Dr. Norden Bestseller – 265 – Vereint in schweren Stunden

Dr. Norden Bestseller
– 265–

Vereint in schweren Stunden

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-671-7

Weitere Titel im Angebot:

Margot Altrichter hatte sich bei Dr. Norden angemeldet. Dorthe Harling und Franzi hatten die lustige Witwe, wie sie von ihren Bekannten genannt wurde, noch nicht kennengelernt. Freilich tuschelten die lieben Bekannten nur hinter Margots Rücken, denn auf ihre großzügigen Einladungen wollte man nicht verzichten. Margot war gerade vierzig geworden, aber sie mogelte ein paar Jährchen weg, und das konnte sie sich auch leisten. Sie war eine attraktive Frau, und zweimal im Jahr verbrachte sie je zwei Wochen auf einer Schönheitsfarm, um sich die jugendliche Schönheit noch lange zu erhalten. Ja, sie war schön und sonnte sich gern in der Bewunderung, die die Männer ihr zuteil werden ließen.

So sehr auf Schönheit und Wirkung bedacht, war ihr Seelenleben verkümmert, und niemand empfand das mehr als Angela, die jetzt neunzehnjährige Tochter, die noch nicht ganz zehn Jahre alt gewesen war, als der von ihr so heißgeliebte Vater gestorben war. Es war ein entsetzlicher Schock für das Kind gewesen, denn Manfred Altrichter war nicht krank gewesen. Er starb an einem Herzinfarkt am Steuer seines Wagens, als er Angela von der Schule abgeholt hatte.

Seither war das aufgeweckte, lustige Kind völlig verwandelt. Angela stotterte, beteiligte sich nicht mehr am Unterricht, war der Mutter ablehnend gegenüber, obgleich es auch für Margot ein Schock gewesen war, den Ehemann so plötzlich zu verlieren. Aber da sie nun eine reiche Witwe war, erging sie sich nicht lange in tiefer Trauer. Angela kam in ein Internat, zu ihrem Besten natürlich, wie Margot sagte, denn in der alten Schule wurde sie wegen ihres Stotterns oft gehänselt.

Dr. Norden hatte das verstörte Kind nach dem plötzlichen Tod des Vaters behandelt, aber als er Margot Altrichters wenig verständnisvolle Einstellung zu ihrer Tochter erkannte, war er auch dafür, daß Angela in einem guten Internat besser aufgehoben wäre als daheim. Und er hatte auch gewußt, wo sie sehr gut aufgehoben sein würde, nämlich bei Annedore Stendel, die er seit seiner Studienzeit kannte, die Medizin studiert und sich dann entschlossen hatte, Heilpädagogin zu werden. Sie hatte Dr. Severin kennengelernt, der ein Internat für psychisch und physisch geschädigte Kinder leitete.

Angela hatte sich dort zwar nur langsam eingelebt, weil andere Kinder bedeutend eigenwilliger waren als sie, aber Annedore hatte es verstanden, diesem kleinen verschreckten Mädchen über den großen Kummer hinwegzuhelfen. Angela fühlte sich wohl und wollte gar nicht nach Hause, auch in den Ferien nicht. Das Haus ohne den geliebten Papi war fremd geworden. Margot verreiste ein paarmal mit ihr nach Italien,

nach Frankreich, in die Schweiz, aber Angela war kein Kind zum Vorzeigen, in Margots Augen war sie dumm und häßlich, und wenn sie sich auch bemühte, sich wie eine gute Mutter zu benehmen, fühlte Angela doch schon instinktiv, daß ihr keine Liebe entgegengebracht wurde.

Angela war ein unscheinbares Mädchen, aber sie war durchaus nicht dumm. Sie stotterte nur noch, wenn sie in Verlegenheit gebracht wurde oder einen Menschen nicht mochte. Sie stotterte immer, wenn sie mit ihrer Mutter zusammen war, wenngleich dies auch nicht häufig der Fall war.

Nun war Angela neunzehn Jahre jung, volljährig und zudem im Besitz eines Teiles ihres väterlichen Erbes, auf das Margot niemals einen Einfluß hatte nehmen können. Angelas Vormund, Dr. Ziegler, hatte sich zwar nicht viel um das Mädchen gekümmert, aber er hatte ihr Erbe bestens verwaltet, da er zu den wenigen Männern gehörte, die Margots Oberflächlichkeit durchschauten und sich nicht von ihr einfangen und vor den

Triumphwagen spannen ließen.

Margot hatte nun allerdings im Auge, den Baron Jesko von Drammin zu heiraten. Ihre Tochter hatte sie ihm unterschlagen. Mit Angela konnte sie ja keinen Staat machen, wie sie meinte. Aber Angela konnte nun nicht mehr im Internat bleiben, sie wollte es auch nicht. Sie wollte einen Beruf erlernen, aber der Gedanke, im Haus der Mutter leben zu müssen, versetzte sie in Panik und machte sie krank. Sie ahnte ja nicht, daß Margot sie liebend gern abschieben wollte. Aber das sollte mit aller Vorsicht geschehen, und Dr. Norden erschien Margot auch diesmal als Ratgeber.

Also kam sie in seine Praxis, und seine Sprechstundenhilfe Dorthe Harling lernte eine sehr elegante, sehr arrogante Frau kennen, von der sie mit einem abschätzenden Blick gemustert wurde.

»Oh, Sie sind neu, ich kenne Sie noch nicht«, sagte Margot.

»Frau Altrichter?« sagte Dorthe. »Sie sind angemeldet.«

»Ganz richtig, und ich brauche hoffentlich nicht zu warten.«

Es lag Dorthe auf der Zunge, in genauso arrogantem Ton zu sagen, daß Dr. Norden sie möglichst schnell wieder draußen sehen wollte, denn dahingehend hatte er sich geäußert, wenn auch etwas dezenter.

»Nein, Sie brauchen nicht zu warten«, erwiderte Dorthe.

Dann kam Frenzi.

»Ach, da ist ja noch ein neues Gesicht«, sagte Margot. »Sie sind aber noch sehr jung.«

»Ich lerne noch«, erwiderte Frenzi, die schon sehr selbstbewußt geworden war und auch sehr hübsch.

Aber Margot konnte nicht mehr lange überlegen. Dr. Norden verabschiedete eine Patientin und bat Margot herein.

Ihr fehlte bestimmt nichts, das sah man auf Entfernung, obgleich sie sehr bemüht war, eine sorgenvolle Miene aufzusetzen.

»Lange nicht gesehen, Frau Altrichter«, sagte Dr. Norden lässig, denn er hatte nicht die Absicht, sie mit Komplimenten zu überschütten, wie sie es wohl auch von ihm erwartete. In seinen Augen war sie nur eine eitle, egoistische und geltungsbedürftige Frau. »Wo fehlt’s denn?«

»Angela, immer Angela«, seufzte sie, »sie ist mit der Schule fertig und hat es ja recht und schlecht geschafft.«

Er konnte sich einen Hieb nicht verkneifen. »Frau Dr. Severin hat mir mitgeteilt, daß Angela einen sehr guten Abschluß hat«, sagte er.

Margots Augenlider flatterten. »Nun ja, da ist man nachsichtig, und für Angela spielt es ja auch keine Rolle, welches Wissen sie mitbringt, sie hat ja ihr väterliches Erbe. Aber was soll sie jetzt machen, wo soll sie hin? Sie will doch gar nicht nach Hause.«

»Ich bin informiert«, sagte er, und sie zuckte zusammen. »Angela wird auf die Insel der Hoffnung gehen und dort volontieren.«

Margot starrte ihn an. »Warum habe ich das noch nicht erfahren?« fragte sie.

»Angela ist volljährig, sie braucht keinen Vormund«, erwiderte er gelassen.

Sie kniff die Augen zusammen. »Aber Sie wissen doch selbst, daß sie labil und nicht als erwachsen zu bezeichnen ist.«

»Das wird sich herausstellen, Frau Altrichter, aber es sollte Ihnen doch recht sein, wenn sie in der Obhut meines Schwiegervaters und seiner Frau gut aufgehoben ist.«

»Sie hätten das mit mir besprechen können«, sagte sie gereizt. »Ich hätte sie lieber in die Schweiz geschickt.«

»Sie hätte sich geweigert. Sie unterschätzen Ihre Tochter, Frau Altrichter.«

»Nun, ich möchte Ihnen sagen, daß ich vorhabe, mich wieder zu verheiraten, und es wäre mir nicht angenehm, wenn sich Angela da einmischen würde. Baron von Drammin könnte schockiert sein.«

Dr. Norden kam langsam die Galle hoch. »Sie können unbesorgt sein«, sagte er. »Angela ist bereits auf der Insel der Hoffnung, und da sie Ihnen davon noch keine Mitteilung gemacht hat, brauchen Sie nicht zu fürchten, daß sie Ihnen unangemeldet ins Haus geschneit kommt.«

Margot schluckte das schwer, aber sie legte den Kopf zurück und sagte heiser: »Meine Tochter ist sehr vermögend und hat es nicht nötig, eine untergeordnete Stellung anzustreben, und ich möchte auch verhindern, daß sie einem Mitgiftjäger in die Hände fällt.«

»Angela bestimmt nicht«, sagte Dr. Norden ironisch. »Ich hoffe für Sie, daß dieser Baron von Drammin adäquat ist.«

Das war ihm so herausgerutscht, und er erntete dafür einen empörten Blick. Aber Margot sagte nur: »Dann kann ich mich ja verabschieden, und Sie können Angela sagen, daß ich ihr bestimmt nicht nachlaufen werde.« Sie rauschte von dannen.

»Uff«, sagte Dorthe.

Dr. Norden lachte leise. »Das hätten wir auch geschafft, weiter im Text!«

*

Angela war erst am Vormittag auf der Insel der Hoffnung eingetroffen. Annedore Severin hatte sie hingebracht, um sich das Sanatorium, das mittlerweile schon Weltruhm erlangt hatte, anzuschauen.

Angela hatte während der Fahrt still neben ihr gesessen, schmal, blaß und zierlich wie eine Sechzehnjährige.

»Dir braucht nicht bange zu sein, Angi«, sagte Annedore weich.

»Mir ist gar nicht bange«, erwiderte Angela, »ich denke nur nach.«

»Worüber denkst du nach?« fragte Annedore.

»Wer mein Geld bekommt, wenn ich sterbe.«

Ein eisiger Schauer rann durch Annedores Körper. »Aber Angi! So darfst du doch nicht denken, du bist doch jung und gesund.«

»Bin ich wirklich gesund?« fragte Angela. »Wenn ich jetzt ein Testament mache und sie enterbe, wird sie dann nicht sagen, daß ich nie richtig normal war?«

Annedore erschrak noch mehr. Sie kannte Angela zwar so genau wie kaum ein anderer Mensch, denn sie hatten lange, ernste Gespräche geführt, die Annedore bewußt machten, daß Angela für ihre Mutter überhaupt nichts empfand, aber solche Gedanken wie jetzt hatte das Mädchen noch nie geäußert.

»Was geht dir da nur durch den Sinn, Kleines?« fragte Annedore bebend.

»Mama hält mich doch für bekloppt«, sagte Angela, und weil sie diesen Ausdruck gebrauchte, wurde es Annedore ein bißchen leichter. So hatten sich ihre Schützlinge unterhalten und jeder von ihnen hatte irgendwelche Schwierigkeiten mit den Eltern gehabt, die bereit waren, recht beträchtliche Beträge zu zahlen, um keine Verantwortung für ihre Kinder tragen zu müssen, und dabei waren die meisten tatsächlich oft normaler als diese Eltern. Annedore hatte in vielen Jahren auch viele Erfahrungen gemacht. Aber von allen war ihr Angela tatsächlich am meisten ans Herz gewachsen, weil sie wirklich nur Liebe und Zuwendung brauchte, die sie nach dem Tod des Vaters nicht mehr bekommen hatte.

»Du bist nicht bekloppt, du bist überdurchschnittlich begabt«, erklärte Annedore. »Alle Tests beweisen das. Du hast nur zu wenig Selbstvertrauen. Ich habe dir das oft gesagt.«

»Ich bin häßlich«, sagte Angela.

»Du bist nicht häßlich«, widersprach Annedore heftig.

»Mama hat es gesagt. Sie konnte nie verstehen, daß eine so schöne Mutter eine so häßliche Tochter haben kann, aber ich bin halt nur dem Papi nachgeraten. Warum hat sie ihn eigentlich geheiratet, wenn sie ihn auch häßlich fand?«

Annedore wußte nicht mehr, was sie sagen sollte. Plötzlich sprach Angela über ihre geheimsten Gedanken, warum erst jetzt?

»Du bist nicht häßlich, und dein Vater war nicht häßlich, er war ein sehr interessanter Mann«, sagte Annedore schleppend in das Schweigen hinein.

»Und er war sehr reich. Mama hatte nichts, als sie ihn geheiratet hat. Aber davon redet sie natürlich nicht. Ich weiß es ja auch nur von Dr. Ziegler. Und jetzt stinkt es Mama, daß ich mehr Geld habe als sie, aber sie bekommt nichts, Annedore, auch nicht, wenn ich tot bin.«

»Herrgott, Angi, hör endlich davon auf«, stieß Annedore hervor.

»Du hast gesagt, daß du meine Freundin bist, daß ich du sagen darf und immer zu dir kommen kann, wenn ich etwas auf dem Herzen habe. Also kann ich auch sagen, was ich denke. Ich will ja nicht sterben. Ich möchte sogar erleben, daß Margot Altrichters schöne Maske mal zusammenfällt, aber man weiß nicht, was Gott bestimmt hat, und deshalb werde ich mein Testament machen. Du kannst bezeugen, daß ich normal bin, geistig und körperlich normal und zurechnungsfähig. Und ich kann über mein Vermögen verfügen, auch über den Teil, der mir erst bei meiner Heirat ausgezahlt werden soll. Da ich nicht heiraten werde…«, sie unterbrach sich. »Ja, was wird eigentlich mit dem Geld, wenn ich nicht heirate? Da habe ich Dr. Ziegler noch gar nicht gefragt.«

»Du kannst ihn ja fragen«, sagte Annedore seufzend. »Aber jetzt solltest du erst mal daran denken, daß du lebst, daß du frei bist und über dein Leben selbst entscheiden kannst.«

Angela nickte. »Du hast recht, Annedore, du bist meine beste, meine liebste Freundin, und du warst immer meine beste Lehrerin. Du hast mich nie abgeschoben.«

Halb noch Kind und doch schon erwachsen, ging es Annedore durch den Sinn. Und sie wünschte diesem Mädchen so viel Glück im Leben, daß es ihr weh ums Herz wurde, wenn Angela vom Tod sprach.

Aber als sie die Insel der Hoffnung betraten, begannen Angelas Augen zu strahlen. »Lieber Gott«, sagte sie andächtig, »ist das schön, so wunderschön. Der gute Dr. Norden meint es wirklich genauso gut mit mir wie du, Annedore.«

Sie freute sich wie ein Kind, als sie so herzlich von Anne und Johannes Cornelius empfangen wurde, besonders auch deshalb, weil sie wieder eine »Anne« hatte. Das war das Kindliche in ihr, das nach einer Beziehung suchte und sie stotterte auch nicht, als sie sagte: »Ich bin glücklich, daß ich hierher kommen durfte.«

Dann kam Mario, der Adoptivsohn von Dr. Cornelius und seiner Frau Anne, nun schon vierzehn Jahre alt und so groß wie Angela, obgleich er gewiß keiner der Großen in seiner Klasse war, wenngleich einer der Besten, und niemand würde es glauben, daß seine Eltern ganz arme und ungebildete Gastarbeiter gewesen waren, wenn davon überhaupt noch die Rede sein sollte. Knapp vier Jahre alt war der kleine Italiener gewesen, als seine Eltern bei einem Bootsunglück starben und nur Mario von Dr. Norden gerettet werden konnte. Und welch ein Glück hatte dieses Kind dann gehabt, in der Geborgenheit einer solchen Familie aufwachsen zu können und so geliebt zu werden. Ein glückliches Kind, wie Angela ein unglückliches Kind gewesen war, nachdem sie den Vater verloren hatte.

»Mario kann dir nachher die Insel zeigen, Angela«, sagte Anne Cornelius. »Er weiß alles und kennt jedes Eckchen. Aber jetzt werden wir erst einmal essen.«

Sie setzten sich an einen runden Tisch. Sie konnten sich anschauen, miteinander vertraut machen, und Annedore konnte sich freuen, weil Angela gar nicht scheu war, nachdem sie die ersten Hemmungen überwunden hatte.

Mario zog mit ihr los, und so konnte sich Annedore mit dem Ehepaar Cornelius unterhalten und ihnen noch ein bißchen mehr über Angela erzählen.