Über das Buch:
Das Leben von Carmen Hart scheint perfekt: Sie ist die beliebteste Wetterfee seit Bestehen ihres Fernsehsenders, verheiratet mit einem Traummann, lebt in einem Traumhaus. Zum vollkommenen Glück fehlt ihr nur noch das Baby, von dem sie schon so lange träumt. Doch ein unbeherrschter Moment droht ihr alles zu nehmen, was sie sich mühevoll aufgebaut hat. Als Carmen sich in das alte Motel flüchtet, das seit Generationen im Besitz ihrer Familie ist, stößt sie dort zu ihrer Überraschung auf ihre Halbschwester. Carmen bleibt keine andere Wahl, als die 17-Jährige bei sich aufzunehmen. Gemeinsam renovieren sie das alte Motel.
Doch lassen sich zerbrochene Beziehungen genauso leicht reparieren wie zerbrochene Fenster? Und haben lang vergessene Träume tatsächlich die Macht, die Gegenwart zu ändern?

Über die Autorin:
Katie Ganshert war Lehrerin, bis ihr der Durchbruch als Romanautorin gelang. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Für „Das Motel der vergessenen Träume“ bekam sie in den USA einen Preis für den besten zeitgenössischen christlichen Roman des Jahres verliehen.

Kapitel 5

Carmen

Ich konnte das Lenkrad nicht loslassen. Ich konnte nur mit großen Augen, trockenem Mund und zitternden Händen auf das umgeknickte Schild unter meiner Stoßstange starren.

Eine Mutter ging mit ihrem Kind an meinem Auto vorbei. Ich spürte, wie die Frau mich durch die Windschutzscheibe anstarrte. Während ich auf meinem Sitz nach unten rutschte, wünschte ich, ich hätte Mandy Thoms Baseballkappe auf. Nachdem die beiden vorbeigegangen waren, wagte ich einen vorsichtigen Blick. Der kleine Junge sah mich über die Schulter hinweg an, während seine Mutter ihn in das Geschäft zerrte, fort von der verrückten Frau am Lenkrad.

Ich setzte zurück, sodass mein Wagen nicht mehr über dem Schild stand, und erwog einen kurzen Augenblick lang, einfach wegzufahren. Der Parkplatz war fast menschenleer. Ich könnte abhauen. Aber selbst wenn mein Gewissen es zugelassen hätte, versetzten die Überwachungskameras über mir diesem Plan den Todesstoß. Sie hatten meinen Kampf mit dem Schild garantiert aufgenommen und höchstwahrscheinlich auch mein Nummernschild. Es gab kein Entrinnen. Ich würde hineingehen und ein Geständnis ablegen müssen.

Während ich auf das Geschäft starrte und über die Folgen dessen nachdachte, was ich gerade getan hatte, hörte ich über mir gelegentlich einen Flugzeugmotor. Ein Adoptionsprozess drang tief in die Privatsphäre ein. Im Laufe der vergangenen Monate hatte man unser gesamtes Leben wie Wasser durch ein Sieb laufen lassen, nur um sicherzustellen, dass Ben und ich zum Elternsein geeignet waren. Wenn der Inhaber des Ladens beschloss, Anzeige zu erstatten, hätte ich einen Eintrag im polizeilichen Führungszeugnis. Und was dann?

Ich legte die Stirn aufs Lenkrad und schüttelte den Kopf – hin und her, hin und her –, bis jemand an mein Fenster klopfte.

Ein Mann mit kantigem Kinn und silbernen Haaren blickte durch die Scheibe auf mich herunter. Seiner Kleidung nach zu urteilen, war er der Geschäftsführer. Ich stieg aus in die drückende Hitze, während mir das Herz bis zum Hals schlug.

„Ma’am, ist alles in Ordnung?“ Er lehnte sich ein wenig zurück, um sich meine Stoßstange und das Schild genauer anzusehen. Als er seine Aufmerksamkeit wieder mir zuwandte, wandelte sich seine gerunzelte Stirn zu einer überraschten Miene. „Also, das ist doch … Sie sind Carmen Hart von den Nachrichten auf Channel 3! Sie würde ich überall erkennen.“

Ich schluckte, unsicher, was ich sagen sollte. Ich wusste, wie ich normalerweise reagierte. Ein breites Lächeln, ein freundlicher Handschlag, gefolgt von etwas Small Talk übers Wetter. Aber das hier war keine normale Situation.

„Sie sind meine Lieblingswetterfee seit Stacy Pine damals in den Achtzigern. Sie wissen es zwar nicht, aber Sie frühstücken jeden Wochentag mit meiner Frau und mir.“

Der Geschäftsführer war ein Fan. Ich hätte vor Erleichterung in Ohnmacht fallen können. Stattdessen lehnte ich mich ein wenig vor und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. „Nur damit Sie es für die Zukunft wissen: Ich trinke meinen Kaffee mit Sahne.“

Er lachte und streckte die Hand aus. „Dale Benson.“

„Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Mr Benson“, sagte ich und gab ihm die Hand.

„Das Vergnügen ist ganz meinerseits, Mrs Hart, daran besteht kein Zweifel.“ Und dann betrachtete er wieder das Schild, so als wäre ihm gerade der Grund für unsere Begegnung eingefallen. „Wenn ich fragen darf, Mrs Hart, wie genau ist das eigentlich passiert?“

„Ich, äh …“ Ein nervöses Lachen stieg in meiner Kehle auf. Ich was? Dale mochte ein Fan sein, aber was, wenn das nach hinten losging? Was, wenn er seiner Frau heute Abend von unserer Begegnung erzählte und sie beschloss, eine Schilderung des merkwürdigen Vorfalls auf Facebook zu posten? Ich repräsentierte nicht nur mich; ich repräsentierte den gesamten Nachrichtensender. Ich war eine Person des öffentlichen Lebens und Personen des öffentlichen Lebens machten keine Fehler, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. „Die Sache tut mir wirklich unglaublich leid. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie das passiert ist, aber natürlich stelle ich Ihnen einen Scheck aus, der den ganzen Schaden abdeckt.“

Dale kratzte sich an der Schläfe.

Ich hielt die Luft an und bat Gott um etwas Gnade. Ein wenig Nachsicht.

Er hakte die Daumen in den Bund seiner Hose. „Eigentlich sehe ich keinen Grund, warum wir wegen eines Parkschilds die Polizei einschalten sollten. Oder warum Sie für etwas zahlen sollten, wo wir doch noch mehr von den Dingern im Lager haben. Ich finde, das Wichtigste ist, dass niemand verletzt wurde. Sie sind doch nicht verletzt, oder?“

„Nein, ich bin nicht verletzt. Sind Sie sich sicher, dass ich keinen Scheck ausstellen soll?“

„Wie wäre es hiermit? Sie geben mir ein Autogramm und damit sind wir quitt.“ Der Geschäftsführer lächelte. „Am Samstag hat meine Frau Geburtstag. Ich glaube, wenn ich Ihr Autogramm in die Geburtstagskarte legen könnte, würde sie sich freuen wie eine Schneekönigin.“

Am liebsten hätte ich Dale Bensons Gesicht umfasst und einen dicken, feuchten Kuss auf seine Stirn gedrückt. Hastig suchte ich in meiner Handtasche nach einer meiner Visitenkarten, malte meinen Namen mit schwarzem Filzstift quer über die Rückseite und lachte, als Dale sagte, er würde mich morgen früh „treffen“. Als ich schließlich wieder in meinem verbeulten Auto saß und nach Hause fuhr, zitterte ich am ganzen Körper.

Danke, Herr.

Es war der erste Ausdruck von Dankbarkeit, den ich ihm seit Langem entgegenbrachte. Ich hatte keine Ahnung, dass dieser Dank verfrüht war.

* * *

Ich nahm eine Spielkarte vom Stapel, schob sie zwischen eine Kreuz-Acht und eine Herz-Neun und warf einen König ab, obwohl ich vermutete, dass Tante Ingrid mindestens einen auf der Hand hatte.

Jeden Tag fuhr ich nach der Arbeit zum Pine Ridge-Seniorenheim, um meine Großtante zu besuchen. An ihren guten Tagen spielten wir Gin Rummy 500, an den schlechten Tagen War. An ausgesprochen guten Tagen Hearts im Speisesaal mit ihren Freundinnen, doch diese Tage wurden immer weniger und seltener.

Jetzt sah sie mich über ihre Karten hinweg an, zögerte, um es besonders spannend zu machen, dann nahm sie den König, legte ihn mit zwei anderen raus und warf ihre letzte Karte verdeckt ab.

Ich lächelte. Tante Ingrid hatte einen guten Tag. Im Großen und Ganzen galt das für mich auch. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass der Geschäftsführer mich so ohne Weiteres hatte davonkommen lassen. Die ganze Misere hatte meinen Glauben an Gottes Gnade wenigstens teilweise wiederbelebt. Vielleicht hatte er mich ja doch nicht vergessen.

Ingrid zählte ihre Punkte. Ich zählte meine und addierte dann beide Zahlen jeweils zu unseren Gesamtpunkten hinzu, während sie die Karten neu mischte und mit dem Geschick eines Profis austeilte.

„Wie hast du geschlafen?“, fragte ich, während ich meine Karten eine nach der anderen aufnahm.

Sie schnaubte – ob wegen der Frage oder der Art, wie ich die Karten hielt, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen. Tante Ingrid war der Meinung, ein Kartenspieler sollte die Karten erst dann aufnehmen, wenn alle gegeben waren. Aber ich hatte noch nie gut warten können. „Gestern Nacht habe ich geträumt, Gerald hätte mir ein Rhinozeros gekauft.“

Lachend steckte ich ein Pik-Ass neben den passenden König.

„Unter dem Weihnachtsbaum stand diese riesige Kiste, die sich immerzu bewegte. Gerald sagte zu mir, ich solle sie aufmachen, und als ich es tat, fand ich ein ausgewachsenes Nashorn mit einem Kranz um sein Horn darin. Er fing an, Jingle Bells zu singen.“

„Gerald?“

„Nein, der Kranz.“ Sie gab mir die letzte Karte und fing an, ihre Karten auf der Hand zu ordnen. Unweigerlich bemerkte ich, wie dünn ihre Handgelenke waren. Nicht nur, dass die Demenz ihr den Verstand raubte; ihre Knochen wurden zudem von Osteoporose aufgefressen. „Es war wirklich absurd.“

„Träume können so sein.“

„Es war seit langer Zeit der erste Traum. Ich vermisse diese Träume.“

Ich dachte an den Albtraum, den ich in letzter Zeit immer wieder hatte. Mir hätte eine traumlose Nacht nichts ausgemacht. Ich zog eine Karte, legte drei Buben raus und warf eine Fünf ab.

Ingrid murmelte etwas von wegen Glück gehabt. „Beim Aufwachen habe ich an Weihnachten gedacht.“

„Ja?“

Sie warf eine Zwei ab. „Und daran, wie schön es wird, im Treasure Chest zu feiern.“

Ich blickte von meinen Karten auf. Wir hatten keine Weihnachtsfeier mehr im Treasure Chest veranstaltet, seit ihr Mann Gerald vor vier Jahren gestorben war. Tatsächlich hatten Dad und ich das Motel, das immer ein Familienbetrieb gewesen war, im letzten April aufgeben müssen, nachdem der Geschäftsführer gekündigt hatte. Es war unglaublich deprimierend gewesen, den Ort, den ich immer so geliebt hatte, in einem derart heruntergekommenen Zustand zu sehen.

„Erinnerst du dich an die Weihnachtsfeiern, die wir veranstaltet haben, als du klein warst? Gerald hat sich als Weihnachtsmann verkleidet und du und deine Cousins und Cousinen habt euch vor lauter Aufregung beinahe in die Hosen gemacht.“

Ich lächelte nostalgisch. „Und weißt du noch, wie Dad mich einmal an Weihnachten mit einem Meerschweinchen überrascht hat?“

„Wie der kleine Gauner in Mrs Penningtons Dusche gelandet ist, war mir immer ein Rätsel.“

Mein Lächeln wurde breiter. Mrs Pennington war schneller aus ihrem Zimmer geflohen, als ich jemals eine Frau hatte rennen sehen. Nachdem mein lebendes Weihnachtsgeschenk wieder in seinem Käfig verstaut gewesen war, hatte Tante Ingrid eine ganze Stunde gebraucht, um Mrs Pennington davon zu überzeugen, dass es im Treasure Chest keine ungewöhnlich großen Mäuse gab. „Oder als Ben versucht hat, Dads Eierpunsch zu machen?“

Ingrid legte die Hände auf ihr dunkles Haar und stieß einen Jauchzer aus. „In dem Rezept stand 2 Gläser Rum und er hat 2 Liter reingetan! Ich glaube, mein schottischer Mann war der Einzige, der den Punsch mochte.“

„Und der Ire in Zimmer 4.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ben hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen.“

In Tante Ingrids kaffeebraunen Augen funkelte ein ganzes Labyrinth aus Erinnerungen. Ich wünschte, ich könnte in dieses Labyrinth hineinkriechen und noch einmal darin leben. „Tja“, sagte sie, „den Fehler hat unser Servicejunge auch nur einmal gemacht.“

Servicejunge.

Das Wort versetzte meiner Liebe einen energischen Stupser, so als wollte es sie aus einem tiefen und dauerhaften Schlaf aufwecken. Wie lange war es her, dass ich zuletzt an diesen Spitznamen gedacht hatte?

Kapitel 6

Carmen

Ich stand mit laufendem Motor an der Kreuzung Bayou und Ninth Street, während meine Gedanken zum Treasure Chest zurückwanderten. In den vergangenen Monaten hatte das Leben meine Zuneigung zu diesem Ort in den Winterschlaf gezwungen. Ich hatte das Motel und sein Schicksal in ein mentales Wartezimmer gesteckt – den Ort für all die Dinge, um die ich mich später kümmern würde. Aber dadurch, dass ich mit meiner Tante in Erinnerungen geschwelgt hatte, war diese Zuneigung wieder erwacht und hatte eine ganze Reihe Erinnerungen aufgerüttelt. Eine stach ganz besonders aus den anderen hervor – die an damals, als Tante Ingrid mich gewarnt hatte, ich sollte mich vor dem neuen Servicejungen in Acht nehmen.

Ich hatte nur schnaubend gelacht. „Was denn für ein Servicejunge?“

Sie wischte mit einem feuchten Lappen die Oberfläche des Empfangstresens ab. Während der letzten drei Jahre hatte ich zwei unterschiedliche Identitäten entwickelt – von September bis Mai war ich an der University of Virginia die überaus erfolgreiche Meteorologiestudentin, fest entschlossen, so viel wie möglich über die stürmische Atmosphäre zu lernen, so als könnte sie gezähmt werden; und von Juni bis August war ich Tante Ingrids unkonventionelle rechte Hand, mit einem Sonnenbrand auf der Nase und Flipflops an den Füßen. In all meinen Jahren im Treasure Chest hatte Ingrid noch nie einen Servicejungen gebraucht.

„Ich habe ihn für dich eingestellt.“ Sie warf mir über die Schulter einen Blick zu und wackelte mit den Augenbrauen. Dann verschwand sie im Hinterzimmer.

Sie hat ihn für mich eingestellt?

Was sollte das denn heißen? Die Frage ging mir nicht aus dem Kopf, während ich Anrufe entgegennahm, Zimmer buchte und Fragen von Gästen beantwortete, die wissen wollten, wo man am besten Meeresfrüchte essen oder die besten Antiquitäten einkaufen oder am besten Golf spielen konnte. Erst gegen Ende meiner Schicht ergaben Tante Ingrids Worte einen Sinn.

Ich war gerade hinten und räumte einen Haufen Laken von der Waschmaschine in den Trockner, als die Tür aufging. Hastig warf ich ein paar Trocknertücher ein, eilte ins Empfangsbüro und blieb wie angewurzelt stehen. Vor dem Tresen stand ein Mann – groß und breitschultrig, mit der Sonnenbräune eines Surfers und der Frisur eines Elitestudenten, wobei die Haare teils braun, teils blond wirkten, je nachdem, wie die Sonne darauffiel.

„Willkommen im Treasure Chest“, sagte ich mit der besonders freundlichen Stimme, die ich für die Motelgäste reserviert hatte. Meine Worte klangen so unnatürlich hoch, dass ich mich räuspern musste. „Wollen Sie … äh … einchecken?“

Einer seiner Mundwinkel zuckte. „Ingrid hat mich geschickt. Ich soll den Trockner reparieren.“

„Den Trockner? Aber der Trockner ist nicht …“ In diesem Moment hatte ich einen Geistesblitz. „Du bist der Servicejunge.“

„Servicejunge?“ Er grinste schief und zog zugleich die Stirn kraus. Beides stand ihm ausgesprochen gut.

„Meine Tante hat mir gesagt, dass wir einen Servicejungen eingestellt haben. Ich vermute, das bist du?“

Er stützte einen Ellbogen auf den Empfangstresen. „Ich bin kein Servicejunge.“

Ich zwang meine Füße, sich in Bewegung zu setzen, vorübergehend abgelenkt von dem intensiven Blau seiner Augen – leuchtend wie Saphire ohne einen Hauch von irgendetwas anderem, kein bisschen Grün oder Grau oder auch nur Hellblau. Nicht einmal die Carmen, deren Nase immer in den Büchern steckte, hätten ihnen widerstehen können. „Also gut, und wer bist du dann?“

„Ben“, sagte er und streckte die Hand aus, „Sommerhausmeister.“

Ich ergriff seine Hand – seine Handfläche war die perfekte Mischung aus rau und warm. „Carmen, Sommergästebetreuerin.“

„Und berühmte Nichte.“

„Berühmt?“

„Ingrid redet viel von dir. Ich bin erst seit einer Woche hier und ich glaube, ich könnte allmählich deine Biografie schreiben.“

Ich schnitt eine Grimasse. „Tut mir leid.“

„Nicht nötig.“

„Ich glaube, sie versucht Amor zu spielen.“

„Wollen wir es ihr leicht machen?“

In meinem Bauch hoben ein paar Schmetterlinge ab. Der Servicejunge flirtete mit mir.

Er zwinkerte. „Und was ist jetzt mit dem Trockner?“

„Der ist nicht kaputt.“

„Ich hatte schon so einen Verdacht.“

„Wirklich?“

„Deine Tante hatte ganz leuchtende Augen, als sie mich hergeschickt hat, um nach dem Gerät zu sehen. Ich merke ganz gut, wenn sie etwas ausheckt.“ Er trommelte ein paarmal mit den Zeigefingern auf den Tresen und beugte sich dann vor. „Carmen, Sommergästebetreuerin, es war mir ein Vergnügen.“

Ein Auto hupte und riss mich aus meiner neun Jahre alten Erinnerung. Wie damals brachte ein Lächeln die Grübchen in meinen Wangen zum Vorschein. Der Wagen hupte erneut.

Ich traf eine schnelle Entscheidung und bog in die Ninth Street in Richtung Süden ab, obwohl die Autowerkstatt am Summit Boulevard in entgegengesetzter Richtung lag, und fuhr stattdessen Richtung Pensacola Bay Bridge. Zwanzig Minuten später fuhr ich auf den Parkplatz der Bay Breeze Highschool, nicht ganz sicher, warum ich eigentlich hier war. Nachdem ich mich am Empfang angemeldet und ein paar bekannte Gesichter begrüßt hatte, steckte ich mir eine Besuchermarke an und ging zu Bens Klassenzimmer im Keller.

Die meisten Menschen dachten, er wäre Sportlehrer, da seine Lieblingsaufgabe, in die er auch die meiste Zeit investierte, die des Footballtrainers war. Aber Ben unterrichtete Töpfern und Bildhauerei, zwei der beliebtesten Wahlfächer der Schule. In unserem Keller zu Hause hatten wir sogar eine Töpferscheibe. Früher hatte Ben mir Privatstunden gegeben und dabei gewitzelt, wir würden unseren inneren Ghost heraufbeschwören. Dann lachte ich und nannte ihn gefühlsduselig. Aber in Wirklichkeit fand ich meinen Mann tausend Mal aufregender als Patrick Swayze, vor allem, wenn er ganz zart meinen Nacken küsste, sodass mir ein Schauer über den Rücken lief.

Sobald ich die zweiflügelige Tür am Fuß der Treppe aufgestoßen hatte, schlug mir der Geruch von Chlor und Sägemehl entgegen. Bens Klassenzimmer befand sich gegenüber vom Schwimmbad und auf demselben Gang wie die Räume für den Werkunterricht. Die Schule hatte am Montag wieder begonnen und schon jetzt war der Boden mit einer Staubschicht bedeckt. Die Schüler arbeiteten fleißig an ihren Projekten, die aussahen wie Kaffeebecher.

Ben stand mit dem Rücken zu mir an einem der hohen Tische, noch immer mit breiten Schultern und schmaler Taille, und trug Arbeitsschuhe, braune Levi’s und ein lässiges Hemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte. Eines der Mädchen am Tisch bemerkte mich im Türrahmen und sagte etwas zu ihm. Er drehte sich um, legte den Kopf leicht schief und kam dann zu mir. Normalerweise tauchte ich nicht mitten am Tag in seiner Klasse auf.

„Hi.“ Die Begrüßung wurde von einem Stirnrunzeln und einem fragenden Blick begleitet. Oft vergaß ich, wie beeindruckend das Blau seiner Augen war. Aber heute nicht. Nicht, nachdem ich mich an den Servicejungen erinnert hatte. „Was machst du denn hier?“

„Hast du kurz Zeit zu reden?“

„Ist alles in Ordnung?“ Er legte eine Hand auf meinen Rücken und führte mich auf den Flur hinaus, fort von der unwillkommenen Aufmerksamkeit seiner Schüler. „Hat die Sozialarbeiterin angerufen?“

Oh, Ben glaubt …

Mein Herz zog sich zusammen. Er dachte, ich wäre mit guten Neuigkeiten gekommen. Er dachte, ich wäre hier, weil eine leibliche Mutter uns ausgewählt hatte. Er dachte, unser Warten wäre vorüber und wir hätten den Adoptionsprozess irgendwie in Rekordzeit hinter uns gebracht. Als ich den hoffnungsvollen Blick in seinen Augen sah, bereute ich es, hergekommen zu sein. „Nein, sie hat nicht angerufen.“

„Oh.“ Er rieb sich den Nacken. „Warum bist du dann hier?“

Weil ich ihn vermisste? Weil ich uns vermisste? Wegen einer Erinnerung, die Gefühle wiederbelebt hatte, die ich lange, zu lange nicht mehr gespürt hatte?

Ben zog die Augenbrauen hoch und wartete.

„Ich habe ein Schild umgefahren.“

„Ein Schild.“

„Heute Morgen. Auf dem Parkplatz von Toys-R-Us.“

„Wie bist du denn in ein Schild reingefahren?“ Die Herablassung in seiner Stimme war hörbar genug, um mich zu ärgern, aber gleichzeitig zu schwach, um eine ungehaltene Erwiderung meinerseits zu rechtfertigen. Ben hatte diese frustrierende Gratwanderung zu einer regelrechten Kunstform entwickelt und ich war mir ziemlich sicher, dass es ihm nicht einmal bewusst war.

„Es war für werdende Mütter.“

Er kratzte sich die Bartstoppeln am Kinn. Ben rasierte sich dreimal die Woche und zwischendrin wuchsen die Haare zwar nicht zu einem richtigen Vollbart, aber immerhin zu einem Dreitagebart. „Also … soll ich irgendetwas machen?“

„Nein.“

„Warum bist du dann hergekommen? Nur, um es mir zu erzählen?“

„Ich weiß nicht, Ben.“ Vielleicht hatte ich diese Unterhaltung nicht später führen wollen. Vielleicht hatte das Schwelgen in Erinnerungen mit Tante Ingrid mich nostalgisch gemacht. Oder vielleicht wollte ich in meinem tiefsten Innern ja doch, dass er irgendetwas tat, auch wenn ich mich mit Händen und Füßen dagegen wehrte.

„Ist der Wagen beschädigt?“

„Die vordere Stoßstange hat eine Beule.“

„Wie schlimm?“

„Wahrscheinlich brauchen wir eine neue Stoßstange.“

Er presste die Lippen aufeinander.

Ich tat es ihm gleich, um nicht laut zu schreien.

So standen wir im Gang – er und ich – mit aller Spannung der Welt zwischen uns und unwillkürlich fragte ich mich, wie wir hierhergekommen waren. An diesen Ort ständiger Fehlschläge. Ich dachte an das alte chinesische Sprichwort, das gerne am Beginn eines längeren Unterfangens zitiert wird: Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt. Die Leute verbanden das mit anregenden, lohnenswerten Reisen. Aber es stimmte genauso für die unabsichtlichen, unerfreulichen Reisen.

In meiner Handtasche klingelte mein Handy. Ich fischte es heraus und sagte Hallo, froh über die Ablenkung.

„Carmen, Dad hier.“

„Dad?“ Normalerweise rief er nicht mitten an einem Arbeitstag an, wenn es keinen akuten Anlass gab. „Ist alles in Ordnung?“

„Nicht ganz. Die Zentrale vom Sheriffbüro in Escambia County hat mich angerufen. Offenbar hat jemand einen Einbrecher beim Treasure Chest gesehen.“

„Einen Einbrecher?“

Ben beugte sich vor und versuchte, das Gespräch mitzuverfolgen.

„Sie haben einen Deputy hingeschickt, damit er nachsieht. Anscheinend gibt es tatsächlich Hinweise auf einen Einbruch. Jemand muss hinfahren und sich darum kümmern, dass das Gebäude gesichert wird. Meinst du, du könntest das tun?“

„Natürlich. Das mache ich.“ Nach der Unterhaltung mit Ben klang ein Ausflug in mein altes Revier wie die perfekte Gelegenheit, mich wieder neu zu justieren. Außerdem war der letzte Besuch dort viel zu lange her.

„Danke, Liebling.“ Dad zögerte und füllte die Leere dann mit einem Seufzer. „Weißt du, wir müssen bald entscheiden, was wir mit dem Gelände machen wollen.“

Obwohl sie sanft geklungen hatten, zerrten seine Worte an einer Naht der Sehnsucht in meinem Herzen.

Kapitel 7

Carmen

Als ich die Bob Sikes Bridge überquerte und auf dem zweispurigen Highway namens County Road 399 in Richtung Osten fuhr, konnte ich die Naht beinahe reißen hören. Die Urlaubshotels und Wohnanlagen wurden immer kleiner und seltener, je weiter ich mich vom Touristenzentrum Pensacola Beach entfernte, und gaben irgendwann den atemberaubenden Blick frei auf smaragdgrünes Wasser und weißen Sand, sich im Wind wiegende Gräser und Yuccapalmen und struppige kleine Büsche.

Das Treasure Chest war 1939 von meinem Urgroßvater Frank Sideris eröffnet worden, damals unter dem Namen La Tresor Motel. Bei der Realisierung seines Traums hatte er auf die finanzielle Unterstützung seines guten Freundes Charles Darrow zurückgreifen können, dessen Erfindung des Monopoly-Spiels ihm während der schlimmsten Wirtschaftskrise unseres Landes Millionen eingebracht hatte. Damals war das Motel das erste seiner Art auf Santa Rosa Island gewesen und hatte eine Ära des Hotelgewerbes an wichtigen Straßen begründet. Als Frank starb, hinterließ er das Motel seiner jüngsten Tochter, meiner Tante Ingrid. Sie liebte den Ort genauso wie ihr Vater und machte es zu ihrer Lebensaufgabe, ihn gedeihen zu lassen. Aber inzwischen gehörte das Treasure Chest, was so viel wie Schatztruhe bedeutete, einer aussterbenden Gattung an und war nicht nur das erste, sondern auch das letzte Motel seiner Art auf Santa Rosa Island.

Zehn Minuten von Navarre Beach und den dortigen, in der Ferne bereits sichtbaren Hochhäusern entfernt erblickte ich am Straßenrand das Schild des Motels, dessen Neonschriftzug jetzt schon seit Monaten nicht mehr leuchtete. Selbst in der Haupttouristensaison war es dunkel geblieben. Als ich auf den Parkplatz einbog, der abgesehen von einem einsamen Streifenwagen verlassen dalag, zerbarst die Naht der Sehnsucht endgültig. Tante Ingrids ganzer Stolz ähnelte eher einem heruntergekommenen Stundenhotel als der familienfreundlichen Unterkunft, die es einmal gewesen war. Das ehemals charmante Art-Deco-trifft-auf-1960er-Jahre-Vintage-Motel mit seinen dreizehn Einheiten, komplett mit Neon- und Chromelementen, stand verlassen und baufällig auf einem Grundstück, das unglaublich wertvoll gewesen sein musste.

Wie war es nur so weit gekommen?

Ich dachte an die vergangenen vier Jahre – Geralds unerwarteten Tod, den Versuch, Tante Ingrid in ihrer Trauer beizustehen, die Zuversicht, dass ihre Vergesslichkeit sich mit der Zeit wieder legen würde, und die Erkenntnis, dass sie stattdessen immer schlimmer wurde. Die Diagnose des Arztes, Tante Ingrids Umzug ins Pine Ridge-Seniorenheim, meine Bemühungen, ihr bei der Eingewöhnung dort zu helfen, und das alles, während ich mit meinen eigenen geheimen Verlusten fertigwerden musste. Ich hatte Tante Ingrid versprochen, dass ich mich um ihr Baby kümmern würde, aber in den letzten zweieinhalb Jahren war ich so gut wie nie hier gewesen.

Ich stieg aus, atmete die milde Luft ein und grüßte die Frau, die neben ihrem Streifenwagen stand. Unter ihrem Deputy-Hut hatte sie Unmengen von Sommersprossen im Gesicht und ihr karottenrotes Haar trug sie in einem langen Zopf, der ihr über den Rücken fiel. „Deputy Ernst“, sagte sie und streckte die Hand aus. „Sie sind die Tochter des Eigentümers?“

„Ich bin die Großnichte. Mein Vater ist ihr Neffe und ihr Bevollmächtigter.“ Sodass er praktisch für die Immobilie zuständig war. „Er lebt allerdings in Gainsville, deshalb hat er mich gebeten herzukommen.“ Ich betrachtete die Gästezimmer, die in einem U um den leeren, nierenförmigen Pool angesiedelt waren. Der war für Urlauber gebaut worden, die lieber badeten, ohne Haien oder Quallen zu begegnen. „Er hat etwas von einem Einbruch gesagt?“

Deputy Ernst nickte. „Ein Tourist, der am Strand joggen war, hat sich heute Morgen bei uns gemeldet. Er hat jemanden auf dem Gelände herumlungern sehen und fand das merkwürdig. Also hat er unsere Dienststelle angerufen. Wer auch immer der Eindringling war, ist jetzt nicht mehr da, aber ich glaube, er hat einige Dinge zurückgelassen.“

„Einige Dinge?“

Sie bedeutete mir, ihr zu folgen.

Als wir uns dem Eingang zum Empfangsbüro näherten, verdorrte etwas in mir. Jemand hatte die Bretter losgerissen. Fenster waren eingeschlagen. Irgendwelche Vandalen hatten unflätige Worte über die Stuckfassade gesprüht. Die anstößigen Kunstwerke waren bis auf die Glasbausteine getröpfelt, die den Eingang umrahmten.

„Ich bin in Mobile aufgewachsen“, sagte Deputy Ernst. „Jeden Sommer zwängte sich unsere ganze Familie ins Auto und fuhr an der Küste entlang, bis wir zum Haus meiner Oma in Rosewood kamen. Auf dem Weg dorthin haben wir in Motels wie diesem hier übernachtet. Ein paarmal sind wir sogar hier abgestiegen.“

Tante Ingrid würde sich riesig über die Geschichte der Beamtin freuen.

„Inzwischen haben die meisten Familienmotels, in denen wir waren, den Kampf gegen die großen Jungs dort drüben verloren.“ Sie deutete mit einem Nicken auf die Silhouette der hoch aufragenden Hotels von Navarre Beach ein paar Kilometer weiter östlich. Mit jedem Jahr kamen sie näher. „Es ist eine Schande, wie das hier zugerichtet ist.“

Sie stieß mit dem Fuß die Tür zum Empfangsbüro auf. Als wir eintraten, knirschten Trümmer und Glasscherben unter unseren Füßen und ich schnappte hörbar nach Luft. „Hat der Einbrecher das gemacht?“

„Ich bin mir da nicht sicher. Das Graffiti ist nicht frisch. Ich wette, das waren irgendwelche gelangweilten Teenager im Sommer. Was den Rest betrifft, habe ich keine Ahnung.“

Wer auch immer die Täter gewesen waren, sie hatten sich große Mühe gegeben, das wenige, das noch hier war, zu zerstören. Sie hatten ein altmodisches Telefon mit Wählscheibe, zwei Stühle und die gerahmten Bilder an den Wänden zertrümmert, darunter auch das historische Monopoly-Brett, das Charles Darrow handsigniert hatte. Zum Glück hatten sie anscheinend nicht gewusst, wer der Mann war, denn sie hatten es nicht mitgenommen.

Ein Band der Verzweiflung zog sich um meine gemischten Gefühle und schnürte sie zu einem Bündel zusammen, das erbärmlicher war als das Motel. Es war nicht so sehr der Vandalismus, der mich erschütterte, sondern vielmehr das, was hinter dem Vandalismus zu erkennen war – die Zeichen der Vernachlässigung, der Erosion, des langsamen Zerfalls. Dicke Staubschichten auf allen Oberflächen, schmutzige Scheiben in den unbeschädigten Fenstern, der zerschlissene Teppich, die Spinnweben und die abblätternde Farbe. All das traf mich ganz persönlich.

„Ich glaube, der Einbrecher muss hier eine Zeit lang gehaust haben.“ Deputy Ernst ging zum Gemeinschaftsraum, der leer war, abgesehen von einer Decke und einem Kissen in der hinteren Ecke. „Wir haben viele Obdachlose hier in der Gegend. Landstreicher, die von einer Stadt zur nächsten weiterziehen, lassen sich nieder, wo immer sie ein Dach überm Kopf finden. Aber ich bin mir nicht sicher, dass das hier so ein Fall ist.“

„Warum nicht?“

Die Polizistin blieb vor einem Seesack stehen und hockte sich daneben. „Es ist überwiegend Kleidung drin. Nichts Außergewöhnliches. Aber ich habe das hier gefunden.“ Sie reichte mir eine Postkarte.

Ich erkannte sie sofort. Während meiner Zeit als „Sommergästebetreuerin“ hatte ein ganzer Stapel davon hier am Empfang gelegen. Ich drehte die Postkarte um. Auf der Rückseite stand eine Nachricht von Tante Ingrid. Ihre runde Handschrift war mir nur zu vertraut.

Bis zum nächsten Sommer, Gracie. Du bringst deine Frechheit mit, ich die Kekse.

„Sie kennen diese Gracie nicht zufällig, oder?“

„Doch, das tue ich.“ Ich blickte von der Handschrift auf. „Sie ist meine Schwester.“

Kapitel 8

Gracie

Ich hockte hinter einem Feuerbusch neben dem Swimmingpool, als ein dunkelblauer Kia Optima mit verbeulter Stoßstange vorfuhr, neben dem Streifenwagen hielt und Evelyn Fisher 2.0 ausstieg – eine jüngere, nüchterne Version meiner Mutter, mit den gleichen braunen Locken, den gleichen weit auseinanderstehenden Augen, der gleichen zierlichen Nase und der gleichen hellen Haut. Makellos in eine weiße Bluse, einen blassrosa Rock und farblich passende Pumps gehüllt. Carmen Hart, eine wandelnde Reklametafel für Perfektion.

Sie und die rothaarige Polizistin unterhielten sich eine Weile, bevor sie im Haus verschwanden. Ich presste die Beine zusammen, weil ich mal musste. Dringend. Aber ich konnte jetzt nicht gehen. Ich musste hierbleiben und mich vergewissern, dass sie meinen Seesack nicht konfiszierten. Abgesehen von meinem restlichen Zeug in Apalachicola (wohin ich nicht zurückgehen würde) enthielt der Beutel alles, was ich besaß, darunter auch mein Handy mit leerem Akku und die mickrigen drei Dollar, die von dem Geld aus Moms Handtasche noch übrig waren.

Mein Magen stieß ein wütendes Knurren aus. In den letzten paar Tagen hatte ich von den Nahrungsmitteln gelebt, die ich an einer Tankstelle in der Nähe von Navarre Beach gekauft hatte. Um dorthin zu gelangen, hatte ich sechs Kilometer durch die sengende Hitze Floridas marschieren müssen. Schweißgebadet und völlig verbrutzelt war ich schließlich wieder beim Treasure Chest angelangt. Wenn ich nicht verhungerte, würde ich wahrscheinlich an Hautkrebs sterben.

Die Polizistin mit dem langen roten Zopf kam aus dem Gebäude geschlendert, dicht gefolgt von Carmen. Sie hatte meine Tasche bei sich! Ich duckte mich noch tiefer hinter den Busch und versuchte zu entscheiden, ob ich aus meinem Versteck kommen sollte, weil ich diese Tasche brauchte, oder ob ich mich bedeckt halten sollte, weil ich mich mit der Polizei in der Vergangenheit nicht allzu gut verstanden hatte.

Die beiden wechselten noch ein paar Worte. Dann stieg Officer Rotschopf in ihren Streifenwagen und fuhr weg. Carmen hob eine Hand wie ein Visier an ihre Stirn und drehte sich langsam um dreihundertsechzig Grad, auf der Suche nach der Besitzerin des Seesacks, vermutete ich. Als ich mich auf den Weg hierher gemacht hatte, war eine Wiedervereinigung mit meiner Schwester ganz und gar nicht Teil meines Plans gewesen. Mir war schon klar gewesen, dass unsere Wege sich hin und wieder kreuzen würden, aber das bedeutete schließlich noch lange nicht, dass ich dann auch mit ihr reden musste. Jetzt war ich mir allerdings nicht so sicher, ob mir etwas anderes übrig bleiben würde. Ich konnte nicht zulassen, dass sie meine Tasche mitnahm.

Sie öffnete die hintere Tür ihres Wagens und stellte die Tasche auf den Rücksitz.

Sofort schoss ich hinter dem Feuerbusch hervor und ging auf den Parkplatz zu. Durch das wenige Essen mussten meine Schritte besonders leicht geworden sein, denn Carmen bemerkte mich erst, als sie sich umdrehte und ich quasi direkt vor ihr stand. Beinahe wäre sie vor Schreck aus ihren hübschen rosafarbenen Pumps gesprungen. Sie presste eine Hand auf ihre Brust und fiel fast durch die geöffnete Tür auf die Rückbank des Wagens.

Ich ließ ihr Zeit, Luft zu holen.

„Was in aller Welt machst du denn hier, Gracie?“, fragte sie schließlich.

„Ich hole meine Tasche.“

Sie sah sich um, so als erwarte sie, dass ich Freunde mitgebracht hatte, dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder mir – dreckig, verschwitzt, mit ungewaschenen Haaren, nach Aschenbecher riechend, halb verhungert, wie ich war, und total angespannt, weil ich dringend pinkeln musste. „Wie lange bist du schon hier?“

„Etwa drei Tage.“

„Drei Tage!“ Carmen sah mich mit großen Augen an. „Weiß Mom Bescheid?“

„Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, nein.“

Sie starrte mich noch einen Augenblick an, dann holte sie ihre Handtasche aus dem Wagen und kramte darin, bis sie ihr Handy gefunden hatte. Als sie es endlich in der Hand hielt, fing sie an, Nummern einzugeben.

„Was – du rufst meinetwegen die Polizei?“

„Nein, ich rufe nicht die Polizei. Ich rufe unsere Mutter an. Sie macht sich bestimmt schreckliche Sorgen.“ Carmen biss auf ihren Daumennagel und hielt sich das Telefon ans Ohr. „Wie bist du überhaupt hergekommen?“

„Per Anhalter.“

Wieder bekam sie große Augen. „Per Anhalter?“

„Spar dir den Hirnschlag. Ich habe nicht vor, es noch mal zu machen.“ Von allen Geschichten, die Anhalter zu erzählen hatten, war meine mit Sicherheit die langweiligste. Ich war weder ausgeraubt noch mit einer Waffe bedroht worden noch war sonst irgendwas Dramatisches passiert. Aber nachdem ich vier Stunden lang hatte zuhören müssen, wie Deborah unanständige Witze über ihre Exfreunde machte, während sie eine ganze Packung Marlboro Lights aufrauchte, hätte ich eine vorgehaltene Pistole bevorzugt.

Das Einzige, was mich dazu bewogen hatte, in dem stinkenden Wagen sitzen zu bleiben, war der Gedanke an dieses Motel. Zur Begrüßung hatte ich mir eine herzliche Umarmung von Ingrid ausgemalt. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich eine warme Mahlzeit und eine heiße Dusche und ein bequemes Bett vorfinden würde. Ich würde für immer hierbleiben und alle Arbeiten verrichten, die anfielen, als Gegenleistung für ein Zimmer. Vielleicht war es kein glanzvoller Neuanfang, aber es war der einzige Neuanfang, den ich wollte. Stattdessen hatte ich das hier angetroffen – ein mit Brettern vernageltes, von Vandalen zerstörtes Motel ohne Klimaanlage, Elektrizität, fließend Wasser, Bad oder Essen.

„Gefällt mir übrigens gut, was ihr aus dem Motel gemacht habt“, sagte ich und zeigte auf das Rattenloch, vor dem wir standen. „Seit meinem letzten Besuch hat es ein ganz neues Ambiente bekommen.“

Carmen legte auf.

„Willst du keine Nachricht hinterlassen?“

„Bitte sag mir, was los ist, Gracie.“

„Warum sagst du mir nicht, was los ist? Wo ist deine Tante Ingrid?“

„Wir mussten sie vor ein paar Jahren in ein Seniorenheim bringen.“

„Warum?“

„Weil sie Demenz hat.“

„Und das ist alles? Ingrid wird krank und du überlässt das Treasure Chest sich selbst?“ Das war so typisch für Carmen, dass es nicht einmal komisch war. Dasselbe hatte sie mit mir gemacht. Die einzige Überraschung war, dass ich gedacht hatte, das Motel sei ihr irgendwie wichtig.

„Wir hatten einen Geschäftsführer eingestellt, der sich aber als nicht besonders gut erwiesen hat. Im vergangenen Frühjahr mussten wir das Motel dann schließen. Und anschließend hat offenbar jemand beschlossen, das Gebäude zu demolieren.“

„Du brauchst mich gar nicht so anzusehen.“

Carmen legte den Kopf schief, so als wären meine Bemerkung und die Geschwindigkeit, mit der ich sie hervorgebracht hatte, höchst interessant. Ich verdrehte die Augen und versuchte, mich an ihr vorbeizuschieben, um an meine Tasche zu kommen, aber sie versperrte mir den Weg. „Komm doch mit zu mir nach Hause.“

„Danke, aber da stech ich mir lieber ein Auge aus.“

„Ich lasse dich nicht hier.“

Ich verschränkte die Arme und konzentrierte mich darauf, mir nicht in die Hose zu machen. „Kann ich bitte meine Tasche haben?“

„Komm schon, Gracie. Lass mich dir wenigstens was zu essen kochen.“

Mein Magen ließ ein verräterisches Knurren hören. Sosehr ich den Gedanken auch hasste, ich hatte wirklich keine andere Wahl. Mir waren die Vorräte ausgegangen und ich war es leid, an den Strand zu gehen, wenn ich mal musste. Mein großer Plan für einen Neuanfang erwies sich gerade als riesiger Flop. „Also gut. Aber ich muss erst noch was erledigen.“

„Gracie.“

„Es dauert nur eine Sekunde.“ Meine Blase duldete keinen Aufschub und ein letzter Gang zum Strand würde mich nicht umbringen. Zu Carmen nach Hause zu gehen, allerdings unter Umständen schon. Da ich inzwischen ausreichend geübt war, dauerte es nicht lange. Und dann saß ich in ihrem Auto und schnallte mich widerstrebend an.

Während der Fahrt sagte keine von uns beiden auch nur ein Wort. Carmen ließ das Radio aus. Und es war zu heiß, um das Fenster zu öffnen. Also saß ich einfach da und genoss die kühle Luft aus der Klimaanlage auf meiner kross gebratenen Haut, während sie mir verstohlene Blicke zuwarf.

„Wann hast du dir die Haare gefärbt?“, fragte sie schließlich.

„Letzte Woche.“

Sie trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad. „Und was ist mit deinem Hals passiert?“

Ich berührte die Kratzer. In den letzten Tagen hatten sie Schorf gebildet. „Sadie Hall hat eine typisch weibliche Kampftechnik.“

Carmen rutschte unbehaglich auf ihrem Sitz herum. Man merkte, dass sie nicht wusste, was sie mit mir anfangen sollte. Die wenigsten Menschen wussten das. Nach meinem Fehler am Ende des letzten Schuljahres war ich gezwungen gewesen, wegen der „Wutthematik“ eine Therapie zu machen. Die Therapeutin war eine junge Frau, die ihr neues Therapeuten-Diplom stolz an die Wand ihres Büros gehängt hatte. Sie hatte mein Verhalten als Verteidigungsmechanismus beschrieben. „Du stößt andere fort, damit du nicht diejenige bist, die zurückgewiesen wird“, hatte sie eifrig gesagt und angesichts dieser Erkenntnis ganz beglückt ausgesehen. Ich hatte sie gefragt, ob sie eine Medaille haben wollte.

Carmen bog in eine Straße namens Magnolia Avenue ab und dann in eine Auffahrt. Wie sich herausstellte, wohnte sie in einem Barbiepuppenhaus in Menschengröße. Mitsamt hellblauer Holzverkleidung und weißer Fensterläden, Schiebefenstern und einer tiefen Terrasse vor dem Haus mit einem kleinen Giebelbalkon im Obergeschoss. Drinnen war es genauso bilderbuchmäßig perfekt wie außen – überall blitzeblanke Fußböden und glänzende Oberflächen und Schöner Wohnen-Zeitschriften.

Ich ließ meinen Seesack an der Tür fallen, trat einige Schritte ins Foyer und betrachtete dann das große gerahmte Bild der hinreißenden Carmen und ihres hinreißenden Bräutigams bei ihrer hinreißenden Hochzeit, auf dem die beiden sich verträumt in die hinreißenden Augen blickten. Der Anblick löste einen Würgereflex in mir aus. Ich fuhr mit dem Finger über den Bilderrahmen, aber es war kein einziges Staubkörnchen darauf zu sehen. „Dein Haus ist ja unglaublich sauber.“

„Danke.“

„Das war kein Kompliment.“

Seufzend nahm sie meine Tasche und führte mich eine mit Teppich bedeckte Treppe in einen großen Flur hinauf. Das ganze Obergeschoss roch nach Trocknertüchern und Lavendel. Im ersten Zimmer auf der linken Seite stellte Carmen meinen Beutel ab – es war ein geräumiges Schlafzimmer mit buttergelben Wänden, passender Kommode und Nachttisch, einem bodenlangen Spiegel in einer Ecke und einem großen Himmelbett mit einem schneeweißen Federbett und dicken Kissen. Sonnenstrahlen fielen durch das große Fenster herein, sodass alles noch mehr glänzte. „Das Bad ist gegenüber. Handtücher sind im Wäscheschrank. Ich mache uns was zu essen.“

„Aye, aye“, sagte ich mit einem Salut.

Sobald sie gegangen war, schloss ich die Tür und ließ mich aufs Bett fallen. Die Matratze schwang etwas nach und lag dann ruhig, während ich meine Stiefel abstreifte.

Über der Kommode hing eine Leinwand, auf der in fetter Schrift die Worte Siehe, ich mache alles neu! – Offenbarung 21,5 standen. Sie erinnerten mich an mein Leben in New Hope und an das zweiwöchentliche Untertauchen im Fluss. Aber die ganzen Taufen hatten nie etwas bewirkt. Mom war dieselbe geblieben – ganz egal ob trocken oder nass.

Wahrscheinlich war das mit dem Neuanfang eine Illusion.