Buchcover

Ursula Isbel-Dotzler

Nelly

Die Ponys kommen

SAGA Egmont




Unser Schwarzwaldhof Zum Rössle war vor mehr als hundert Jahren eine Poststation. Damals hielten hier die Postkutscher und wechselten ihre „Rösser“. Die Kutschpferde waren nach den langen Wegen über steile Berghänge, durch Wälder und Täler müde und erschöpft und konnten im Stall des Rösslehofs ausruhen. Sie wurden getränkt und gefüttert, während die Stallknechte frische Pferde vor die Postkutschen spannten. Und in der alten Schankstube, die jetzt unsere Küche ist, gab es Bier und eine warme Mahlzeit für die Postkutscher und ihre Fahrgäste.

Das ist lange her. Aber unser Hof wird hier im Tal auch heute noch Zum Rössle oder Rösslehof genannt, so wie in alter Zeit, als es noch Postkutschen gab.

Nur kein Streß!

„Wenn sie da ist“, sagt Emma, „feiern wir ein Fest. Ich lade meine Freundinnen ein, und Sammy muß kommen, und dann bringen wir Lady ein Ständchen. Wir hängen Luftballons in die Bäume, und …“

Ich tippe mir an die Stirn. „Quatsch! Du hast sie wohl nicht alle? Ein Pferd ist doch kein Pop-Star. Lady dreht durch, wenn wir hier so einen Zirkus veranstalten.“

Unser Bruder Daniel hebt die Nase aus dem Buch, das er gerade liest. „Und laß dir bloß nicht einfallen, die gackernden Tussis aus deiner Klasse einzuladen. Sonst landest du mit deinen Tanten in adlermäßigem Tempo vor dem Gartentor“, droht er.

„Sie gackern nicht“, sagt Emma beleidigt.

„Nein, du hast recht. Sie schnattern“, stimmt Dani zu.

Jetzt ist es Zeit, eine vernünftige Rede zu halten. „Also, mal ohne Spaß“, sage ich. „Lady muß sich erst mal an die neue Umgebung gewöhnen. So ein Ortswechsel ist für ein Pferd genauso schwierig wie für einen Menschen. Lady braucht Zeit und Ruhe, um sich bei uns einzugewöhnen. Und je weniger Volk um sie herumspringt, desto besser.“

Meine kleine Schwester sieht mich an. In ihren runden braunen Augen ist ein verwunderter Ausdruck.

Emma kann sich schwer vorstellen, daß jemand Ruhe braucht. Sie liebt jede Menge Trubel. Immerhin antwortet sie nicht: Ist mir egal, trotzdem! wie sonst, wenn sie etwas nicht einsehen will.

Draußen regnet es. Eigentlich mag ich Regen, aber heute wünsche ich die dunklen Wolken, die tief über dem Rösslehof hängen, in die Wüste Gobi oder sonstwohin.

Der erste Tag, an dem Lady zu uns kommt, soll ein Tag voller Sonne sein. Ich habe mir ausgemalt, wie ich sie auf die Wiese führe, auf der jetzt Sommerblumen blühen – Lichtnelken, Kerbel, wilder Salbei und Butterblumen. Die Wiese, die Dani und ich und unser Vater mit Draht eingezäunt haben.

Während der Arbeit hatte ich immer dieses Bild vor Augen: wie die graue Stute Lady im schönsten Sonnenschein ihre ersten Schritte in ihrer neuen Heimat macht und unter den alten Obstbäumen grast. An Regen hab ich dabei nie gedacht. Aber vielleicht ändert sich das Wetter ja bis morgen noch.

Auch Emma scheint bestimmte Vorstellungen von Ladys Ankunft zu haben. Daß sie anders sind als meine, ist ganz natürlich. Wir sind sehr verschieden. Das hat nichts damit zu tun, daß Emma erst acht ist und damit vier Jahre jünger als ich. Nur unser Bruder Dani macht keine Pläne. Er nimmt die Dinge so, wie sie kommen.

„August muß mal raus“, sagt er. „Sieht denn das keiner? Er steht schon ewig an der Tür und tritt von einer Pfote auf die andere.“

„Dann geh du doch mit ihm.“

„Keine Zeit“, murmelt Dani. „Ich muß büffeln.“

Dabei weiß ich genau, daß er eins von seinen Büchern über Flechten und Moose oder seltene Käfer liest. Mit der Schule hat das nichts zu tun. Doch ich sage nichts mehr. Ich will sowieso zum Supermarkt ins Dorf radeln, um Karotten für Lady zu kaufen. Da kann August mitkommen, er ist es gewöhnt, neben dem Fahrrad herzulaufen. August ist sogar ziemlich verkehrssicher. Man muß nur aufpassen, wenn irgendwo ein anderer Hund oder eine fremde Katze auftauchen. Dann kann August unberechenbar sein.

Wie man sich denken kann, ist August unser Hund. Er ist ein echter Deutscher Schäferhund, nur stimmt mit seinen Ohren etwas nicht. Sein linkes Ohr steht nach oben, während das rechte Ohr nach unten geknickt ist. Deshalb wollten ihn die Leute, die ihn als Welpe gekauft hatten, auch nicht mehr haben. Sie sagten, das mit Augusts Ohren wäre ein „Zuchtfehler“ und wollten ihn ins Tierheim bringen.

Daß man einen Hund aus so einem Grund hergeben kann, finde ich total abartig. Mit Tierliebe hat das nichts zu tun. Doch unser Großvater, der Tierarzt ist, bekam Wind von der Sache und brachte August zu uns. Das war vor zwei Jahren. Seitdem gehört August zur Familie, und wir lieben ihn alle.

Ich ziehe meinen Regenumhang an, setze die Kapuze auf und schlüpfe in die Gummistiefel. August springt um mich herum. Auf der Hutablage der Garderobe sitzt Kukirol, unser alter Papagei, und äugt mit schiefgelegtem Kopf auf uns hinunter.

„Auf Wiedersehen!“ krächzt er. „Beehren Sie mich bald wieder.“

Kukirol ist nicht immer so höflich. Sein früherer Besitzer hatte eine Eisenwarenhandlung. Er hat Kukirol so allerhand beigebracht, was nicht gerade vom Feinsten ist. Zum Beispiel kann Kukirol rülpsen wie ein betrunkener Matrose. Er kennt auch jede Menge Schimpfworte und ein paar Flüche. „Kruzitürken“ ist noch der harmloseste Fluch, den er kann.

Ich öffne die Haustür und mache sie blitzschnell wieder hinter mir und August zu, damit Kukirol nicht ausbüxt. Er kann verteufelt schnell sein, wenn er will, obwohl er kein Meister im Fliegen ist.

Es regnet wie verrückt. August macht das nichts aus. Er hebt sein Bein am Holunderbaum und pinkelt lange. Ich hole mein Fahrrad aus dem Nebengebäude, das wir Remise nennen, und stelle fest, daß im Vorderreifen keine Luft mehr ist. Da ich den Reifen erst vorgestern aufgepumpt habe, hat er wohl einen Platten.

„August“, sage ich und seufze, „wir müssen zu Fuß gehen.“

August ist alles recht. Hauptsache, er darf mit. Während wir über die kiesbestreute Auffahrt gehen, erzähle ich ihm von Lady. Das tue ich jetzt ungefähr schon zum zwanzigsten Mal, aber August hat nichts gegen Wiederholungen. Er hört mir immer aufmerksam zu, auch wenn er nebenbei nach Hunden, Katzen, Mäusen, Kaninchen und feindlichen Traktoren Ausschau hält und sein Bein an jeder wichtigen Ecke und jedem wichtigen Baumstamm hebt.

„Du wirst sie mögen“, sage ich. „Bestimmt. Man muß Lady einfach liebhaben. Sie ist so sanft und freundlich, weißt du, und so schön! Ich hoffe, daß ihr Freunde werdet, und daß du oft zu ihr auf die Koppel gehst. Denn eigentlich sollte ein Pferd nicht so allein sein. Und wenn Ladys Bein wieder gesund wird, werdet ihr vielleicht eines Tages gemeinsam über die Wiesen laufen. Pferde können sehr schnell sein. Aber du bist auch schnell. Du bist der schnellste Hund, den ich kenne.“

August sieht zu mir auf und wedelt mit dem Schwanz. Er ist naß wie ein Biber.

Ich glaube, für August ist das Leben ein einziges Abenteuer. Immer macht er ein Gesicht, als wollte er sagen: Toll! Und was passiert als nächstes?

Eigentlich ist es das ja auch, ein Abenteuer. Nur gibt es angenehme und unangenehme Abenteuer. Für mich gehört die Schule eigentlich eher zur unangenehmen Sorte.

Ich fände es besser, auf andere Weise zu lernen. Statt stundenlang im Klassenzimmer herumzusitzen, würde ich lieber von verschiedenen Menschen etwas lernen. Von meinem Vater, wie man Kranke mit pflanzlichen Mitteln heilt, zum Beispiel. Oder von Kathi, meiner Mutter, wie man malt und näht und Wolle verspinnt, wie man lacht und andere tröstet. Von Großvater, wie man mit Tieren umgeht und sie wieder gesund macht, wenn ihnen etwas fehlt.

Von Daniel hätte ich gern Unterricht über die Entwicklung der Pflanzen und Tiere, denn darüber weiß er unheimlich viel. Auch Bücher können wunderbare Lehrer sein. Doch an Schulbücher denke ich dabei weniger. Die sind meistens so trocken und langweilig geschrieben, daß einem der Spaß am Lesen und Lernen total vergeht. Am liebsten lese ich Pferdebücher.

Im Supermarkt treffe ich meine Freundin Sammy. Sie wohnt zwei Dörfer weiter. In ihrem Dorf gibt es keinen Laden, nur ein Gasthaus.

„He, Nelly, zu dir wollte ich gerade!“ sagt Sammy. „Wann kriegt ihr euer Pferd?“

„Morgen“, antworte ich und packe alle Karotten, die in der Kiste liegen, in eine große Tüte.

„Okay, dann komme ich morgen vorbei.“

Ich sehe Sammy an. Ihre Augen erinnern mich immer an einen Husky, weil sie ganz hell und blaugrün sind. So eine Augenfarbe habe ich sonst noch bei keinem Menschen gesehen. Das Gespräch mit Daniel und Emma geht mir durch den Kopf. Wenn Emma schon ihre Freundinnen nicht einladen kann, ist es wohl auch nicht gerecht, wenn ich Sammy kommen lasse. Außerdem habe ich doch selbst gesagt, daß nicht zu viele Leute um Lady herumspringen sollen.

„Du“, antworte ich, „sei nicht sauer, aber mir wär’s lieber, wenn du erst ein paar Tage später kommen würdest. Sagen wir Donnerstag?“

Sammys blaugrüne Augen nehmen einen mißtrauischen Ausdruck an. Ich habe sogar das Gefühl, daß sich ihre kurzgeschnittenen blonden Haare sträuben wie bei einem Terrier, der eine Ratte wittert. „Warum?“ fragt sie. „Willst du mich nicht dabeihaben?“