Buchcover

Ursula Isbel-Dotzler

Der Schimmel im Moor

SAGA Egmont




1

Es war ein verregneter Frühling, in dem wir großartige Pläne für den Sommer schmiedeten. Daran erinnere ich mich noch gut, denn dann kam alles anders. In diesem Sommer lernte ich Angus Dysart kennen.

Normalerweise wäre es mir nie eingefallen, meinen Vater auf einer seiner Reisen zu begleiten. Das tat ich schon lange nicht mehr. Obwohl alle meine Freunde und Bekannten seinen Beruf ungeheuer spannend fanden, hätte ich viel lieber einen ganz normalen Lehrer, Handwerker oder Anwalt zum Vater gehabt. Dass meine Abneigung gegen seine Arbeit vor allem mit dem Autounfall zusammenhing, bei dem meine Mutter und mein jüngerer Bruder ums Leben kamen, wusste ich; um das herauszufinden, brauchte ich keinen Psychologen.

Auch in diesem Jahr hatte ich eigene Pläne für die Sommerferien. Gemeinsam mit meiner besten Freundin Lily wollte ich einen Segelkurs auf einer kleinen griechischen Insel machen. Wir freuten uns schon den ganzen Winter darauf, neue Leute kennen zu lernen, abends vor südlichen Kneipen zu sitzen und das feuchtkalte englische Klima hinter uns zu lassen.

In den ersten Maitagen rief Lily bei mir an und erklärte, sie könne nicht mitkommen.

»Es tut mir so Leid, Ragni, echt!«, beteuerte sie. »Ich komme mir absolut fies und gemein vor. Hoffentlich kannst du mir das jemals verzeihen! Aber es ist eine einmalige Gelegenheit, verstehst du? So etwas passiert sonst nur im Film oder in einem Roman von Rosamunde Pilcher. Bestimmt würde ich es ein Leben lang bereuen, wenn ich absage, es ist einfach zu göttlich. Versprich, dass du mir nicht böse bist…«

Mein Herz sank, während ich ihr zuhörte. Endlich brachte sie es auf den Punkt: Eine Cousine ihrer Mutter heiratete im Sommer zum dritten Mal, einen österreichischen Baron oder Grafen; und Lily und ihre Eltern waren zur Hochzeit eingeladen. Es sollte ein rauschendes Fest werden, auf dem Schloss des Auserwählten irgendwo im Salzkammergut.

»Ein Schloss!«, schwärmte Lily. »Stell dir mal vor, und der ganze österreichische Hochadel kommt! Bestimmt wird es auch im Fernsehen übertragen – im österreichischen, meine ich. Wir sollen im Schloss wohnen und ich kriege ein langes Kleid aus blauer Seide und einen Hut dazu. Wie findest du das, ich mit Hut?«

Dass die Märchenhochzeit ausgerechnet zu dem Zeitpunkt stattfinden sollte, an dem unser Segelkurs begann, war mein Pech. Ich brauchte drei Tage, um die Enttäuschung zu verarbeiten. Dann machte auch ich meine Buchung im Reisebüro rückgängig. Es kostete fast fünfzig Pfund meines sauer ersparten Geldes, dass ich mich sieben Wochen vor Reiseantritt anders entschieden hatte.

Nicht einmal meinem Vater, der zu dieser Zeit nach einem längeren Aufenthalt in den Karpaten viel zu Hause war und an einem Artikel über Vampire und Werwölfe arbeitete, entging meine finstere Miene und mein schleppender Gang.

»Ragni, mein Mädchen«, sagte er an einem regnerischen Maiabend, als wir zusammen am Esstisch saßen, und beobachtete, wie ich freudlos an meiner Pizza von Paolos Pizzaservice kaute. »Wie wär’s, wenn ich mich als Lückenbüßer zur Verfügung stellen würde?« Wir redeten immer Deutsch miteinander, obwohl wir jetzt schon mehr als acht Jahre in England lebten.

»Lückenbüßer?« Verständnislos erwiderte ich seinen Blick. »Was meinst du damit? Willst du mit mir zusammen einen Segelkurs machen? Der Kurs ist nur für Leute bis fünfundzwanzig. Außerdem hab ich schon abgesagt.«

Er schüttelte den Kopf. Mir fiel plötzlich auf, dass seine Haare, die immer so kastanienbraun gewesen waren wie meine, im Schein der Tischlampe grau schimmerten, als wäre Reif auf sie gefallen.

»Keinesfalls, danke«, sagte er. »So ein Schwachsinn würde mir nie einfallen. Nein, ich hab gedacht…« Er stockte und schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Vielleicht hättest du ja Lust, mit mir nach Schottland zu fahren? Es wäre schön, dich mal wieder dabeizuhaben.«

»Es ist wohl nicht ausnahmsweise mal eine stinknormale Urlaubsreise?«, erwiderte ich und wusste die Antwort schon im Voraus.

»Nein«, sagte er. »Natürlich muss ich beruflich hin. Aber das braucht dich ja nicht zu kümmern. Du könntest es als Ferienreise betrachten, oder? Jedes Jahr reisen eine Menge Menschen aus der ganzen Welt nach Schottland. Es ist ein sehr schönes Land.«

»Klar, sicher.« Ich hörte selbst, wie bitter meine Stimme klang. »Ich mache da ganz gemütlich Ferien, während du… Welchen Monstern bist du jetzt wieder auf den Fersen?«

Er warf mir einen vorsichtigen Blick zu, sah dann auf seine Pizza nieder und schnitt sie in kleine Stücke.

»Eine Fülle von hochinteressanten Phänomenen«, murmelte er. »Wirklich faszinierend. Es gibt da eine Burg inmitten eines Hochmoors in den Highlands, in einem Gebiet, das den Kelten heilig war. Die Gegend ist voller Steinkreise und Monolithen und Dolmen. Wunderbare prähistorische Denkmäler, weißt du…«

Für gewöhnlich sprach mein Vater ziemlich leise, jetzt aber wurde seine Stimme vor Begeisterung richtig laut. »Diese keltischen Kultplätze sind oft Orte, an denen auch heute noch Unerklärliches geschieht. Professor Traugott hat im Winter einen großartigen Vortrag darüber gehalten und ich habe ihm geschrieben. Letzte Woche hat er mir geantwortet und mir geraten, Ricruin aufzusuchen. Er hat mir sogar ein Empfehlungsschreiben für die Familie geschickt, die dort lebt. Allerdings gehört die Burg eigentlich bereits dem National Trust, und…«

Ich hörte nur noch mit halbem Ohr hin. Seine Arbeit bedeutete meinem Vater mehr als alles andere, das wusste ich; daran hatte nicht einmal Mamas und Ralphs Unfall etwas ändern können. Im Gegenteil, er hatte sich seitdem nur noch mehr in seine Forschungen vergraben, hatte mehr Bücher und Artikel über Geistererscheinungen und sonstige übersinnliche Phänomene verfasst als je zuvor und galt inzwischen in Fachkreisen als Experte auf diesem Gebiet.

Als er merkte, wie gereizt ich die Oliven mit der Gabel von meiner Pizza kratzte, stockte er. »Entschuldige!«, murmelte er. »Ich wollte dich nicht langweilen. Ich weiß ja, du interessierst dich nicht dafür. Aber das brauchst du auch nicht. Du könntest doch einfach so mitkommen. Vielleicht finden wir in dieser Gegend einen Reitstall, wo du ausreiten kannst. Es gibt auch einen kleinen Golfplatz in der Nähe von Glengarth…«

Ich unterbrach ihn. »Ich kann nicht Golf spielen und will es auch nicht lernen. Hab keine Lust, mich unter all die versnobten Hüpfdohlen zu mischen und Bälle in Löcher zu schubsen.«

»Ja, aber du bist doch früher so gern geritten…« Er sah mich eifrig an. »Auch einen See gibt es da, wo man schwimmen und rudern kann. Und die Gegend soll wirklich wunderschön sein.«

Plötzlich begriff ich, dass er einsam war. Auch wenn er seine Arbeit über alles liebte und in ihr aufging, wünschte er doch, mich bei sich zu haben und diesmal nicht allein fahren zu müssen.

Diese Erkenntnis kam mir blitzartig, während ich ihm gegenübersaß und den fast kindlichen Ausdruck in seinen braunen Augen über der Halbbrille auffing. Dieser Blick machte mich wehrloser, als es jede Überredungskunst, jedes Drängen, jedes noch so ausgeklügelte Argument vermocht hätten.

»Also gut«, sagte ich und seufzte. »Aber nur unter einer Bedingung. Ich will keine Horrorgeschichten hören, nicht eine einzige!«

2

Wir starteten an einem Freitag, gleich zu Beginn der Sommerferien, als alle Welt in Urlaub fuhr. Morgens luden wir das Auto mit Regenumhängen, Gummistiefeln, Schals, dicken Pullis, Schirmen und Wolldecken voll. Es war eine Ausrüstung, als wollten wir in die russische Taiga.

Während wir inmitten einer Schlange von Fahrzeugen durch die Stadt zur Autobahn krochen, dachte ich flüchtig an sonnenglitzernde Strände, warme Nächte unter südlichem Himmel und Segelboote auf azurblauen Wellen; und meine Stimmung sank auf den Nullpunkt.

»Hast du deinen Badeanzug eingepackt?«, fragte mein Vater und steuerte den Rover mit gewohnter Gelassenheit durch den dichten Verkehr.

Ich sah ihn argwöhnisch von der Seite an. Wollte er sich über mich lustig machen? »Sehr witzig!«, murmelte ich.

»Nein, du, ich meine es ernst. Natürlich regnet es in den Highlands öfter mal, und es kann auch ziemlich kühl werden, aber ich hab da schon herrliche Sommertage erlebt.«

»Wie viele?«, fragte ich. »Zwei? Dreieinhalb?«

Er lächelte sein geduldiges Lächeln. Dann erzählte er mir, dass er ein geräumiges Ferienapartment bei einer Frau namens Abercrombie gemietet hatte, mit einem Wohnzimmer, zwei Schlafzimmern, einer Terrasse und Blick auf den Loch Swan.

»Gibt’s da auch eine Heizung?«

»Einen offenen Kamin, glaube ich.«

Wunderbar, dachte ich; also eins von diesen romantischen Dingern, bei denen man vorn fast verbrutzelt, während einem gleichzeitig Kälteschauer über den Rücken laufen.

Trotz gelegentlicher Regengüsse war die Fahrt schön.

Nachdem wir die Borders erreicht hatten, das alte Grenzland zwischen England und Schottland, verließen wir die Autobahn. Schmale, zum Teil nur einspurige Straßen führten in Windungen durch die saftig grüne Landschaft mit sanften Hügeln und Tälern, vorbei an Viehweiden, an Bächen und Flussläufen; und je näher wir dem Hochland kamen, desto wilder und eindrucksvoller wurde die Natur mit den fernen Gebirgsketten, deren Umrisse in purpurnen, smaragdgrünen und milchig opalgrauen Farbtönen verschwammen.

»Ein Land wie aus einer alten Sage«, sagte mein Vater. Manchmal hatte er eine erstaunliche Fähigkeit, Dinge auf den Punkt zu bringen, doch das gehörte wohl auch zu seinem Beruf.

Wir fuhren tiefer in die Berge hinein, durch Schluchten und Talsenken mit tiefblauen Seen und über einsame Anhöhen, auf denen der Wind zwischen Felskämmen pfiff. Schafe zogen durchs Geröll die Hänge hinauf und hinunter oder schmiegten sich dicht am Straßenrand gegen die Felswände. Überall sprudelten Quellen und moorige Tümpel glänzten im Gras wie dunkler Bernstein.

Am frühen Nachmittag erreichten wir ein verschlafenes Nest in den Hügeln von Strathbogie, dessen Namen auf dem Ortsschild ich las und sofort wieder vergaß. Im Fox and Hounds, dem Dorfgasthaus, aßen wir Lachs mit Kräutersoße und Dillkartoffeln.

Als wir das Gasthaus verließen, kam für knapp fünf Minuten die Sonne zwischen Wolkenschwaden hervor und tauchte die Ansammlung von Häusern und den kleinen Kirchturm in schimmerndes Licht.

»Es wird schöner«, sagte mein Vater hoffnungsvoll, während wir über die Hauptstraße schlenderten, vorbei an Touristenläden, deren Auslagen von Whiskyflaschen, Kilts, handgestrickten Zopfpullovern und karierten Bommelmützen fast überquollen. Dazwischen prangte Nessie in allen Variationen: aus Porzellan, Gummi, Plastik, auf Tassen, T-Shirts, Postern und Keksdosen.

Schon ein paar Kilometer weiter kam der nächste Regenschauer. Wir fuhren immer höher hinauf, in eine Region, in der es keine Bäume mehr gab, nur noch windzerzauste Ginsterbüsche, Farne, Heidekraut und vor allem Steine.

»Die Highlands waren einmal ein waldreiches Gebiet«, erklärte mein Vater und wich einem Schaf aus, das mitten auf der Fahrbahn stand und gemütlich kaute. »Auch wenn man sich das heute kaum noch vorstellen kann. Dann kamen die Engländer und ließen die Wälder abholzen, um hier Schafzucht zu treiben – oder treiben zu lassen, sollte man wohl sagen. Dieser massive Eingriff in die Natur hat das ganze Klima im Hochland nachhaltig verändert.«

Wir schienen uns immer weiter von der Zivilisation zu entfernen, je tiefer wir in die Berge kamen, über einspurige Straßen, die offenbar direkt ans Ende der Welt führten. Doch als ich schon nicht mehr erwartete, je wieder auf eine menschliche Ansiedlung zu treffen, erreichten wir – nach einem steilen Serpentinenweg einen Pass hinauf und wieder hinunter – unser Ziel: einen Ort namens Glengarth, eingeklemmt zwischen Felswänden, dessen Häuser sich an den Hängen festzukrallen schienen. Am Fuß des Berges leuchtete ein seltsamer runder See in einer Mulde.

Die Luft war kühl und prickelnd und voll würziger Düfte, als wir ausstiegen. Mrs Abercrombies Haus lag auf einem Felsvorsprung über dem Ortskern, umgeben von einer ordentlich gestutzten Hecke und mehreren graugrünen Nadelbäumen, die irgendwie künstlich wirkten.

Kaum hatte ich die Füße auf den Bürgersteig gesetzt, tat sich die Gartentür auf und eine Frau mit blonden Locken erschien, um uns zu begrüßen. Sie sah aus wie ein Rauschgoldengel.

Ich merkte sofort, dass ihr mein Vater gefiel. Sie schwirrte um ihn herum wie eine Biene um den Honigtopf, fragte in einem Atemzug, ob wir eine angenehme Fahrt gehabt hätten, ob wir Tee wünschten oder Kaffee oder vielleicht einen »wee« Imbiss? Dass das Wort »wee« winzig bedeutet, erfuhr ich erst ein paar Tage später.

»Sie sind sicher müde von der Reise«, fügte sie hinzu, ohne Luft zu holen. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen mit dem Gepäck. Nein, nein, lassen Sie mich das nehmen!« Und sie entriss Vater eine der Reisetaschen. Mich übersah sie.

Unser Apartment war voller Schnickschnack – Vasen und Väschen, Porzellanfiguren, Stofftiere, kleine Tischlampen, Deckchen überall und allerhand gestickte Wandbilder, die junge Katzen und röhrende Hirsche zeigten. Doch die Aussicht auf den Loch Swan tief unter uns war fast unwirklich schön; und als Mrs Abercrombie endlich widerstrebend den Rückzug angetreten und ein Tablett mit Tee, belegten Brötchen und Ingwerplätzchen hinterlassen hatte, standen wir am Fenster und sahen lange hinaus.

»Du musst aufpassen, dass sie dich nicht krallt«, sagte ich schließlich.

Mein Vater lachte. »Sie ist etwas penetrant, nicht? Am besten sagen wir ihr nicht, dass ich Witwer bin.«

Ich wunderte mich über diesen Geistesblitz. Für gewöhnlich war er so weltfremd, dass ich ihm eine derart praktische Überlegung nicht zugetraut hatte.

»Sicher«, sagte ich. »Aber was antworten wir, wenn sie fragt, wo deine Frau ist? Denn fragen wird sie, darauf wette ich meinen letzten Penny.«

»Hm. Da müssen wir uns wohl etwas einfallen lassen«, erwiderte er, was im Klartext bedeutete, dass ich eine Ausrede erfinden sollte.

Wir fingen an, den Schmücke-dein-Heim-Schnickschnack beiseite zu räumen. Dann rückten wir einen der Tische ans Fenster, stellten Vaters Laptop dort auf und schichteten seine Fachbücher in die Regale, die vorher von weinenden Clowns und grinsenden Gnomen aus Porzellan bevölkert gewesen waren.

Mein Zimmer hatte eine geblümte Tapete und einen eigenen Zugang zur Terrasse. Ich rückte den Polstersessel ans Fenster und hängte das Bild über dem Bett ab, auf dem drei fette Frauen in durchsichtigen Kleidern sich an der Hand hielten und im Kreis über eine Blumenwiese hüpften. Dann packte ich meinen Kassettenrekorder aus und legte die Kassette mit der heftigsten Musik ein, die ich finden konnte, um sämtliche spießigen Geister aus Mrs Abercrombies kuscheligen Wänden zu vertreiben.

3

Ich hatte mir fest vorgenommen, so zu tun, als würde ich ganz normale Ferien in den Highlands verbringen, losgelöst von der Arbeit meines Vaters. Dass das im Grund unmöglich war, wurde mir schon am Tag nach unserer Ankunft klar, als ich merkte, dass Ricruin Castle praktisch allgegenwärtig war.

Die Burg stand auf einem Felsen, einem kugelförmigen Ausläufer des Ben Cruin, an dessen Sockel sich die Ortschaft klammerte. Man konnte sie einfach nicht übersehen, ganz gleich, ob man am Loch Swan spazieren ging oder über die Hauptstraße von Glengarth bummelte, um einzukaufen. Hoch über allem thronte Ricruin Castle, eine von Efeu umrankte Festung aus rotbraunem Stein mit hohen Fensterfronten, mehreren mächtigen Ecktürmen, mit Schießscharten und Unmengen von Kaminen auf den Dächern, die wiederum von kleineren Kaminaufsätzen in der Form umgestülpter Blumentöpfe gekrönt waren.

Etwas Düsteres, Geheimnisvolles haftete Ricruin an; es hätte die Kulisse zu einem Shakespeare-Drama sein können, Macbeth vielleicht. So sehr ich mich auch bemühte, die Burg zu ignorieren, sie drängte sich immer wieder hartnäckig in mein Blickfeld und erinnerte mich an den Grund unseres Hierseins.

Wir frühstückten gemeinsam im King’s Heart Hotel, mein Vater und ich – ein üppiges englisches Frühstück mit Tee und Toastbrot, Cornflakes, Eiern, Schinken und den süßlichen Würstchen, die ich ekelhaft fand. Mein Vater wirkte geistesabwesend. Schweigend trank er eine Tasse Tee nach der anderen, während ich mich fragte, wie ich diesen ersten Tag und alle folgenden verbringen sollte. Was konnte man in diesem gottverlassenen Nest am Ende der Welt unternehmen? Schlotternd und mit Todesverachtung im Loch Swan paddeln, der bestimmt kaum wärmer als ein Gletschersee war? Auf den umliegenden Bens herumklettern? Unterricht im Dudelsackspielen nehmen?

»Rede doch mal mit Mrs Abercrombie«, riet mein Vater nach dem Frühstück. »Sie kann dir sicher sagen, welche Aktivitäten hier geboten werden. Frag sie nach einem Reitstall. Bestimmt gibt es auch Busfahrten durch die Highlands. Oder ans Meer, nach Ullapool, falls du mal Lust hast, mit dem Schiff an der Küste entlangzuschippern.«

Nachdem er so sein Gewissen beruhigt hatte, eilte er mit wehenden Haaren über die Hauptstraße davon, in Richtung Ricruin Castle, wie ich vermutete.

Ich sah ihm nach und dachte finster, dass ich an allem ganz allein selbst schuld war. Kein Mensch hatte mich gezwungen, mit hierher zu kommen, es war meine freie Entscheidung gewesen.

Die Hauptstraße von Glengarth bestand aus zwei Reihen schlichter, niedriger Häuser, einem Gasthaus namens The Trout, dem Hotel, einem Supermarkt, einem Tante-Emma-Laden, der zugleich auch Postamt war, einem Souvenirshop und dem Tea Cosy, in dem es Backwaren, Tee, Kaffee und Eis gab.

In einer Seitenstraße fand ich neben einem Antik-Shop noch ein winziges, ziemlich düster wirkendes Lädchen mit alten Büchern und Stichen und ein Geschäft mit Anglerzubehör. Über der Tür baumelte ein rot gepunkteter Fisch an einer Angel; und obwohl er natürlich nicht echt, sondern aus Blech war, verschlechterte sich meine Stimmung durch seinen Anblick noch mehr, denn ich habe es immer abartig und heimtückisch gefunden, Fische mit Ködern anzulocken und ihnen Haken in den Schlund zu treiben.

Ganz gleich, wo ich auch ging oder stand, ob ich die High Street überquerte oder mit einer Tüte voll frischer Scones die Tür des Tea Cosy hinter mir schloss, aus den Augenwinkeln sah ich immer Ricruin Castle dort oben auf dem Felsbuckel; und wenn ich es einmal nicht sah, glaubte ich doch, seine Gegenwart zu spüren.

Es war neben dem Loch Swan auch das beliebteste Postkartenmotiv in dieser Gegend. Sogar T-Shirts gab es, auf denen das finstere Gemäuer prangte, in eine Art Nebel gehüllt, aus dem eine grünliche Fratze emporstieg wie im Märchen vom Geist in der Flasche.

Immerhin regnete es nicht. Der Wind war kühl, aber seltsam weich. Er umschmeichelte mein Gesicht und meine Haare mit einer Fülle vielversprechender Gerüche – nach Tang und Meer, nach Heidekraut und Quellwasser und Moor und taufeuchten Gräsern.

Im Antiquariat kaufte ich einen Führer durch die Region des Ben Cruin und wanderte damit zum See hinunter, der wie ein Riesenfleck dunkelblauer Tinte unter dem tief hängenden Gewölk lag. Ein Dutzend verloren wirkender Boote schaukelten auf dem Wasser und vom Campingplatz schallte Musik herüber, unterbrochen von wildem Hufgetrappel und Schüssen. Es dauerte einige Zeit, bis ich begriff, dass da vermutlich ein Camper mit Gehörschaden im Freien vor dem Fernseher saß und sich einen Western ansah.