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TRICIA SEAMAN
mit Diane Nichols

Dann sorge ich für dich

Wie meine Freundin starb und
Gott mir einen Sohn schenkte

Aus dem amerikanischen Englisch
von Carmen Shamsianpur

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© der deutschen Ausgabe 2018

Originally published in English under the title: God gave me you

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

Übersetzung: Carmen Shamsianpur

Dieses Buch widme ich in liebevollem Andenken
meiner Großmutter, Anna Dimm.
Danke, Großmama, dass Du mich Freundlichkeit,
Güte und Mitgefühl gelehrt hast.
Deine Liebe hat mein Leben auf eine so großartige Weise beeinflusst,
dass sie in meinen Kindern und Kindeskindern
fortleben wird. Du warst ein wunderbarer Mensch, eben
ein Original! Ich werde Dich eines Tages wiedersehen.
Bis dahin … Ich hab Dich sehr lieb.

Inhalt

Über die Autorin

Einleitung

1. Zimmer 173

2. Die Bitte

3. Babyfieber

4. Wohin die Reise geht

5. Hinter dem Hügel

6. Was blieb

7. Der Osterbesuch

8. Der Probelauf

9. Die Geduldsprobe

10. Ein Tag, den man nie vergisst

11. Trautes Heim

12. Richtungsänderung

13. Eine große, glückliche Familie

14. Von guten Freunden umgeben

15. Nichts geht über Walmart

16. Nestbau

17. Auszeit

18. Sandstrand

19. Eine völlig neue Welt

20. Geburtstagskätzchen

21. Zu enge Bindung

22. Am Broadway

23. Dem Himmel nah

24. Die Ruhe vor dem Sturm

25. Loslassen

26. Ein Engel mehr im Himmel

27. Lila Himmel

Gott hat dich für mich ausgewählt

Danksagungen

Bildteil

Tricia Seaman lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Pennsylvania. Die erfahrene Krankenschwester arbeitet auf der Krebsstation in einer Klinik in Harrisburg.

Freitag, 18. Oktober 2013, 02.02 Uhr

Lieber Wesley,

ich liege hier im Krankenhaus, denke an Dich, vermisse Dich und wünschte, Du wärst hier und ich könnte Dich umarmen. Ich hoffe, dass ich noch miterleben darf, wie Du zu einem wunderbaren Mann heranwächst. Ich bin sicher, das kannst und wirst Du. Ich bin stolz auf Dich und dankbar, dass Du so ein großer und starker Junge warst und die Situationen annehmen konntest, die Du in den letzten drei Jahren durchleben musstest. Ich weiß nicht, wie es jetzt weitergeht. Doch ich weiß, dass ich alles daransetzen werde, so lange wie möglich zu leben, um bei Dir sein zu können. Falls ich Dich verlassen muss, werde ich jemanden finden, bei dem Du glücklich sein wirst. Vielleicht wird es noch eine weitere große Veränderung in Deinem Leben geben. Doch ich weiß, dass Du es schaffen wirst!

Ich liebe Dich.

Mama

Einleitung

Es war Freitagnachmittag und Muttertag. Der Schulbus hielt mit quietschenden Bremsen vor unserem Haus. Ich hatte gerade ein Blech Schokoladenkekse gebacken und war dabei, sie zum Abkühlen auf einen Teller zu legen. Die Tür fiel laut ins Schloss und ich hörte das vertraute Geräusch eines Schulranzens, der auf den Boden geworfen wurde. Dann näherten sich leise Schritte hinter meinem Rücken.

»Die ist für dich.« Wesley hielt mir eine wunderschöne lila Petunie in einem Tontopf hin, der in sattem Blau glasiert war – meiner Lieblingsfarbe.

Ich hielt inne, etwas verwundert, und legte dann meinen Pfannenwender aus der Hand.

»Ist das ein Muttertagsgeschenk für mich?«

Er nickte und grinste. »Ja.«

Die Kombination aus lila Blumen und blauem Topf war alles andere als Zufall.

»Danke«, sagte ich, zutiefst gerührt. »Das passt perfekt, weil Blau meine Lieblingsfarbe ist und Lila war die deiner Mama. Ist das ein Geschenk für uns beide?«

Er grinste von einem Ohr zum anderen. »Ja. Deshalb habe ich genau diese Blumen gewählt und den blauen Topf.«

Ich empfand eine Mischung aus Liebe, Überraschung und Dankbarkeit. Bis zu jenem Augenblick hatte ich mich mit ganz vorsichtigen, kleinen Schritten vorwärtsbewegt; Wesley bei den Hausaufgaben geholfen, ihn ins Bett gebracht, sein Lunchpaket gepackt und ihm nachgeschaut, wenn er mit meinen anderen Kindern zur Schule ging. Ich hatte ihm Geschichten vorgelesen und sichergestellt, dass er sich die Zähne putzt – eben alles, was ich sonst auch mit meinen Kindern tat. Dennoch hatte ich mich gefragt, ob er mir jemals signalisieren würde, dass er sich sicher genug fühlte, mich nicht nur als seine Betreuungsperson oder einen Ersatz zu akzeptieren, sondern als die zweite Mutter, die Gott für ihn ausgewählt hatte, nachdem die einzige Mutter, die er je gekannt hatte, ihn verlassen musste, weil sie starb. Würde er je sein Herz für mich öffnen, so verletzt wie er war? Als ich mit weichen Knien und der eingetopften Petunie in den Händen dastand, wusste ich, dass Wesley mir genau das gerade geschenkt hatte.

»Sie gefällt mir«, sagte ich und meinte es ernster, als er sich denken konnte. »Und ich bin mir sicher, deiner Mama gefällt sie auch.« Ich schluckte meine Tränen hinunter, umarmte ihn fest und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Er roch nach Shampoo und frischer Landluft.

»Wo sollen wir sie hinstellen?« Sein Blick schweifte durch den Raum.

»Wie wäre es auf der Fensterbank über dem Spülbecken?« Ich drehte mich um und stellte die Petunie dort in einen goldenen Flecken Sonnenlicht. »So kann jeder sie sehen.«

Meine anderen Kinder stürmten in die Küche und zusammen mit Wesley aßen sie warme Kekse und tranken Milch. Während sie lachten und quatschten, spaßten und kicherten, lehnte ich mich gegen die Ablage und sog jede Sekunde auf, um sie als schöne Erinnerung zu bewahren. Das ist eine der Lektionen, die ich auf dieser unerwarteten Reise gelernt habe.

Es sind die unscheinbaren Momente und Zeiten mit der Familie, an die man sein Herz hängen sollte. Wenn man sich zu sehr in Schnelllebigkeit und belanglosen Dingen verheddert, kann man diese Momente allzu leicht verpassen. Ich dachte daran, dass ich Wesleys Mutter, meiner guten Freundin Trish, versprochen hatte, ihre außergewöhnliche Geschichte zu erzählen.

Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit gewesen, dass ich aufgrund einer kurzen Begegnung in einem Krankenzimmer so viel lernen würde? Wer hätte gedacht, dass eine fremde Person in mein Leben treten und ich als Mutter, Krankenschwester, Ehefrau und Persönlichkeit nie wieder dieselbe sein würde? Wie hoch stehen die Chancen, dass ein einziges »Hallo« Trish und mich als Freundinnen zusammenschweißen und meine Familie für immer verändern würde? Zufall? – Ich glaube nicht. Und hier beginnt die Geschichte.

1. Zimmer 173

Die Vorhänge waren zugezogen, um die störenden Strahlen der Nachmittagssonne nicht in das Zimmer zu lassen, in dem meine Patientin schlief. Ihr dunkles, glattes Haar war zerzaust und lag ausgebreitet auf dem gestärkten weißen Kissenbezug. Ihr Kopf war etwas zur Seite gesackt und die Brille von ihrer Nase gerutscht. Sie besaß zarte Gesichtszüge, hatte schmale Lippen und ein kleines, spitzes Kinn. Ihre spindeldürren Arme lagen ausgestreckt neben dem Körper. Infusionsnadeln steckten in beiden Armbeugen. Die zuständige Krankenschwester klärte mich über den Zustand der Patientin auf, bevor ich die nächste Schicht übernahm.

Die Frau war gerade aus dem OP gekommen, in dem die Ärzte eine Bauchspiegelung vorgenommen und Gewebe aus ihrer Magenwand entnommen hatten, weil ihre Schmerzen nicht nachließen. Nach der Operation maß man ihr Puls und Blutdruck. Ihr Zustand war stabil. Sachte berührte ich sie an der Wange, um sie aufzuwecken. Es war eine sehr bereichernde Aufgabe meiner zwanzigjährigen Laufbahn als Krankenschwester, unter den ersten ermunternden Stimmen zu sein, die ein Patient hörte, wenn sich der Nebel lichtete und der Patient aus der Narkose erwachte. Ich füllte ihre Wasserkanne und strich die Decke glatt. Dann überflog ich ihre Krankenakte. Sie würde bald zu sich kommen. Ich konnte nur warten.

»Tricia Somers«, las ich leise, als ich ihren Namen auf dem Schild sah. Es traf mich, weil ich Tricia Seaman heiße – wir hatten denselben Vornamen, gleich geschrieben, und wir hatten dieselben Initialen, T. S.

»Wenn das mal kein Zufall ist.«

Ich las weiter in ihrer Krankenakte, wobei mir eines sofort auffiel: Sie war alleinerziehende Mutter eines achtjährigen Sohnes und lebte in Harrisburg, Pennsylvania. Ich fühlte von Herzen mit ihr, weil ich selbst einen zehnjährigen Sohn und drei Töchter im Teenageralter habe. Ich bin gesegnet mit Dan, dem besten Ehemann und Vater für meine Kinder, den man sich nur wünschen kann. Diese junge Frau musste ihr Kind allein großziehen.

In der Akte war ebenfalls vermerkt, dass sie keine Familienangehörigen in der Region hatte.

Noch verstörender für mich war, dass an ihrem Krankenbett niemand darauf wartete, dass sie aufwachte. Außerdem stand in der Akte, dass bei ihr erst vor wenigen Monaten eine sehr seltene Art von Leberkrebs diagnostiziert worden war. Nun lag sie wieder in einem Bett im Community General Hospital, einem Krankenhaus von PinnacleHealth. Man wollte herausfinden, warum sie weiterhin starke Magenschmerzen hatte, obwohl den ersten Ergebnissen zufolge der Tumor von der Leber entfernt worden war.

»Das arme Mädchen«, flüsterte ich, während ich sie so betrachtete.

Sie murmelte etwas, das nicht zu verstehen war, und rollte ihren Kopf nach rechts.

Die Narkose ließ nach. Ich ging hinüber zu der Tafel, die neben ihrem Bett an der Wand angebracht war, und schrieb in großen, gewundenen Buchstaben meinen Namen darauf, sodass sie ihn leicht lesen konnte. Als ich mich wieder umdrehte, kämpfte sie gerade damit, ihre Augen offen zu halten. Sie sah mich an, musterte mich von Kopf bis Fuß und blinzelte dabei müde, weil ihre Sicht immer noch verschwommen war.

»Hallo«, sagte ich. »Wie geht es Ihnen? Ich heiße Tricia und bin heute Ihre Krankenschwester. Es wird ganz leicht für mich sein, mir Ihren Namen zu merken, weil Sie genauso heißen wie ich und auch so geschrieben werden.«

Sie löste ihre Zunge vom Gaumen und formte umständlich einige Worte: »Oh, das ist doch praktisch, nicht wahr?«, sagte sie und blickte verschlafen auf die Tafel.

Ich ging zu den Geräten rechts und links von ihrem Bett und überprüfte die Einstellungen.

Ihr Beistelltisch war voller Zeichnungen und Bastelarbeiten eines Kindes. Wieder erfasste diese Schwere mein Herz. So viele Fragen gingen mir durch den Kopf. Wer kümmerte sich denn um ihr Kind, wo sie doch laut ihrer Krankenakte keine Angehörigen in der Nähe hatte? Wahrscheinlich waren ihre einzigen Kontakte engere Freunde. Kein Vater für den Jungen. Keine Eltern, die sie versorgen konnten. Es kam nur selten vor, dass ich einen Patienten in der Onkologie hatte, dem niemand Luftballons mit der Aufschrift »Gute Besserung« vorbeibrachte. Normalerweise waren die Patienten von Familie, Freunden und viel Liebe umgeben. Zumindest einer war immer da, um sie zu unterstützen und ihre Hand zu halten. Diese Frau hingegen war wie eine Insel in einem Meer von Problemen. Ich konnte nur innerlich beten, dass ihre Gewebeprobe unauffällig sein würde.

Ich kam näher und betrachtete die Zeichnungen etwas eingehender. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie schwer es für sie sein musste, von ihrem Sohn getrennt zu sein. Als ob sie meine Gedanken lesen könne, öffnete sie die Augen. Ich bin mir sicher, dass sie darum kämpfte, so schnell wie möglich zu ihrem Sohn zurückzukehren.

»Sie können mich Trish nennen«, sagte sie und nahm den Faden genau da wieder auf, wo unser Gespräch geendet hatte. »Alle nennen mich so.« Ihre Augen suchten mühsam den Weg durch die Brillengläser. Sie räusperte sich und schluckte.

»Trish also. Das ist gut. Wie geht es Ihnen denn?«

»Ich bin noch am Aufwachen.«

»Ist denn der Eingriff gut verlaufen?«

Sie wollte nicken. Doch dann überlegte sie es sich anders. Zu viel, zu früh.

»Gut, denke ich. Die Ärzte haben alles gesehen, was nötig war.«

»Haben Sie Schmerzen?« Ich rückte ihr Kissen zurecht, sodass sie ein bisschen höher lag.

Sie schloss ihre Augen wieder, blieb aber wach.

»Ich bin einfach so müde. Sehr, sehr müde.«

»Ja, Sie haben einen harten Tag hinter sich. Bestimmt brauchen Sie einfach ein bisschen Ruhe.«

Langsam öffnete sie ihre schweren Lider und sah mir ins Gesicht. Ich lächelte sie an, wohl wissend, dass mein Lächeln in dem Durcheinander ihrer Gefühle vermutlich keinen Eindruck hinterlassen würde.

»Ich hoffe nur, dass die Ärzte herausfinden können, was los ist«, sagte sie. »Ich brauche Antworten auf meine Fragen.«

Wieder schaute ich auf die Zeichnungen. Es war nicht meine Aufgabe, mehr zu tun, als den Zustand der Patienten zu beobachten und die notwendige Versorgung zu gewährleisten.

Ich betreue viele Patienten. Doch irgendetwas traf mein Herz in dem Moment, als ich Trish kennenlernte. Vielleicht geschah das, weil mein Sohn Noah in einem ähnlichen Alter war wie ihr Sohn und auch so gern Bilder für mich malte. Ich wollte mehr erfahren. Etwas in mir wollte unbedingt ihre Geschichte hören. Ich überprüfte ihre Infusion und fragte beiläufig: »Also, wenn es Ihnen nichts ausmacht, darüber zu sprechen: Wie sind Sie hier gelandet? Welchen Weg haben Sie hinter sich?«

Ich war mir nicht sicher, ob ich eine Grenze überschritten hatte. Plötzlich stand eine Mauer des Schweigens zwischen uns. Doch dann öffnete Trish ihre Augen vollständig. Es war, als ob sich der Nebel gelichtet hätte und sie mich jetzt zum ersten Mal richtig sehen würde.

Sie rückte ihre Brille nach oben, sah die Infusionsnadeln in ihrer Armbeuge und zuckte zusammen. Ich konnte den Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht deuten, sah jedoch die Verzweiflung in ihren Augen. Sie wollte darüber sprechen, so viel war sicher.

Trish erzählte mir, dass sie einen Berner Sennenhund namens Molly besaß, auf den jetzt eine Mitarbeiterin des Krankenhauses aufpasste. Trish war jeden Tag mit Molly Gassi gegangen und hatte sich gesund ernährt, um bei Kräften zu bleiben. Zunächst ging es ihr gut. Als sie dann immer mehr an Gewicht verlor, schrieb sie das der vielen Bewegung zu. Im Herbst bekam sie dann quälende Bauchschmerzen. Anfangs versuchte sie, diese zu ignorieren, doch sie wurden mit der Zeit immer schlimmer. Ihr Hausarzt machte einige Bluttests, fand jedoch nichts Ungewöhnliches. Die Schmerzen nahmen weiterhin zu. Irgendwann konnte sie nur noch mit Mühe aufrecht sitzen.

Trish erklärte mir: »Ich habe im Kundendienst gearbeitet, den ganzen Tag mit Kunden telefoniert, Probleme besprochen und so weiter und so fort. Der Schmerz wurde so stark, dass ich am Schreibtisch die eine Hand auf die Tastatur legen und die andere auf meinen Bauch pressen musste. Lange Zeit versuchte ich, meinen Job zu behalten, um Miete und Rechnungen zu bezahlen. Doch am Ende blieb mir keine Wahl mehr und ich musste meine Arbeit kündigen.« Außerdem erzählte mir Trish, dass sie im Oktober 2013 in die Notaufnahme gekommen war. Die Ärzte hatten sich für eine Computertomografie entschieden, die einen Tumor auf ihrer Leber zeigte. Anschließend führten die Ärzte eine Biopsie durch.

Die Ergebnisse der Gewebeentnahme zeigten, dass Trish eine seltene Art von Krebs hatte.

Die Ärzte glaubten zunächst, sie hätten den Krebs im Griff und er habe nicht gestreut und somit weiteres Gewebe angegriffen. Man glaubte nicht einmal, dass der Krebs der Grund für all ihre Schmerzen war. Nach Meinung der Ärzte würde der betroffene Bereich ihrer Leber gar nicht derartige Symptome hervorrufen.

»Aber ich wusste, dass etwas nicht stimmte«, teilte mir Trish mit und schüttelte dabei den Kopf. »Schließlich konnte ich nicht arbeiten. Ich konnte nicht aufrecht sitzen. Ich konnte nicht einmal mehr richtig stehen. Es war nicht auszuhalten. Aber ich hoffe inständig, dass sich jetzt endlich zeigen wird, woran es liegt.«

»Wer passt auf Ihren Sohn auf?«, fragte ich Trish. Ich stand neben dem Tisch und bewunderte eine der Buntstiftzeichnungen ihres Sohnes mit einem Herzen und dem Wort »MAMA« darauf. Trish antwortete: »Ich habe eine Nachbarin, die auf ihn aufpasst, und noch ein paar gute Freundinnen, mit denen ich zusammengearbeitet habe. Sie wechseln sich ab, weil man von niemandem erwarten kann, sich allein um ihn zu kümmern. Er ist sehr lebhaft, wissen Sie.« Ich wollte eine Bemerkung machen, wie sehr sie ihn vermissen müsse, aber ehe ich die Worte gefunden hatte, holte sie schon ihr Handy hervor und suchte nach Bildern von ihm.

»Er heißt Wesley«, sagte sie lächelnd. Mir fiel auf, wie viel besser sie aussah, wenn sie von ihm sprach. »Er ist acht Jahre alt und in der zweiten Klasse. Schauen Sie, das ist er. Da sind wir gerade am Herumblödeln. Ich liebe sein Lachen. Ist das Foto nicht schön? Als ich das letzte Mal im Krankenhaus war, habe ich ihm Nachrichten auf Zettel geschrieben. Ich musste einfach mit ihm sprechen, aber er war nicht da. Deshalb habe ich meine Gefühle einfach aufgeschrieben. Das beruhigt mich, selbst wenn er diese Nachrichten nie lesen wird.«

Die Fotos von Trishs Sohn ließen mich dahinschmelzen. Er war offensichtlich ein kleiner Charmeur. Ich genoss die Tatsache, dass Trish sich mir mitteilte. Es war, als würde sie mir die Tür zu ihrem Herzen öffnen, mich hineinbitten und dort verweilen lassen. Und ich wollte dort verweilen. Noch nie zuvor hatte ich so etwas empfunden. Natürlich fühlte ich mit allen meinen Patienten. Ich sprach gern mit ihnen, versuchte sie zum Lachen zu bringen, lernte ihre Familien kennen … Doch das war etwas anderes. Was genau es war, wusste ich nicht.

Es übertraf alles, was ich je erlebt hatte. Eigentlich war mein Gefühl gar nicht so außergewöhnlich. Letztendlich war es einfach menschlich, Sympathie zu empfinden.

Trish schien weitgehend mittellos zu sein und kämpfte allein gegen ihre Krankheit an.

Es musste beängstigend sein, in diesem Bett zu liegen, allein und ohne zu wissen, was passieren würde. Trish hatte bereits eine Krebsdiagnose hinter sich und solche Schmerzen, dass sie sich über ihren kritischen Zustand im Klaren sein musste. Warum nur fühlte ich mich ihr so verbunden? Warum wollte ich dieses Gefühl identifizieren und benennen können?

Trish war nun ganz wach und schien reden zu wollen. Und ich hatte alle Zeit der Welt, ihr zuzuhören. Sie erzählte mir ein bisschen aus ihrer Vergangenheit und ihrem Privatleben. Wesleys Vater war auf und davon, ihre Eltern starben beide an Krebs, sie und ihr Bruder sprachen nicht viel miteinander. Es war kein leichtes erstes Gespräch, besonders für jemanden, der gerade eine Operation hinter sich hatte, aber Trish entwichen die Worte wie Luft aus einem Ballon. Sie schien sie endlich herauslassen zu müssen. Jedes Wort kam mit solch einer Dringlichkeit. Dann fragte sie mich nach meiner Familie und ich erzählte ihr kurz von Dan und den Kindern. Beinahe fühlte ich mich schuldig, das zu haben, wonach sie sich höchstwahrscheinlich verzweifelt sehnte. Ich erzählte ihr auch, dass sich meine Eltern ein paar Jahre zuvor hatten scheiden lassen und dass meine Mutter nur ein paar Blocks von uns entfernt in dem Haus wohnte, in dem ich aufgewachsen war.

Fast eine Stunde verging und ich musste weiter zu meinen anderen Patienten. Doch Trish ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich musste immerzu an sie denken. Ihre Worte klangen in mir nach. Die Bilder von Wesley verfolgten mich lange Zeit und legten sich über die lachenden Gesichter meiner eigenen Kinder.

2. Die Bitte

Nach jenem Abend richtete ich es so ein, dass ich immer, wenn ich Dienst hatte, bei Trish vorbeischauen konnte. Ich war nicht mehr die diensthabende Krankenschwester, sondern wollte ihr eine Freundin sein und dafür sorgen, dass sie alles hatte, was sie brauchte. Manchmal traf ich ihre Arbeitskollegen oder Nachbarn an, die sie besuchten. Es tat gut, sie mit Menschen zu sehen, die sich um sie sorgten. Sie schienen sogar zu wissen, wer ich war, als hätte Trish ihnen von mir erzählt. An anderen Tagen war sie allein. Doch wenn sie Besuch von Wesley gehabt hatte, strahlte sie übers ganze Gesicht. Die Tage vergingen und Trish schien sich besser zu fühlen. Die Schmerzen hatten nachgelassen.

Nachdem Trish drei Wochen im Krankenhaus verbracht hatte, sah ich ihre Zimmernummer auf der Anzeige aufleuchten. Diese gab bekannt, dass sie an jenem Tag entlassen werden würde. Ich wusste nichts über ihren Zustand oder die Testergebnisse. Ich hatte für sie und Wesley gebetet und wollte unbedingt nach ihr sehen, aber mein Dienstplan war voll und im Krankenhaus herrschte besonders reger Betrieb. Es war später Nachmittag, als ich Zimmer Nummer 173 erreichte. Ich klopfte an und steckte meinen Kopf zur Tür hinein. Im Zimmer saß Trish mit einer Sozialarbeiterin. Es schien, als wäre das bewölkte Aprilwetter jener Tage in den Raum gekrochen und habe ihn in graue Farbe getaucht. Eine Schwere lag in der Luft. Irgendetwas stimmte nicht. Normalerweise ertönte Trishs freudige Stimme, wenn sie mich sah. Sogar wenn sie Schmerzen hatte, begrüßte sie mich mit einem: »Hallo, wie geht’s dir?« oder »Du siehst gut aus heute!« Nun saß sie mit versteinerter Miene auf einem Stuhl neben dem Krankenbett. Die Sozialarbeiterin saß auf der Bettkante und erklärte etwas über Dienstleistungen und den Transport zu Behandlungen.

»Entschuldige die Störung«, stammelte ich. »Ich wusste nicht, dass jemand bei dir ist. Ich hatte nur gesehen, dass du entlassen wirst, und wollte auf Wiedersehen sagen.«

Sie winkte mich herein. »Nein, ich bin froh, dass du da bist. Komm rein. Die Testergebnisse sind gekommen.« Schritt für Schritt bewegte ich mich vorwärts, in meinem Kopf eine irre Mischung aus Hoffnung und Angst.

»Was ist herausgekommen? Was haben die Ärzte dir gesagt?«, fragte ich.

»Es sieht nicht gut aus. Der Krebs hat gestreut. Die Ärzte haben gesagt, ich befinde mich im Endstadium.« Die Sozialarbeiterin saß zwischen ihren Formularen und starrte zunächst mich und danach ihre Dokumente an.

»O Trish«, ich rang nach Luft, während sie sich aus ihrem Stuhl erhob. Ich ging zu ihr und umarmte sie. Sie hielt kurz inne. Dann machte sie einen Schritt zurück und ihr Blick durchbohrte mich. Es gab keine Tränen. Keine Panik. Sie war sehr gefasst. Doch ein Funke in ihren Augen verriet mir unmissverständlich, dass sich hier gleich noch etwas anderes Bahn brechen würde.

»Ich bin froh, dass du hergekommen bist, weil ich dich etwas fragen muss.«

Noch immer hielt ich ihre Hand. Sie war kühl im Vergleich zu meinen verschwitzten Handflächen.

»In Ordnung, worum geht’s?« Trish atmete tief durch und sah mir direkt in die Augen.

»Wenn ich sterbe, werden du und dein Mann meinen Sohn aufziehen?«

Beinahe hätten meine Knie nachgegeben. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Trish war im Grunde genommen eine Fremde. Doch ich fühlte auch ein Drängen in meinem Herzen, Ja zu sagen. Aber das war doch verrückt, oder? Trish wartete auf meine Antwort.

»Meine Güte«, stammelte ich schließlich. »Das geht alles sehr schnell. Du hast gerade ein paar furchtbare Nachrichten erhalten. Ich denke, es wäre ratsam, sich etwas Zeit zu nehmen und in Ruhe darüber nachzudenken. Du solltest deinen Anwalt fragen, welche Möglichkeiten es gibt. Triff im Moment noch keine Entscheidungen. Ich fühle mich geehrt, aber …«

Vergebens versuchte ich, die richtigen Worte für diese Situation zu finden. Wir waren Fremde. Sie kannte mich kaum. Es war gerade einmal drei Wochen her, dass wir uns zum ersten Mal begegnet waren. Und selbst in dieser Zeit hatten wir uns nur wenige Male unterhalten. Sie wusste nicht, wo ich zu Hause war, und kannte meine Familie nicht. Sie hatte keine Ahnung von unserer finanziellen Situation. Sie wusste nicht einmal, ob ich eine miserable Köchin war oder sich meine Kinder womöglich wie kleine Biester benahmen.

Sie konnte nicht davon ausgehen, dass ich eine stabile Ehe führte, und hatte keinen blassen Schimmer, wie Dan als Vater war. Wie kann man sein Kind jemandem anvertrauen, den man kaum kennt, und es von Fremden erziehen lassen? Während Panik in mir aufstieg, verzog Trish keine Miene. Sie schien mit ihrer unkonventionellen Bitte vollkommen im Reinen zu sein. Die Sozialarbeiterin saß mit einem erstaunten Gesichtsausdruck auf der Bettkante, sehr still, die Kinnlade leicht heruntergeklappt, und wartete gespannt darauf, welche Antwort ich Trish wohl geben würde. Ich wollte sie nach ihrer professionellen Meinung fragen, fand jedoch keine Worte. Die Luft wurde immer dicker. Ich musste hier raus. Ich brauchte Raum zum Atmen. Ich umarmte Trish zum Abschied und sagte ihr, dass ich für sie beten würde.

Eine gewisse Erleichterung machte sich in mir breit, als ich das Zimmer verließ und sich die Tür hinter mir schloss. Wir hatten nie unsere Telefonnummern ausgetauscht. Trish hatte demzufolge keine Möglichkeit, nach ihrer Entlassung mit mir Kontakt aufzunehmen.

Außerdem war es gegen die Regeln des Krankenhauses, in den Patientenakten nach Daten zu suchen. Als ich Trish verließ, glaubte ich ernsthaft, ich würde sie nie wiedersehen. Kaum hatte ich ihr Zimmer verlassen, ließ ich mich gegen die Wand im Krankenhausgang fallen und genoss das Gefühl, etwas Kühles, Stabiles zum Anlehnen zu haben. Ich atmete tief durch, um mein rasendes Herz zu beruhigen und Ordnung in mein Gedankenchaos zu bringen. Was war geschehen? Als ich endlich wieder Halt unter den Füßen hatte und den Gang entlangging, um die nächsten drei Stunden meiner Schicht hinter mich zu bringen, merkte ich, dass mir Trishs Worte folgten wie ein Schatten, den ich nicht abschütteln konnte. Wenn ich sterbe, werden du und dein Mann meinen Sohn aufziehen? Und mit der Frage stieg ein Bild in mir auf: ein achtjähriger Junge mit einem süßen Lächeln, der noch nicht ahnte, dass die einzige Person, die ihn auf dieser Welt lieben und beschützen konnte, nicht mehr lange bei ihm sein würde.

3. Babyfieber

Der Gesichtsausdruck meines Mannes war undurchdringlich. Mit Mühe hielt ich mich auf meinem Stuhl, als wir uns an der Kücheninsel mit gedämpfter Stimme unterhielten.

»Dan, ich finde, das ist unglaublich, oder nicht? Sie kennt uns nicht einmal. Wie kann sie wollen, dass wir ihren kleinen Jungen aufziehen?«

Die Kinder waren ein Stockwerk über uns auf dem Weg ins Bett. Aus dem Nebenzimmer drang ein Werbespot in unsere vorübergehende Sprachlosigkeit. Jemand musste den Fernseher angelassen haben. Dan lehnte sich auf seinem Stuhl neben mir zurück und grübelte vor sich hin. Er war ruhig wie immer. Ich biss mir auf die Unterlippe, um mich vom Weiterreden abzuhalten. Jetzt war er an der Reihe.

»Ich denke, wir sollten einen Schritt nach dem anderen machen«, sagte er. Er verschränkte die Arme vor der Brust und dachte nach. »Nach dem, was du mir über sie erzählt hast, dass sie keine Familie und andere Möglichkeiten hat, könnten wir erst einmal in Erfahrung bringen, was sie im Augenblick braucht. Ich meine zum Beispiel Einkäufe oder Medikamente.«

»Natürlich«, antwortete ich. Das klang vernünftig. Ein guter nächster Schritt.

»Das ist sicher etwas, das wir tun können.«

Dan sagte: »Offensichtlich hat sie jetzt ganz schön was durchgemacht. Gib ihr einfach etwas Zeit, die schlimme Nachricht von heute zu verarbeiten. Wir beten für sie und ihren Sohn und sehen, wohin die Reise führt.«

»Wohin zum Beispiel? Wohin könnte sie führen?« Nervös drehte ich an meinem Ehering.

Immer schon habe ich in Dans Augen nach Antworten gesucht. Sie waren normalerweise haselnussbraun, aber wenn er Blau trug, erinnerten sie an einen klaren Sommerhimmel.

Trug er Grün, verwandelten sie sich in Jadesteine. Seine Augen gehörten zu den ersten Dingen, die mich an ihm faszinierten. Als er sich nun in seinen Gedanken verlor, sah ich weit mehr als Farbe darin. Sie waren getrübte Teiche voller Mitleid auf der Suche nach einer Lösung. Ich spiegelte mich darin.

»Ich weiß es wirklich nicht, Tricia«, gab er zu. »Ich denke, wir müssen Gott in dieser Sache vertrauen und sehen, was er vorhat.«

»Du sprichst gerade über die Adoption, nehme ich an?« Er hielt inne und nickte.

»Es könnte Gottes Weg sein, uns auf diese Weise einen kleinen Jungen zu geben, als Ersatz für den Jungen, der uns aus dem Pflegeheim vermittelt werden sollte. Vielleicht ist beim letzten Mal die Wahl deshalb nicht auf uns gefallen, weil es ein anderes Kind gibt, das uns dringender braucht.«

Ich starrte auf die gesprenkelte Arbeitsplatte vor mir und hielt meine ungefilterten Emotionen in Schach. So viele alte Bilder und Erinnerungen wallten in mir auf. Dan und ich waren uns vor vielen Jahren begegnet. Wir besuchten damals dieselbe Gemeinde. Anfangs war ich nicht in ihn verliebt. Eigentlich habe ich sogar mehr mit Dans Zwillingsbruder David gesprochen als mit Dan, einfach, weil David kontaktfreudiger zu sein schien. Als Dan aufs College ging, verloren wir uns für einige Jahre aus den Augen. Ich beendete meine Zeit an der Highschool, ging aufs College und strebte einen Abschluss in der Krankenpflege an. Im Sommer vor meinem Abschluss half ich in der Bibelschule unserer Gemeinde aus. Eines Abends betrat ich die Küche, in der die Frauen damit beschäftigt waren, Snacks vorzubereiten. Viele von ihnen kannten mich fast mein ganzes Leben lang, bereits seit der Zeit, als ich noch Zöpfe und Zahnspange trug. Sie fragten, wie es mir ging, wie es auf dem College lief und natürlich, ob es einen Mann in meinem Leben gab. Ich seufzte.

»Alle guten christlichen Männer sind schon vergeben«, erwiderte ich. »Ich werde wahrscheinlich im Kloster landen.«

Die Frauen umarmten mich und versicherten mir, dass die Liebe oft dann kommt, wenn man sie am wenigsten erwartet. Ich nahm es mir nicht sehr zu Herzen. Ich dachte, ich würde später sowieso mit meinem Pflegeberuf verheiratet sein und damit basta.

Am nächsten Abend in der Gemeinde huschte ich gerade die Treppe hinauf, als Dan sie hinunterkam. Wir blieben beide abrupt stehen. Als wir unsere Fassung wiedererlangt hatten, tauschten wir Nettigkeiten aus, wobei ich versuchte, ihn nicht anzustarren. Mir gefiel, wie seine Augen funkelten, und seinem Lächeln konnte ich kaum widerstehen. Aus Dan Seaman, dem schüchternen Jungen, war nun ein Mann geworden – und ein sehr gut aussehender noch dazu! Er trug eine kurze Hose und dazu ein lässiges weißes Hemd, hatte blondes Haar, war rasiert, sonnengebräunt und sein Parfum roch nach Moschus. Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, rot anzulaufen. Mir wurde bewusst, dass unser letztes Gespräch drei Jahre zurücklag. Hoffentlich fiel ihm auf, dass auch ich etwas reifer geworden war.

Unsere zufällige Begegnung im Treppenhaus entwickelte sich zu einer wunderbaren Beziehung. Es war so leicht, mit ihm zu sprechen. Er war einfühlsam, locker und authentisch. Mir gefiel, wie sich sein Gesicht aufhellte, wenn er über Familie und seinen Glauben an Gott sprach. Noch nie hatte ich mich bei jemandem so wohlgefühlt.

Entsprechend leicht fiel es mir, Ja zu sagen, als er mir am Weihnachtsabend 1993 unter einer gedeckten Brücke bei leichtem Schneefall einen Heiratsantrag machte. Wir heirateten im darauffolgenden November. Dan war so aufgeregt, dass er sich beim Rasieren in den Hals schnitt, was einen Blutfleck auf seinem weißen Hemdkragen hinterließ, und später fuhr er beim Zurückstoßen gegen die Mülleimer hinter der Gemeinde. Unsere Hochzeit im Kreis von Familie und guten Freunden hätten wir uns nicht schöner ausmalen können.

Nach unseren Flitterwochen auf den Bahamas bezogen wir eine gemütliche Wohnung in Middletown bei Harrisburg. Ich schloss mein Studium mit dem Bachelor an der Millersville-Universität ab und Dan begann seinen Berufsweg bei Highmark Blue Shield, einer Krankenversicherungsgesellschaft. Während ich meine restlichen Kurse absolvierte, arbeitete ich gleichzeitig in Teilzeit im Lancaster-Krankenhaus. Dan und ich genossen es, ein kleines Reich unser Zuhause nennen zu dürfen, in dessen Nähe sich lauter Restaurants und Geschäfte befanden. Schnell merkte ich, dass Dan auch ein Händchen für Dekoration hatte. Und das war nur eine seiner vielen Stärken, für die ich ihn liebte.

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Im Oktober 1995 wurde unsere Ehe zum ersten Mal auf eine harte Probe gestellt. Meine Großmutter Anna verstarb ganz plötzlich. Sie war erst Anfang sechzig. Ich war am Boden zerstört. Wir hatten uns sehr nahegestanden. Die Vorstellung, sie nie wiederzusehen, zerriss mir das Herz. Ich stützte mich auf Dan wie nie zuvor und er war mein Fels in der Brandung, genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Der Verlust traf mich dennoch hart und in mir kam der Wunsch auf, Middletown zu verlassen und wieder aufs Land zu ziehen. Ich wollte nicht länger von Gebäuden, Verkehr und Geschäftigkeit umgeben sein. In meiner Trauer sehnte ich mich nach Einfachheit, der Nähe meiner Familie und nach unendlich weiter Landschaft.

Dan und ich machten uns auf den Weg. Alles war perfekt, bis auf eines: Wir waren jetzt so weit, selbst eine Familie gründen zu können.