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Georg Lentz

Muckefuck

Roman

Edel Elements

Die Großmutter, Eisenbahnstationsvorstehersgattin aus Dubberow, an Uniformen also gewöhnt, war dennoch erstaunt über meine vorwiegend braune Ausrüstung, die ja auch in nichts an Eisenbahnermonturen erinnerte. Sie arbeitete jetzt täglich an ihrem Strumpfvorrat, der denn auch für den Rest ihres Lebens reichen sollte: lange schwarze gestrickte Röhren aus grober Wolle, Fersen verstärkt. Beim Stricken traf ich sie auch, als ich ihr die neue Jungvolkausrüstung vorführte. Sie rückte ihre schwarz geränderte Brille auf die Nasenspitze, betrachtete mich eingehend, während ihre großen Stricknadeln weiterklapperten, und sagte kopfschüttelnd: »Ein Braun – wie Schifferscheiße!«

Großmutter hatte, zum Spaß und frischer Eier wegen, auch im neuen Hause eine Hühnerzucht begonnen. Eine kleine Hühnerzucht. Das hatte Gründe. Sie wollte gern mit den Hühnern ein persönliches Verhältnis haben, sie etwa bei den Namen nennen, die sie ihnen gegeben hatte. Lauter einfache Namen. Erna, Berta, Frieda. Gerade mit Hühnern ein persönliches Verhältnis zu bekommen, das wird jedem einleuchten, ist schwer. Großmutter schaffte es. Jedenfalls rannten die Hühner nicht, wie bei uns, gackernd davon, wenn sie die Stalltür öffnete. Trotzdem blieb Großmutter sachlichen züchterischen Grundsätzen treu. Das hieß, auf die kürzeste Formel gebracht: Wenn eines der Hühner nicht mehr legte, nahm die Großmutter ein Beil und schlug ihm den Kopf ab. Am nächsten Tag gab es dann bei uns Huhn, und obwohl die Großmutter genau wusste, dass da vor ihr auf dem Teller Berta lag oder Ida, die gestern noch fröhlich gegackert hatte, ließ sie es sich schmecken. So sachlich konnte Großmutter sein.

Je mehr nun das Braun um Großmutter herum zunahm, mit den Uniformen der Goldfasanen und schließlich sogar mit meinem braunen Hemd, kurz auch Braunhemd genannt, desto empfindlicher begann die Großmutter gegen diese Farbe zu werden. Sie entschloss sich, ihre braunen Kleider wegzuwerfen, sie hängte Bilder ab, die braun gerahmt waren, beförderte sogar ihre dickbäuchige geliebte braune Bunzlauer Kaffeekanne in den Müll, und eines Tages hatte sie alle ihre braunen Möbel im kleinen sonnigen Zimmer mit Ölfarbe hellblau gestrichen. Meine Mutter schimpfte. Ede aber unterstützte die Großmutter. Er verstand sie. Ein Glück, dass seine Taxen grün waren.

Wir ahnten nicht, wohin diese Marotte bei Großmutter noch führen sollte. Bis wir eines Morgens vom Hof her lautes Gegacker hörten. Großmutter hatte bis dahin Rodeländer gezüchtet. Das sind braune Hühner. An diesem Morgen erschlug sie alle braunen Hühner. Wir aßen wochenlang Huhn in jeder Variation, Suppenhuhn, Brathuhn, Hühnerfrikassee, Hühnersuppe, zuletzt versuchten wir Hühnerbouletten. Die Zucht wurde auf weiße Leghorns umgestellt.

Allmählich gewöhnte Großmutter sich wieder an die Farbe. Ganz gegen Ende des Krieges hatte sie sogar wieder ein paar Rodeländer.

Über diese Hühnerzucht, mit der es beinahe ein zeitgemäßes Ende genommen hätte, ist überhaupt allerhand zu sagen. Großmutter äußerte jede Idee in einer Form, die Widerspruch ausschloss. Das war so ihre Art. Onkel Adolar wollte ihr die Leghorns ausreden. Er wusste eine Menge über Hühner. Beim Kaffeetrinken hielt er Großmutter lange Vorträge.

»Du musst es mal mit Ramerslohern versuchen«, schlug er vor, »oder mit Thüringer Pausbäckchen.«

Großmutter schniefte und rührte unwillig in ihrer Kaffeetasse, was immer als Alarmzeichen anzusehen war. Ohnehin hatte sie Onkel Adolar auf dem Kieker, weil er morgens immer im Stall verschwand und die noch warmen Eier austrank. Er stach sie an den Enden mit dem Korkenzieher von seinem Taschenmesser an, setzte das eine Loch an den Mund und schlürfte den Inhalt.

Ohne Großmutters Rührwarnung zu beachten, fuhr Onkel Adolar fort, sein Wissen anzubringen. »In Frankreich«, dozierte er, »züchten sie die Le-Mans-Hühner. Gute Eierleger. Sehr gute. Oder kennst du die La Fleche? Mit den kleinen Häubchen? Aber die Häubchen werden leicht schmutzig. La Fleche kann man nur in ganz sauberen Ställen halten.«

Großmutter rührte schneller und schoss Blicke. Sie hielt schon die Tasse mit dem Daumen der anderen Hand an der Innenseite fest, sonst wäre sie vom Tisch gefallen. Onkel Adolar räkelte sich in seinem Korbstuhl, dass es krachte, belehrte die Großmutter, dass Langsham-Hühner einhundertsechzig Eier im Jahr zu legen pflegten, und dass der Bergische Schlotterkamm frühreif sei.

Da stellte Großmutter ihre Kaffeetasse mit einem Krach auf den Tisch, stand auf und sagte bissig:

»Vom Eieraussaufen wird man wohl klüger!«

Sie ging in ihr Zimmer und bestellte per Postkarte zwanzig weiße Leghorns.

Später, nach Onkel Adolars Tod, bedauerte Großmutter diese Szene oft. Viel später pflegte sie allerdings wieder zu sagen: »Adolar? Er wusste zu viel über Hühner!«

Wenige Monate trennten uns noch von jenem ersten September, an dem der Polenfeldzug begann. Wir spielten Frieden auf Teufel komm raus. Großmutter verschanzte sich hinter der Hühnerzucht, entwickelte sogar im Laufe der Zeit einen neuen ernsthaften Tick, indem sie beim Essen aufstand, um in den Stall zu gehen und die Hühner hinten abzufühlen, ob Eier zu erwarten seien. Ede spielte immer noch Taxiunternehmer. Obwohl sie ihm eine Lizenz nach der anderen wegnahmen. Meine Mutter lag, Migräne vorschützend, auf der Chaiselongue und knabberte Konfekt. Und ich selbst, in Braunhemd und Ribbelsamthose, linientreuer Pimpf mit gutem Gedächtnis für zackige Liedertexte? Ich atmete die frische Luft des Birkenwäldchens. Ich trug die mit schwarzen Flammenzungen bemalte Trommel, paukte den Fünferschlag aufs Kalbfell: »Bum, – bum, bumbumbum. – Unter der Fahne – schrei-heiten wir.« Neue Lieder sang Jungzugführer Kulle Rosenbusch mit uns. Lieder, die uns nun lehrten, dass die Fahne mehr als der Tod sei. Ich dachte an unsere Fahne zu Hause, den kleinen roten Fetzen, der sich so leicht um die Fahnenstange wickelte. Und an das noch kleinere Fähnchen von Herrn Reh, aufbewahrt im Besenschrank. An diesen beiden Fahnen gemessen war der Tod nicht viel.

Geländefalten, frisch eingesätes Grün. Brombeergebüsch, die ersten kleinen Beeren schimmerten unreif blassgelb. Unter dem Bahndamm führte eine enge Röhre hindurch, Kulle Rosenbusch stand da, Fahrtentasche am Koppel. Vollgepfropft war sie mit Karte, Kompass, Hitlerjugendgesangbuch und Notizblock. Blau leuchteten Kulles Augen, Wikingerblick, wie sollte es anders sein. Sogar Othmar, der zarte Knabe, war ja zum Jomswikinger geworden. »Entfernungsschätzen«, schnarrte Kulle. »Das erste Glied bildet eine Kette, jeder mit fünf Schritt Abstand vom nächsten.«

Befehle, deren markante Kürze die Nation einte, von Schleswig-Holstein meerumschlungen bis zum Burgenland.

Wir schätzten. Mit Telegrafenstangen ging es leicht. Die hatten einen bestimmten Abstand, man brauchte nur zu zählen. Aber sonst gab es viele Möglichkeiten, sich zu verschätzen. Kulle ließ nicht locker. Er machte aus uns perfekte Entfernungsschätzer.

War der Sonntagsdienst beendet, so fuhr ich mit Ede aufs Land. Wir hatten jetzt eine wundervolle Ausrede: Hühnerfutter besorgen. Bald kannten wir viele Bauern in den kleinen Dörfern vor der großen Stadt. Bauern in Häusern mit Strohdächern und mit Pferden im Stall, denn Traktoren gab es damals noch kaum. Zu einem Bauern gingen wir besonders gerne. Sein Haus war auf moorigem Boden gebaut. Im Laufe der Zeit war der hintere Teil versunken. Die Fußböden in einigen Räumen waren unglaublich schräg. Um das wieder auszugleichen, besaßen die Möbel verschieden lange Beine, die Tische, die Stühle, und ganz hinten in der Kammer auch das Bett. In diesem Bett saß einmal, als wir kamen, ein weißbärtiger Großvater zwischen rot karierten Plümos. Er war neunzig und starb gerade. Aber er war ganz fröhlich dabei. Während wir auf den Stühlen mit den verschieden langen Beinen um ihn herumsaßen, verlangte er drei große Schlackwurstbrote. Die Bäuerin brachte sie. Er schnitt sich Reiterchen und aß die Brote in kurzer Zeit. Am nächsten Tag war er tot. Mit Hühnerfutter an Bord kehrten wir von unseren Landausflügen zurück. Die Leghornzucht war gediehen in den Stunden unserer Abwesenheit, wir rochen es, weil Großmutter schwache Küken in der Küche aufzog. Aber immerhin verbreiteten wir etwas Gegengeruch: nach Bauernstuben, Kleie und Rieselfeldern.

Dann wieder Antreten: »Die Fahne hoch, marschiert! Voran der Führer führt!« Im Gänsemarsch zogen wir hinter unserem Wimpel her, durch den knöcheltiefen Sand im Birkenwäldchen.

Kulle Rosenbusch, neben uns, gab den Schritt an. Seine randgenagelten Schuhe wirbelten Staub auf, der sich trocken in die Nasenlöcher setzte. Wir sangen trotzdem, was die Lungen hergaben, auch O du schöner Westerwald oder Am Mühlenberg von Sanssouci und Schwarzbraun ist die Haselnuss mit der Strophe Löcher hat der Schweizerkäs.

»Zwei Daumensprünge rechts neben Heuschober bewegliches Ziel!«

»Jawoll, Jungzugführer! Erkannt!« – Löcher hat der Schweizerkäs. Othmar schneuzte den Staub in ein blütenweißes Taschentuch. Er hatte immer blütenweiße Taschentücher. Auf unseren Fahrtenmessern war eingraviert: Blut und Ehre! - Damals waren wir elf.

Im Garten bauten Ede und ich aus einem alten Vogelbauer eine Falle und fingen Grünlinge. Aber wir ließen sie immer wieder fliegen. Im Zimmer, auf der Etagere, stand ein neuer Radioapparat.

Durchs offene Fenster drang eine Stimme bis in den Garten. »Der teutschsche Solltatt …«. »Meingottmeingott«, sagte meine Mutter, »wo wir doch schon so viel durchgemacht haben…«

Ich verstand sie nicht.

Ede ließ die zuletzt gefangenen Grünlinge frei.

Großmutter ignorierte die neuen Zeiten. Sie buk weiter Eierkuchen, fütterte die weißen Leghorns und versuchte noch, mir aus dem dicken grünen Buch mit den Märchen vorzulesen.

Kulle Rosenbusch führte uns an den Dienstagnachmittagen und sonntags zu Veranstaltungen. Wir trotteten über den Asphalt der großen Stadt, vier Jungzüge, das ganze Fähnlein. Vorneweg der Fähnleinführer, den wir nur selten sahen, hinter ihm die Fahne und die Wimpel und die Trommler. Dann der Fanfarenzug, dann die vier Jungzüge. An unserer Seite immer Kulle Rosenbusch mit der grünen Jungzugführeraffenschaukel am Hemd, mit der Fahrtentasche und den randgenagelten Schuhen, die auf dem Asphalt knirschten.

Vor dem Denkmal Joachim Hansens, dem Husarenreitergeneral, zogen wir auf, riefen heil, als die Achse Berlin-Rom gehärtet wurde. Ganz weit weg auf dem Balkon stand er, der Führer, und reckte den Arm neben seinem römischen Gast, während vor uns die Bersaglieri, Hahnenfedern am Hut, im Laufschritt ihre schutzblechlosen Fahrräder vorbeischoben. Der Fanfarenzug blies. Die Sonne brannte auf uns herab.

Dann abends, Kulle Rosenbusch immer neben uns, Aufmarsch in den stillen, regenglänzenden Straßen des Villenvororts. Die Kiefern, die in den verwilderten Gärten standen, dufteten. Kommandos. Schuhe scharrten. Kulle meldete dem Fähnleinführer. Eine Mischung aus Hitlerjunge und Goldfasan stand vor der Front, rote Affenschaukel auf Braun, der Bannführer. Einer trat vor und sagte ein selbst gereimtes Gedicht auf. Ein Holzstoß wurde in Brand gesetzt. Wir sangen: Flamme empor!

Aus dem Radio drang die Stimme des Führers. Wir hörten sie in der Schule beim Gemeinschaftsempfang, wir hörten sie auf den Heimabenden, sonntags zu Hause, nachmittags in den Wohnungen.

Selbst in den Büchern über Komposthaufen war nun schon sein Bild, gegenüber der Titelseite. Der strenge Blick seiner Augen verpflichtete jeden. Der Führer und die Sudetendeutschen. Der Führer füttert ein Eichhörnchen. Der Führer bekommt von BDM-Mädchen einen Blumenstrauß. Der Führer auf dem Berghof. Der Führer und ein altes Mütterchen. Der Führer und die alten Kämpfer. Der Führer in jeder Zeitung, in jedem Buch. Sein Bild im Wartesaal, im Jungvolkheim, im deutschen Wohnzimmer, auf der D-Zug-Toilette.

Nicht nur die Saar, ewiger Bumerangstaat, war heimgekehrt. Wir waren auf dem besten Weg zu Großdeutschland. Großmutter hielt nicht viel davon, dass nun auch der sogenannte Korridor heimkehren sollte ins Reich. »Da sind nun die Pollacken, und da soll man sie auch lassen«, meinte sie.

Kulle zog mit uns auf den Schießstand. Vorerst war es noch Kleinkaliber.

Die Katze, die dreibeinige schwarze Hauskatze? Sie war von Natur misstrauisch. Ihren Lieblingsplatz hatte sie jetzt hinten an dem Herd, an der Wand. Neben ihr stand Großmutters Kaffeekanne. Eine blaue statt der braunen Bunzlauer, aber auch dickbäuchig. Und gemütlich. Denn, abgesehen vom Dienst im Birkenwäldchen, lebten wir so, als sei alles normal. Gewiss, wir lasen Patrouille Bosemüller und Armee hinter Stacheldraht und sangen: Wildgänse rauschen durch die Nacht. Sicher, der Biologielehrer trug ein kleines schwarzes Abzeichen mit zwei weißen Runen im Knopfloch. Sicher, der Turnlehrer rief »Bismarckschule stillgestanden!«

Einmal in der Woche war Rudern. Wir schleppten die schlanken braunen Boote zum Wasser, das hier, an einem Nebenarm des Sees, ruhig und dunkelgrün war. Weiden wuchsen am Ufer. Rechts lag die Durchfahrt zum großen See, unter einer schwarzen gusseisernen Brücke hindurch. Der Turnlehrer benutzte ein Megafon, eine Flüstertüte. Aus Blech. Damals begann die Zeit der Flüstertüten und der Lautsprecher. Schon durch eine Flüstertüte ließ es sich wesentlich besser befehlen. Bismarcks Bild schaute durchs Treppenhausfenster, wenn wir die Boote ins Wasser setzten und die glatte grüne Oberfläche zerstörten. Auch Bismarck war überall. Hier, im Ruderheim, hing Bismarcks Bild. In der Schule hing er gleich dreimal: in der Aula, auf dem Flur und im Treppenhaus. Er hing überall da, wo der Führer nicht hing.

Bismarck hatte auf den meisten Bildern einen goldenen Kürassierhelm auf. Zu Hause besaßen wir sogar einen Kuchenteller mit dem Bild Bismarcks in der Mitte. Auch dort hatte er den goldenen Helm auf. Ringsherum lief unter dem durchbrochenen Rand, in Goldbuchstaben, die Inschrift: Wir Deutschen fürchten Gott – sonst nichts auf der Welt.

Die Boote lagen am Steg, wir setzten die Riemen in die Dollen. Dann peitschte uns die Flüstertüte zu strengem Rhythmus. Wir weiteten unsere Hühnerbrüste im gleichmäßigen Ruderschlag. Schon schossen die Boote unter der eisernen Brücke hindurch, auf den silbernen großen See hinaus. Eins, zwei, eins, zwei. An den Ufern glitt Heimatkunde vorbei.

Hier hatte der große König gelebt, jener mit dem ständigen Durchfall und den abgeschnittenen Handschuhfingern, gelebt immer dann, wenn er nicht seine Grenadiere mit den roten Blechzipfelmützen bei Rossbach oder Leuthen anfeuerte, die Heerscharen einer immerhin recht zivilisierten Königin zu füsilieren. Hier hatte er ihn empfangen, Joachim-Hans, den Husarengeneral, der so häufig aus dem Busch kam, um Panduren die Hosen stramm zu ziehen. Und dort, hinter jenem Hügel, lag des Königs Schloss, von hier aus nicht zu sehen, aber wir wussten ja alle, dass seine Lieblingswindhunde da begraben waren, auf der Terrasse. Heimatkunde links am Ufer, rechts am Ufer, während der Bug des Bootes in das Wasser schnitt, das, wie wir auch wussten, eine eiszeitliche Senke füllte, die von hier aus bis Warschau reichte. Warschau wurde jetzt aktuell. Es handelte sich um alten deutschen Kulturboden.

Wir ruderten. Die Flüstertüte blitzte in der Sonne. Weiter hinten hing über dem See die dunkle Rauchfahne von einem Dampfer der Stern- und Kreisschifffahrt. Eins, zwei, eins, zwei. Wir waren es gewohnt, uns im Rhythmus zu bewegen. Kulle hatte es uns beigebracht, mit Kommandostimme und randgenagelten Schuhen, Größe 45. Und es war auch, wie wir gelernt hatten, die Lingua Latina aus derselben Sprachenfamilie abgeleitet wie diese Kommandosprache und wie die Reden des Führers und seines Reichsjägermeisters, schließlich seines Propagandaministers.

Wir streckten die Knie – der Rollsitz rollte zurück. Die Ruderblätter wirbelten das Wasser auf. Die Flüstertüte klebte am Mund des Turnlehrers. Unsere Boote nahmen Kurs auf den Dampfer.

Wir ruderten. Ede polierte seine Taxe. Er hatte jetzt nur noch eine. Auf der Straße ging Herr Gallert vorbei und rief laut:

»Heil Hitler!« Ede überhörte es.

Oben im Haus lag meine Mutter im Bett und hatte Halsweh. Dr. Erdemann wurde gerufen, traf auch ein, im Nadelstreifenanzug, ganz der Vertrauenswürdige und mit schwarzer Tasche. Jovial lächelnd und plaudernd – »na, wo fehlt es uns denn?« – hantierte er mit dem Spatel, drückte die Zunge herunter, ließ »Aaaa«, sagen. Es kam aber nur ein Krächzen. Nun flink die Bettdecke zurück, das Nachthemd hochgerollt, bis Mutters Oberkörper frei dalag, trotz der Tage des Leidens immer noch ein Meer von rosa Wülsten und Rundungen, auf dem der Doktor nun schwamm mit kurzem hölzernem Stethoskoprohr, die Innereien abhorchte durch die vielfältigen Schichten hindurch, die den Ton von Herz und Lunge auch dem empfindlichsten Arztohr zu entziehen versuchten: Erfolglos bei ihm, dem Wellenreiter auf Rosa. Die Krankheit wurde erkannt, mit strenger Formulierung umrissen, als Angina, schwerster Art allerdings, wie ja auch das Fieberthermometer schon bewiesen hatte, und wenn die Patientin in der Lage gewesen wäre, Worte ohne Beschwerde zu formulieren, hätte hier wahrhaftig Anlass vorgelegen zu vielen »Mein Gotts«.

Die Krankheit war da und wurde, nachdem der Leib der Kranken wieder verhüllt, der bakterienbesäte Spatel beseitigt war, Anlass zu einer Flüsterkonferenz auf dem Flur vor dem Krankenzimmer, zwischen dem mutigen Doktor und Ede, meinem Vater. Ich hörte, von meinem Zimmer, wo ich hinter der nur angelehnten Tür verborgen stand, dass nur ständig wiederholte Wickel, bestimmte Tabletten und Medizinen hier helfen konnten. Helfen auch nur, wenn man eifrig sei, eine Schlacht schlüge sozusagen, unter immer neuem Einsatz, mit allen zur Verfügung stehenden Streitkräften. Er drückte sich wirklich so militärisch aus, der eigentlich zivile kleine Dr. Erdemann.

Wir begannen den Kampf. Großmutter marschierte, machte Wickel, brühte Pfefferminztee, dessen Dämpfe von meiner Mutter inhaliert wurden. Mutters Gesicht, schon sonst von der Anstrengung gerötet, fast zwei Zentner Lebendgewicht treppauf, treppab zu tragen, glühte nun dunkelrot in den weißen Kissen, zu denen wiederum das dunkle Holz der Bettstelle einen Bilderrahmen abgab.

Im Kampf mit der Krankheit überkletterte Großmutter täglich sich erneuernde Zeitschriftenhürden neben dem Bett, denn auch jetzt ließ meine Mutter nicht von ihrer Gewohnheit ab, die deutsche Hausfrau in einschlägigen Magazinen zu betrachten. Großmutter stieß sich durch den Papierberg mit wohlgezielten Tritten ihres pantoffelbewehrten Fußes, bevor sie den nächsten feuchten Umschlag anlegte, Aufgüsse von Bockshornklee und Gundelrebe reichte.

»Wird schon werden«, murmelte sie, und die hochrote, stark schwitzende Kranke nickte dankbar. Vernachlässigt wurden jetzt sogar die Hühner, sie legten, wohin sie wollten. Und während von oben der medizinischschwüle Brodem aus dem Krankenzimmer das Haus zu durchdringen begann, brannte in der Küche einmal sogar Großmutters Klümpersuppe an. Nun stieg von unten herauf Gestank von angesetzter Milch und verschmortem Mehlpaps, vermischte sich mit dem Geruch der Krankheit.

Täglich kam Dr. Erdemann, um seinen Wellenritt auf den rosa Wülsten des befallenen Körpers zu absolvieren, täglich presste er einen neuen Holzspatel in den eitrigen Schlund. Danach, während das Wasser im Badezimmer rann, der Doktor sich die Hände wusch, beteuerte er über die Schulter hinweg »es wird schon, es wird schon«, beteuerte es jedem. Alle waren hinter ihm im Flur versammelt, der so dunkel war, dass auch tagsüber das Licht brennen musste: eine trübe Angelegenheit, denn die Sparfunzel ließ den Raum, obwohl neu tapeziert, zu einem Arme-Leute-Gemach herabsinken.

Trotz Dr. Erdemanns gelenkten Angriffen: es wurde anscheinend nichts. Die Patientin verweigerte die Nahrungsaufnahme, begann nach Luft zu ringen. Nur ständige kleine Schlückchen Selterswasser erleichterten die grimmigen Beschwerden.

Großmutters Ledersohlenpantoffeln klapperten durchs Haus. Die Treppe hinauf, durch den halbdunklen Flur, wieder hinunter. Minnamartha saß im Bett, von vielen Kopfkissen gestützt, auf denen sich die zartrosa Blumenund Rankenmuster des Plümos wiederholten.

Wir hörten Großmutter murmeln, sie führte Selbstgespräche, eine Angewohnheit, der sie immer mehr verfiel. Sie stocherte mit dem Feuerhaken im Küchenherd, und dieses Geräusch drang bis nach oben durch das stille Haus. Großmutter duldete keine Niederlage durch Krankheit, das wussten wir. Aber würden auch diesmal ihre Teeaufgüsse helfen?

Der Abend kam, die Hühner saßen auf der Stange, ein letztes Mal auf Legefähigkeit befühlt. Wir hörten Großmutter kommen, und nun stand sie in der Tür, eine Tasse in der Hand, von der der Henkel abgebrochen war. Wir hatten diese Tasse schon vorher gesehen. Als Kükentränke. In der Tasse schwabbelte eine ölige, durchsichtige gelbe Flüssigkeit. Sie roch so durchdringend, dass selbst die übrigen in Flur und Krankenzimmer brütenden Gerüche zurückgedrängt wurden. Ede äußerte die Vermutung, es sei Petroleum.

»Dummkopf!«, sagte die Großmutter.

»Und was soll damit?«, fragte Ede.

Großmutter: »Damit wird jejurjelt!«

So geschah es. Meiner Mutter war es sowieso egal, was noch an ihr versucht wurde. Sie gurgelte. Dann bekam sie einen Erstickungsanfall. Wir glaubten, das sei das Ende. Nur Großmutter war ungerührt. Und dann brach Minnamarthas Abszess auf.

In dieser Nacht schlief niemand in diesem Haus. Großmutter klapperte weiter treppauf, treppab. Minnamartha stöhnte. Ede saß in einem roten Plüschsessel neben ihrem Bett. Eine schwache Nachttischlampe beleuchtete die Szene. Ich lag wach nebenan im Bett, bei offener Tür. Zwischendurch fiel ich in Halbschlaf und träumte von einer riesigen Gangsterlimousine – Pullman -, die in rasender Fahrt an mir vorbeizischte, ich wusste, sie gehörte eigentlich mir, aber sie schien unwiederbringlich verloren. Da sah ich, dass sie im Vorbeirasen einen Faden abspulte, ich fasste diesen Faden, die Limousine kam, schon weit entfernt, zum Stehen, ziemlich ruckartig, und es gelang mir mit heftiger Kraftanstrengung, den Faden aufzuwickeln und die Limousine wieder zu mir heranzuziehen. Leute saßen nun nicht mehr darin, aber trotzdem raste das schwere Auto nach ein paar Minuten wieder davon, und das Spiel begann von vorn. Dazwischen, in den wachen Augenblicken, dachte ich daran, wie wir auf dem Feld Drachen hatten steigen lassen, wie sie, vom Herbstwind emporgetragen, Meter um Meter Drachenschnur in den Himmel spulten, bis ein Fallwind unsere Werke aus Latten und Seidenpapier jäh herunterdrückte, wie sie nach rasendem Sturzflug mit einem unangenehmen Laut aufschlugen und zertrümmert dalagen.

Die Bilder verwischten sich, übrig blieb die Schnur, und immer wieder der schwere Pullman, den ich zurückzerren musste. Nach einigen Stunden hörte ich Minnamartha nebenan deutlich sagen:

»Suppe.«

Ede räusperte sich. »Wie bitte?«

»Suppe. Sup-pe!« Minnamartha wiederholte das Wort laut und deutlich.

Ede: »Meinst du, du willst Suppe essen? Jetzt?«

Minnamartha: »Suppe. Ich möchte Suppe.«

Großmutter kam herbei. »Suppe«, hörte ich auch sie fragen. Minnamartha wiederholte: »Suppe!«

Ich stand auf, wankte schlaftrunken hinüber. »Ich will auch Suppe«, sagte ich.

Großmutter und Ede lachten, dann begann auch Minnamartha zu lachen, ein wenig heiser, aber sie lachte. Und weil Minnamartha lachte, lachten alle anderen auch, immer weiter, eine Lachorgie wurde es, ansteckend, schließlich lachte ich auch, lachten wir alle, Minnamartha hatte einen hochroten Kopf, die Tränen liefen ihr die Wangen hinab, das Bett wackelte. Alle lachten. Lachten.

So hatten wir noch nie gelacht.

»Hühnersuppe?«, fragte schließlich Großmutter.

Minnamartha winkte ab, entkräftet vom Lachen. »Nicht Hühnersuppe. Oder willst du jetzt ein Huhn schlachten?«

Großmutter zuckte mit den Mundwinkeln. »Warum nicht?«

Es war aber noch Rindsbouillon da, sie wurde aufgewärmt. Auch Ede und Großmutter entschlossen sich, ein Schälchen mitzuessen, und bald saßen wir im Schlafzimmer, es war lange nach Mitternacht, und schlürften heiße Suppe.

Minnamartha fragte Großmutter: »Hast du mir wirklich Petroleum zum Gurgeln gegeben?«

»Jewiss. Als wir in Dubberow lebten, war der nächste Arzt vier Stunden weg. Mit Fuhrwerk vier Stunden! Da muss man sich anders helfen.«

Minnamartha schüttelte den Kopf. »Sag das bloß nicht Doktor Erdemann!«

Der Doktor kam am nächsten Tag, sondierte mit Stethoskop und Spatel, war erstaunt. »So plötzlich«, sagte er. »Das Aufbrechen des Abszesses. So was habe ich noch nie erlebt.«

»Wie ist das denn sonst verlaufen?«, fragte Minnamartha.

»Hartnäckig. Sehr hartnäckig«, sagte Dr. Erdemann. Dann empfahl er sich. Großmutter stand unten am Fenster und schaute zu, wie Dr. Erdemann in seinen Opel stieg.

Butter war schon lange rationiert. Die Kartenstelle war vier Kilometer entfernt. Jetzt gab es richtige Lebensmittelkarten. Auch Zucker, Fleisch und Nährmittel wurden rationiert. Großmutter zog ein paar neue schwarze Strickstrümpfe an. »Nu will ich das Zeug mal holen«, sagte sie. Den Vormittag über war sie unterwegs. Dann war unsere Ernährung für einen Monat amtlich gesichert. Minnamartha und Großmutter saßen am Küchentisch und rechneten zusammen, was wir bekamen. »Ein nasser Furz auf die Herdplatte ist das«, sagte Großmutter. »Wir müssen uns was ausdenken.«

Während sie sich was ausdachten, schnallte ich das Koppel um, denn zum zweiten Mal sollte ich den Führer sehen. Das Fähnlein trat Ost-West-Achse an, vor uns sperrten SS-Männer ab, und als wir fast zwei Stunden gestanden hatten, rollten blitzschnell ein paar schwarze Mercedes-Wagen vorbei. Im ersten stand ein Mann mit erhobenem Arm, wahrscheinlich der Führer, hinter den SS-Männern nicht genau zu erkennen. Fünf Minuten später ließ Kulle Rosenbusch uns wegtreten.

Ede fragte, wo ich mich den Tag über rumgedrückt hätte. Ich erzählte es ihm. »So ein Blödsinn«, murmelte Ede. »Ein ausgemachter Blödsinn.« Ich dachte, lass mich aus, Alter, zog Zivilkluft an und ging zu Othmar.

»Mein roter Bruder möge mir folgen«, sagte der, »und seine Silberbüchse mitnehmen, damit sie neben meinem Bärentöter und dem Henrystutzen zu den Coyoten spreche, die sich Kommantschen nennen.«

Karl May, der Siebzig-Bände-Spinner aus Radebeul bei Dresden, hatte es uns angetan. Wir liehen uns die grünen Schwarten aus und ließen sie uns zu Weihnachten und zum Geburtstag schenken. Auf dem Zimmereiplatz suchten wir geeignete Holzabfälle, um daraus die Gewehre herzustellen, wie Old Shatterhand und Winnetou sie trugen. Beschlag der Silberbüchse waren Sohlennägel, die eigentlich für Militärschuhe bestimmt waren. Es gab sie damals bei jedem Schuster.

»Du bist Winnetou«, hatte Othmar bestimmt. Also war ich Winnetou, die edle Rothaut aus dem Stamm der Apachen. Othmar war Old Shatterhand, der mit seinem Jagdhieb stärkste Gegner niederstreckte. »Was suchst du denn immer im Hühnerhof«, fragte Großmutter.

Federn, natürlich, für den Winnetoukopfschmuck.

Die Leghornhennen waren längst mit mir verfeindet, denn wenn sie gerade nicht mauserten und Federn verloren, riss ich ihnen die notwendige Erstausstattung aus den Schwänzen.

Meinem weißen Bruder folgte ich hinaus aufs Feld, wo uns die Laubenkinder nun schon früher sichteten, weil mein Leghornfederbusch weithin leuchtete. Zwar schossen wir Dauerfeuer mit unseren Eigenbauflinten, aber unerschrocken zogen Siegfried und Genossen wieder einmal auf, wir endeten an Marterpfählen, und um uns her sprangen mit wildem Kriegsgeheul unsere Feinde. »Hilfe«, schrien wir, obwohl das bei Karl May nur die miesesten Typen tun und niemals ein Old Shatterhand und ein Winnetou, aber sie ließen schließlich von uns ab. Wie üblich entfesselten wir uns und schlichen zurück in die Siedlung: »Mein roter Bruder möge mir folgen.«

Wie träumten wir vom Blockhaus, das uns aufnehmen sollte, während Kulle Rosenbusch doch dachte, aufrechte braune Kameraden aus uns gemacht, uns zu dem geformt zu haben, was die Parteipropagandisten mit hart wie Kruppstahl bezeichneten. »Ein Blockhaus«, schwärmte Othmar, »mit Kamin. Löwenfelle davor, wie bei Karl May. Oder Büffelhäute, falls es Löwen in Amerika nicht gibt. Stell dir vor, wir kommen aus dem Llano Estacado, der Wüste, in der die Gebeine Verirrter bleichen, wir sind Tage geritten, das Wasser wurde alle, und nun sind wir hier, in unserem Blockhaus, oder in einem Blockhaus, das vielleicht Tante Droll gehört oder Hobble Frank.«

»Tante Droll?«, fragte ich, »hatte Tante Droll ein Blockhaus?«

»Ich weiß nicht«, sagte Othmar. »Ich habe erst vierzig Bände gelesen. Aber vorstellen kannst du dir das doch, nicht?«

»Vorstellen schon.«

»Also, es ist eine Quelle vor der Tür, der frische Trunk, der erste nach dem Wüstenritt! Wir tränken auch die Pferde. Wir haben Pemmikan.«

»Was ist Pemmikan?«

»Bist du plemplem? Trockenfleisch in Streifen geschnitten. Vielleicht kommt auch ein Grizzlybär, du legst die Silberbüchse an, peng, aber er ist nicht ganz tot und keilt nach dir mit der Tatze. Da erledige ich ihn mit dem Jagdmesser. Mit dem Bowieknife. Ich rette dir das Leben.«

Ich drehte meinen Leghornkopfputz in den Fingern. Spinner, dachte ich. Eine Macke hat dieser Othmar, so groß wie der Funkturm. Othmar spann weiter:

»Oder wir sind fast tot in der Wüste, und dann finden Tante Droll und Hobble Frank uns und retten uns und bringen uns in dieses Blockhaus.«

Für Regentage hatten wir auch ein paar kleine Lineolindianer und Tipis, Zelte aus Stoff für sie, und ein künstliches Lagerfeuer mit Batterie. Wir spielten also die Llano-Estacado-Sache oben in Othmars Zimmer. Othmar hatte eine winzige Narbe über seiner linken Augenbraue – Sturz mit dem Dreirad als er fünf war -, und das fand ich sehr schick. Folglich war ich bei unserem Planspiel gleich wieder im Nachteil.

Scheißothmar! Der schöne Knabe, der immer Boss war! Wie satt ich das hatte. Und trotzdem ging ich immer wieder hinüber zu ihm, ließ mich drangsalieren, von seiner dummen, schönen Mama anschauen, als sei ich eben aus der Kanalisation gekrochen, wankte zwischen Esszimmeranrichte und Herrenzimmerklubsesseln umher, in einer fremden Welt, Minnamarthas Konsolenspiegel als Albdruck ins Hirn geprägt!

Wunschkonzert dröhnte aus dem Volksempfänger, den Othmar ganz für sich allein besaß, in einem Polenstädtchen – da lebte einst ein Mädchen ...

Sender Gleiwitz. Böse Polen, so lernten wir, verletzten die Grenze, robbten in deutschem Gras und unternahmen einen Angriff auf diesen Sender. Der Führer schlug selbstverständlich zurück, ab vier Uhr früh, eines schönen Septembertages, und Ede packte einen Koffer.

Minnamartha schluchzte. Großmutter murmelte Flüche.

»Was soll der Koffer?«, fragte ich.

»Vati ist einberufen«, sagte Minnamartha. Damit konnte ich nichts anfangen. »Junge«, erklärte Ede, »es gibt einen Hilfsdienst. Da kümmern wir uns um verwundete Pferde. Jetzt im Krieg.«

Es war glücklicherweise in der Nähe, und auch Onkel Hubert war zur gleichen Einheit eingezogen worden: Man hatte einfach jene rekrutiert, die irgendetwas mit Pferden zu tun hatten, wie Onkel Hubert, den Bierfahrer, oder Ede als Ex-Kavallerist. Vielleicht holten sie auch Prinz Eitel zur Pferdestation?

Minnamartha hatte sich nach der Petroleumkur gut erholt. Sie beschloss, aus mir einen ganzen Menschen zu machen, und beaufsichtigte meine Schularbeiten.

Für Schularbeiten hatte ich wenig Sinn, hinter der Blattpflanze, die höher und höher wuchs. Ich war Winnetou, oder Kulle Rosenbusch verlangte, dass wir marschierten. Sondermeldungen von Siegen der deutschen Truppen tönten aus den Volksempfängern, es war ja ein Blitzkrieg, und die paar Tage, so meinten wir, konnten wir gut ohne Schule auskommen. Dazu noch Bruchrechnen!

Jene Feldgrauen, die auf den Zigarettenbildchen idyllische Übungen abgehalten hatten, fuhren nun nach Lodsz, was bald Litzmannstadt hieß. Wann konnten wir endlich abhauen?

»Spinn man nicht«, brummte Großmutter. »Was wollt ihr eigentlich fressen?«

»Aber Großmutter, wir haben doch die Karten. Die Lebensmittelkarten.«

Großmutter stampfte mit dem Fuß auf. »Hier, geh zu Puvogel, du dummer Lümmel, und hol ab, was wir diese Woche bekommen.«

Zwar bezog Wanda Puvogel manchmal noch ihren Posten, aber sie stieß niemand mehr in die Pfütze. Es hätte zu viel Ärger gegeben, wenn sie Fadennudeln oder deutsche Einheitsseife, alles auf Karte, versenkt hätte. Ernie Puvogel, ganz Igel, wog genau, immer fünf Gramm zu seinen Gunsten, er war einstweilen von der Einberufung zurückgestellt worden. Ein Wunder, denn die verdächtigen Laubenkolonisten durften als Erste ins Feldgrau schlüpfen und ihre Schädel gefährden. »Noch zweiundsechzig Komma fünf Gramm Margarine«, sagte Puvogel sanft, wog, verpackte notdürftig in Fetzen vom Völkischen Beobachter, das Einkaufsnetz blieb schmächtig. Ich zahlte, ging zurück durch altvertraute Gefilde der Laubenkolonie Tausendschön, ein Extausendschönchen, von Puvogel betreut, schüttete auf den Küchentisch, was ich gebracht hatte.

»Siehste«, sagte die Großmutter.

Sie hatte recht. Zum Leben wars ein bisschen wenig.

»Was machen wir, Menschlein?«, fragte sie.

»Mehr Hühner vielleicht?« Mir grauste.

»Ja, mehr Hühner. Und Enten. Und mehr Karnickel. Wenn dein Vater Urlaub hat, könnt ihr größere Ställe bauen. Und einen Ententeich. Und …«

Oh. Mütterchen des gefiederten Volkes! Tausend Schwanzfedern hätte ich bald ernten können! Die Glucke gluckte im Keller. Bald schauten aus dem schwach erwärmten Bratrohr in der Küche kleine gelbe Küken. Dann hüpften sie in der Wohnung umher, und gelegentlich trat jemand auf eins. Wenn mein Vater und Onkel Hubert von ihrer langweiligen Station vorbeikamen – was sie häufig taten -, waren die Küken sehr gefährdet, denn die Militärschuhe hatten Eisenabsätze.

»Mein Gott«, schrie Minnamartha, »ihr Mörder! Wer hat das Küken zertreten?« Sie schmiss das Opfer in den Mülleimer. Großmutter zerschnitt harte Eier in kleinste Würfel, als Geflügelbabykost. »Kann schon mal passieren«, murmelte sie. Ede und Onkel Hubert wanden sich verlegen und trauten sich gar nicht mehr, durch die Wohnung zu gehen. So blieben sie meistens auf dem Sofa mit der Umrandung sitzen und tranken Bier. Gleich aus der Flasche. »Habt ihr denn nichts zu tun?«, rief Minnamartha. »Die jungen Enten müssen abgeholt werden. Bei Krauses. Im Keller sind Körbe.« Und zu mir: »Menschlein, was ist mit den Schularbeiten?« Ich also wieder hinter die Blattpflanze, aber mit langsamer Landung. Wie ein Fieseier Storch. Tinte war auch alle, da musste ich wieder aufstehen. Die Männer waren weg, aber Minnamartha schwebte mit Ausklopfer heran. »Ich werde dir beibringen Schularbeiten machen«, schrie sie in abgekürzter Grammatik. »Himmel, so eine Trantüte! Kriegt die paar Brüche nicht raus! Ich werde dich …«

Sie schwang den Ausklopfer, ich stieg steil auf, eine Me 109 nun, zog eine Schleife und entging dem ersten Hieb mit sportlichem Zwischenraum von zwei Zentimetern. Das Haus mit seinen ineinandergehenden Zimmern war günstig, Minnamartha dick, eher ein Bomber als ein Jäger, ich kreiste, bis sie müde auf die Chaiselongue sank, wo sie murmelte: »Welch ein Kind! Womit habe ich das nur verdient?«

Othmar kam eine Stunde später, Ede und Onkel Hubert kamen mit den Enten, die sie auf dem Teppich aussetzten, und die kleinen Enten, halb Flaum, halb Federn, schissen alles voll.

Minnamartha: »Sind sie nicht süß?«

Großmutter: »In den Stall damit!«

Es war ein neuer Stall, aus Brettern und Dachpappe schnell zusammengenagelt, mit riesigem Auslauf. »Da in die Mitte«, sagte Ede, »kommt der Teich hin. Sonntag betonieren wir ihn.«

»Wir brauchen Futter«, sagte Großmutter. »Für die Hühner. Und für die Enten.«

Ede hatte versucht, bei Fouragehändlern einiges aufzutreiben, aber die Zeiten waren schlecht. »Ein Sack Kleie ist alles«, meldete er. »Gut«, sagte Großmutter. »Dann geht Brennnesseln mähen, die Brennnesseln stampfen wir, dann kommt Kleie darüber. Ist gut für Enten.« Brennnesseln mähen? Ich besprach die Geschichte mit Othmar.

»Brennnesseln brennen«, sagte philosophisch mein weißer Bruder Old Shatterhand. Nirgends bei Karl May stand etwas über den Umgang mit Brennnesseln. Sie waren beim Spielen hinderlich, in dieser Gegend wuchsen eine ganze Menge, und sie dienten dazu, alte Matratzen, Fahrräder und Emailleeimer ohne Boden zu tarnen, im Winter kam der ganze Mist zum Vorschein. Jetzt sollten wir das Zeug mähen und den Enten vorsetzen? »Ente gut, alles gut«, witzelte Onkel Hubert. Niemand lachte. Aber das war er gewohnt.

Einen Tag später kam Mathilde angeradelt, in schnieker BDM-Kluft, um die süßen kleinen Enten zu besichtigen. »Ach, wie lieb«, sagte sie. Sie beugte sich über den Draht, der den Entenauslauf umgab, und Othmar und ich starrten ihr auf die blassen Kniekehlen, die deutlich sichtbar wurden, weil sich der Rock hochschob. »Ob sie unsere Indianersquaw wird?«, flüsterte Othmar. Ich schüttelte den Kopf. »Die liebt nur den Führer«, sagte ich. »Oder Baldur von Schirach.«

Othmar passte Mathilde trotzdem ab, fragte sie wegen der Indianerangelegenheiten und holte sich eine Ohrfeige. »Du spinnst wohl«, empörte sich Mathilde. »Jetzt, wo uns der Führer braucht, denkst du an Indianer.« Mit fliegendem BDM-Faltenrock radelte Mathilde davon.

Es gehört zu den Eigenarten slawischer Menschen, dass sie kaum je etwas wegwerfen. Obwohl wir nun germanische Rassenbescheinigungen besaßen, behielt auch Minnamartha diese Eigenschaft. Das erwies sich jetzt als nützlich. Denn in dem Kramuri, der auch den Keller des neuen Hauses schon zu einer interessanten Wildnis gestaltet hatte, fanden sich viele einzelne Handschuhe, linke, rechte, die, als Fundsachen von Minnamartha zusammengetragen, nun den Brennnesselsammlern dienen sollten.

Mit Mähen war nämlich nichts, wegen der Emailleeimer und alten Fahrräder, und dann machten auch die dicken Brennnesselstiele die Sense bald stumpf. Also rupften wir nun, verbrannten uns trotz der Handschuhe, stopften in Säcke, trugen heim und zerstampften.

Froh waren die Enten. Sie wuchsen, verloren ihren Flaum. Aber Wasser musste her. »Wann baut ihr den Entenpfuhl?«, fragte Minnamartha jedes Mal, wenn Ede auf seinem schwarzen Dienstfahrrad von der Veterinärstation geradelt kam. »Die Enten wollen schwimmen«, sagte Großmutter mit Vorwurf in der Stimme.

Wie fehlte uns Onkel Adolar, der elegante Schnellmaurer, Sonntagshandwerker und Erfinder. Aber er eroberte gerade Polen, als Panzergrenadier, und nur Tante Linchen kam, unsere Federviehzucht mit misstrauischen Blicken betrachend, als sähe sie uns in naher Zukunft als Opfer all der Schwimmvögel und Bratrohradler. Denn eines Tages, so ließ sie auch durchblicken, würden wir das Federvieh ja nicht mehr füttern können, und die Kaninchen, und dann würden die Tiere sich über uns hermachen, uns annagen, die Hühner würden uns auf die Schultern fliegen und uns die Augen auspicken – ein ruhmloses Ende der Familie Kaiser, Bärlappstraße, Strafe für die Vermessenheit, dem Hunger zu trotzen!

Tante Linchen trotzte nicht, musste auch nicht so sehr, die Winzige kam mit zwölfhundert staatlich verordneten Kalorien schon eher aus. Außerdem reiste sie jeden Sonntag an, um Großmutter Onkel Adolars neueste Feldpostbriefe vorzulesen, und aus Dank bekam sie heimlich einen Blumenkohl zugesteckt oder ein Glas Eingewecktes. »Wie würde Adolar sich freuen«, murmelte dann Tante Linchen ergeben und verschwand mit der nächsten S-Bahn.

Mathilde kam geradelt und sagte: »Vati hat fünf Sack Zement.«

»Fünf Sack«, wiederholte Ede, »das kann reichen.« Reichen für den Entenpfuhl, der nun in Angriff genommen wurde.

Onkel Hubert und Ede schachteten im Entenkäfig eine Kuhle aus, warfen Hügel märkischen Sandes auf, von den Jungenten beäugt. Auf einer ausgehobenen Stalltür mixten sie Zement und Kies, ich schleppte Wasser, und Onkel Hubert glättete bald die erste Schicht. Als zweite Schicht kam Maschendraht hinein, damit der Zement bei Frost nicht Risse zog. Dann die dritte Schicht, wieder dicker Beton, und am Schluss übernahm der kräftige Onkel es, in Feinarbeit die wasserdichte Glattschicht aus fettem Zement aufzutragen: Binnen eines Tages war das Meisterwerk vollendet, ein Entenswimmingpool, damals Pfuhl genannt, Größe zwei mal anderthalb Meter, an der tiefsten Stelle fünfzig Zentimeter tief, mit einer Rampe, auf der die Enten ins Wasser watscheln konnten.

Sie taten es zu früh, noch bevor das Wasser eingelassen war, und ewig behielt der Beton ein paar Abdrücke von Entenfüßen. Mit Schwimmhäuten.

Erst zwei Tage später, die Männer waren längst wieder an ihre kriegswichtigen Posten geeilt, bewässerten Großmutter und ich die Schwimmanstalt, Großmutter lockte »Wulle, wulle, wulle«, und die Enten rannten begeistert ins Wasser. Mit fünf Sack Zement war eines unserer Hauptprobleme aus der Welt geschafft. Enten hatten wir sogar in der Schule durchgenommen, und in meinem alten Lexikon stand: Enten (Anatinae), Unterfamilie der Zahnschnäbler aus der Ordnung der Schwimmvögel, sind Vögel mit kurzem Leib, dickem Kopf, mittellangem, auf der Firste gewölbtem, an den Rändern scharf bezahntem Schnabel mit kleinem Bürzel, kurzem oder mittellangem Hals, mittelgroßen, schmalen, spitzigen Flügeln, kurzem, breitem Schwanz und weit nach hinten gestellten, niedrigen, bis zur Ferse befiederten Füßen mit großen Schwimmhäuten und schwachen Krallen. Die Männchen tragen ein buntes Hochzeitskleid.

Ich las das Großmutter vor. »Quatsch«, sagte sie. »Bei uns nicht. Wir haben Essenten.«

Davon stand in keinem Buch etwas, es sei denn, die Hausente Anas boschas domestica war gemeint, aber auch sie sah bunt aus im Lexikon, während unsere Enten weiße Federn bekamen und behielten, auch die Erpel. Erst Othmars Mutter, von unseren Reden über den Ententeich angelockt, stellte fest: »Es sind Pekingenten.« Chinesen also, und Othmar und ich malten uns aus, wie die Ahnen unserer Speiseenten in Palästen gelebt hatten, gehätschelt von Mandarins mit Zöpfen, und gelegentlich von Chinakaisern verzehrt. Unsere Vorstellung von China entsprach etwa dem, was wir aus einer Nachmittagsvorstellung von Madame Butterfly mitbekommen hatten, einer entenfreien Aufführung übrigens.

Unsere Pekingenten fuhren mit ihren Schnäbeln in dem mühsam von uns beschafften Futter umher und vertilgten Unmengen. Manches warfen sie in ihren Pfuhl, fischten es wieder heraus, aber nach drei Tagen schafften sie es jedes Mal, eine Schlammschicht in den unteren Regionen zu verursachen, die uns zwang, den Pfuhl auszuschöpfen und neues Wasser einzulassen. Es war eine Heidenarbeit mit diesen Schwimmvögeln, Othmar sah ich kaum mehr. Winnetou vergaß seine Silberbüchse.

»Was machst du denn den ganzen Tag?«, fragte Othmar. Ich wies auf die zwei verschiedenen Handschuhe, die ich trug. »Brennnesseln rupfen«, sagte ich. Othmar sagte: »Mein roter Bruder möge mir verzeihen, wenn ich das nicht verstehe.« Ich verzieh ihm und radelte am selben Nachmittag einen weiteren Sack Kleie nach Hause, den Ede auf dem Tauschweg organisiert hatte.

Großmutters Zimmerchen diente nun als Fouragierzentrale. Von hier aus schickte sie Postkarten an ländliche Verwandtschaft, von der ich noch nie etwas gehört hatte, aber sie war weit verteilt über Uckermark und Mecklenburg, bis nach Hinterpommern reichten unsere Verbindungen. Es gab sogar einen Onkel Willi Kaiser, der einen großen Hof besitzen sollte, irgendwo in der Nähe der Schnellzugstation P., einen Onkel, mit der Würde eines Ortsbauernführers bekleidet.

Onkel Willi schickte als Erster ein Dreißigkilopaket mit Hafer, und auch von anderen Verwandten kamen Pakete und Päckchen.

»… das reicht doch nicht hin und nicht her«, sagte Großmutter. »Ich muss mir was einfallen lassen.«

»Was denn?«

»Dämlack, so schnell jeht dat nich.«

»Worüber streitet ihr denn schon wieder«, sagte Minnamartha, die, glänzend erholt, nach ihrer Petroleumkur, jetzt giftgrüne und rosa Fondants auf Zuckerkarte schleckte. Großmutter sah sie an. »Minnamartha, du könntest zu Willi reisen.«

»Ich, zu Willi?«

»Mir ist da son’n Jedanke jekommen.« Großmutter entwickelte einen kühnen Plan. Im Rahmen der Butterbewirtschaftung hatte man den Bauern verboten, selbst zu buttern. Sie mussten ihr volles Milchkontingent abliefern und bekamen ihre Butter von der Molkerei zugeteilt. Behördenangestellte reisten auf die Dörfer und versiegelten die Zentrifugen. Manche Bauern besaßen zwar noch ein altes Butterfass für Handbetrieb, aber das war eine zeitraubende Prozedur, und viel Butter gab es auch nicht pro Gang. Inzwischen war jedoch die Butter wertvolles Handelsobjekt auf dem schwarzen Markt geworden. Die Städter kamen mit ihren Fettrationen nicht aus und zahlten Höchstpreise. Solche schwarze Butter konnte man aber nur herbeischaffen, wenn man wieder mit Zentrifugen butterte.

»Sie brauchen Zentrifugen«, sagte Großmutter. »Wir liefern an Onkel Willi Zentrifugen, und er verteilt sie weiter und besorgt uns Hühnerfutter.«

Meine Mutter tippte sich an die Stirn. »Tsss, tsss«, machte sie. »Da habe ich doch zwei Fragen. Erstens: Meinst du, ein Ortsbauernführer, ein Nazi wie Onkel Willi, verteilt verbotene Zentrifugen? Zweitens: Woher willst du die kriegen?«

»Geh mal raus«, sagte Großmutter zu mir. Aber dann vergaß sie, dass ich zuhörte, und meldete: »Da kenne ich einen Klempner, auch aus dem Korridor. Ich weiß, er kann so was machen.«

»Und Willi?«

»Willi liebt Geld. Der macht mit. Da kannste Gift drauf nehmen.«

Minnamartha nahm ein neues Fondant, und damit begann unsere Schmuggelorganisation zu arbeiten. Der Mann aus dem Korridor baute eine vereinfachte Form jener Lefeldt’schen Zentrifuge nach, die damals allerorts in Betrieb war. Prinzip: Mit etwa tausend Umdrehungen in der Minute werden die schwereren Teile der Milch nach außen geschleudert, während die leichteren sich um die Achse herumballen. So gibt es außen Magermilch und innen Fett, also Butter.

Die Ausmaße unserer Schwarzhandelszentrifugen waren so gewählt, dass man die Apparate auseinandergenommen in Koffern und Paketkartons verstauen konnte, von Ernie Puvogel bekamen wir dessen Restbestände an Persilkartons. Minnamartha reiste tatsächlich aufs Land, Onkel Willi und die anderen Bauern waren sehr glücklich, und die Persilkartons trafen, mit Hühnerfutter gefüllt, per Post wieder bei uns ein.

Schwere Strafen standen auf solchen Vergehen, Sabotage war das gegen die Kriegswirtschaft. So wickelten wir die Tauschgeschäfte mit großer Vorsicht ab, und ich glaube, wir flogen nur deshalb nicht auf, weil unser Verteiler ein über jeden Verdacht erhabener Ortsbauernführer war: Unser Onkel Willi!

Die Stadt war dunkel geworden. An den langen Winterabenden drang kein Lichtschein mehr aus den Fenstern, nicht nur, weil wir, wie vorgeschrieben, den rationierten Strom sparten. Dunkel machten die einstige Lichterstadt jene Maßnahmen, die uns gegen feindliche Flieger schützen sollten. Noch waren sie ja nicht da, wir siegten, die polnische Luftwaffe war am Boden zerstört, wie es in den Wehrmachtsberichten hieß. Verdunkelungsrollos dichteten alle Offnungen ab, durch die ein Lichtschein nach außen fallen konnte. Noch heute träume ich, dass ich vergessen habe, ein Rollo zu schließen. Blockwart Kutschke schleicht wie damals durch die Straßen, um zu kontrollieren, und ruft: »Licht aus!« Polnische Zwangsarbeiter mit dem P im gelben Rhombus auf den Jacken malten Bord