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Die im Buch dargestellten Erlebnisse, Dialoge und Personen basieren auf Erinnerungen und weichen an einigen Stellen gewollt oder ungewollt von der Realität ab. Namen und Merkmale einzelner Personen wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre mitunter geändert.

Die Kilometrierung der beschriebenen Touren ist nur als Näherungswert zu verstehen, da sie auf der direkten Streckenführung basiert und Abstecher für Zeltplatzsuche, Einkaufen, Besichtigungen oder Ähnliches nicht berücksichtigt. Die tatsächlich zurückgelegte Strecke ist daher länger, bei der Radtour beträgt die Abweichung laut Tacho plus neun Prozent.

ISBN 978-3-492-99044-8
© Piper Verlag GmbH, München 2018
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de
Covermotiv: John Harwood (vorne oben und Mitte), Christine
Thürmer (vorne unten)
Fotos: Christine Thürmer
Karten und Symbole: Marlise Kunkel, München
Litho: Lorenz & Zeller, Inning a. A.
Datenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen

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Inhalt

Übersichtskarte

Wandern

25. August 2013
Berlin, Deutschland

27. August 2013
Bad Hönningen am Rhein, Deutschland

28. August 2013
Deutsches Eck, Koblenz, Deutschland

2. September 2013
Börfink, Deutschland

6. September 2013
Orscholz, Deutschland

17. September 2013
Contrexéville, Frankreich

30. September 2013
Toulon-sur-Arroux, Frankreich

4. Oktober 2013
Arfeuilles, Frankreich

10. Oktober 2013
Retournac, Frankreich

11. bis 13. Oktober 2013
Le Puy-en-Velay, Frankreich

15. Oktober 2013
Vor Saint-Alban-sur-Limagnole, Frankreich

18. Oktober 2013
Gorges du Tarn, Frankreich

29. Oktober 2013
Montagne d’Alaric, Frankreich

1. November 2013
Vor Saint-Paul-de-Fenouillet, Frankreich

4. November 2013
Amélie-les-Bains-Palalda, Frankreich

7. bis 9. November 2013
Olot, Spanien

15. November 2013
Kloster Montserrat, Spanien

16. bis 18. November 2013
Igualada, Spanien

2. Dezember 2013
San Juan de Peñagolosa, Spanien

10. Dezember 2013
Vor El Rebollar, Spanien

24. Dezember 2013
Cieza, Spanien

5. Januar 2014
Quesada, Spanien

8. Januar 2014
Parque Natural de Sierra Mágina, Spanien

23. bis 24. Januar 2014
Ronda, Spanien

29. Januar 2014
Tarifa, Spanien

7. Februar 2014
Berlin-Marzahn, Deutschland

Radeln

5. Mai 2014
Berlin-Marzahn, Deutschland

6. Mai 2014
Kostrzyn nad Odrą (Küstrin an der Oder), Polen

14. Mai 2014
Olsztyn (Allenstein), Polen

20. Mai 2014
Dzūkija-Nationalpark, Litauen

24. Mai 2014
Labanoras-Regionalpark, Litauen

28. Mai 2014
Rēzekne (Rositten), Lettland

29. Mai 2014
Lubān-See, Lettland

3. Juni 2014
Valka (Walk), lettisch-estnische Grenze

5. Juni 2014
Tartu (Dorpat), Estland

8. Juni 2014
Estnische Ostseeküste

12. Juni 2014
Nuuksio-Nationalpark, Finnland

18. Juni 2014
Åland-Inseln, Finnland

25. Juni 2014
Vaasa, Finnland

28. Juni 2014
In der Nähe von Yppäri, Finnland

1. Juli 2014
Oulu, Finnland

3. Juli 2014
Rokua-Geopark, Finnland

9. Juli 2014
Kloster Uusi-Valamo, Finnland

19. Juli 2014
Punkaharju, Finnland

23. Juli 2014
Repovesi-Nationalpark, Finnland

29. Juli 2014
MS Finlandia, Fähre nach Tallinn (Reval), Estland

3. August 2014
Hiiumaa (Dagö), Estland

16. August 2014
Karosta, Lettland

20. August 2014
Kaunas (Kauen), Litauen

24. August 2014
Kiel, Deutschland

27. August 2014
Berlin, Deutschland

Paddeln

5. September 2014
Valdemarsvik, Schweden

6. September 2014
Schärengarten von Gryt, Schweden

9. September 2014
Söderköping, Schweden

10. September 2014
Norsholm, Schweden

13. September 2014
Motala, Schweden

16. September 2014
Vätternsee, Schweden

19. September 2014
Töreboda, Schweden

24. September 2014
Lidköping, Schweden

25. September 2014
Skåpafors, Schweden

29. September 2014
Knarrbysjön, Schweden

2. Oktober 2014
Håverud, Schweden

4. Oktober 2014
Bengtsfors, Schweden

5. Oktober 2014
Lelång, Schweden

13. Oktober 2014
Töcksfors, Schweden

15. bis 17. Oktober 2014
Insel Trollön im Stora Le, Schweden

18. bis 20. Oktober 2014
Nahe Ed, Schweden

Bildteil

Wandern

Radeln

Paddeln

Wandern

Länge: 3873 Kilometer

Länder: Deutschland, Luxemburg,
Frankreich, Spanien

Dauer: 155 Tage

Übernachtungen in der Natur: 123

Längster Tag: 13:44 Stunden Tageslicht

Kürzester Tag: 9:30 Stunden Tageslicht

Verzehrte Schokolade: 40 Kilogramm

Durchlaufene Paar Schuhe: 3

25. August 2013
Berlin, Deutschland

Rumms! – mit einem dumpfen Knall kippt der Packsack mit meinem 23 Kilogramm schweren Faltboot von einer Umzugskiste. Dadurch kommen die darauf gelagerten Beutel mit den Schlafsäcken ins Rutschen und fallen mir direkt vor die Füße. Genervt richte ich mich auf und strecke meinen schmerzenden Rücken durch. Seit fünf Minuten schon wühle ich in einem Karton und suche die Nummer 315, einen Gaskartuschenadapter.

Ich befinde mich in einem großen Mietlager in Berlin vor meiner Box. Auf gerade mal drei Quadratmetern bewahre ich hier all meine weltlichen Besitztümer auf, denn eine eigene Wohnung habe ich schon lange nicht mehr. Technisch gesehen bin ich obdachlos. Doch ich sage immer: »Ich lebe im Zelt.« Denn ich bin Langstreckenwanderin und fast das ganze Jahr über draußen unterwegs. Meist zu Fuß, manchmal aber auch mit dem Fahrrad oder meinem Kajak. Vor zwei Tagen erst bin ich von einer Radtour durch Skandinavien zurückgekommen, und übermorgen breche ich schon wieder auf zu einer Wanderung durch Südeuropa. Also ist jetzt fliegender Ausrüstungswechsel angesagt, da ich dem Freund, auf dessen Wohnzimmercouch ich derzeit nächtige, nicht länger als nötig zur Last fallen möchte. Fahrrad und Packtaschen der letzten Tour also wieder hinein in die Lagerbox, Rucksack und Trekkingstöcke für die anstehende Wanderung heraus. Ganz bewusst wechsle ich bei meinen Touren immer zwischen Wandern, Radeln und Paddeln ab, um körperlichen Verschleißerscheinungen vorzubeugen. Nur die Freude am Draußensein, die nutzt sich bei mir nie ab.

Die meisten Dinge aus meinem früheren Leben – Möbel, Kleidung und Bücher – habe ich schon vor Jahren verkauft oder verschenkt. In meiner Lagerbox befinden sich kaum noch alltägliche Sachen, dafür umso mehr Outdoorequipment. Ich besitze zwar weder ein Auto noch ein Bett, dafür aber neben einem Faltkajak und einem Tourenrad acht Schlafsäcke, sechs Isomatten, fünf Zelte und unzählige weitere kleine Ausrüstungsgegenstände. Genauer gesagt sind es 506, denn in meinem Lager sind alle Sachen mit Aufklebern durchnummeriert und nach Themenkreisen sortiert.

Ich werfe die Schlafsäcke mit den Nummern 41 bis 48 zurück an ihren Platz und wühle erneut in der Kiste mit dem 300er-Nummernkreis »Kochen«. Endlich finde ich den Gaskartuschenadapter in einer Sammeltüte neben einem Satz Titanbesteck und einem halben Dutzend Minifeuerzeugen. Erleichtert atme ich auf und schaue auf die Excel-Tabelle auf meinem Smartphone, in der all meine Ausrüstungsgegenstände mit Nummer, Gewicht und Beschreibung aufgelistet sind. Diese akribische Lagerhaltung ist ein Relikt aus meinem früheren Leben als Geschäftsführerin, hat sich aber auch in meiner neuen »Outdoorkarriere« bewährt, seit ich meinen Job vor einigen Jahren endgültig an den Nagel gehängt habe. Denn mit dieser Liste kann ich entspannt am Computer »vorpacken« und die Ausrüstung dann schnell in einer einmaligen Aktion aus meinem Lager holen.

Die 315 war der letzte Gegenstand auf meiner Packliste. Ich wuchte den Sack mit meinem Faltboot wieder an seinen Platz, staple die Kisten zurück in das Abteil und quetsche anschließend mein Fahrrad in eine Lücke zwischen den Kartonreihen. Zum Schluss werfe ich noch die drei Aufbewahrungsbeutel mit den verbleibenden sieben Schlafsäcken obendrauf. Doch bevor ich die dünne Metalltür mit einem Vorhängeschloss verschließe, halte ich noch einmal inne und blicke in die bis in den letzten Winkel gefüllte Lagerbox.

»Tschüss!«, sage ich leise zum Abschied und streichle über den Lenker meines Fahrrads. Wenn ich unterwegs bin, wird mein Transportmittel wie zu einem neuen Körperteil. Manchmal rede ich sogar mit ihm – so wie jetzt. Fünf Monate werde ich nun zu Fuß unterwegs sein, doch danach geht es vier Monate zum Radeln und zwei Monate zum Paddeln.

»Keine Sorge, bald sind wir wieder unterwegs«, flüstere ich daher sentimental. Da sehe ich aus den Augenwinkeln, wie einer der drei Beutel mit den Schlafsäcken schon wieder ins Rutschen kommt und auf mich zugleitet. Schnell werfe ich die Tür hinter mir zu und schließe ab.

27. August 2013
Bad Hönningen am Rhein, Deutschland

»Meine Güte, wie viele Kilometer bist du mittlerweile schon gewandert?«, fragt mein Outdoorfreund Werner leicht genervt und stellt energisch sein Glas auf dem weißen Küchentisch ab.

»Äh, fast 30 000 Kilometer«, antworte ich nach kurzem Überlegen und blicke erstaunt von meinem Abendessen hoch. »Aber …«

»Und seit wie vielen Jahren ziehst du nun bereits eine Tour nach der anderen durch?«, unterbricht Werner mich sofort und spießt ein Stück Hühnerbrust mit seiner Gabel auf.

»Hm, sieben Jahre«, stammle ich verwirrt und lege mein Besteck neben dem Teller ab. »Wozu willst du …«

»Und warum stellst du dich dann am Anfang einer Tour immer noch an wie der erste Mensch?«, fällt Werner mir triumphierend ins Wort und steckt sich genüsslich den Bissen Fleisch in den Mund.

»Ich stelle mich nicht an wie der erste Mensch«, protestiere ich entrüstet und schiebe meinen halb leeren Teller von mir weg.

»Ach nein«, stellt Werner grinsend mit ironischem Unterton fest. »Und warum jammerst du dann in einer Tour rum, seit du heute Mittag hier angekommen bist?«

»Ich jammere überhaupt nicht rum!«, widerspreche ich und will das gleich noch weiter ausführen. »Aber ich habe nun mal …«

»Ich weiß«, unterbricht mein Gastgeber mich schon wieder und zählt kauend meine zahlreichen Wehwehchen auf: »Du hast Kopfschmerzen, einen verspannten Nacken, dein Knie tut dir weh, und überhaupt bist du gänzlich unfit und unvorbereitet. Du erzählst seit Stunden nichts anderes.«

Sprachlos sehe ich meinen Wanderfreund an – dann brechen wir beide in schallendes Gelächter aus.

»Du hast ja recht«, gebe ich zu und werde sogar leicht rot dabei, weil mir gerade vor Werner meine hypochondrischen Züge nun doch etwas peinlich sind. Denn der hat eine Krankengeschichte ganz anderen Kalibers vorzuweisen: Mit seinen 56 Jahren hat er bereits zwei Herzinfarkte, einen Schlaganfall und eine Bypassoperation hinter sich. Die Herzprobleme halten den drahtigen und energiegeladenen Mann aber keineswegs vom Wandern ab. Um die 20 000 Kilometer ist er durch Europa gelaufen, meist auf Pilgerwegen. Nur zeltet er im Gegensatz zu mir nicht wild im Wald, sondern übernachtet ausschließlich auf Campingplätzen und in Pilgerherbergen.

»Mensch, Christine«, sagt Werner nun schon mitfühlender und wischt sich den Mund mit einer Serviette ab. »Du bist einer der erfahrensten Langstreckenwanderer weltweit. Du bist Tausende von Kilometern in den USA, Australien und Europa gelaufen. Und daher weißt du doch genauso gut wie ich, dass es sich bei deinen Beschwerden nur um eine ›Prä-Trip-Depression‹ handelt. Sobald du morgen die ersten Schritte gemacht hast, werden alle Schmerzen wie weggeblasen sein.«

Ich lächle betreten und spiele verlegen mit der Gabel. »Es ist vor jedem Trip das Gleiche – egal, wie oft ich nun schon aufgebrochen bin. Ich bin nervös, und mir ist schlecht.« Als Werner mir aufmunternd zunickt, fahre ich einsichtig fort: »Dabei weiß ich doch, dass letztendlich immer alles gut wird …«

Seufzend schließe ich die Augen und denke an die vor mir liegende Tour: Ich will vom Rhein aus zum südlichsten Punkt des europäischen Festlands laufen. Das sind fast 4000 Kilometer durch Deutschland, ganz Frankreich und Spanien. Doch die besondere Schwierigkeit dieser Wanderung liegt nicht in der Länge der Strecke oder der Routenführung, sondern in der Jahreszeit: Ich werde den Herbst und fast den kompletten Winter über unterwegs sein. Bei der Planung der Tour hatte ich mich riesig darauf gefreut, die kalten Monate im warmen Süden zu verbringen. Aber jetzt sehe ich vor meinem geistigen Auge statt sonniger Wandertage nur die eisigen, langen Nächte im Zelt. Sofort wird mir wieder flau im Magen.

Da reißt Werner mich aus meinen trüben Gedanken: »Du hast doch eine tolle Tour vor dir!«

»Na, dass du sie toll findest, ist doch klar, schließlich stammt die Idee ja von dir«, schnaube ich wenig überzeugt, doch mein Wanderfreund grinst mich nur spitzbübisch an.

Erst vor zwei Jahren haben wir uns online in einem Outdoorforum und etwas später auch persönlich kennengelernt. Der Rheinländer, der die meisten seiner Wanderkilometer in Spanien und Portugal zurückgelegt hat, wurde schnell zu einem wertvollen Ratgeber in Sachen Südeuropa für mich. Als ich vor einem Jahr nach Tourenideen für den Winter suchte, schlug er vor, zum südlichsten Punkt Europas zu wandern: nach Tarifa. Damals hatte ich zunächst an seinen Geografiekenntnissen gezweifelt, denn den südlichsten Punkt Europas hatte ich in Sizilien vermutet. Eine kurze Recherche im Internet belehrte mich jedoch eines Besseren: Tarifa am südlichsten Zipfel Spaniens ist in der Tat auch der südlichste Punkt auf dem europäischen Festland. Ich war sofort Feuer und Flamme für diese Idee – und da sie von Werner stammte, wollte ich meine Wanderung auch gleich bei ihm am Rhein beginnen. Genauer gesagt am Deutschen Eck in Koblenz, weil mir dieses Denkmal als passender Startpunkt für eine europäische Wanderung erschien. Und so sitze ich nun in Werners blitzblanker Küche und verzehre die letzten Reste einer ausgezeichneten Hühnerbrust mit Paprikasoße, die mir im Moment jedoch eher wie eine Henkersmahlzeit vorkommt. Denn morgen soll ich schon loswandern. Der Gedanke lässt mich wieder aufstöhnen.

»Komm, ich mache dir eine Wärmflasche für deinen verspannten Nacken«, meint Werner nun lachend und steht auf, um den Tisch abzuräumen.

»Ob das was hilft?«, frage ich verzagt und stelle die benutzten Teller zusammen. Doch mein Wanderfreund ignoriert den Rest des Abends all mein wehleidiges Jammern und schickt mich einfach früh ins Bett.

28. August 2013
Deutsches Eck, Koblenz, Deutschland

Kilometer 0

»Schau, da steht ein echter Leierkastenmann!«, rufe ich am nächsten Morgen begeistert, als Werner und ich uns durch Horden von Japanern und Amerikanern in Richtung Rhein drängeln. Nach einem ausgiebigen Frühstück in Werners Küche befinden wir uns jetzt am Deutschen Eck in Koblenz, dem Zusammenfluss von Rhein und Mosel – und heutigem Startpunkt meiner Wanderung zum südlichsten Punkt Europas. Mit meinem Ultraleicht-Wanderrucksack, abgetragenen Outdoorklamotten und Trekkingstöcken wirke ich inmitten der Touristen etwas deplatziert. Werner hingegen, der nur mitgekommen ist, um mich zu verabschieden, ist in lockerer Freizeitkleidung unterwegs.

»Na, dann such dir mal ein passendes Lied aus«, sagt er lächelnd, als wir vor dem Drehorgelspieler angekommen sind, der von einem bunten Schirm und dem Reiterstandbild Kaiser Wilhelms behütet inmitten der Besucherströme sein Instrument betätigt. Gemeinsam studieren wir die lange alphabetisch geordnete Liste mit den zur Auswahl stehenden Liedern.

Als ich beim Buchstaben M angekommen bin, blicke ich auf und sage mit einem Kloß im Hals: »›Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus‹ passt wohl am besten.« Werner kramt schon im Geldbeutel nach einer Euromünze und legt sie dem Leierkastenmann in den Hut.

»Ach komm, Christine«, sagt er und verstaut seine Geldbörse wieder in der Jacke. »Du hast ein paar wundervolle Monate vor dir.«

»Ich weiß«, antworte ich wenig überzeugt, als mein Wunschlied erklingt. In meinem Kopf wechseln sich Angst und Vorfreude auf die bevorstehende Wanderung ab. Ich könnte hier ewig so stehen bleiben, auf den Rhein starren und meinen Abmarsch hinauszögern, doch Werner ergreift die Initiative.

»Ich muss los und meine Frau von der Arbeit abholen«, sagt er und fügt gutmütig hinzu: »Ein paar Meter komme ich noch mit Richtung Tarifa.«

Wir verlassen die Rheinterrasse mit den vielen Touristen und laufen gemeinsam noch zwei Minuten die Promenade entlang, bevor Werner sich mit einer kurzen Umarmung endgültig verabschiedet und zu seinem Auto zurückgeht. Kaum ist er außer Sichtweite, nehme ich meinen Rucksack wieder ab und setze mich auf eine Bank. Ich bin einfach noch nicht bereit loszulaufen, denn die letzten Tage waren ein einziger hektischer Kraftakt. Kein Wunder also, dass ich völlig verspannt und mit rasenden Kopfschmerzen in den Bus zu Werner gestiegen bin.

Tief durchatmend lasse ich meinen Blick über den Rhein schweifen. Ein Frachtschiff tuckert gemächlich an mir vorüber. Der warme Sommerwind treibt mir die Dieselabgase und den leicht modrigen Geruch des Wassers in die Nase. Auf der gegenüberliegenden Rheinseite donnert gerade ein Zug vorbei. Völlig unbeeindruckt davon ziehen ein paar Schwäne ihre Bahn.

Erst jetzt lässt die Anspannung der letzten Tage nach. Ich strecke mich bequem auf der Bank aus und gönne mir sogar einen ersten Schokoriegel aus meinem Proviantvorrat, obwohl ich noch gar nicht losgegangen bin. Egal. Das Hetzen und der Termindruck haben jetzt ein Ende. Nun habe ich Zeit, viel Zeit. Etwa fünf Monate Wandern liegen vor mir – da kommt es auf ein paar Minuten auch nicht an.

Unter den neugierigen Blicken der Passanten packe ich meine Sachen noch einmal aus, um die ungewohnt voluminöse Winterausrüstung etwas besser zu verstauen. Mein dicker Quilt, eine Art Schlafsack, der hinten offen ist und keine Kapuze hat, verschwindet als Erstes wieder im Rucksack, denn er dient mir beim Tragen als Rückenpolster. Rechts und links davon stopfe ich meine aufblasbare Isomatte und mein Einwandzelt hinein. Dann werden alle Hohlräume mit der Verpflegung für die nächsten Tage gefüllt. Anschließend kommt mein Ein-Liter-Titantopf mit der Gaskartusche dran und zwei kleine Beutel mit Kleinzeug. Meinen Kleidersack packe ich obendrauf, zwei Faltflaschen kommen in die Seitentaschen. Insgesamt wiegt meine Ausrüstung ohne Wasser und Proviant gut sechs Kilogramm: Obwohl ich wie immer das Gewicht so weit wie möglich reduziert habe, umfasst mein Gepäck auf dieser Wintertour ein Kilo mehr als sonst, wenn ich im Frühling, Sommer oder Herbst unterwegs bin. Aber den zusätzlichen Wärmeschutz werde ich bald gut brauchen können – auch wenn mir das heute bei fast dreißig Grad unrealistisch vorkommt.

Erst nach einer Stunde gehe ich endlich los und bin zunächst noch ziemlich steif und langsam. Schon bald lasse ich die letzten Häuser von Koblenz hinter mir und erklimme im schattigen Wald auf schmalen Pfaden die Rheinhöhen. Das Gewicht auf meinem Rücken ist noch ungewohnt, und alle zehn Minuten muss ich kurz anhalten, um zu verschnaufen. Doch Werner behält recht: Mit jedem Schritt lassen die Verspannungen und die Kopfschmerzen nach. Vom Aussichtspunkt auf dem Hasenberg habe ich eine wunderbare Sicht auf das Rhein-Lahn-Eck und Lahnstein. Als ich mich hier strecke und dehne, um meine beanspruchten Muskeln etwas zu lockern, fallen gleichzeitig die Unsicherheit und die Ängste der letzten Tage wie ein alter Schuppenpanzer von mir ab. Ich blicke zum träge dahinfließenden Rhein hinunter und muss lächeln: Jetzt wird alles gut!

Als ich im Ort Brey ankomme, bleibt mir nur noch eine Stunde Tageslicht, um einen Zeltplatz zu finden. Wie auf meinen anderen Wandertouren auch will ich wild zelten, also irgendwo im Wald mein Lager aufschlagen. Nur ist das in Deutschland – wie fast überall in Europa – nicht so richtig erlaubt. Daher werde ich versuchen, ein möglichst verstecktes Plätzchen zu finden, wo mich weder späte Hundegassigeher noch frühe Jäger entdecken können. Aber genau das ist im dicht besiedelten Gebiet entlang des Rheins nicht so einfach.

Ich studiere gerade seufzend meine Karte, als ein älterer Herr aus einem Haus tritt und mich neugierig anspricht: »Wo wollen Sie denn so spät abends noch hin, junge Frau?«

»Oh hallo«, antworte ich zunächst ausweichend, während ich mir blitzschnell eine Notlüge zurechtlege. »Ich will heute noch nach Boppard«, erkläre ich dann, denn ich möchte mir nicht anhören müssen, dass mein Vorhaben nicht erlaubt ist.

»Bis Boppard? Das schaffen Sie doch heute nicht mehr!«, verkündet mir der Mann, was mir nach einem Blick auf die Karte auch klar ist.

»Verdammt!«, fluche ich innerlich und hoffe, dass er mich jetzt nicht mit gut gemeinten Hotelvorschlägen überschüttet, die ich sowieso nicht wahrnehmen werde. Doch der freundliche Herr verblüfft mich.

»Also bevor Sie jetzt den steilen Abstieg nach Boppard beginnen und dabei in die Dunkelheit geraten, übernachten Sie doch einfach in der Schutzhütte, die sich zwanzig Minuten von hier befindet.«

Ich traue meinen Ohren nicht. »Eine Schutzhütte? Ist die denn für jedermann frei zugänglich?«, frage ich vorsichtig nach.

Jetzt kommt mein netter Helfer aber doch ins Stottern. »Ich weiß nicht. Abgeschlossen ist sie jedenfalls nicht!«

Blitzschnell wäge ich die Vorteile und Risiken ab. Da gerade dunkle Regenwolken den abendlichen Himmel verdüstern, erscheint mir ein überdachter Schlafplatz wie ein Sechser im Lotto. Andererseits würde ich in einer Schutzhütte wie auf einem Präsentierteller liegen. Wenn mich ein Förster oder Jäger dort entdeckte, dann stünde mir vielleicht eine unangenehme Diskussion über die Legalität dieses nächtlichen Aufenthaltes bevor. Denn in Europa sind die Regelungen zum Übernachten in der freien Natur meist sehr restriktiv und kompliziert, dabei von Land zu Land unterschiedlich und oft nochmals regional differenziert. Ich habe es allerdings schon längst aufgegeben, mich in diesem Punkt eisern nach dem Gesetz zu richten. Auf vielen Tausend Wanderkilometern durch Europa habe ich nämlich gelernt, dass sogar das freie Zelten in der Praxis kein Problem ist und anstandslos geduldet wird, solange man dabei diskret ist und keine Spuren hinterlässt.

Ich beschließe, mein Glück einfach zu versuchen, und lasse mir nur noch schnell den Weg erklären, bevor ich mich verabschiede. Die Wander- und Schutzhütte »Auf Riwisch« liegt direkt an meiner Strecke und entpuppt sich als eine Art »Hilton« für Wanderer mit Bänken, einem Tisch und sogar Fenstern. Ich erreiche sie gerade, als die Sonne am Horizont verschwindet. Im Schein der Stirnlampe bereite ich auf meinem Campingkocher Linseneintopf aus der Tüte zu. Nach dem Essen lege ich meine Isomatte und meinen Quilt auf dem Tisch aus, denn der ist viel sauberer als der staubige Boden. Ganz leise dringt Verkehrslärm aus dem Rheintal zu meiner Behausung herauf, dann ruft im Wald ein Käuzchen. Als ich mich auf dem Tisch ausstrecke, spüre ich ein leichtes Ziehen in den Beinen und Füßen. Kein Wunder, denn mein Körper muss sich in den ersten Wochen auf dem Trail erst wieder an das Wanderleben gewöhnen. Die Monate zuvor war ich ausschließlich mit dem Fahrrad unterwegs – was natürlich andere Muskeln beansprucht als das Laufen. Doch ich empfinde diese körperliche Müdigkeit als angenehm und schlafe schon innerhalb weniger Minuten ein.

Obwohl ich in den nächsten Tagen bereits mein normales Tagespensum von dreißig Kilometern und mehr gehe, werde ich nie große Schmerzen, sondern abends lediglich ein klein wenig Muskelkater haben. Denn ich wandere zwar von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang, bin aber eher gemächlich unterwegs und mache viele kleine Pausen. Und schlimme Blasen oder gar blutige Fersen habe ich mir als Ultraleicht-Wanderin noch nie zugezogen!

2. September 2013
Börfink, Deutschland

Kilometer 133

Der Wanderweg vor mir hat nichts Schwieriges an sich: keine besonderen Unebenheiten, keine großen Steine, keine quer liegenden Äste. Er ist einfach ein fünfzig Zentimeter breiter, gut ausgetretener und an dieser Stelle flacher Pfad durch den Wald. Und dennoch stolpere ich plötzlich und verliere das Gleichgewicht. Die Millisekunden meines Falls nehme ich wie in Zeitlupe wahr – und dann durchzuckt mich ein rasender Schmerz. Ich bin direkt auf mein linkes Knie gestürzt. Tränen schießen mir in die Augen. Tränen des Schmerzes und vor allem der Wut über diesen völlig idiotischen Sturz. Wie ein Kind schreie ich einfach los, und es ist mir egal, ob mich jemand hört. Ich schreie und schreie und schreie, bis mir die Lächerlichkeit der Situation bewusst wird. Da liege ich platt auf dem Weg, durch meinen Rucksack und die unter mir eingeklemmten Trekkingstöcke unbeweglich wie eine Schildkröte auf dem Rücken und brülle völlig unbeherrscht wie ein hungriges Baby. Ein gequältes Lächeln huscht über mein Gesicht. Mir wird klar, dass ich nicht ewig hier so liegen und mich dem Selbstmitleid hingeben kann. Widerwillig wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht, befreie mich von meinem Rucksack und ziehe die Stöcke unter mir hervor. Jetzt bin ich wieder beweglicher und kann mich zum Aufstehen auf das unverletzte Knie stützen. Mühsam rapple ich mich endgültig hoch. Geschafft! Dann zwinge ich mich zur Schadensaufnahme. Mein linkes Knie ist großflächig aufgeschürft, blutet leicht und schwillt immer mehr an. Vor allem aber ist die Wunde völlig verdreckt.

Ich schließe vor Schmerz die Augen und schmiede einen Plan: Etwa einen Kilometer entfernt liegt das Dorf Börfink am Weg. Dort will ich die Wunde reinigen und abwarten, ob sich das lädierte Knie beruhigt. Also schultere ich wieder meinen Rucksack und humple los. Im Schneckentempo geht es durch den Wald, aber ich bin froh, dass ich mich überhaupt noch allein fortbewegen kann.

Als ich nach einer qualvollen halben Stunde endlich den Ort erreiche, stoße ich glücklicherweise sofort auf eine Art Gemeindehaus mit öffentlichen Toiletten und einem Rastplatz. Die Schmerzen in meinem Knie sind jetzt erträglich, doch ich weiß, dass ich nur schwer wieder hochkommen werde, sobald ich mich einmal hingesetzt habe. So fülle ich erst meine Wasserflaschen auf, bevor ich mich auf einer Bank im Schatten niederlasse. Dann reinige ich mit zusammengebissenen Zähnen die Wunde mit kaltem Wasser. Meine Notfallapotheke ist minimal: Ibuprofen gegen Kopf- und Gelenkschmerzen, ein paar Antibiotika für den Notfall, Immodium gegen Durchfall, ein paar Pflaster. Aber auch eine kleine Tube Jodsalbe, die jetzt an meinem Knie zum Einsatz kommt.

Nachdem die Wundversorgung erledigt ist, kommt das Mittagessen an die Reihe: Es ist zwar erst elf Uhr vormittags, aber ich möchte noch etwas Zeit gewinnen und koche mir ein Tütengericht auf meinem kleinen Gaskocher. Mit einer Portion »Nudeln Bolognese« im Magen und einem hochgelegten Knie sieht die Welt eine Stunde später schon ganz anders aus. Doch wie soll es jetzt weitergehen?

Vorsichtig setze ich den Fuß des lädierten Beins auf die Erde und versuche aufzustehen – keine gute Idee. Nach der langen Pause ist das Knie angeschwollen und lässt sich kaum noch bewegen. Ich lasse mich wieder auf die Bank plumpsen und überdenke meine Optionen. Wenn ich mich ernsthaft verletzt haben sollte, dann müsste ich jetzt einen Arzt aufsuchen – und wahrscheinlich meine Tour abbrechen. Das glaube ich aber nicht, denn dann hätte ich es wohl nicht aus eigener Kraft bis hierher geschafft. Das Knie wird sich schon wieder erholen. Doch kann ich damit einfach so weiterlaufen, oder braucht das Gelenk eine Ruhepause? Über mir lädt ein strahlend blauer Himmel zum Wandern ein. Außerdem bin ich gerade erst ein paar Tage unterwegs und noch gar nicht erholungsbedürftig. Und wo sollte ich hier denn überhaupt übernachten? Zu meiner großen Überraschung verrät mir mein Smartphone, dass es in dem kleinen Ort sogar mehrere Unterkünfte gibt. Und so beschließe ich seufzend, vernünftig zu sein …

Drei Stunden später liege ich in einem Bett in der Pension »Alte Mühle« und starre an die Decke. Mein Zimmer liegt im ersten Stock, und mit meinem geschwollenen Knie habe ich es kaum die Treppe hinauf geschafft. Mir graut schon vor dem Augenblick, wenn mich meine volle Blase zum Gang auf die Toilette zwingt. Wie gerne würde ich jetzt mit Werner telefonieren und mich trösten lassen. Aber mein Handy hat hier absolut keinen Empfang, und das Hotel hat nicht mal WLAN. Zweifel und Ängste steigen wieder in mir hoch. Habe ich mich vielleicht doch ernsthaft verletzt? Kann ich so überhaupt noch schlappe 3500 Kilometer laufen? Oder ist die ganze Tour nicht einfach nur eine Schnapsidee? Lange wälze ich mich hin und her, bis ich früh am Abend einschlafe.

Am nächsten Morgen weckt mich strahlender Sonnenschein. Zehn Stunden Schlaf haben meinen Widerstandsgeist zu neuem Leben erweckt: Ich bin wild entschlossen, heute weiterzuwandern. Noch ein Tag Zwangsaufenthalt voller Grübeleien würde mich wahnsinnig machen. Energisch schwinge ich die Füße aus dem Bett und belaste langsam meine Beine. Mein Knie ist steif und schmerzt. Probehalber mache ich ein paar Schritte durch das Zimmer, wobei ich mich anfangs noch an den Möbeln abstützen muss. Nach diesem Aufwärmtraining nehme ich die Treppe nach unten in Angriff. Mit jedem Schritt geht es besser, obwohl ich mit meinem Gang immer noch mehr einer neunzigjährigen Oma als einer dynamischen Mittvierzigerin ähnle.

Im Frühstücksraum befindet sich außer mir kein Gast. Ungelenk lasse ich mich mit durchgestrecktem Knie an einem Tisch nieder und ziehe ein Heft über den Saar-Hunsrück-Steig aus der Tasche.

»Tee oder Kaffee?«, fragt mich der freundliche Wirt, und ich bestelle Kräutertee. Als er mir zwei Minuten später das Getränk serviert, fällt sein Blick auf die Wanderbroschüre.

»Sind Sie auf dem Steig unterwegs?«, fragt er neugierig, und ich bejahe. »Der Weg hat mir ja schon viele zusätzliche Gäste beschert«, erklärt er mir in Plauderlaune und nimmt an meinem Tisch Platz. Das soll mir nur recht sein, denn ich habe es heute gar nicht so eilig mit meinem Aufbruch.

»Der Saar-Hunsrück-Steig ist ja auch ein zertifizierter Premiumwanderweg«, verkünde ich fachmännisch und beiße genussvoll in ein knuspriges Brötchen mit Schinken – eine großartige Abwechslung zu meinem normalen Wanderfrühstück, Müsli mit kaltem Wasser.

»Oh ja«, pflichtet der Wirt mir bei und ergänzt schmunzelnd: »Man muss schon ein Deutscher sein, um auf die Idee zu kommen, Wanderwege zu zertifizieren.« Da ich noch den Mund voll habe, kann ich nur zustimmend nicken. »Möchten Sie noch ein weich gekochtes Ei zum Frühstück?«, fragt er nun fürsorglich und erntet dafür von mir ein begeistertes Brummen.

Während der Wirt in der Küche verschwindet, denke ich über die Sinnhaftigkeit von Wanderwegszertifizierungen nach. In Deutschland vergeben zwei Verbände Qualitätssiegel für Wanderwege, so ähnlich wie Sterne für Restaurants. Unabhängige Prüfer untersuchen die Strecke nach über dreißig unterschiedlichen Kriterien wie Wegeformat, Beschilderung, Verkehrsanbindung und Verpflegungsmöglichkeiten. Wenn alle Standards erfüllt werden, endet diese Zertifizierung in dem Prädikat »Premium-« oder »Qualitätswanderweg«. Selbst die Hotels und Pensionen entlang der Strecke werden auditiert und dürfen sich erst dann »Qualitätsgastgeber« nennen. Das alles kostet die betroffenen Landkreise und Betriebe natürlich Zeit und vor allem Geld. Ich bezweifle zwar, dass man ein Wandererlebnis »vermessen« kann oder sollte, aber dennoch liebe ich diese »Sterne«-Wege aus einem ganz praktischen Grund: Sie erleichtern mir die Planung meiner Wanderung durch Europa ganz erheblich! Denn anders als in den USA gibt es hier kaum viel begangene und gut dokumentierte Langstreckenwanderwege. Für den Appalachian Trail oder den Pacific Crest Trail, die beiden bekanntesten amerikanischen Fernwanderwege, gibt es mehrere vollständige Tourenführer, komplette Kartensets, ja sogar Apps für das Smartphone und vor allem eine gut vernetzte trail community, die in Online-Foren und Hunderten von Blogs Informationen zur Verfügung stellt.

Bei uns in Europa ist das Wandern zwar weiter verbreitet als in den USA, beschränkt sich in der Regel jedoch auf Tages- oder bestenfalls ein- bis zweiwöchige Touren. Daher sind die europäischen Wanderwege im günstigsten Fall ein paar Hundert Kilometer lang und regional beschränkt. Zwar gibt es insgesamt elf europäische grenzüberschreitende Fernwanderwege, die sogenannten E-Wege, aber die sind nicht durchgängig markiert. Der europäische Wanderverband hat hierfür einfach bereits bestehende regionale Wege zu einer Strecke zusammengefasst. Und genauso bin ich bei der Planung meiner Route vom Rhein nach Tarifa ebenfalls vorgegangen: Ich habe in wochenlanger Kleinarbeit Wanderwege gesucht, die zwischen meinem Start- und Endpunkt liegen und diese dann zu einer Gesamtstrecke zusammengepuzzelt. Dieser Prozess wurde dadurch vereinfacht, dass es für die bekannten »Premium-« oder »Qualitätswege« natürlich jede Menge Unterlagen und Informationen im Netz gibt. Wie zum Beispiel den kostenlosen Führer über den Saar-Hunsrück-Steig mit Karten und Wegbeschreibung, den ich nicht nur jetzt beim Frühstück, sondern auch beim Wandern mehrmals täglich konsultiere. Auch den entsprechenden Track für mein GPS konnte ich mir einfach aus dem Internet herunterladen.

»So, hier ein Frühstücksei für die Dame«, kommt der Wirt nun gut gelaunt aus der Küche zurück und fragt interessiert weiter: »Laufen Sie denn den ganzen Saar-Hunsrück-Steig?«

»Nein, auf dem Steig laufe ich nur 133 Kilometer bis nach Perl«, antworte ich und köpfe das Ei. »Aber danach geht es noch weiter bis nach Spanien.«

»Sie pilgern also nach Santiago de Compostela?«, will er nun neugierig wissen.

Diese Frage bekomme ich oft gestellt, denn wer in Europa mehrere Tausend Kilometer zu Fuß zurücklegt, ist in der Regel als Pilger unterwegs. Kein Wunder, denn die Pilgerwege sind hervorragend markiert und die Logistik ist extrem einfach: Während ich entlang meiner selbst geplanten Route jeden Supermarkt und jede Nachschubmöglichkeit für Gaskartuschen mühevoll selbst recherchieren musste, gibt es für die sogenannten Caminos unzählige Pilgerführer mit allen logistischen Details. Die Caminos führen fast jeden Tag durch einen Ort mit Restaurant und Supermarkt, wohingegen sich bei meiner Routenwahl nur alle drei bis vier Tage Einkaufsmöglichkeiten ergeben. Zudem können Pilger in den vielen Herbergen am Weg preisgünstig und bequem übernachten, wohingegen ich versuche, weitestgehend zu zelten.

Ich schüttle also den Kopf. »Nein, ich pilgere nicht. Ich bin zwar erst seit fünf Tagen unterwegs, aber ich will nach Tarifa wandern.« Und als ich den fragenden Blick meines Gegenübers sehe, füge ich gleich hinzu: »Das liegt bei Gibraltar in Südspanien.«

Ungläubig sieht mich der Wirt nun an, und ich sehe förmlich, wie er sich im Kopf diese lange Strecke vorzustellen versucht. Dann zeichnet sich eine Mischung aus Mitleid und Bewunderung auf seinem Gesicht ab. »Sie haben sicherlich schon ganz schlimme Blasen, so wie Sie humpeln …«

»I wo!«, entgegne ich kopfschüttelnd. »Ich bin gestern nur unglücklich auf mein Knie gestürzt, aber Blasen habe ich keine.«

»Wie geht das denn?«, hakt der Wirt nach. »Fast alle meine Wandergäste haben Probleme mit Blasen. Sie können sich gar nicht vorstellen, was ich hier schon an verpflasterten Füßen gesehen habe …«

»Mit den richtigen Schuhen passiert so was nicht«, erkläre ich begeistert und zeige auf die leichten Trailrunning-Schuhe an meinen Füßen.

»Sie tragen keine Wanderstiefel?«, fragt er mich nun verwundert und betrachtet interessiert meine Sportschuhe aus Meshgewebe.

»Ja, genau!«, bestätige ich und hole zu einer Erklärung aus: »Wanderstiefel sind wie ein Korsett für die Füße und zwingen sie, bei jedem Schritt die gleiche Bewegung zu machen. Dadurch ermüdet der Fuß schneller – und es kommt leicht zu Blasen, weil ja immer dieselben Stellen belastet werden. Meine leichten Trailrunner hingegen haben eine flexible Sohle, sodass der Fuß immer unterschiedlich abrollt. Blasen habe ich dadurch so gut wie nie!«

Ungläubig lauscht der Wirt meinen Ausführungen. Schließlich erhebt er sich und stellt trocken fest: »Sie haben ja noch viel vor. Ich bringe Ihnen dann wohl besser noch ein paar Brötchen. Greifen Sie ruhig ordentlich zu.« Das lasse ich mir nicht zweimal sagen.

Mit vollem Bauch verlasse ich eine Stunde später die Pension. Zunächst humple ich zwar noch, doch mit der steten Bewegung wird das geprellte Knie immer beweglicher und der Schmerz stetig schwächer. Und nach ein paar Stunden erscheint mir Tarifa schon wieder als realistisches Ziel …

6. September 2013
Orscholz, Deutschland

Kilometer 232

»Wandermobiliar« lautet der Fachbegriff für die Bänke, Tische und Schutzhütten, die dem Wanderer das Leben entlang des Weges angenehmer machen sollen. Auf den »Sterne«-Wanderwegen wird da einiges geboten: Hier hat die gute alte Holzbank ausgedient, und stattdessen laden nun wellenförmige »Sonnenliegen« aus Holz den Wanderer zum Ausruhen ein. Auf genau so einem »Waldsofa« liege ich nun und genieße einen Ausblick wie aus dem Bilderbuch. Vor mir geht es 200 Meter steil bergab. Unten macht die Saar eine 180-Grad-Schleife und glitzert in der morgendlichen Sonne. Die Liege ist so bequem und die Aussicht auf dieses Wahrzeichen des Saarlandes so schön, dass ich meine Pause gar nicht beenden möchte und erst mal zu meinem Handy greife, um einen letzten Anruf zu tätigen. Letzter Anruf deshalb, weil ich heute Abend bereits Deutschland verlassen werde und dann nicht mehr günstig mit meiner Handy-Flatrate telefonieren kann.

Werner antwortet bereits nach dem zweiten Klingeln. »Na, wie geht es dir heute?«, begrüßt er mich freundlich. Ich hatte ihn schon vor ein paar Tagen über meinen Unfall informiert und mir seitdem beinahe täglich seelisch-moralischen Beistand per Telefon bei ihm geholt.

»Super!«, antworte ich wahrheitsgemäß und füge gleich hinzu: »Und meinem Knie geht es auch schon viel besser.«

»Na, siehst du«, erklärt mir Werner erleichtert. »Wird doch!«

»Laufen geht schon wieder ganz prima, aber ins Zelt hinein- und hinauszusteigen ist ein akrobatischer Akt!«, erkläre ich, denn mein Knie reagiert immer noch sehr empfindlich auf Belastung.

»Es sieht dich ja keiner dabei«, beruhigt mich mein Wanderfreund.

»Weil ich das linke Knie nicht komplett beugen kann, ist die Verrichtung großer und kleiner Geschäfte ein echtes Problem«, fahre ich kichernd fort. »Männer sind in dieser Hinsicht einfach bevorzugt.«

»Du sagst es!«, stimmt Werner mir lachend zu, wird aber gleich wieder ernst. »Willst du denn jetzt wie geplant bis nach Tarifa weiterwandern?«

»Na klar!«, antworte ich wie aus der Pistole geschossen. »Warum denn nicht?«

»Dann bin ich ja beruhigt«, erklärt mir Werner. »Jetzt kann ich es dir ja sagen: Ich habe dieses Mal echt damit gerechnet, dass du aufgibst.«

»Aufgeben? Wie kommst du denn darauf?«, rufe ich entrüstet ins Handy und richte mich energisch auf meinem Waldsofa auf. Die Wanderbroschüre, die ich vor meinem Anruf studiert hatte, fällt auf den weichen Boden.

»Du hast schon vor Beginn deiner Wanderung nur rumgejammert. Und als du dich dann noch verletzt hast, dachte ich, es wird dir jetzt alles zu viel und du hörst auf«, sagt Werner, während ich mit der rechten Hand nach dem Heftchen angle.

»Es ist doch ganz normal, dass auf so einer langen Tour mal etwas nicht nach Plan läuft – und das ist mir eben gleich am Anfang passiert. Aber deswegen gebe ich doch nicht auf!«, erkläre ich aufgeregt und gestikuliere dabei wild mit der Farbbroschüre. Die grandiose Aussicht auf die Saarschleife beachte ich gar nicht mehr, so empört bin ich.

»Ist ja schon gut«, beschwichtigt mich mein Wanderfreund. »Aber menschlich wäre es schon gewesen …«

»Ach, Werner, ich bin schon viel zu lange unterwegs, um mich von einem kleinen Missgeschick gleich aus dem Konzept bringen zu lassen. Am Anfang hatte ich eine ausgeprägte ›Prä-Trip-Depression‹. Das hast du schon ganz richtig diagnostiziert. Und mit dem Sturz habe ich einfach Pech gehabt. Aber das ändert nichts daran, dass das Wandern jetzt mein Leben ist.« Ich mache eine Pause und beobachte eine Amsel, die gerade neben mir im Laub raschelt und mich jetzt überrascht anschaut. Von ihr schweift mein Blick wieder zu dem träge dahinfließenden Strom unter mir, der inmitten des satten Grüns des Waldes verführerisch funkelt. Ein warmes Gefühl durchströmt meinen ganzen Körper, als ich die würzige Waldluft tief einatme und fortfahre: »Und dieses Leben, Werner, das möchte ich um nichts in der Welt missen!«

An diesem Tag komme ich durch drei Länder. Auf deutschem Boden folge ich dem Saar-Hunsrück-Steig noch bis zum Grenzort Perl, in dem die Straßen verstopft sind von Hunderten von französischen Grenzgängern, die die billigen deutschen Discounter stürmen. Auch ich versorge mich mit preiswerter Schokolade, bevor ich die Mosel überquere und einige Kilometer durch Luxemburg wandere. Mein Nachtlager baue ich dann bereits in Frankreich auf – im Dunkeln.

Doch ich habe schon so viele Nächte im Zelt verbracht, dass ich die Handgriffe blind beherrsche. Zuerst laufe ich mit winzigen Schritten die Zeltfläche ab, um Bodenunebenheiten zu ertasten und zu beseitigen. Dann breite ich meine Unterlage aus und liege erst einmal Probe. Da das Testliegen zu meiner Zufriedenheit ausfällt, entrolle ich mein Einwandzelt, führe die Zeltstange ein und befestige alles mit den Heringen am Boden. Das geht viel schneller als bei einem gewöhnlichen Zweiwandzelt, bei dem zunächst das Innenzelt aufgebaut und danach die Außenhaut darüber befestigt wird. Zum Schluss spanne ich die Zeltschnüre nochmals nach – und beziehe mein Heim für diese Nacht.