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© Querverlag GmbH, Berlin 2018

Erste Auflage März 2018

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale.

ISBN 978-3-89656-645-4

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Querverlag GmbH, Akazienstraße 25, D-10823 Berlin

http://www.querverlag.de

„Ich hab ja nichts gegen Homosexuelle, aber“ müsste dieses Buch eigentlich heißen. Oder ein alternatives Cover haben, auf dem steht:

„Ich hab ja nichts gegen Lesben, aber“, denn es geht um Homophobie, also auch um die Abwertung von Lesben.

Der Verlag und ich haben das diskutiert. Aber dann haben wir uns entschieden, es so zu nennen, wie man es eben sagt.

Dass oft „Schwule“ sagt, wer „Homosexuelle“ meint, zeigt, wie wenig der gesellschaftliche Blick auf Homosexuelle mit homosexueller Realität zu tun hat. Dafür aber ganz viel mit dem Zustand der Gesellschaft.

Auch darum soll es in diesem Buch gehen.

„I hate the word homophobia.
It’s not a phobia. You are not scared.
You are an asshole.“

Ein Zitat, das leider nicht

von Morgan Freeman stammt.

„Jeder von uns ist nett und auch ein Arschloch.“

Michael Haneke

Ich bin homophob

Ich bin homophob. Und – Verzeihung, wenn ich damit schon direkt am Anfang komme – Sie sind es sehr wahrscheinlich auch. Wenn Sie nicht auf dem Mond groß geworden sind, dann sind wir beide, sind Sie und ich, in Gesellschaften aufgewachsen, in denen Homosexualität als etwas Gleichwertiges nicht nur nicht gelebt, sondern praktisch auch nicht gedacht werden konnte.

Auch wenn wir nicht homophob sein wollen, steckt es doch tief in uns drin. Wir haben keine Erfahrung, keine Übung im Leben in einer nicht-homophoben Welt. Denn wir können unser kulturelles Grundverständnis, das uns tief geprägt hat, nicht einfach abschütteln. Gerade wenn wir es, also homophob, nicht sein wollen, sollten wir uns damit beschäftigen, wie sehr wir es sind. Wie sehr wir gar nicht anders konnten, als es zu werden.

Schon wenn wir davon sprechen, dass wir Homosexualität akzeptieren (die eigene oder die der anderen), ist das ein Hinweis auf die homophoben Denkstrukturen, derer wir uns nicht erwehren können. Würden wir auch von „Akzeptanz“ sprechen, wenn wir unsere Haltung zur Heterosexualität (zur eigenen oder der eines anderen Menschen) ausdrücken? Akzeptanz kommt von „accipere“: gutheißen, annehmen, billigen. Nur: etwas, das selbstverständlich, gleichberechtigt und gleichwertig ist, bedarf keines Gutheißens, keiner Annahme, keiner Billigung.

Man muss nicht hetero sein, um homophob zu sein. Reden wir zunächst über mich: Als junger schwuler Teenager in den 1980ern konnte, ja wollte ich mir nicht vorstellen, dass Homosexuelle einmal würden heiraten dürfen. Die Vorstellung hatte etwas Bedrohliches. Ich war mir ziemlich sicher, dass weder die Homosexuellen noch die Gesellschaft mit einer „Homo-Ehe“ zurechtkämen. Ich dachte, die Ehe sei etwas, das mir, das uns Homosexuellen nicht zusteht. Und genau das ist Homophobie. Aber wie sollte ich das auch anders sehen? Woher hätten die Bilder von Gleichwertigkeit kommen sollen in einer Gesellschaft, in der noch die kleinste Erzählung, und sei es nur die 30-Sekunden-Geschichte der Fernsehwerbung, eine heteronormative Ordnung präsentiert?

Wie hätte ich es damals schaffen können, nicht homophob zu denken? Wo doch von all den Tausenden kleinen und großen bis dahin aufgeschnappten Geschichten von Begehren, Liebe und Zusammensein keine einzige dabei gewesen war, in der das eigene Begehren auch nur im entferntesten als ebenbürtig vorstellbar war? Wenn es für Homosexuelle schon so schwer, ja eigentlich unmöglich war, ohne tief sitzende homophobe Ressentiments sozialisiert zu werden: Wie sollte das bei heterosexuellen Menschen gelingen? Bedeutet das heute überall vernehmbare Bekenntnis, „nichts gegen Homosexuelle“ zu haben, dass die, die so etwas sagen, sich wirklich mit der Frage beschäftigt haben, ob dem so ist? Oder doch eher, dass sie sich mit der Frage nicht beschäftigen, nicht beschäftigen möchten?

Die „Ehe für alle“ bedeutet einen wichtigen Schritt im Kampf gegen die Diskriminierung Homosexueller in Deutschland. Die Abwertung von Lesben und Schwulen in unserer Gesellschaft ist dadurch noch lange nicht überwunden. In gewisser Hinsicht ist es für Homosexuelle sogar schwieriger geworden, auf Missstände, die es im Alltag, in der Schule, bei der Diskriminierung im Beruf, im Gesundheitssystem und in Politik und Medien gibt, aufmerksam zu machen und diese zu überwinden. Denn es verbreitet sich in der Öffentlichkeit eine Stimmung, die auf die Frage hinausläuft: „Was wollt ihr denn noch? Ihr habt doch jetzt alles erreicht!“

Anlässe zur Sorge sind für Lesben und Schwule dabei nicht nur die allgegenwärtige Gewalt gegen Homosexuelle und das Erstarken der Populisten, die gegen Vielfalt und Selbstbestimmung Stimmung machen. Nicht nur die extremen Töne lassen aufhorchen.

Es klingt auf den ersten Blick absurd, aber: Trotz der wachsenden Zustimmung zur rechtlichen Gleichstellung verfestigt sich auch in der Mitte der Gesellschaft seit einigen Jahren eine „neue Homophobie“. Auffällig ist, dass es sich um eine aufgeklärte Gesellschaftsschicht handelt, d.h. eine Gruppe, die sich selbst als tolerant verortet und in der es zum guten Ton gehört, „selbstverständlich kein Problem“ mit Homosexuellen zu haben.

Diese Selbstwahrnehmung steht häufig nicht nur im Gegensatz zu tief sitzenden, nie aufgearbeiteten homosexuellenfeindlichen Reflexen. Das liberale, aufgeklärte Selbstbild macht eine konstruktive selbstkritische Auseinandersetzung mit ihnen auch noch besonders schwer: „Homophob? Ich doch nicht. Meine besten Freunde sind doch homosexuell!“

Die „neue Homophobie“ ist nicht so grob und augenfällig wie der Homohass vergangener Jahrzehnte. Sie spricht nicht von „Sünde“ oder erklärt Homosexuelle für krank. Nur noch zehn Prozent der Deutschen geben an, dass Homosexualität unmoralisch sei. Doch die mangelnde Sichtbarkeit macht die neue, versteckte Homophobie nicht weniger gefährlich. Im Gegenteil: Das Ansprechen unterschwelliger homophober Denkmuster führt meist nicht zu der Bereitschaft, sich mit diesen auseinanderzusetzen, sondern zu erbitterter Abwehr. Eine wirkliche Beschäftigung mit dem, was Homophobie ausmacht und wie sie überwunden werden könnte, hat in unserer Gesellschaft nie stattgefunden.

Dies hat auch damit zu tun, wie die „Ehe für alle“ in Deutschland eingeführt wurde: Zwei Jahrzehnte war sie in Deutschland Dauerthema. Doch im Gegensatz zu den meisten anderen westlichen Ländern nie auf ein bestimmtes Entscheidungsszenario, auf einen bestimmten Termin ausgerichtet. Und deshalb auch nie oben auf der politische Agenda, nicht von einer breiten Diskussion, einem gesamtgesellschaftlichen Willensbildungsprozess flankiert.

Die Entscheidung für die rechtliche Gleichstellung kam dann letztendlich plötzlich und unerwartet. Sie war eine politische Sturzgeburt. Obwohl die Bevölkerung die Entscheidung an sich großteils befürwortete, war die öffentliche Freude darüber merkwürdig verhalten. Anders als in Frankreich gab es in Deutschland keine Massenproteste. Aber anders als etwa in den USA wurde der Schritt nicht als emanzipatorischer Meilenstein gefeiert, der weitreichende Auswirkungen für das Selbstverständnis der Gesamtgesellschaft hat. Einem Großteil der Deutschen, so scheint es, ist das Ganze bestenfalls egal. Selbst viele von denen, die das Anliegen unterstützen, verstehen nicht, warum das jetzt so ein Thema sein soll: „Haben wir keine anderen Sorgen?“

Während Präsident Barack Obama nach der Entscheidung für die Gleichstellung im Obersten Gerichtshof in einer pathetischen Rede von einem „Sieg für Amerika“ sprach, der die Grundfeste des Landes stärke, sagte der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach der Abstimmung im Bundestag: nichts.

In Deutschland gibt es zudem eine weitere Besonderheit, die den verdrucksten Umgang mit homophoben Ressentiments manifestiert: So wie die Einführung der „Ehe für alle“ war auch die erst 1994 erfolgte Abschaffung des Strafrechtsparagrafen 175 nicht Anlass zu einer gesellschaftlichen Aufarbeitung. Die durch ihn kultivierten diskriminierenden Strukturen und negativen Leitbilder wurden nie angemessen betrachtet.

Eine kulturelle oder politische Reflexion der in Deutschland spezifischen Homosexuellenverfolgung ist überfällig. Das Gift, welches das Konstrukt des „Hunderfünfundsiebzigers“ als ein unscheinbares, kriminelles Wesen in die Gesellschaft brachte, hat sich im Laufe der Zeit zwar stetig abgebaut. Aber es ist noch da und je heftiger die Existenz des Giftes in Abrede gestellt wird, desto schädlicher kann es seine Wirkung entfalten.

Die neue Homophobie ist nicht nur das Problem dumpfer Stammtische. Sie schwelt hinüber zu den Orten des links-intellektuellen Milieus bis hin zu den Grünen. Sie findet sich im Feuilleton, am Theater, im politischen Kabarett. Im Prinzip ist die neue Homophobie natürlich die alte, sie offenbart uralte Abwertungsmechanismen. Neu ist, dass es sich um eine Homosexuellenfeindlichkeit handelt, die auf ihre Homosexuellenfreundlichkeit beharrt.

Umso wichtiger ist es, sie zu dechiffrieren, sie zu benennen. Gerade weil das genaue Hinschauen in den quälenden Auseinandersetzungen um die „Ehe für alle“ zu kurz gekommen ist.

Oft heißt es, das beste Mittel gegen Homophobie sei Bildung. Ich bin mir da nicht so sicher. Mehr Bildung führt nicht automatisch zu weniger Homophobie. Ich glaube sogar, dass es auch einen umgekehrten Zusammenhang gibt. Homophobie hat in gebildeten Kreisen einen guten Nährboden. Zum einen, weil man dort geschulter darin ist, Ressentiments zu verbergen und vor sich selbst und anderen zu verklären. Wo nichts ist, muss und kann auch nichts bewältigt werden.

Zum anderen ist die öffentlich zelebrierte Akzeptanz von Homosexualität ein kultureller Code gebildeter Kreise. Weltgewandt zu sein, bedeutet, sich vorurteilsfrei zu geben, sich auch auf das Lebenswerk vieler homosexueller Künstlerinnen und Künstler zu beziehen. In der Theorie haben solche Leute keinerlei Berührungsängste. Homosexualität ist dann wie ein Graffiti, das man im Museum als Kunst bewundert, aber doch bitte nicht an der eigenen Hauswand hat. Als es bei der „Ehe für alle“ ums Ganze ging, war das im Boulevard schon kein großes Ding mehr. Es war die Starrköpfigkeit gebildeter Bevölkerungsschichten, die ihre bürgerliche Gesellschaft in Gefahr sahen. Ebenso wie die „Demo für alle“ und die Bewegung der „besorgten Eltern“, die gegen den in schulischen Bildungsplänen als Leitperspektive formulierten Respekt vor sexuelle Vielfalt wettern und ihre Kinder vor solcher bewahren möchten.

Doch es gilt, Homophobie nicht nur um der Homosexuellen willen zu bekämpfen. Die Gründe und Mechanismen, die hinter der Abwertung von Minderheiten stecken, sagen weniger über die Minderheiten aus als über diejenigen, die ein Problem mit ihnen haben. Die Probleme, die Heteros mit Homosexuellen haben, sind keine Probleme, die von Homosexuellen ausgehen.

Doch um welche Vorbehalte geht es eigentlich? Warum hat die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft die rechtliche Gleichstellung nie als ihr eigenes Anliegen begriffen? Warum empfindet sie homosexuelle Sichtbarkeit so oft als aufdringlich? Ist sie ehrlich offen für Differenz oder wünscht sie sich in Wahrheit bürgerliche, „unauffällige“ Homosexuelle? Indem sich Heterosexuelle mit der strukturellen, gesellschaftlichen und der individuellen Homophobie beschäftigen, können sie eine Menge über sich selbst lernen. Zu versuchen, Homophobie zu verstehen, statt sie reflexhaft zu bestreiten, könnte dazu beitragen, den Zustand unserer Gesellschaft auch in den Konfliktzonen besser zu begreifen, die nichts mit sexuellen Minderheiten zu tun haben. Auch bei Sexismus und Rassismus geht es um Angst. Doch ebenso geht es um Macht, Konventionen, fehlende Empathie, Bequemlichkeit im Denken wie im Handeln.

Es ist Zeit für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Homosexuellenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft. Und – wenn wir sie schon nicht gänzlich überwinden können – darüber, wie wir sie ihrer Tücke, ihrer Hinterhältigkeit berauben können. Das Problem ist nur, dass fast jede Diskussion über Homophobie an der gleichen Stelle aus der Kurve fliegt. Der Urheber der Äußerung verweigert eine solche Debatte nicht nur, er torpediert sie auch noch mit einem Totschlagargument: Das Gesagte kann ja gar nicht homophob sein, weil sie oder er selbst ja gar nicht homophob sei; sobald es einen Anlass, eine Äußerung, ein Verhalten gibt, anhand dessen man klären könnte, was oder ob etwas daran als homophob zu bewerten ist und was man daraus lernen könnte, greift in der Regel diese Logik. Homophobie ist demnach wie eine genetische Krankheit. Die einen haben sie und die anderen nicht. Und die, die sie nicht haben, die sind fein raus. Die Debatte endet, bevor sie begonnen hat. Das Gesagte kann nicht homophob sein, denn es war ja nicht so gemeint, kann ja gar nicht so gemeint gewesen sein.

Wenn homophob immer nur die anderen sind, brauchen wir über Homophobie nicht zu reden. Also, machen wir einen Anfang: Ich bin homophob – und Sie sind es wahrscheinlich auch!

Perspektivenwechsel

Das Reden über Homophobie (oder besser: das Aneinander-Vorbeireden) hat oft damit zu tun, dass unterschiedliche Ebenen, Erwartungen und Erfahrungen nicht benannt werden. Unterschiedliche Tonalitäten und Sprachen können die Chancen einer Verständigung bereits zu Beginn eines Gespräches über Homophobie verschütten. Es geht also darum, Ebenen zu definieren oder es zumindest zu versuchen.

Eine Ebene in diesem Buch ist die meines Blogs, das ich seit 2006 betreibe. Wenn Sie mein Blog nicht kennen, möchte ich Sie in diesem Buch damit vertraut machen.

Das Nollendorfblog ist benannt nach dem Nollendorfplatz in Berlin-Schöneberg, der seit über hundert Jahren, weit über Deutschland hinaus, Zentrum und Schauplatz der kulturellen und politischen Emanzipation von Schwulen und Lesben ist. Ich schreibe dort aus homosexueller Perspektive für homosexuelle, für queere Leserinnen und Leser. Es gibt also so etwas wie ein „Wir“. Doch bereits hier wird es schwierig, da dieses „Wir“ ganz und gar nicht so einfach ist, wie es klingt.

Das „Wir“ ist je nach Anlass und Perspektive mal ein schwules, mal ein lesbisch-schwules, also homosexuelles, mal ein queeres „Wir“ (also eines, das – grob gesagt – alle einbindet, die sich nicht heteronormativ verorten). Jedes dieser „Wirs“ ist eine Anmaßung, denn natürlich kann ich streng genommen nur für mich selbst schreiben. Ich bin kein demokratisch gewählter Aktivist, es gibt keine festgelegte gemeinsame Community-Agenda, auf die ich mich berufen kann oder will. Dass ich schwul, homosexuell und queer bin, erlaubt es mir nicht, für andere zu sprechen, die es auch sind. Einerseits. Andererseits steckt hinter diesen Texten ja ein Ziel: Ich möchte meine Vorstellung darüber mitteilen, wie die Emanzipation unserer Minderheiten und wie der Kampf gegen Diskriminierung aussehen könnte. Hierzu bedarf es nicht nur der Annahme gemeinsamer Interessen, sondern auch der Formulierung gemeinsamer Ziele und Lösungsansätze. Jedes „Wir“ ist also eine Behauptung. Es ist brüchig, oft ungenau, und viele, die damit gemeint sind, wehren sich entschieden dagegen, dass sie es sind. Und das ist ihr gutes Recht.

Ich bin sehr für einen gemeinsamen Weg von LGBTI*. Einen Kampf, in dem jeder sich auch für die Bereiche engagiert, von denen er nicht unmittelbar betroffen ist. Und obwohl ich keine der Perspektiven, keine der Minderheiten oder Identitäten gegeneinander ausspielen möchte, kann und will ich sie in meinem Blog nicht immer gleich im Blick behalten.

Weil, erstens, nicht alle Interessen und nicht alle Formen von Diskriminierung gleich sind. Auch wenn es natürlich immer das Ziel sein sollte, gegen alle Formen von Diskriminierung anzugehen, muss man trotzdem die einzelnen mit ihren jeweiligen spezifischen Eigenarten betrachten. In ganz vielen Punkten geschieht die Abwertung von Schwulen und Lesben ähnlich, in vielen aber nicht. Vieles, was für Homosexuelle gilt, gilt auch für trans-, bi- und intersexuelle Menschen. Vieles aber auch nicht.

Zweitens: Ich bin ein schwuler Mann. Es gibt Aspekte und Themen, bei denen das egal ist, aber es gibt eben auch die, wo das nicht so ist. Es gibt Themen, bei denen ich mir anmaße, auch für Lesben sprechen zu können, und Themen, bei denen ich das nicht tue.

In meinem Blog richte ich mich also vor allem an Mitglieder der LGBTI*-Community. In diesem Buch möchte ich nun auch die ansprechen, die sich nicht dazu zählen. Wenn Sie nun einwenden möchten, dass es doch egal ist, ob jemand homo oder hetero oder sonst etwas ist, dann sind wir schon an einem Punkt, der bei vielen Homophobie-Diskussionen eine große Rolle spielt und oft bereits erste Probleme macht: Natürlich ist es egal und natürlich ist es nicht egal. Es stimmt, dass es keine fest betonierten Perspektiven gibt, dass jeder auch grundsätzlich die Möglichkeit hat, den Blickwinkel des anderen zu übernehmen. Doch damit dies möglich ist, muss ich erst einmal das Vorhandensein unterschiedlicher Perspektiven voraussetzen. Auch wenn es „den“ schwulen, lesbischen, queeren Blick nicht gibt, so gibt es ihn doch auch.

Ich möchte in diesem Buch aufzeigen, wann das so ist und warum. Also: Wann macht es einen Unterschied und was macht ihn aus? Wie ist es möglich, diese Unterschiede deutlich zu benennen, also klarzumachen, wo Homosexuelle eine andere Sicht als Heterosexuelle haben, und trotzdem eine Basis für gemeinsamen Austausch zu schaffen? Wenn das alles im gleichen Buch geschehen soll, es also kein Buch sein soll, das einseitig den Heteros die Homos erklärt, sondern eines, das einen gemeinsamen konstruktiven Streit provozieren kann, dann kann das meiner Meinung nach nur über einen ständigen Perspektivenwechsel funktionieren. Ein Ansatz, der je nach Perspektive radikal ist oder konziliant. Einer, der sowohl den vorhandenen Ärger und die Wut einzufangen versucht, die „wir“ Homosexuelle als Opfer von Abwertung empfinden. Aber auch einer, mit dem „wir“ alle als Teile unserer Gesellschaft, egal ob homo oder hetero, eine gemeinsame Gesprächsbasis finden können, um zusammen einen Schritt weiterzukommen.

Das klingt anstrengend. Doch sehr viel anstrengender ist es, es nicht zu tun, also immer wieder neue Debattenunfälle zu produzieren. Oder ein gegenseitiges Genervtsein weiter zu kultivieren. Eines, das mal zu Frust, mal zu Gleichgültigkeit führt. Eines, das aus dem Wunsch daraus, dass alles endlich mal gut sein möge, alles gut sein lässt. Und dabei das liegen lässt, was nicht gut ist, eben nicht gut sein kann, weil wir nie daran gearbeitet haben.

Ein ständiger Perspektivenwechsel ist spannend, aber er beinhaltet auch Begleiterscheinungen: zu große Schärfe, zu große Unschärfe, Überforderung wie Unterforderung. Es ist ein Experiment, das immer wieder misslingen muss, weil der Sprung zwischen den verschiedenen „Wirs“ ein konstruierter ist. Das gemeinsame Reden über Homophobie muss Widersprüche überwinden und sie gleichzeitig aushalten.

„Ehe für alle“: War da was?

Mir persönlich ist die Institution Ehe ziemlich egal und ich verstehe auch diejenigen, die den Kampf für die Eheöffnung und letztendlich auch die Eheöffnung mit der Sorge verbinden, dass der Druck zur Anpassung an heteronormative Bürgerlichkeit steigt. Aber homosexuelle Paare sollen nicht deshalb heiraten dürfen, weil auch sie „konservative Werte“ leben wollen. Es ist völlig egal, aus welchem Grund sie das wollen. Sie sollen heiraten dürfen, weil die Heteros es auch dürfen. Es geht nicht um Moral, sondern um gleiche Rechte. Die „Ehe für alle“ ist nicht deshalb so wichtig, weil sie das Ziel homosexueller Emanzipation ist, sondern eine ihrer Voraussetzungen.

Nollendorfblog vom 4. Juni 2013

1487 Tage bis zur „Ehe für alle“

Die Afroamerikanerin Rosa Parks hat sich 1955 nicht deshalb dafür entschieden, sich im Bus in den für Schwarze verbotenen vorderen Teil zu setzen, weil sie lieber vorne sitzt. Sie tat es, ganz einfach, weil es möglich sein musste.

Ein Recht muss man sich nicht verdienen. Und man muss es nicht nutzen, um es zu legitimieren. Aber man muss wissen, dass man es hat.

Nach der Entscheidung für die „Ehe für alle“ am 30. Juni 2017 im Deutschen Bundestag konnte ich die Menschen, die ich traf, in zwei Gruppen einteilen. Die einen hatten das Gefühl, gerade etwas Historisches erlebt zu haben. Viele verglichen es sogar mit der Maueröffnung 1989, über das doch das ganze Land nun ausgiebig miteinander feiern müsse.

Den anderen ging es komplett anders. Nicht, dass sie sich nicht freuen konnten, aber sie waren eher der Meinung, dass es sich um ein Ereignis handelte, das nur wenige Leute betrifft, das man deshalb nicht ganz so groß aufhängen sollte. Klar: Die eine Gruppe, das waren Lesben und Schwule. Die andere, das waren die Heteros.

Sich sehr, sehr freuen, etwas sehr, sehr wichtig finden ist ein starkes Gefühl. Aber ein starkes Gefühl und eine Mischung aus Unsicherheit und Frust entstehen auch, wenn man merkt, dass Menschen um einen herum das ziemlich kaltlässt, von denen man denkt, dass es doch auch wichtig für sie sein müsste.

Ja, für mich hatte sich etwas geändert. Aber doch für alle anderen auch! Was sich am meisten geändert hatte, war doch, dass sich unser Land verändert hatte. Ist das so schwer zu verstehen?

Nollendorfblog vom 5. Juli 2017

5 Tage nach der „Ehe für alle“

Die „Ehe für alle“ kam auch deswegen so spät nach Deutschland, weil sich fast nur die Heteros für das Thema interessiert hatten, die leidenschaftlich dagegen sind.

Leidenschaftliche Befürworter, gar Kämpfer für die Sache gab es kaum, und auch in wohlwollenden Kommentaren nach der Entscheidung im Bundestag ist zu lesen, dass diese zwar für die – relativ wenigen – „Betroffenen“ eine große Sache sei, ansonsten aber halt ein Nischenthema, über das man jetzt nicht so einen Wind machen müsse. Geradezu ausgelacht werden wir oft, wenn wir die historische Dimension betonen, nach dem Motto: Die Homos mögen es halt gerne dramatisch.

Auch jetzt können oder wollen viele Heteros nicht den Unterschied zwischen einem Minderheiten- und einem Menschenrechtsthema verstehen, beharren somit auf ihrer Gönnerpose, statt sich gemeinsam mit uns darüber zu freuen, dass es vor allem ein Sieg der Freiheit ist: dass nun Deutschland ein insgesamt freieres Land geworden ist, dass Freiheit etwas ist, das für alle größer wird, wenn sie für alle gilt.

Dass ausgerechnet Deutschland, das Land der friedlichen Revolution, jetzt so freiheitsvergessen ist, merkt man daran, dass nun viele die Bedeutung der Eheöffung vor allem daran messen wollen, wie viele homosexuelle Paare denn nun auch tatsächlich heiraten wollen. Das wäre so, als ob man die Bedeutung des Wegfalls des eisernen Vorhangs und die Errungenschaft der Reisefreiheit für die ehemaligen DDR-Bürger vor allem daran bemessen würde, wie viele denn damals tatsächlich von ihr Gebrauch gemacht hatten.

In Amerika etwa lief und läuft die Debatte komplett anders. Dort sind vor allem auch die nicht „Betroffenen“ stolz auf das Erreichte, weil sie der Meinung sind, dass sie nun alle in einem besseren Land leben. Das zeigt sich etwa im Credo der Obama-Regierung, wonach durch die Eheöffnung die Gesellschaft an sich stärker geworden sei und vor allem die Werte gestärkt wurden, die das Selbstverständnis des Gemeinwesens definieren. Barack Obama in seiner Berliner Rede am 19. Juni 2013: „Indem wir uns für Lesben und Schwule einsetzen und ihre Liebe und ihre Rechte im Gesetz gleichstellen, verteidigen wir unser aller Freiheit.“

Krasser kann der Gegensatz zum Selbstverständnis hierzulande gar nicht sein. Warum macht sich Deutschland gerade bei einem solchen Thema so entsetzlich klein, wo es sich doch nun einmal wirklich großartig fühlen könnte? Sind der leitkulturelle Konservatismus sowie der Ekel vor Veränderung, Pluralität und Emanzipation so groß, dass wir Deutschen zwar merken, dass Veränderung und Pluralität notwendig sind, diese aber nur verkraften können, wenn wir so tun, als wäre dem nicht so? Selbst dann, wenn es wirklich mal passiert?

Wie können wir den Heteros erklären, dass da gerade Geschichte geschieht und dass auch sie ein Teil davon sind? Einfach damit wir uns gemeinsam daran erinnern können, damit wir gemeinsam daran arbeiten können, dass sie auch wirklich gelingt?

Wenn die Vorstellung von Freiheit und Gerechtigkeit keine überzeugende Erklärung dafür ist, was den Unterschied macht, also, warum die „Ehe für alle“ auch ein Thema für alle sein sollte: vielleicht ja das Betrachten des Gegenteils, also einer in Deutschland als solche empfundene Ungerechtigkeit.

Todesstrafe! Ja, ich meine das ernst. Und nein, ich vergleiche hier nicht die Todesstrafe mit der Eheöffnung. Aber das Beispiel Todesstrafe zeigt, wie unsinnig es ist, die Wichtigkeit eines Themas daran zu bemessen, wie viele Menschen tatsächlich direkt davon „betroffen“ sind.

Ob wir in einem Land leben, in dem es die Todesstrafe gibt oder nicht, ist den allermeisten von uns nicht egal, auch wenn fast niemand je in eine Situation geraten könnte, in der sie ihm drohen könnte. Und auch, ob die Todesstrafe jährlich bei zwei- bis dreihundert oder nur bei zwei bis drei Menschen verhängt würde, würde für die Leidenschaft, mit der wir dagegen sind, wohl keinen allzu großen Unterschied machen.

Bei Fragen von Gerechtigkeit und Freiheit gibt es nicht die einen, die es betrifft, und die anderen, die damit nichts zu tun haben.

Es geht um den Grad an Zivilisation, dem sich eine Gesellschaft verschreiben möchte. Deutschland ist dank der „Ehe für alle“ gerade dabei, ein zivilisierteres Land zu werden.

Was für ein komisches Land, das vor allem stolz darauf ist, wie egal ihm das ist.