Kinder mit intellektueller Behinderung sollten:

•  in ihrer Familie leben

•  sich in ihrer Persönlichkeit entfalten und lebendige Beziehungen innerhalb und außerhalb ihrer Familie pflegen können

•  in ihrer Nachbarschaft, im Kindergarten wie auch in regulären Schulklassen mit nicht-behinderten Kindern gemeinsam spielen und lernen können

•  an Gemeinschafts- oder Freizeitaktivitäten partizipieren können.

Erwachsene mit intellektueller Behinderung sollten Möglichkeiten haben:

•  für eine größtmögliche Kontrolle ihres eigenen Lebens

•  für Partnerschaften, Freundschaften oder Lebensgemeinschaften

•  in einem eigenen Zuhause zu leben

•  einer für sie bedeutungsvollen Arbeit nachgehen zu können, die angemessen bezahlt wird

•  an Freizeitaktivitäten zu partizipieren und sich zu erfreuen

•  ein spirituelles (religiöses) Leben zu pflegen.

Unterstützungsleistungen, die Menschen mit intellektueller Behinderung benötigen, sollten ihnen in ihrem eigenen Zuhause wie auch in den Gemeinschaften, wo sie leben, lernen, arbeiten und spielen, zusammen mit nicht behinderten Menschen angeboten werden.«

Dieses Statement, das etwa Mitte der 1990er Jahre formuliert wurde, kann als ein Empowerment-Zeugnis engagierter Eltern- und Behinderten-Bewegungen betrachtet werden und wird heute von breiten Teilen der US-amerikanischen Fachwelt gestützt. Den wohl entscheidenden Ausgangspunkt für Inklusion als Leitidee der Behindertenarbeit bildeten politische Aktionen und Initiativen von behinderten Menschen und ihren Angehörigen, die unter der Flagge des Empowerment vor nahezu 40 Jahren für Selbstbestimmung, rechtliche Gleichheit und Anerkennung behinderter Menschen als Bürger, für soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Teilhabe kämpften (dazu Theunissen 2013). Neben der Einführung der Schulpflicht für alle, dem Recht behinderter Kinder auf »inclusive education« unter »least restrictive environments« (auf Erziehung und Bildung im allgemeinen Bildungssystem bzw. in Settings, die die geringsten Einschränkungen beinhalten) gilt der 1990 vom US-Kongress verabschiedete »The Americans with Disabilities Act« (ADA) als große Errungenschaft der Betroffenen-Bewegungen. Dieses Gesetz verbietet jede Form von Diskriminierung behinderter Menschen sowohl in öffentlichen Einrichtungen als auch im privaten Arbeits- und Dienstleistungsbereich.

Interessant ist die Frage nach der politischen und praktischen Bedeutung von Inklusion. Handelt es sich bei der Inklusion tatsächlich um eine Weiterentwicklung des Integrationsgedankens, um eine Antwort auf Schwächen oder Fehlentwicklungen der Integrationspraxis, um eine optimierte, von Problemen beseitigte Integration? Oder geht es bei der Inklusion gar um etwas völlig Neues? Oder handelt es sich – wie manche Kritiker behaupten – nur um einen euphemistischen Etikettenaustausch, um einen Modebegriff, der letztlich nichts anderes bedeutet als Integration?

Um Antworten zu finden, bietet es sich an, einige zentrale Aspekte herauszustellen, die unter Inklusion diskutiert werden:

1.             Recht auf Zugehörigkeit, Selbstbestimmung und Partizipation

Das Wort Inklusion stammt vom lateinischen Verb »includere« (einschließen) und wird mit dem Adjektiv »inclusivus« (eingeschlossen) sowie der Adverbform »inclusive« (einschließlich, inbegriffen) in Verbindung gebracht (Duden 1997, 306). Diese Wortbedeutung ist nicht unproblematisch, da ein »Eingeschlossensein« Zwänge und Einschränkungen beinhalten kann sowie Möglichkeiten, ja Rechte auf Selbstbestimmung, persönliche Freiheit oder Entscheidungen gefährdet. Um dies zu vermeiden, wurde in der UN-Behindertenrechtskonvention das Recht auf Inklusion (soziale Zugehörigkeit) mit dem Recht auf persönliche Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten (Autonomie) eng verschaltet (Bielefeldt 2006, 7). Vor diesem Hintergrund liegt der UN-Behindertenrechtskonvention das Verständnis einer Gesellschaft zugrunde, in der jeder Mensch das Recht hat, als vollwertiges und gleichberechtigtes Mitglied anerkannt zu werden. Mit dieser Anerkennung geht zugleich das Recht auf Selbstbestimmung und Partizipation am gesellschaftlichen Leben einher. Diese Rechte-Perspektive verpflichtet zugleich die Gesellschaft, dafür Sorge zu tragen, dass keine Aussonderung oder Benachteiligung von Menschen stattfindet und dass diejenigen, die hilfebedürftig sind, angemessene Unterstützung erfahren. Inklusion als unmittelbare Zugehörigkeit bezieht sich dabei nicht etwa nur auf Menschen mit Behinderungen, sondern sie hat ebenso andere Gruppen im Blick, die allzu leicht marginalisiert, ausgegrenzt und benachteiligt werden, zum Beispiel Menschen mit psychischen Behinderungen, ältere Mitbürger, kinderreiche Familien, Alleinerziehende, Familien und Kinder mit Migrationshintergrund.

2.             Akzeptanz von Heterogenität und Individualität

Vor diesem Hintergrund wird unter der Leitidee der Inklusion das Leben in einer multikulturellen Gesellschaft in den Blick genommen, in der die Verschiedenheit von Menschen und die Verwirklichung individueller Lebensentwürfe in einem sozial verträglichen Ganzen akzeptiert und unterstützt wird. Wir haben es hier mit einer Vision einer Gesellschaft zu tun, in der alle ihre Mitglieder in ihrem So-Sein wertgeschätzt werden, in der jeder als zugehörig betrachtet wird und sich sozial angenommen und wohlfühlen soll. Als erstrebenswert können unter diesem Blickwinkel Konzepte betrachtet werden, die ein Wohnen in Autonomie und ggf. mit Unterstützung in Mehrgenerationenwohnanlagen fördern. Ebenso hat hier die Bewegung Community Care (Schablon 2016) ihren Platz. Im Hinblick auf eine Teilhabe am Arbeitsleben spielen Ansätze der Unterstützten Beschäftigung (supported employment) oder auch das Konzept der Virtuellen Werkstatt die zentrale Rolle.

3.             Barrierefreiheit

Die Vorstellung eines Lebens in Inklusion oder einer inklusiven Kultur ist an die Voraussetzung geknüpft, dass allen Mitgliedern einer Gesellschaft wichtige soziale und kulturelle Systeme (z. B. allgemeine Bildungseinrichtungen und Dienstleistungen, Arbeitsplätze in regulären Betrieben) verfügbar und zugänglich sein müssen. Wir haben es hier mit dem Leitprinzip der Barrierefreiheit zu tun, welches für ein Leben in Inklusion unabdingbar ist. Mit dem ADA in den USA, dem Antidiskriminierungsgrundsatz in unserem Grundgesetz, der Erarbeitung länderbezogener Antidiskriminierungsgesetze sowie dem allgemeinen Schutz vor Diskriminierung im Zivilrecht wurden die Weichen für eine Barrierefreiheit rechtlich kodifiziert. Nun kommt es darauf an, ihr auch tatsächlich Rechnung zu tragen.

4.             Kontextuelle Veränderungen und Anpassungen

Um Barrierefreiheit zu schaffen, müssen die Strukturen, Institutionen und Dienstleistungsagenturen der Gesellschaft so verändert werden, dass sie den Rechten, Interessen und Bedürfnissen aller Mitglieder einer Gesellschaft entsprechen können. Inklusion lenkt somit den Blick auf strukturelle oder institutionelle Veränderungen, um jedem Menschen die uneingeschränkte Partizipation an gesellschaftlichen Aktivitäten und Bezügen zu ermöglichen. Bei der Integration ging es hingegen primär um die Anpassung des Einzelnen an die Gesellschaft. Dieser Aspekt wird durch das Unterstützungsprinzip im Rahmen von Inklusion nicht gänzlich außer Kraft gesetzt. Allerdings wird er nicht isoliert betrachtet, sondern systemökologisch, in der Reflexion und im Zusammenhang von kontextuellen Bezügen, aufbereitet.

5.             Nicht-Aussonderung und Ressourcenorientierung

Durch diese Form gegenseitiger Anpassung gelingt es, Prozesse einer Selektion und Separation zu vermeiden. Folgerichtig ist dem Inklusionsparadigma der Begriff der »Integrationsunfähigkeit« fremd – unabhängig von der Schwere einer Beeinträchtigung oder Pflegebedürftigkeit gilt es, jedem Menschen Inklusion zu ermöglichen. Hierzu ist es unabdingbar, individuelle und soziale Ressourcen zu erschließen und zu nutzen.

Indem individuelle Ressourcen fokussiert werden, zum Beispiel Stärken, Potenziale, Fähigkeiten und Fertigkeiten, wird zugleich dem defizitorientierten Behinderungsbild, wie es im Konzept der Integration noch durchschimmert, eine unmissverständliche Absage erteilt. Stattdessen wird ein positives Menschenbild zugrunde gelegt, welches jeder Person Stärken zuschreibt, die es für ein Leben in Inklusion zu aktivieren und zu unterstützen gilt. Hierzu führen uns Smith, Belcher und Juhrs (2000) bemerkenswerte Ressourcen von Menschen mit Lernschwierigkeiten und/oder aus dem Autismus-Spektrum im Hinblick auf Möglichkeiten einer Unterstützten Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vor Augen, zum Beispiel exzellente Merkfähigkeiten, ritualisierte Handlungen mit hoher Präzision und Zuverlässigkeit u. a.

Ein Leben in Inklusion kann nur dann gedeihen, wenn neben den individuellen auch soziale Ressourcen ausfindig gemacht, mobilisiert und gewürdigt werden. Das Spektrum sozialer Ressourcen ist breit: Familienstrukturen, milieuspezifische Lebensformen, Bräuche, Traditionen, Freundeskreise, Bekanntschaften, Nachbarschaften, Bereitschaft für bürgerschaftliches Engagement, Freiwilligenagenturen, Seniorenbüros, Bürgertreffs, Bürgervereine, Kirchengemeinde, Tagesstätten, Assistenzzentralen, Serviceangebote, Ambulanzen, nichtbehinderte Arbeitskollegen, die als Mentoren fungieren etc. Aus dieser Vielfalt gilt es ein persönliches Netzwerk zu knüpfen. Eine prominente Rolle als soziale Ressource spielt hierbei auch die Verschiedenheit in der Gemeinschaft, indem zum Beispiel intergenerative und interpersonelle Potenziale, Lebenswelten und Gestaltungsformen für ein Leben in Inklusion gefördert und genutzt werden. Dies alles macht freilich nur dann Sinn, wenn soziale Ressourcen als valide und hilfreiche Unterstützungsangebote erlebt werden und wirksam sind. Soziale Ressourcen und heterogene Gemeinschaften sind nämlich nicht per se schützend, unterstützend und persönlichkeitsfördernd.

6.             Bürgerzentrierung

Um zu einem tragfähigen Netzwerk für ein Leben in Inklusion zu gelangen, bedarf es einer bürgerzentrierten Arbeit. Ihr Adressat sind in erster Linie Bürger, die für andere als informelle Unterstützer angesprochen werden sollen oder sich bereits mit ihren Stärken, Ressourcen und Kompetenzen als freiwillige Helfer anbieten. Eine wesentliche Aufgabe für die Behindertenhilfe bezieht sich auf die Sensibilisierung nichtbehinderter Bürger, Menschen mit Lernschwierigkeiten oder Behinderungen als Mitbürger zu akzeptieren und schätzen zu lernen (z. B. über bürgerzentrierte Aktionsprogramme wie »IncludCity« in Köln; www.includcity.de). Ein solches Programm kann, wie die Kontakthypothese belegt (Cloerkes 2001), am ehesten fruchtbar werden, wenn die Heterogenität in der Gemeinschaft, soziale Kontakte und ein gemeinsames Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen, verschiedener Herkunft oder unterschiedlichen Alters in qualitativer Hinsicht gefördert und letztendlich gelebt werden.

7.             Kontextorientierung

Es wäre ein eklatantes Missverständnis, Aufgaben der Netzwerkförderung und Bürgerzentrierung nur als Beiwerk oder Ergänzung eines Wohnkonzepts zu betrachten. Im Gegenteil: Ein Wohnen in Inklusion verlangt ein Konzept, das den Kontext, das Umfeld, Bezugs- und Umkreispersonen mit einbezieht. Das Scheitern mancher gut gemeinten Reformen oder Integrationsprojekte war gerade dem Fehlen einer Kontextorientierung geschuldet. Sie ist mit ein Garant dafür, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten oder Behinderungen informelle Unterstützung erfahren, wenn sie Hilfe benötigen, sich in ihrem sozialen Umfeld zurecht finden und wohlfühlen sowie am soziokulturellen Leben partizipieren können. In der Praxis der Inklusion findet die Kontextorientierung im Rahmen der Erstellung persönlicher Zukunfts- oder Lebensstilpläne (person-centered planning) Eingang (dazu Theunissen 2012), indem infrastrukturelle Bedingungen, Umweltbarrieren und Umfeldressourcen aufbereitet werden.

8.             Überwindung der Zwei-Welten-Theorie

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass ein Leben in Inklusion die Zwei-Welten-Theorie obsolet werden lässt. Vielmehr haben wir es mit einer Vielzahl an heterogenen Lebenswelten zu tun, die allesamt ein Ganzes bilden, welches Pluralität als Normalität betrachtet. Auf diese Weise gelingt es, eng gestrickte Anpassungszwänge zu vermeiden und ein Höchstmaß an Selbstbestimmung, Individualität und Bedürfnisbefriedigung zu erreichen – dies unter der Voraussetzung, dass persönliche Lebensentwürfe nicht in eine soziale Gleichgültigkeit, Verantwortungslosigkeit der Mitwelt gegenüber oder Asozialität entgleiten. Menschen- und Bürgerrechte können an dieser Stelle als regulatives Moment betrachtet werden, welches den Rahmen für ein selbstbestimmtes Leben in Inklusion absteckt.

9.             Angebote aus der Betroffenen-Perspektive

Werden Rechte auf Selbstbestimmung, Partizipation und Unterstützung zur Maxime von Inklusion erklärt, so hat dies Konsequenzen für ein zeitgemäßes Wohnen: Anstelle einer Top-down-Konzeption, die von Organisationen, Wohlfahrtsverbänden, Kostenträgern und Profis maßgeblich bestimmt wird, ist der Stimme von Betroffenen als Wegbereiter für Angebote Rechnung zu tragen. Da die Zahl derjenigen, die ein Leben in einem Heim oder in einer abseits gelegenen Institution ablehnt, stetig wächst, ist unschwer zu erahnen, dass zeitgemäße Wohnformen im Sinne von Inklusion nicht als additive Angebote betrachtet werden dürfen, sondern als bedarfs- und bedürfnisorientierte Regelsysteme definiert und implementiert werden müssen.

Im Prinzip gilt dies ebenso für die Teilhabe am Arbeitsleben, die sich im Sinne von Inklusion nicht durch eine große Werkstatt für behinderte Menschen bestimmen lässt. Stattdessen geht es um soziale Systeme, in denen behinderte und nichtbehinderte Menschen zusammenarbeiten, gemeinsam Arbeiten verrichten oder arbeitsteilig tätig sind und miteinander kooperieren.

Inklusion – Kritisches Resümee

Die vorausgegangenen Ausführungen lassen den Schluss zu, dass Inklusion weitaus mehr als eine bloße Fortführung oder Weiterentwicklung des Integrationsgedankens darstellt, vor allem dann, wenn er nur als Input-Prinzip oder Eingliederung praktiziert wird. Vielmehr haben wir es mit einer qualitativen Veränderung und Umstrukturierung der bisherigen Überlegungen im Lichte von Integration oder auch Normalisierung zu tun. Keineswegs handelt es sich um einen Etikettenschwindel oder nur um ein terminologisches Spiel, wenn Inklusion immer mehr zur Leitidee zeitgemäßer Behindertenarbeit wird – ohne dabei die Integration gänzlich außer Kraft zu setzen. Denn solange Menschen mit Behinderungen ausgegrenzt werden, bedarf es ihrer Integration, die es dann in ein »Leben in Inklusion« zu überführen gilt.

Dieses wird mit dem zitierten Statement von The Arc of New Jersey angedeutet. In ähnlichen Bahnen bewegt sich auch die sogenannte Deklaration von Madrid, die im Rahmen eines europäischen Behindertenkongresses 2002 für das Europäische Jahr von Menschen mit Behinderungen 2003 erstellt wurde. Unmissverständlich wird jedem Menschen mit oder ohne Behinderung das Recht auf volle gesellschaftliche, ja uneingeschränkte Zugehörigkeit zugesprochen. Diese beginnt quasi mit der Geburt, und das bedeutet, dass eine Ausgrenzung aus gesellschaftlichen »Regelkontexten« erst gar nicht zugelassen werden darf. Dies kann dann zum Erfolg führen, wenn Menschen mit Behinderungen in ihrer vertrauten Lebenswelt das notwendige Maß an Unterstützung für eine erfolgreiche Individuation, Sozialisation und Partizipation am gesellschaftlichen Leben erhalten. Menschen mit Behinderungen als gleichwertige Bürger ihres Landes anzuerkennen und durch Inklusion und Empowerment sicher zu stellen, dass sie mit den gleichen Rechten wie nicht behinderte Bürger am gesellschaftlichen Leben partizipieren können, ist gleichfalls die Botschaft der Vereinten Nationen, die soeben mit der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen (2007) ein internationales Übereinkommen auf den Weg gebracht haben (dazu Bielefeldt 2006).

Alles in allem scheint somit die Leitidee der Inklusion eine verheißungsvolle Angelegenheit zu sein. Nichtsdestotrotz sollten wir auch eine kritische Betrachtung vornehmen, um der Gefahr eines Realitätsverlusts durch visionäres Denken vorzubeugen. Diesbezüglich möchten wir vier Probleme nennen, die zu einer kritischen Reflexion und steten Wachsamkeit gegenüber Fehlentwicklungen herausfordern.

1.             Zum Verhältnis von Inklusion und Exklusion

Aussagen zur Inklusion als Leitidee der Behindertenarbeit lassen den Schluss zu, dass von der Vorstellung einer Gesellschaft ausgegangen wird, in der alle Menschen mit Lernschwierigkeiten und Behinderungen vollständig einbezogen und uneingeschränkt willkommen sind. Diese Vorstellung ist visionär; und es stellt sich die Frage, ob eine solche Gesellschaft überhaupt existiert oder erreicht werden kann. Aus soziologischer Sicht wird eine Gesellschaft häufig als funktional-differenziert beschrieben, welche aus Teilsystemen besteht, die in einem funktionalen Zusammenhang stehend reziprok miteinander kommunizieren. Diese verschiedenen Teilsysteme bilden relativ autonome Einheiten, die sich selbst Normen und Regeln auferlegen und zum Teil nur lose über staatliche Regulative (Gesetze, Vorschriften, Bürgerrechte) operieren und sozial kommunizieren. Genau an dieser Stelle gilt es zu fragen, welche Konsequenzen sich daraus für die Vorstellung einer »inklusiven Gesellschaft« ergeben. Wir sollten uns die Frage an einem Beispiel vor Augen führen: In einer mittelgroßen Gemeinde in den USA leben fünf Menschen mit Lernschwierigkeiten in einer Wohngemeinschaft. In der Gemeinde gibt es so gut wie keine allgemein öffentlichen Einrichtungen, stattdessen gibt es zwei Schwimmbäder, die von zwei privaten Organisationen unterhalten werden, zudem gibt es mehrere Sportcenter, die gleichfalls privat betrieben werden. Zudem stehen die meisten kulturellen Angebote unter der Regie von Organisationen. Um am soziokulturellen Leben partizipieren zu können, bedarf es der Mitgliedschaft in einer oder mehrerer Organisationen. Wird dem Einzelnen eine Mitgliedschaft verwehrt oder durch zu hohe Kosten unmöglich gemacht, sind die Möglichkeiten der Partizipation am gesellschaftlichen Leben in erheblichem Maße eingeschränkt. Anders gesagt: Je geringer die faktische Zugehörigkeit zu einer Organisation als Betreiber und Anbieter, desto geringer der Grad der gesellschaftlichen Inklusion. Durch die Zugehörigkeit in einem selbstorganisierten Zusammenschluss (People First) lässt sich dieser durch Teilsysteme erzeugte Exklusionseffekt nicht beseitigen, sondern allenfalls kompensieren. Inklusion ist somit nur »auf der Ebene der Teilsysteme möglich« (Kulig 2010, 53). Diese Analyse zeigt auf, dass die Vorstellung einer »inklusiven« Kultur und Gemeinde einer differenzierten Betrachtung bedarf und sich dem Problem der Exklusion durch Teilsysteme stellen muss. Der Behindertenarbeit oder Sozialen Arbeit kommt hierbei als eigenem Teilsystem eine Brückenfunktion zu, indem sie zwischen anderen Teilsystemen zu vermitteln hat, so dass letztlich ein größtmögliches Maß an Inklusion und Partizipation erreicht und Ausgrenzungs- oder Isolierungstendenzen vermieden werden können.

2.             Zur Gefahr der politischen Vereinnahmung und Dekapitierung