Daniel Galera

SO ENDEN WIR

Roman

Aus dem brasilianischen Portugiesischvon Nicolai von Schweder-Schreiner

Suhrkamp

So enden wir

Dieser plötzliche Drang, die Zerstörung der Welt voran-zutreiben, hatte mit dem Gestank von Menschenscheiße auf den Gehwegen zu tun, mit den Dämpfen, die von den Müllcontainern aufstiegen, dem Streik der Busfahrer und der allgemeinen Verzweiflung über die Hitzewelle, die Porto Alegre gegen Ende jenes Januars überrollte, aber wenn es ein Vorher und Nachher gab, einen Bruch zwischen dem Leben, das ich bisher geführt hatte, und dem, das mich anscheinend erwartete, dann war es die Nachricht, dass Andrei am Abend zuvor bei einem bewaffneten Raubüberfall ums Leben gekommen war, in der Nähe des Universitätskrankenhauses, nur wenige Straßen von meinem jetzigen Standort entfernt. Als ich auf Twitter davon erfuhr, blieb ich derart abrupt stehen, dass mein verschwitzter rechter Fuß in der Sandale verrutschte und der Knöchel umknickte, sodass ich auf den heißen Bürgersteig knallte und dabei idiotischerweise den linken Arm hochhielt, um mein Handy zu schützen.

Ein paar Meter weiter wühlte eine Obdachlose in einem Müllcontainer, über den Rand gebeugt wie ein Strauß mit dem Kopf im Sand, während ihre schwarzen Beine und nackten Füße aus einem rosa Faltenkleid ragten. Als sie mein Stöhnen hörte, schlüpfte sie aus der Öffnung heraus, schloss den Deckel und kam auf mich zu. Ich hatte mich inzwischen hingekniet und fummelte an meiner Sandale herum. Sie fragte, ob alles in Ordnung sei, und bot mir ihre Hilfe an, und erst da merkte ich, dass sie ein Transvestit war und feine Löckchen auf den muskulösen Armen und Beinen hatte. Ich antwortete, es ginge mir gut, danke, ich müsste mich nur kurz ausruhen. Interessiert sah sie zu, wie ich mich auf die Eingangsstufe vor dem nächstgelegenen Haus setzte. Sie machte ein bisschen den Eindruck, als würde sie mich gern abstützen, hielt sich aber höflich zurück. Eine dicke ölige Schicht bedeckte ihr hübsches Gesicht wie eine Glasur, und das Lächeln mit den geraden weißen Zähnen passte viel weniger zu ihr als das Kleid, das ganz natürlich an ihr wirkte. Ich versicherte ihr noch mal, dass es mir gutginge, dann verschwand sie mit leicht verschränkten Beinen wie ein Mädchen im Bikini, das vor den Freunden ihres Freundes in den Pool steigt.

Ich bewegte meinen Knöchel hin und her, um sicherzugehen, dass keine Sehne gerissen war. Ich hatte Angst, auf mein Handy zu sehen, weil sich dann nämlich bestätigen würde, dass vor wenigen Stunden ganz in der Nähe Andrei von einem Straßenräuber erschossen worden war, mit sechsunddreißig Jahren, wie ich kurz ausrechnete, drei Jahre älter als ich. Auf der Stufe, auf der ich saß, lagen überall abgebrannte Streichhölzer. Bei der Vorstellung, dass vielleicht Andreis Mörder sie angezündet hatte, ein Cracksüchtiger, der bereit war, für ein paar Steinchen zu töten, lief mir ein Schauer über den Rücken und mir wurde übel. Der Schweiß rann hinter meinen Ohren entlang über den Hals. Ich fragte mich, was während meiner Abwesenheit mit der Stadt passiert war, was absurd war, zumal bis gerade eben noch überhaupt nichts passiert zu sein schien, die Stadt war dieselbe wie immer. In meiner Hilflosigkeit kam mir wahrscheinlich der Gedanke, dass die Zeit, in der wir lebten, der Auftakt zu einer langsamen, irreversiblen Katastrophe war und dass die Kraft, das Naturgesetz oder das Etwas, das unsere Träume mit Leben erfüllte, und mit »unsere« meinte ich meine Träume, die meiner Freunde, meiner Generation, allmählich versiegte.

Ich war fast zwei Jahre nicht in Porto Alegre gewesen. Als ich vor einer Woche herkam, hatte ich das Bild von einer luftigen, bunten Stadt im Kopf, das bernsteinfarbene Licht eines Frühlingstages, blauer Himmel und blühende Ipê-roxos im Parque da Redenção, Erinnerungen, die ohne Zweifel real waren, aber aus einer undeutlichen, mit der Gegenwart nicht mehr vereinbaren Vergangenheit stammten. Im Laufe dieser Woche, in der die Stadt unter einem Teppich von Schmutz begraben schien und in der Hitze des schlimmsten Sommers seit Jahrzehnten brütete, erinnerte sie mich an einen Leberkranken, den man zum Sterben der Sonne überlassen hatte. Autos und Menschen mieden die Straßen an jenem einunddreißigsten Januar, mitten in den Schulferien, kurz vor Karneval, und der Streik der Busfahrer, der bereits den fünften Tag in Folge den gesamten öffentlichen Nahverkehr lahmlegte, sorgte schließlich dafür, dass die ganze Stadt wie unter einer Glasglocke vor sich hin dämmerte. Arbeiter aus den Randbezirken weinten in die Fernsehkameras, weil sie nirgends hinkamen und ihre Chefs ihnen die fehlenden Tage vom Lohn abzogen. Kleinbusse, Schulbusse, die von der Stadt als Ersatz eingesetzt wurden, und schrottreife illegale Busse jagten über die leeren Spuren, vollgestopft mit Menschen kurz vor dem Hitzeschlag. Von der immensen Nachfrage beflügelt, hupten und fuhren die Taxifahrer, wie sie lustig waren, und berechneten teilweise am helllichten Tag Nachtzuschlag, einfach weil sie es konnten.

Der Taxifahrer, der mich vor ein paar Tagen vom Flughafen direkt zum Krankenhaus gefahren hatte – womein Vater lag –, meinte, das Arbeitsgericht habe den Streik bereits als rechtswidrig eingestuft, aber den Streikenden sei das egal und ein Ende der Situation sei nicht abzusehen. Busse, die die Depots verließen, wurden von den Gewerkschaftlern mit Steinen beworfen. Die Busfahrer kämpften gegeneinander und gegen ihre Arbeitgeber, die beschuldigt wurden, mitverantwortlich für den Streik zu sein, um so die Regierung zu einer Erhöhung der Tarife zu zwingen, worauf die sich niemals einlassen würde, nicht nach den Demonstrationen im Juni 2013, die, unter dem Einfluss massiver Polizeigewalt, dafür gesorgt hatten, dass die Erhöhung der Fahrpreise im ganzen Land rückgängig gemacht wurde. Währenddessen verbrannten die Pflanzen in der Sonne, im Morgengrauen fühlten die Temperaturen sich an wie im Regenwald und nachmittags kletterten die Thermometer in der Innenstadt über fünfundvierzig Grad. Das Leitungswasser kam heiß aus den Hähnen. Nicht warm. Heiß. Glühend heiß. In manchen Teilen der Stadt gab es teilweise über Stunden oder sogar Tage weder Wasser noch Strom. Die Bevölkerung in den Randgebieten hatte natürlich am meisten darunter zu leiden, die Leute fingen schon an, aus Protest Blockaden auf den Straßen zu errichten. Die Bettler teilten sich die Schattenplätze und versanken frühmorgens auf ihren Pappkartonbetten in einen deliriumartigen Halbschlaf, die Augen leicht geöffnet. Am liebsten hätte ich mich auf die Stufe vor dem Haus gelegt und genauso geschlafen.

Nachdem ich eine Weile so dagesessen hatte, warf ich einen Blick auf mein Handy, auf dem noch die Seite von Zero Hora mit einem Artikel über den Mord an Andrei Dukelsky geöffnet war. Ich scrollte den Text runter, bis das gläserne iPhone-Display vom Schweiß meiner Finger nass war. Laut Andreis Freundin, einer gewissen Francine Pedroso, war er um halb zehn Uhr abends Joggen gegangen und hatte nur Hausschlüssel und Handy dabei, das Handy hatten die Täter gestohlen. Es gab keine Zeugen, obwohl der Tatort in einer auch abends nicht unbelebten Gegend lag. »Eines der vielversprechendsten Talente zeitgenössischer brasilianischer Literatur«, hieß es über ihn. »Duke, wie ihn Freunde nannten.« Unter dem Hashtag #R. I. P. Duke konnten Leser und Freunde in den sozialen Netzwerken ihre Anteilnahme zeigen. Ich traute mich nicht draufzuklicken.

Andrei und ich hatten nicht mehr viel miteinander zu tun gehabt. Vor ein paar Jahren war ich ihm noch mal in São Paulo begegnet, bei seiner letzten Autogrammstunde, jedenfalls der letzten, die ich mitbekommen hatte. Seinen Twitter-Account nutzte er nicht mehr, und sein Facebook-Leben hatte er auch beendet, wie ich danach feststellte. Digitaler Selbstmord sozusagen. Dass wir enger befreundet waren, lag schon fünfzehn Jahre zurück, damals hatten wir während des Studiums per E-Mail für unser digitales Fanzine Orangotango geschrieben und diverse Gespräche geführt, die wir als extrem tiefsinnig in Erinnerung behielten. Er brachte mir auch Camus und Moby Dick nahe. Ich überlegte, wo wohl die anderen von damals steckten, vor allem Emiliano, den ich am meisten vermisste, seit ich in São Paulo wohnte. Ich erinnerte mich, wie mir Andrei zum ersten Mal auf dem Campus vor dem Fachbereich Journalismus aufgefallen war. Er rauchte, als wäre er mit der Zigarette in der Hand geboren worden, war korpulent und konzentriert wie ein Judokämpfer und hatte Geheimratsecken. Meistens trug er hochwertige blaue und rosa Hemden und ging im Jackett in die Bar, was man bei einem Studenten Ende der neunziger Jahre als extravagant bezeichnen konnte. Seine Fingernägel waren lang und schmutzig, außerdem roch er ein bisschen. Duke blieb uns immer ein Rätsel. Unter seinen Freunden, aber vor allem innerhalb von Orangotango gab es eine Art unterschwellige Konkurrenz, wer ihn als Erstes wirklich verstehen und sein Vertrauen gewinnen würde. Aber Duke öffnete sich niemandem. Und seine Erzählungen und Romane brachten einen auch nicht weiter. Nach allem, was ich gelesen hatte, hatte ich den Eindruck, dass er bestimmte Dinge selbst vor der Literatur versteckte. Als wartete er darauf, später mal irgendwann darüber schreiben zu können.

Die Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof, so der Artikel, sollte nur im engsten Familienkreis stattfinden. Ohne Aufbahrung, nach jüdischer Tradition. Ich saß vor dem Eingang irgendeines Wohnhauses, sehnte mich nach dem betäubten Schlaf der Bettler und dachte daran, dass Andrei etwa fünfhundert Meter entfernt von mir auf dem Bürgersteig gelegen hatte, dass sein getrocknetes Blut auf den Steinplatten sich jetzt wahrscheinlich mit Hundepisse und anderen Flüssigkeiten vermischte, und dann ertappte ich mich bei dem Gedanken, dass er in Wirklichkeit verschont worden war, dass er vielleicht sogar Glück gehabt hatte, weil ihm etwas Schreckliches erspart geblieben war, etwas, das uns allen bevorstand.

Mir fiel ein, dass ich die Nikotinpflaster für meinen Vater in der Tasche hatte. Ich machte das Display aus, stand auf und lief weiter in Richtung Avenida Ipiranga. Schwarzer Rauch stieg von der Böschung am Arroio Dilúvio auf, und als ich über die Brücke lief, sah ich zwei Jungen in Lumpen vor einem knisternden Feuer hocken, wahrscheinlich schmolzen sie Kupferkabel, um sie auf dem Schrottplatz zu verkaufen. Der Fluss war nur noch ein schmaler Bach, der sich in der Sonne zwischen den Sandbänken durchschlängelte, aber an den wenigen tieferen Stellen konnte man Fischschwärme im grauen algigen Abwasser stehen sehen. Auf der anderen Seite, in einer Straße, in der sich kleine Häuschen mit Veranden hinter ungepflegten Gärten verbargen, stand zwischen einer Glaserei und einer alten Schlachterei, vor der ich als kleines Mädchen Angst hatte, das Haus meiner Eltern, für die, aus gesundheitlichen und aus Altersgründen, das Ende der Welt näher lag als für mich.

Und für meinen Vater war es tatsächlich fast so weit gewesen. Mit seinen sechsundsechzig Jahren hatte er einen Herzinfarkt gehabt und erholte sich jetzt zu Hause von einer Bypass-Operation. Als acht Tage zuvor im Morgengrauen in meiner Wohnung in São Paulo mein Handy klingelte, war die OP, die vier Stunden dauern sollte, bereits in Gang. Meine Mutter klang am Telefon eher cholerisch als besorgt. Die Einzelheiten erfuhr ich erst von meinem Vater, nachdem er von der Intensivstation kam und sein Gedächtnis aufgefrischt hatte. Zum Abendbrot hatte ihm der Motorradkurier von seinem Lieblingsimbiss ein Sandwich mit Salami und Käse an die Tür gebracht, danach hatte er ein bisschen ferngesehen, dazu zwei Gläser Campari Tonic getrunken, wie immer geraucht wie ein Schlot und sich schließlich schlafen gelegt. In den frühen Morgenstunden war er dann mit Sodbrennen und leichten Schmerzen in der Brust aufgewacht, ein bisschen auf und ab gelaufen und hatte, als die Schmerzen nicht weggingen, beschlossen, in der Notfallpraxis vorbeizuschauen. Da er keinen Grund sah, meine Mutter in ihrem leichten Schlaf zu stören, war er in seinem Honda Fit Automatik allein ins Hospital Mãe de Deus gefahren, hatte unterwegs Marlboro Lights geraucht und dabei den Ellbogen aus dem Fenster hängen lassen und wahrscheinlich auf Radio Continental Simply Red gehört, alles in der Annahme, an Blähungen oder etwas ähnlich Harmlosem zu leiden. Als er die Schmerzen in der Brust erwähnte, ließ die untersuchende Ärztin seinen Blutdruck messen und rief einen Kardiologen. Kurz darauf lag er auf demOP-Tisch.

Am nächsten Tag kam ich samt Gepäck und allem im Krankenhaus an und sah ihn mit einem Kissen vor der Brust auf dem Bett sitzen und sich vor den aufgerissenen Augen meiner Mutter den Schleim aus der Lunge husten. Er war verwirrt und fragte dauernd, ob es Tag oder Nacht sei. Als sie ihm die Bettdecke wegzogen, um ihn zu untersuchen, kam mir sein nackter Körper erschreckend weiß vor, das konnte unmöglich mein Vater sein, ich hatte ihn viel dunkler in Erinnerung. Bestimmt hatten sie ihm zu viel Blut abgenommen oder so was, irgendetwas stimmte jedenfalls nicht. Ich versuchte, nicht hinzuschauen, zumal er sich sicher schämte, so vor mir zu liegen, gleichzeitig war es mir unangenehm, ihn in diesem Zustand zu sehen. Dort auf dem Bett, den Sonden und Nadeln ausgeliefert, das Brustbein mit Stahldraht zusammengeflickt, der auch dann noch in seinem Skelett stecken würde, wenn alles andere Gewebe zu Staub zerfallen war, stellte er ein Sinnbild nicht nur des eigenen, sondern auch meines Todes dar. Kaum wurde er auf die Station verlegt, rückte die Erkrankung in den Hintergrund. Gut gelaunt scherzte er, seinen nutzlos gewordenen Körper der Wissenschaft überlassen und mir für meine Experimente zur Verfügung stellen zu wollen. Ich sagte, dass ich dafür außer Zuckerrohr und Arabidopsis-Samen nichts bräuchte, aber einen Freund an der Uni habe, der sich mit den Auswirkungen von Zigaretten und Wurstwaren auf den Organismus alter Dickköpfe beschäftigte und vielleicht Interesse an seinen Überresten hätte. Mein Vater bekam Besuch von einigen Kollegen aus den Kursen und Schulen, wo er Literatur und Portugiesisch unterrichtete, und auch von drei Schülern, die ihn schätzten. Während ich ihm durch den Flur half, beschwerte er sich über die Launen meiner Mutter, über den Interventionismus der Regierung, die freizügige moderne Pädagogik und seine verwöhnten Schüler, die glaubten, sich alles erlauben zu dürfen, und beobachtete dabei aus dem Augenwinkel meine Reaktion. Nach fünf Tagen durfte er nach Hause. Seitdem litt er unter Stimmungsschwankungen. Manchmal fing er einfach so an zu weinen, sah uns ratlos an und sagte, er wüsste nicht, warum er weinte, während ihm die Tränen über die Wangen liefen. Er bestand darauf, im Stehen zu duschen, kümmerte sich selbst um seine Wunden und absolvierte gewissenhaft seine physiotherapeutischen Übungen. So wie es aussah, hatte er noch ein langes Leben vor sich, dachte ich, vielleicht ging er sogar gestärkt aus der ganzen Sache hervor, stark genug, um die Welt zu Ende gehen zu sehen.

An dem Morgen, als ich von Andreis Tod erfuhr, war ich auf Bitte meines Vaters losgegangen, um ihm Nikotinpflaster zu kaufen. Er wollte eine bestimmte Marke, die nicht leicht zu finden war, und da keine Busse fuhren, musste ich zu Fuß bis zur nächsten Bom-Fim-Apotheke laufen. Zurück zu Hause, kam ich mir vor wie eine Ebola-Patientin. Mein Vater schlief, also legte ich die Packung mit den Pflastern auf den Esstisch und ging in die Küche. Ich füllte Eiswürfel und kalten schwarzen Tee in ein Glas, gab ein bisschen Zitrone und braunen Zucker dazu, ging zurück ins Wohnzimmer und ließ mich aufs Sofa fallen, ein Stück unterhalb des Luftstroms aus der Klimaanlage. Das alte fadenscheinige Sofa hatte einen speziellen Geruch, stärker als die Rosen und Lilien, die meine Mutter immer auf den Tisch stellte. Ich nannte ihn Milbengeruch. Schon als kleines Mädchen, als ich in einem Zeitschriftenartikel über Atemerkrankungen von der Existenz dieser Wesen erfuhr, verband ich den Geruch unseres Sofas mit Scharen winziger Milben, die sich in den rauen Polstern versteckten. In dem Artikel war eine Mikroskop-Aufnahme abgebildet, die Tiere sahen da aus wie grüne Oliven mit Beinchen, die auf grauen Spaghetti-Knäueln balancierten. Ich war wahrscheinlich neun oder zehn, und damals grassierte in Brasiliens Haushalten eine allgemeine Milbenpanik. Meine Eltern hatten wie fast alle anderen auch Luftfilter aufgestellt, die aussahen wie kleine Blechroboter. Wenn ich das mechanische Summen der Filter hörte, stellte ich mir vor, wie zigtausende Milben von klitzekleinen Zahnrädern zermalmt wurden. Wo waren all diese Geräte geblieben? Niemand redete heutzutage noch von Milben. »Vier Paar Beine und ein Paar Taster«, zitierte ich leise einen Satz aus einem Biologiebuch, in dem ich als Kind gelesen hatte. Merkmale der Arachnida, zu denen Milben, Spinnen und Skorpione gehörten. Ich sagte das gern auf, es klang irgendwie komisch, ein bisschen wie ein Kinderreim. Manchmal trällerte ich die Worte in Gedanken vor mich hin, während ich das Geschirr abtrocknete, oder beim Pinkeln, oder wenn ich auf den Computerbildschirm starrte und versuchte, an einem Artikel zu arbeiten.

Eine Zeitlang wiederholte ich den Satz wie ein Mantra, nippte an meinem Eistee und spürte, wie der Schweiß auf meiner kalten Haut trocknete. Andrei ermordet. Das beklemmende Gefühl, das mich eben draußen auf der Straße übermannt hatte, ließ nicht nach, im Gegenteil, es durchdrang mich immer mehr, wie Gift, das in den Boden sickerte. Ich betrachtete das Glas in meiner Hand und stellte mir vor, es wäre in Hunderte von Scherben zersprungen. Das heile Glas hatte auf einmal fast etwas Abartiges, Unangenehmes, als wäre es sich dessen bewusst, ein Glas zu sein, wozu es definitiv kein Recht hatte. Ich drückte zu, ich wollte es zerbrechen, gleichzeitig aber auch nicht, so wie man manchmal den grausamen Drang verspürt, einen kleinen Hund zu zerquetschen.

Mit dreiunddreißig bei meinen Eltern zu übernachten, selbst angesichts der Tatsache, dass mein Vater an einem Herzinfarkt hätte sterben können, führte erwartungsgemäß dazu, dass ich mich emotional zurückzog. Sicher, dieses Haus mit allem darin bedeutete mir viel, aber das änderte nichts daran, dass ich mich dort nicht unbedingt wohl fühlte. Ich warf einen Blick auf die gerahmten Fotos von Tatuíra, unserem Hund mit dem getigerten Fell, der nicht mehr lebte, auf die Veilchen vor dem Küchenfenster, die ausgeblichenen Kochbücher, ich dachte an die gasbetriebene Dusche, die beim Duschen Luft spuckte, die riesige Bibliothek im Arbeitszimmer meines Vaters, die Nachschlagewerke, die meine Mutter auf dem Fußboden hinten im Gartenhaus stapelte, wo sie an ihren Illustrationen arbeitete, das Gästezimmer, in dem noch ein paar alberne Überbleibsel aus der Zeit hingen, als es das Kinderzimmer der einzigen Tochter gewesen war, zum Beispiel ein Poster von Johnny Depp und WinonaRyder in Edward mit den Scherenhänden.

Das vertraute Gefühl in diesem Haus verstärkte meine Angst, irgendwo eine wichtige Grenze offen gelassen zu haben, eine ungeschützte Flanke, durch die man mir mein Leben nehmen würde. In São Paulo war ich mit der Miete im Rückstand, mehr als die Hälfte der Glühbirnen musste ausgetauscht werden, und meine Arbeit über den Biorhythmus von Zuckerrohr lag brach, weil ich wegen einer blöden Geschichte die Zulassungsprüfung für meine Doktorarbeit nicht bestanden hatte. Der nächste Prüfungstermin war für Anfang April angesetzt, und ich hatte ihn extra auf einen Tag gelegt, an dem Professor César, meine Nemesis, seine Stellvertreterin würde schicken müssen. Dadurch war praktisch gesichert, dass ich beim zweiten Mal bestand, aber ich zitterte immer noch vor Wut, wenn ich daran dachte, wie dieser Wurm mich erniedrigt hatte. Das war definitiv Mobbing gewesen, aber ihm damit zu kommen wäre wahrscheinlich kontraproduktiv. César konnte mich zerquetschen, wenn er wollte.

Meine Finger umklammerten das Glas so fest, dass sie gelb wurden. Was würde wohl passieren, wenn ich alles hinter mir ließ. Wenn ich nicht zurückkam. Einfach von der Bildfläche verschwand, nach Uruguay ging und aus der Ferne dem Niedergang der Zivilisation lauschte. Versagen und Verlust würden mich bis an mein Lebensende verfolgen. Version eins. Ich würde eine Freiheit erfahren, von der ich nicht mal wusste, dass sie existierte. Version zwei. Die Frage war, ob außerhalb der engen Grenzen der Eitelkeit die Ambitionen im Leben sich tatsächlich als vergebens, als unbedeutend und vergänglich erwiesen, wie ich manchmal insgeheim vermutete.

Ich lockerte den Griff, schluckte das letzte Stück Eis runter und stellte das Glas auf den Tisch. Ich musste diesem Strudel der Angst entkommen. Dann fiel mir ein, was ich zu Hause immer am liebsten gemacht hatte, schon als Kind. Nämlich in den Bildbänden meiner Mutter zu blättern, unter anderem in den Tier-, Pflanzen- und Anatomiebüchern, die mich damals so faszinierten. Ich ging hinten durch die Küchentür nach draußen. In den wenigen Sekunden, die ich bis ins Gartenhäuschen brauchte, erschlug mich die Hitze derartig, dass ich mich fragte, ob das nicht lebensfeindliche Bedingungen waren. Es ist schon rührend, wie zerbrechlich der Mensch ist. Millionen von Jahren der Evolution hatten zu Wesen geführt, die unglaublich unangepasst an ihre Umwelt waren, wie unser Leiden an kleinsten Temperaturschwankungen oder einem Mangel an irgendwelchenStoffen zeigte, eine geradezu beschämende Empfindlichkeit gegen jede Art von Klimabedingung und Kontakt mit bestimmten Materialien und anderen Organismen, ganz zu schweigen von der noch beschämenderen Empfindlichkeit unseres Geistes gegen allen möglichen Quatsch, gegen die Angst, gegen die Hoffnung. Wir waren nicht geschaffen für diese Natur. Kein Wunder, dass wir sie zerstören wollten.

Zum Glück hatte meine Mutter die Klimaanlage in ihrem Studio voll aufgedreht und hörte wie immer Rádio Ipanema, wo gerade eine Ballade von Nei Lisboa lief, die mich, keine Ahnung warum, an die Abende erinnerte, an denen ich nach dem Vorbereitungskurs für die Uni mit den anderen in die Kneipen im Centro Histórico ging. Ihr Schreibtisch war groß und schlicht, ohne Schubladen, nur eine Holzplatte auf runden Metallbeinen. Verglichen mit dem Radio mit der ausgezogenen Antenne wirkten ihr iMac, der Scanner und das Grafiktablett wie von einem anderen Stern. Neben mehreren Stiftehaltern lagen Blätter mit Skizzen. Sie arbeitete schon seit Jahren am Computer, aber ich konnte mich noch gut an die prädigitale Zeit erinnern, als der Tisch übersät war mit großen dicken weichen Bögen, mit Buntstiftmäppchen, Linealen, Cuttern, Wasserfarben und Pinseln. Als Kind bekam ich Transparentpapier, um mit dem Fineliner Illustrationen aus ihren Büchern abzupausen. Ich hatte immer wahnsinnige Angst, die Spitze abzubrechen. Meine Mutter war spezialisiert auf technische Zeichnungen und das, was sie realistische Illustration nannte. Mit dem zarten Schwung ihres Handgelenks schuf sie Herzen und Lungen für medizinische Lehrbücher, Schüsseln mit Milch und Frühstücksflocken umrandet von saftigen Erdbeeren für Müslipackungen, exotische Vögel für Sammelkarten in Vollmilchschokolade, Traktoren und Mähdrescher für Kataloge von Landwirtschaftsgeräten. Sie brauchte nur die entsprechenden Fotos als Vorlage. Einmal, bevor sie mich zur Schule fuhr, sah ich beim Frühstück eine ihrer Zeichnungen auf einer Brotverpackung und fragte, warum sie nicht einfach Fotos nahmen statt Zeichnungen, die so naturgetreu waren, dass sie im Grunde wie Kopien aussahen.

»Ich kopiere die Fotos nicht«, antwortete sie. »Ich zeichne nicht die Dinge. Dazu sind die Fotos da. Ich zeichne die Idee dahinter. Stell dir einen perfekten Apfel vor. Ich zeichne, was du dir darunter vorstellst und nicht den richtigen Apfel, der bei uns in der Obstschale liegt.«

Meistens waren die Bilder quasiidentische Reproduktionen der Fotos, man entdeckte kaum einen Unterschied, ähnlich wie bei einem Fehlersuchbild, aber irgendwas war doch anders, das ließ sich nicht leugnen. Ihre Zeichnungen sahen eher aus wie Heiligenstatuen oder Renaissancegemälde, sie versprühten einen speziellen Zauber, den die Werbeagenturen, Verlage und Firmen, für die sie arbeitete, sicher besser verstanden als ich. Künstlerischen Wert hatten sie vermutlich keinen. Sie gehorchten anderen, vulgäreren Idealen. Aber manchmal, wenn das Briefing des Kunden ihr mehr Freiheit ließ oder in eine unübliche Richtung ging, schuf sie seltsam poetische Bilder, die weniger mit Etiketten und Katalogen zu tun hatten als mit hyperrealistischen Gemälden, bei denen die Technik und die kaum wahrnehmbaren Abweichungen mit etwas Abstand betrachtet die Qualitäten von Dokumentarfotografie vermittelten. Auf eine meiner Lieblingszeichnungen war sie selbst so stolz, dass sie sie eingerahmt und im Studio an die Wand gehängt hatte. Es war eine Anzeige für Sonnencreme. Eine Familie am Strand, Vater, Hund, die Mutter reibt die Tochter ein, das Mädchen baut eine Sandburg. Die Illustration war aus mehreren Fotos zusammengesetzt, eigene Schnappschüsse aus dem Sommer in Xangri-Lá, wo wir ein Strandhaus hatten, das meine Eltern irgendwann verkaufen mussten, um ihre Schulden abzuzahlen. Das Wasser war nicht blau, und es gab auch keine perfekten Wellen mit weißem Schaum. Der Ort lag an der Küste von Rio Grande do Sul, das Meer war schokoladenbraun und aufgewühlt wie bei einer Überschwemmung. Die Frau auf dem Foto hatte eine Kaiserschnittnarbe am Bauch. Deutlich sichtbar. Meine Mutter beschloss, die Narbe zu lassen. Zu ihrem Erstaunen kam sie damit durch, und das Bild wurde gedruckt. Die Anzeige war relativ klein und die Narbe kaum zu sehen, aber sie war da. In der Vergrößerung an der Wand spürte ich so etwas wie die Wahrheit hinter dem Schein, den Geruch von Brackwasser und den unangenehmen Wind, der dort immer wehte.

Leise betrat ich das Studio, um meine Mutter nicht zu stören, aber sie drehte sich sofort nach mir um.

»Hast du die Pflaster bekommen?«

Ich sagte, ja, und dass Vater noch schlief, und als ich näher kam, sah ich, wie sie das Facebook-Fenster auf ihrem Computer wegklickte, woraufhin auf dem Bildschirm das Zeichenprogramm erschien, mit dem sie gerade irgendein unidentifizierbares Gerät entwarf. Ich fragte, was das sei. »Ein neuer Obstschäler. Ist kürzlich auf den Markt gekommen.« Als ich nicht wusste, was ich sagen sollte, fügte sie hinzu, sie werde bald aufhören und sich ums Mittagessen kümmern. Ich wollte nicht länger stören und ging zu den Büchern, die sich auf dem Fußboden und in mehreren Regalen stapelten. Plötzlich fiel mir etwas ein.

»Mama, kannst du dich erinnern, dass ich mein Lexikon der Kryptozoologie hier liegen gelassen habe?«

Es dauerte eine Weile, bis die Antwort kam, sie musste erst noch etwas in den Computer tippen, bestimmt der Chat auf Facebook, bei dem ich sie unterbrochen hatte.

»Muss zwischen deinen anderen Büchern liegen. Ich glaube, im weißen Regal.«