INHALT

» Über den Autor

» Über das Buch

» Buch lesen

» Impressum

» Weitere eBooks von Kein & Aber

» www.keinundaber.ch

ÜBER DEN AUTOR

Michel Faber ist 1960 in den Niederlanden geboren und lebt heute in England. Er ist Autor von neun Romanen, darunter Die Weltenwanderin (verfilmt als Under the Skin) sowie Das karmesinrote Blütenblatt. Sein neuester Roman Das Buch der seltsamen neuen Dinge wurde vom New Yorker als eines der besten Bücher des Jahres bezeichnet, wurde in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und ist ein internationaler Bestseller.

ÜBER DAS BUCH

ICH BIN BEI DIR ALLE TAGE BIS ANS ENDE DER WELT.

Der junge Pastor Peter Leigh wird auf die Reise seines Lebens geschickt – nur darf seine Frau Bea ihn nicht begleiten. Um in Kontakt zu bleiben, schicken sie sich Briefe. Doch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit musste eine Liebe eine derart große Distanz überbrücken.

»Der bewegendste Abschiedsroman, den ich in meinem Leben gelesen habe. Das Buch lässt den Leser mit zerzauster Seele zurück, doch zugleich beglückt und verzaubert.«

Clemens J. Setz

»Im Kern dieses Romans steckt die Frage, was man für die Liebe zu opfern bereit ist. Er ist ein einziges Wunder, mit dem erzählerischen Motor einer Lokomotive.«

Yann Martel

»Das Porträt einer von der Distanz bedrohten Liebe. Ein Meisterwerk – wahnsinnig fesselnd.«

David Mitchell

»Noch nie wurde ich von einem Buch dermaßen überrascht. Unwiderstehlich und glaubwürdig und Objekt meiner absoluten Bewunderung.«

Philip Pullman

»Merkwürdig und verstörend, das Werk eines Genies. Das Buch ist verzweifelnd schön, traurig und unvergesslich.«

David Benioff (Produzent von Game of Thrones)

»Michel Fabers überwältigender Roman ist manchmal kaum auszuhalten – und ein selten intensives Leseerlebnis.«

Benjamin Maack, Spiegel online

Kein & Aber

I
DEIN WILLE GESCHEHE

1 Vierzig Minuten später war er in den Wolken

»Ich wollte noch was sagen«, sagte er.

»Dann sag es«, erwiderte sie.

Er schwieg und behielt die Straße im Blick. In der Dunkelheit am Stadtrand war nichts zu sehen außer den Rücklichtern anderer Wagen in der Ferne, dem endlos abrollenden Asphaltstreifen, dem riesigen, zweckbestimmten Zubehör einer Autobahn.

»Gott ist vielleicht enttäuscht, dass ich das überhaupt denke«, sagte er.

»Er weiß es so oder so schon«, seufzte sie. »Da kannst du es mir ruhig sagen.«

Er schaute ihr ins Gesicht, um zu sehen, aus welcher Stimmung heraus sie das gesagt hatte, doch die obere Hälfte ihres Kopfs einschließlich der Augen lag im Schatten des getönten Rands der Windschutzscheibe. Die untere Hälfte ihres Gesichts war mondhell. Der Anblick ihrer Wange, ihrer Lippen, ihres Kinns – so vertraut, so sehr Teil des Lebens, wie er es kannte – versetzte ihm bei dem Gedanken, sie entbehren zu müssen, einen scharfen Stich.

»Mit künstlicher Beleuchtung sieht die Welt netter aus«, sagte er.

Sie fuhren schweigend weiter. Radiogeschnatter oder Berieselung durch Musik vom Band ertrugen sie beide nicht. Auch darin passten sie zueinander.

»Wars das?«, fragte sie.

»Ja. Was ich damit sagen will … die unberührte Natur gilt doch als das Nonplusultra und alles vom Menschen Geschaffene als Schande, weil er alles nur zumüllt. Aber wir hätten nicht halb so viel Spaß an der Welt, wenn wir – wenn der Mensch … die Menschheit, meine ich …«

(Mach schon, besagte ihr Brummen.)

»… wenn wir nicht alles mit künstlichem Licht versehen hätten. Elektrisches Licht ist wirklich ein Gewinn. Es macht Nachtfahrten wie diese erträglich. Schön sogar. Stell dir doch mal vor, wir müssten hier im Stockdunkeln fahren. Denn das ist ja der natürliche Zustand der Welt bei Nacht, oder? Völlige Dunkelheit. Stell es dir nur mal vor. Du hättest keine Ahnung, wo es langgeht, könntest höchstens ein paar Meter weit sehen. Ganz schön stressig. Und wolltest du zu einer Stadt – na, in einer nichttechnisierten Welt gäbe es wohl keine Städte –, aber wolltest du irgendwohin, wo andere Menschen leben, naturnah leben, vielleicht um ein paar Lagerfeuer herum … die würdest du erst sehen, wenn du wirklich da bist. Nichts wärs mit dem zauberhaften Anblick, den dir eine Stadt aus ein paar Kilometern Entfernung bietet mit ihrem Lichtergefunkel, wie Sterne über den Bergen.«

»Mhm.«

»Und im Auto selbst … oder in der Pferdekutsche, falls es in dieser natürlichen Welt keine Autos gäbe, wäre es auch stockdunkel. Und in einer Winternacht sehr kalt. Was aber haben wir hier?« Er nahm eine Hand vom Steuer (beim Fahren hielt er beide Hände immer symmetrisch am Lenkrad) und wies auf das Armaturenbrett. Die üblichen Lämpchen strahlten sie an. Temperatur. Uhrzeit. Kühlwasser. Öl. Tempo. Tankanzeige.

»Peter …«

»Schau mal da!« Mehrere Hundert Meter voraus stand eine kleine überladene Gestalt im Schein einer Laterne. »Ein Anhalter. Den nehmen wir mit, ja?«

»Nein.«

Ihr Tonfall hielt ihn davon ab, ihr zu widersprechen, so selten sie auch eine Gelegenheit ausließen, sich Fremden gegenüber freundlich zu zeigen.

Der Anhalter hob hoffnungsvoll den Kopf. Als ihn die Scheinwerfer erfassten, wurde aus der schemenhaften menschlichen Erscheinung sekundenlang eine erkennbare Person. Er hielt ein Schild mit der Aufschrift hethrow hoch.

»Seltsam«, meinte Peter im Vorbeirauschen. »Er könnte doch einfach die U-Bahn nehmen.«

»Letzter Tag auf der Insel«, sagte Beatrice. »Letzte Gelegenheit, was zu erleben. Wahrscheinlich hat er sein britisches Geld in einer Kneipe aufgebraucht und gedacht, ich brauch ja bloß noch genug für die Bahn. Sechs Gläser später steht er im Freien und stellt ernüchtert fest, dass er nur noch sein Flugticket und ein Pfund siebzig hat.«

Es klang plausibel. Warum dann aber so ein verlorenes Schaf in der Patsche sitzen lassen? Das sah Bea nicht ähnlich.

Er wandte sich wieder ihrem halb im Dunkeln liegenden Gesicht zu und sah zu seiner Bestürzung, dass an ihrem Kinn und ihren Mundwinkeln Tränen glitzerten.

»Peter …«, sagte sie.

Wieder nahm er eine Hand vom Steuer, diesmal, um ihr die Schulter zu drücken. Weiter vorn hing ein Schild mit einem Flugzeugsymbol über der Fahrbahn.

»Das ist unsere letzte Gelegenheit, Peter.«

»Die letzte Gelegenheit?«

»Uns zu lieben.«

Die Kontrolllichter blinkten sanft und machten tick-tick-tick, als Peter auf die Fahrspur Richtung Flughafen lenkte. Die Worte »uns lieben« schmissen sich an sein Gehirn und wollten hinein, obwohl da kein Platz war. »Das ist nicht dein Ernst«, hätte er beinahe gesagt. Aber auch wenn sie einen feinen Humor hatte und gern lachte, in wichtigen Dingen scherzte sie nie.

Im Weiterfahren machte sich das Gefühl, dass sie nicht auf einer Wellenlänge waren, dass sie in diesem kritischen Augenblick unterschiedliche Bedürfnisse hatten, wie ein unangenehmer Gast im Wagen breit. Seiner Meinung, seinem Gefühl nach hatten sie sich gestern Morgen richtig verabschiedet, und die Fahrt zum Flughafen war jetzt nur … eine Art Nachtrag. Gestern Morgen hatte alles so gestimmt. Sie waren endlich durch mit ihrer To-do-Liste. Seine Tasche war schon gepackt. Bea hatte den Tag frei, sie hatten tief und fest geschlafen, waren bei strahlendem Sonnenschein unter der warmen gelben Bettdecke aufgewacht. Sie hatten Joshua, den Kater, der sich auf fast komische Weise zu ihren Füßen zusammengerollt hatte, weggeschubst und sich wortlos, langsam und mit großer Zärtlichkeit geliebt. Hinterher war Joshua wieder aufs Bett gesprungen und hatte Peter vorsichtig eine Pfote aufs Schienbein gelegt, als wollte er sagen: Geh nicht weg, ich behalt dich hier. Es war ein ergreifender Augenblick gewesen, der die Lage besser zum Ausdruck gebracht hatte, als Sprache es gekonnt hätte; vielleicht hatte die Katze mit ihrer fremdartigen Niedlichkeit auch nur einen Schutzpelz um den blanken menschlichen Schmerz gelegt. Wie auch immer. Es war perfekt gewesen. Sie hatten einander in den Armen gelegen und Joshuas kehligem Schnurren gelauscht, während ihr Schweiß in der Sonne verdunstete und ihr Puls sich langsam wieder beruhigte.

»Einmal noch«, sagte sie jetzt zu ihm durch den Lärm des Motors auf der dunklen Autobahn, unterwegs zu dem Flugzeug, das ihn nach Amerika und noch weiter weg bringen würde.

Er sah auf die Funkuhr am Armaturenbrett. In zwei Stunden sollte er am Check-in-Schalter sein; zum Flughafen waren es noch rund fünfzehn Minuten.

»Du bist wunderbar«, sagte er. Wenn er den Wörtern genau die richtige Betonung gab, würde sie vielleicht einsehen, dass sie das von gestern nicht übertreffen könnten.

»Ich will nicht wunderbar sein«, sagte sie. »Ich will dich in mir.«

Er schwieg für ein paar Sekunden. Auch die Kunst, sich veränderten Gegebenheiten schnell anzupassen, hatten sie gemein.

»Direkt am Flughafen gibt es diese grässlichen Tagungshotels«, sagte er. »Wir könnten uns für eine Stunde ein Zimmer nehmen.« Das »grässlich« bedauerte er, es hörte sich an, als wollte er sie davon abbringen, ohne es zuzugeben. Dabei sollte es nur heißen, dass es Hotels waren, die sie nach Möglichkeit sonst mieden.

»Such uns eine ruhige Parkbucht«, sagte sie. »Wir können es im Auto machen.«

»Verdampft!«, rief er, und beide lachten.

»Verdampft!« statt »Verdammt!« zu sagen hatte er sich antrainiert, als er Christ geworden war. So konnte er den Fluch noch abfangen, wenn er schon halb heraus war.

»Ich meine es ernst«, sagte sie. »Halte irgendwo – vielleicht nur nicht da, wo uns jemand hinten drauffahren kann.«

Im Weiterfahren wirkte die Straße plötzlich anders auf Peter. Theoretisch war es noch derselbe Asphaltstreifen, begrenzt vom selben Zubehör und denselben dünnen Metallzäunchen, doch ihr neuer Plan hatte die Straße verändert. Es war jetzt keine gerade Linie zu einem Flughafen mehr, sondern ein geheimnisvolles Hinterland der dunklen Umwege und Schlupflöcher. Wieder ein Beweis dafür, dass die Wirklichkeit nichts Objektives war, sondern ständig von uns umgeformt wurde.

Natürlich war jeder imstande, die Wirklichkeit umzugestalten. Darüber unterhielten sich Peter und Beatrice oft. Über die Schwierigkeit, den Leuten klarzumachen, dass das Leben nur so trostlos und einengend war, wie man es wahrnahm. Die Schwierigkeit, den Leuten zu vermitteln, dass die Unabänderlichkeiten des Daseins gar nicht so unabänderlich waren. Die Schwierigkeit, ein einfacheres Wort für »unabänderlich« zu finden.

»Hier vielleicht?«

Statt zu antworten legte Beatrice ihm nur die Hand auf den Oberschenkel. Er lenkte den Wagen elegant auf einen Lkw-Parkplatz. Sie würden darauf vertrauen müssen, dass es nicht zu Gottes Plan gehörte, sie von einem Vierzigtonner plattfahren zu lassen.

»Ich habe das noch nie gemacht«, sagte er, als er die Zündung ausgeschaltet hatte.

»Meinst du, ich?«, sagte sie. »Wir kriegen das schon hin. Komm mit nach hinten.«

Sie stiegen auf beiden Seiten aus und waren Sekunden später auf der Rückbank wieder vereint. Wie Fahrgäste saßen sie da, Schulter an Schulter. Die Sitzpolster rochen nach anderen Leuten – Freunden, Nachbarn, Mitgliedern ihrer Kirchengemeinde, Anhaltern. Umso mehr zweifelte Peter daran, ob er hier und jetzt lieben könnte, lieben sollte. Obwohl … es hatte auch etwas Aufregendes. Sie griffen nacheinander, suchten die geschmeidige Umarmung, doch im Dunkeln waren ihre Hände ungeschickt.

»Was meinst du, wie schnell die Innenbeleuchtung die Batterie verbraucht?«, fragte sie.

»Keine Ahnung«, sagte er. »Wir sollten es nicht drauf ankommen lassen. Wir wollen ja auch den Vorbeifahrenden keine Show bieten.«

»Die vergiss ruhig«, sagte sie, den vorbeiwischenden Scheinwerfern zugewandt. »Ich habe mal einen Artikel über ein entführtes kleines Mädchen gelesen. Sie konnte aus dem Auto springen, als es auf der Autobahn abbremste. Der Entführer packte sie, sie wehrte sich nach Kräften und schrie um Hilfe. Autos rauschten vorbei. Niemand hielt an. Ein Fahrer wurde später befragt. ›Ich bin so schnell gefahren‹, sagte er, ›da hab ich nicht geglaubt, was ich sehe.‹«

Er rutschte unbehaglich auf dem Sitz. »Schreckliche Geschichte. Und vielleicht kein ganz günstiger Zeitpunkt, um sie zu erzählen.«

»Ich weiß, ich weiß, entschuldige. Ich bin gerade etwas durch den Wind.« Sie lachte nervös. »Es ist einfach so schlimm … dich zu verlieren.«

»Du verlierst mich ja nicht. Ich fahre nur für einige Zeit weg. Dann komme ich …«

»Bitte, Peter. Jetzt nicht. Damit sind wir doch durch. Da haben wir getan, was wir können.«

Sie beugte sich vor, und er dachte, sie würde anfangen zu weinen. Doch sie angelte etwas aus dem Spalt zwischen den Vordersitzen. Eine kleine Taschenlampe. Die knipste sie an und legte sie auf die Kopfstütze des Beifahrersitzes; sie fiel runter. Dann klemmte sie die Lampe so in den schmalen Spalt zwischen Sitz und Tür, dass ihr Strahl auf den Boden schien.

»Schön gedämpft«, sagte sie wieder ruhig. »Gerade so hell, dass wir uns sehen können.«

»Ich weiß nicht, ob ich das hinbekomme«, sagte er.

»Schauen wir doch mal«, sagte sie und knöpfte ihre Hemdbluse auf, sodass ihr weißer BH und die Rundung ihres Busens zum Vorschein kamen. Sie ließ die Bluse an ihren Armen runtergleiten und streifte den seidigen Stoff über ihre Handgelenke. Dann schob sie die kräftigen Daumen unter ihren Rockbund und zog Rock, Strumpfhose und Slip mit einer einzigen eleganten Bewegung aus.

»Jetzt du.«

Er machte seine Hose auf, und Bea half ihm, sie auszuziehen. Dann legte sie sich auf den Rücken, verdrehte die Arme, um ihren BH aufzuhaken, und er versuchte sich in Stellung zu bringen, ohne sich mit den Knien auf ihr abzustützen. Er knallte mit dem Kopf an die Decke.

»Wie zwei Teenager sind wir hier«, seufzte er. »Mir ist das …«

Sie legte ihm die Hand aufs Gesicht, hielt ihm den Mund zu.

»Wir sind du und ich«, sagte sie. »Du und ich. Mann und Frau. Alles ist gut.«

Sie war jetzt nackt bis auf die Uhr an ihrem schmalen Handgelenk und die Perlenkette um ihren Hals. Im Schein der Taschenlampe war die Kette kein erlesenes Geschenk zum Hochzeitstag mehr, sondern wurde zu einem archaischen erotischen Schmuckstück. Ihre Brüste bebten unter der Wucht ihres Herzschlags.

»Komm«, sagte sie. »Mach.«

Und so fingen sie an. Eng aneinandergedrückt konnten sie sich nicht mehr sehen; die Taschenlampe hatte ausgedient. Ihre Münder waren vereint, ihre Augen fest geschlossen, ihre Körper hätten die Körper eines jeden sein können seit der Erschaffung der Welt.

»Fester«, keuchte Bea nach einiger Zeit. Ihre Stimme hatte einen barschen Unterton, eine brutale Härte, die er noch nie bei ihr gehört hatte. Ihr Sex war immer sehr rücksichtsvoll gewesen. Mal heiter, mal ungestüm, manchmal auch körperlich richtig anstrengend – aber nie verzweifelt. »Fester!«

Mit ans Fenster stoßenden Zehen und auf dem pelzigen Sitzbezug scheuernden Knien gab er sein Bestes, aber es war zu eng und unbequem, Rhythmus und Winkel stimmten nicht, und er verschätzte sich darin, wie weit sie schon war und wie lange er noch konnte.

»Nicht aufhören! Weiter! Weiter!«

Doch es war vorbei.

»Schon okay«, sagte sie schließlich und wand sich schweißnass unter ihm hervor. »Schon okay.«

Sie waren viel zu früh in Heathrow. Die Frau am Check-in-Schalter prüfte kurz seinen Pass. »Einfacher Flug nach Orlando, Florida, ja?«, fragte sie. »Ja«, sagte er. Sie fragte nach seinem Gepäck. Er schwang eine Sporttasche und einen Rucksack aufs Band. Ihm war bewusst, dass es irgendwie zwielichtig wirken musste. Seine Reise aber war zu kompliziert und ungewiss, um im Vorhinein einen Rückflug zu buchen. Er wünschte, Beatrice würde nicht neben ihm stehen und diese Bestätigung seines bevorstehenden Verschwindens mitanhören müssen, wünschte, das Wort »einfach« wäre ihr erspart geblieben.

Nachdem er seine Bordkarte erhalten hatte, war weitere qualvolle Wartezeit auszufüllen, bis er tatsächlich an Bord durfte. Seite an Seite schlenderten er und Beatrice von den Check-in-Schaltern weg, ein wenig benommen von den monströsen Ausmaßen des Terminals. Lag es am grellen Neonlicht, dass Beas Gesicht so abgehärmt und ängstlich wirkte? Peter legte ihr den Arm um die Taille. Sie lächelte ihn beruhigend an, aber er war nicht beruhigt. beginnen sie ihre ferien gleich hier!, lockten die Werbetafeln. bei unseren grenzenlosen shopping-angeboten wollen sie vielleicht gar nicht weg!

Zu dieser späten Stunde war der Flughafen zwar nicht überfüllt, und doch schoben eine Menge Leute ihr Gepäck umher oder stöberten in den Läden. Peter und Beatrice setzten sich in die Nähe einer Infotafel, um auf die Nummer seines Abfluggates zu warten. Sie hielten sich bei der Hand, ohne sich anzusehen, und beobachteten die passierenden Fluggäste. Eine Schar hübscher junger Mädchen, die aussahen wie Pole-Tänzerinnen bei Schichtbeginn, kam mit Tragetaschen beladen aus einem der vielen Läden. Auf hohen Absätzen stöckelten sie an ihnen vorbei und brachen unter ihrer Beute fast zusammen. Peter beugte sich zu Beatrice und sagte leise: »Was wollen die bloß mit dem ganzen Zeug im Flugzeug? Und wenn sie dann ankommen, kaufen sie gleich weiter. Dabei können sie kaum noch laufen.«

»Mhm.«

»Aber darum gehts vielleicht gerade. Sie spielen uns hier was vor. Wie unpraktisch das alles ist – bis hin zu den absurden Schuhen. Jeder soll sehen, sie sind so reich, dass sie sich um die Wirklichkeit nicht kümmern brauchen. Ihr Wohlstand macht sie zu anders gearteten Wesen, zu etwas Exotischem, das nicht wie ein Mensch funktionieren muss.«

Bea schüttelte den Kopf. »Die Mädchen sind nicht reich. Reiche reisen nicht in Gruppen. Und reiche Frauen haben keine Probleme, in High Heels zu laufen. Das sind einfach junge Mädchen, die Spaß am Shoppen haben. Für die ist das ein Abenteuer. Sie ziehen die Show für sich ab, nicht für uns. Wir sind für sie unsichtbar.«

Peter sah die Mädchen Richtung Starbucks stolpern. Ihre Pobacken zitterten unter den zerknitterten Röcken, und in ihren lauten Stimmen schlug der Dialekt durch. Bea hatte recht.

Seufzend drückte er ihr die Hand. Wie sollte er da draußen bloß ohne sie bestehen? Wie würde er zurechtkommen, wenn er sich nicht mit ihr austauschen konnte? Sie war es, die ihn bremste, wenn er Unsinn redete oder zu seinen großen, allumfassenden Theorien ansetzte. Sie holte ihn auf die Erde zurück. Sie bei dieser Mission an seiner Seite zu haben wäre eine Million Dollar wert gewesen.

Doch ihn allein loszuschicken, kostete weit mehr als eine Million, und USIC zahlte.

»Hast du Hunger? Kann ich dir was holen?«

»Wir haben doch zu Hause gegessen.«

»Ein Schokoriegel oder so was?«

Sie lächelte müde. »Mir gehts gut. Ehrlich.«

»Es tut mir so leid, dass ich dich enttäuscht habe.«

»Enttäuscht?«

»Na ja … vorhin im Auto. Es kommt mir ungerecht vor, unerledigt, und das ausgerechnet heute … Ich lasse dich ungern so zurück.«

»Das alles wird furchtbar«, sagte sie. »Aber nicht aus diesem Grund.«

»Der Winkel, der ungewohnte Winkel hat mich …«

»Bitte, Peter, das musst du nicht. Ich führe doch keine Strichliste. Wir haben uns geliebt. Das genügt mir.«

»Ich komme mir vor wie …«

Sie legte ihm einen Finger auf den Mund, dann küsste sie ihn. »Du bist der beste Mann der Welt.« Sie gab ihm noch einen Kuss, auf die Stirn. »Für Postmortems ergeben sich auf deiner Mission bestimmt bessere Anlässe.«

Unter ihren Lippen runzelte sich seine Stirn. Was meinte sie mit »Postmortems«? Wollte sie andeuten, dass Rückschläge und Hindernisse unvermeidbar waren? Oder war sie überzeugt, die Mission würde scheitern? Tödlich ausgehen?

Er stand auf ; sie stand mit ihm auf. Sie hielten sich eng umschlungen. Eine große Touristengruppe ergoss sich aus einem Bus direkt in die Halle, begierig auf den Flug in die Sonne. Auf dem Weg zu den Gates teilte sich der plappernde Schwarm und strömte zu beiden Seiten an Peter und Bea vorbei. Als alle fort waren und die Halle wieder relativ ruhig, sagte eine Stimme aus den Lautsprechern: »Bitte lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt. Herrenlose Gepäckstücke werden entfernt und möglicherweise vernichtet.«

»Hast du irgendwie … das Gefühl, die Mission wird scheitern?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf und stieß mit der Schädeldecke an sein Kinn.

»Meinst du nicht, es liegt in Gottes Hand?«, setzte er nach.

Sie nickte.

»Denkst du, er würde mich so weit weg schicken, um –«

»Bitte, Peter.« Ihre Stimme war belegt. »Wir haben das alles doch so oft besprochen. Jetzt ist es sinnlos. Unser Glaube ist gefragt.«

Sie ließen sich wieder in den Sesseln nieder und versuchten, es sich möglichst bequem zu machen. Bea legte den Kopf an seine Schulter. Peter dachte über den Lauf der Geschichte nach, über die menschlichen Ängste, die hinter jedem bedeutenden Ereignis lagen. Die kleinen Banalitäten, mit denen sich Einstein, Darwin oder Newton wahrscheinlich herumzuschlagen hatten, während sie ihre Theorien aufstellten: Knatsch mit der Vermieterin etwa oder Sorge wegen eines verstopften Kamins. Die Piloten, die Dresden bombardierten, verärgert über einen Satz in einem Brief aus der Heimat: Wie meint sie das bloß? Oder Kolumbus auf der Fahrt in die Neue Welt … wer wusste schon, was ihm durch den Kopf ging? Vielleicht die Abschiedsworte eines alten Freunds, eines Manns, der in keinem Geschichtsbuch Erwähnung fand …

»Weißt du schon«, fragte Bea, »was du als Erstes sagen wirst?«

»Als Erstes sagen?«

»Zu ihnen. Wenn ihr euch trefft.«

Er überlegte. »Das kommt drauf an …«, sagte er zögernd. »Ich habe ja keine Ahnung, was mich erwartet. Gott wird mich leiten. Er wird mir die richtigen Worte eingeben.«

»Aber wenn du es dir vorstellst … das Zusammentreffen … was für ein Bild hast du dann vor Augen?«

Er schaute geradeaus. Ein Flughafenangestellter in einem Overall mit gelben Leuchtschärpen schloss gerade eine Tür mit der Aufschrift tür bitte geschlossen halten auf. »Ich stelle es mir nicht vor«, sagte er. »Du kennst mich doch. Ich kann erst etwas durchleben, wenn es passiert. Und in Wirklichkeit kommt es doch sowieso immer anders, als man es erwartet.«

Sie seufzte. »Ich habe ein Bild vor Augen.«

»Erzähl.«

»Versprich mir, dass du dich nicht über mich lustig machst.«

»Versprochen.«

Sie sprach in seinen Brustkorb. »Du stehst am Ufer eines großen Sees. Es ist Nacht, und der Himmel ist voller Sterne. Auf dem Wasser dümpeln Hunderte kleine Fischerboote. In jedem Boot sitzt mindestens eine Person, in manchen auch drei oder vier, aber ich kann sie nicht richtig sehen, dafür ist es zu dunkel. Die Boote fahren nirgendwo hin, alle haben den Anker geworfen, die Leute hören zu. Die Luft ist so still, dass du nicht mal laut sprechen musst. Deine Stimme trägt auch so übers Wasser.«

Er streichelte ihre Schulter. »Wie hübsch …« Er wollte sagen: »Der Traum«, aber das wäre abwertend gewesen. »Die Vision.«

Sie gab einen Laut von sich, der verhaltene Zustimmung, aber auch ein unterdrückter Schmerzensschrei sein konnte. Ihr an ihn gelehnter Körper wurde ihm schwer, doch er ließ sie gewähren und hielt still.

Schräg gegenüber von Peter und Beatrice befand sich ein Süßwarenladen. Dort herrschte trotz der späten Stunde reger Betrieb; fünf Kunden standen an der Kasse an, etliche andere schauten sich um. Peter sah einer gut gekleideten jungen Frau zu, die sich mit Unmengen von Waren belud. Riesige Pralinenschachteln, lange, schmale Kartons mit Shortbread, eine knüppellange Toblerone. Das alles an die Brust gedrückt spazierte sie an der Säule am Eingang vorbei, als wollte sie auch das Angebot vor dem Laden prüfen. Dann ging sie einfach davon und verzog sich durch das Gewühl der Fluggäste in Richtung Damentoilette.

»Ich war gerade Zeuge einer Straftat«, sagte Peter leise in Beas Haar. »Du auch?«

»Ja.«

»Ich dachte, du seist vielleicht eingenickt.«

»Nein, ich hab sie auch gesehen.«

»Hätten wir sie uns schnappen sollen?«

»Schnappen? Als Selbstjustiz, meinst du?«

»Oder wenigstens das Ladenpersonal verständigen.«

Beatrice drückte den Kopf fester an seine Schulter, während sie zusahen, wie die Frau auf der Toilette verschwand. »Würde das jemandem helfen?«

»Es würde ihr vielleicht in Erinnerung rufen, dass Stehlen unrecht ist.«

»Das bezweifle ich. Sie würde nur die Leute hassen, die sie erwischt haben.«

»Als Christen sollten wir sie also einfach weiterstehlen lassen?«

»Als Christen sollten wir die Liebe Jesu verbreiten. Wenn wir unserer Aufgabe gerecht werden, schaffen wir Menschen, die nichts Unrechtes tun wollen

»Wir schaffen sie?«

»Du weißt, was ich meine. Anregen. Anleiten. Wir zeigen ihnen den Weg.« Sie hob den Kopf und küsste ihn auf die Stirn. »Genau das, was du jetzt vorhast. Auf dieser Mission. Mein tapferer Mann.«

Er wurde rot und schluckte das Kompliment dankbar wie ein durstiges Kind. Er hatte nicht geahnt, wie sehr er das gerade jetzt brauchte. Es erfüllte ihn derart, dass er dachte, sein Brustkorb würde platzen.

»Ich gehe in den Gebetsraum«, sagte er. »Kommst du mit?«

»Gleich. Geh schon mal vor.«

Er erhob sich und ging auf direktem Weg zur Flughafenkapelle. Ob in Heathrow oder in Gatwick, Edinburgh, Dublin oder Manchester, die Kapelle fand er immer mühelos. Es war überall der hässlichste, schäbigste Raum auf dem ganzen Flughafengelände, weit weg vom glitzernden Kommerz. Dafür war es stets ein Raum mit Seele.

Dort angekommen, sah er auf dem Zeitplan an der Tür nach, ob vielleicht gerade eins der seltenen Abendmahle anstand. Das nächste war jedoch erst für Dienstagnachmittag um drei vorgesehen – da würde er schon unvorstellbar weit weg sein, und Beatrice würde die nächsten langen Monate allein schlafen, nur mit Joshua.

Die drei im Innern knienden Muslime beachteten ihn nicht, als er sanft die Tür aufstieß und eintrat. Sie waren einem Blatt Papier zugewandt, das an der Wand klebte und mit einem großen Pfeil bedruckt war. Er wies nach Mekka, wie ein Verkehrszeichen. Die Muslime verneigten sich, reckten ihre Hintern in die Luft und küssten den Stoff der bereitgestellten farbenfrohen Matten. Es waren makellos gekleidete Männer mit teuren Armbanduhren und Maßanzügen. Die blanken Lacklederschuhe hatten sie abgelegt. Ihre Fußballen krümmten sich im Eifer ihrer Ehrerbietung.

Peter warf kurz einen Blick hinter den Vorhang, der den Raum in der Mitte teilte. Wie vermutet vollzog da eine Muslimin, grau verschleiert, gerade das gleiche stumme Ritual. Sie hatte ein Kind bei sich, einen Jungen, der unglaublich brav dasaß und angezogen war wie der kleine Lord Fountleroy. Zu den Füßen seiner Mutter las er einen Comic, ohne sich um ihre Niederwerfungen zu kümmern. Spider-Man.

Peter ging zu dem Schrank, in dem die Heiligen Schriften und Broschüren lagen. Die Bibel (Gideon-Ausgabe), ein Neues Testament und die Psalmen separat, ein Koran, ein zerfleddertes Buch auf Indonesisch, das ebenfalls nach Neuem Testament aussah. Im Fach darunter stapelte sich neben dem Wachtturm und den Zeitungen der Heilsarmee ein optimistisch großer Haufen Prospekte. Da ihm das Logo darauf bekannt vorkam, sah er sie sich näher an. Sie stammten von einer bekannten evangelikalen US-Sekte, deren Londoner Pastor ebenfalls für die Mission in Betracht gezogen worden war. Peter hatte ihn sogar im USIC-Foyer getroffen, als er gerade eingeschnappt von dannen zog. »Reine Zeitverschwendung«, hatte der Mann auf dem Weg zum Ausgang geschimpft. Peter hatte erwartet, ebenso durchzufallen, aber siehe da … ihn hatten sie genommen. Wieso ihn statt jemanden von einer Kirche mit jeder Menge Geld und politischem Einfluss? Er wusste es immer noch nicht genau. Er schlug einen Prospekt auf und sah die altbekannten Theorien über die geheime Bedeutung der Zahl 666, über Barcodes und die Hure Babylon. Da lag vielleicht schon das Problem: Fanatismus war nicht das, was USIC suchte.

Eine Ansage aus einem kleinen Lautsprecher, der wie ein Blutegel an der Decke hing, unterbrach die Stille im Raum.

»Aufgrund einer technischen Störung verspätet sich der Allied Airlines Flug AB31 nach Alicante weiterhin. Die nächste Ansage erfolgt um 22:30 Uhr. Passagiere, die ihre Essensmarken noch nicht abgeholt haben, werden gebeten, dies jetzt zu tun. Allied Airlines bittet für eventuelle Unannehmlichkeiten noch einmal um Entschuldigung.«

Peter meinte, von draußen ein kollektives Aufstöhnen zu hören, aber das bildete er sich wahrscheinlich ein.

Er schlug das Gästebuch auf, blätterte in den großformatigen Seiten und las einige der Einträge von Reisenden aus aller Welt. Sie enttäuschten ihn nicht; das taten sie nie. Allein die Einträge von heute füllten drei Seiten. Ein paar waren in chinesischer und in arabischer Schrift verfasst, die meisten aber auf Englisch, ob fließend oder holprig. Gott war hier, er durchwirkte dieses Allerlei aus Kuli- und Filzstiftgeschriebenem.

Auf Flughäfen hatte er immer den Eindruck, die ganze Anlage präsentiere sich als mehrgeschossiger Tummelplatz weltlicher Gelüste, eine Konsumgalaxie, in der Religiosität einfach nicht vorkam. Jeder Laden, jede Reklame, jeder Zentimeter des Gebäudes bis hin zu den Nieten und WC-Abflüssen suggerierte, dass für Gott hier niemand Verwendung hatte. Die Leute, die für Snacks und Plunder Schlange standen, und der fortwährende Strom videoüberwachter Fluggäste waren ein erstaunlicher Beweis für die Vielfalt der menschlichen Spezies, nur dass sie einheitlich als glaubenslos erachtet wurden, duty-free in jeder Hinsicht. Und doch kamen diese Schnäppchenjäger, Flitterwöchner, Sonnenbader, umtriebigen Geschäftsleute und hochmodischen Fashionistas hierher. Niemand hätte geahnt, wie viele von ihnen sich in dieses Kabuff drängten und innige Botschaften an den Allmächtigen und ihre Glaubensgeschwister schrieben.

Lieber Gott, bitte nimm alles Böse aus der Welt – Jonathan.

Ein Kind, nahm er an.

Yuko Oyama, Hyoyo, Japan. Ich bete für die Kinder der Krankheit und Frieden der Erde. Und ich bete, einen guten Lebensgefährten zu finden.

Wo ist das KREUZ CHRISTI, unseres AUFERSTANDENEN HERRN? ERWACHET!

Charlotte Hogg, Birmingham. Beten Sie bitte, dass meine geliebte Tochter und mein Enkelsohn meine Krankheit annehmen können. Und beten Sie für alle, die Leid erfahren.

Marijn Tegelaars, London/Belgien. Meiner liebsten Freundin G., dass sie den Mut findet, zu sein, wer sie ist.

Jill, England. Betet bitte, dass die Seele meiner verstorbenen Mutter Ruhe und Frieden findet, und betet für meine Familie, die nicht vereint ist und sich hasst.

Allah ist der Beste! Gott regiert!

Der nächste Eintrag war bis zur Unleserlichkeit durchgestrichen. Höchstwahrscheinlich ein böser, intoleranter Kommentar auf den Eintrag darüber, getilgt von einem anderen Muslimen oder dem Betreuer des Gebetsraums.

Coralie Sidebottom, Slough, Berks. Danke für Gottes wunderbare Schöpfung.

Pat & Ray Murchiston, Langton, Kent. Für unseren lieben Sohn Dave, der gestern tödlich mit dem Auto verunglückt ist. Er bleibt für immer in unserem Herzen.

Thorne, Frederick, Co. Armagh, Irland. Ich bete für die Heilung des Planeten und die Erweckung ALL seiner Völker.

Eine Mutter. Mein Herz ist gebrochen, weil mein Sohn seit meiner Wiederheirat vor 7 Jahren nicht mehr mit mir spricht. Bitte um Versöhnung beten.

Riecht furchtbar nach billigem Raumspray das könnt ihr besser.

Moira Venger, Südafrika. Gott hat alles unter Kontrolle.

Michael Lupin, Hummock Cottages, Chiswick. Mal ein anderer Geruch als nach Desinfektionsmitteln.

Jamie Shapcott, 27 Pinley Grove, Yeovil, Somerset. Lass meinen BA-Flug nach Newcastle bitte nicht abstürzen. Vielen Dank.

Victoria Sams, Tamworth, Staffs. Hübsches Dekor, aber das Licht flackert.

Lucy, Lossiemouth. Bring mir meinen Mann heil zurück.

Er klappte das Buch zu. Seine Hände zitterten. Es war sehr gut möglich, dass er innerhalb der nächsten dreißig Tage starb, oder, falls er die Reise überstand, dass er niemals zurückkehrte. Dies war sein Gethsemane. Er kniff die Augen zusammen und betete zu Gott. Wäre ihm, dem Herrn, besser gedient, wenn Peter seine Frau bei der Hand nahm, mit ihr zum Ausgang und zum Parkplatz lief und schnurstracks nach Hause fuhr, ehe Joshua überhaupt mitbekommen hatte, dass er weg war?

Als Antwort brachte Gott ihm das hysterische Gebrabbel seiner inneren Stimme zu Gehör und ließ es in seinem Schädel widerhallen. Dann hörte er das Klimpern von Münzen hinter sich, als sich einer der Muslime erhob, um seine Schuhe wieder anzuziehen. Peter drehte sich um. Der Muslim nickte ihm im Hinausgehen höflich zu. Die Frau hinter dem Vorhang zog ihren Lippenstift nach, korrigierte mit dem kleinen Finger ihre Wimpern und strich eine Haarsträhne unter den Rand ihres Hidschabs. Der Pfeil an der Wand flatterte auf, als der Mann die Tür öffnete.

Peters Hände zitterten nicht mehr. Sein Blick war zurechtgerückt worden. Kein Gethsemane – er war nicht auf dem Weg nach Golgatha, sondern brach zu einem großen Abenteuer auf. Aus Tausenden hatte man ihn ausgewählt für die wichtigste Mission, seit die Apostel sich aufgemacht hatten, Rom mit der Macht der Liebe zu erobern, und er würde sein Bestes geben.

Beatrice saß nicht mehr dort, wo er sie zurückgelassen hatte. Für ein paar Sekunden dachte er, sie habe die Nerven verloren und sei aus dem Terminal geflohen. Der Kummer gab ihm einen Stich. Doch dann erblickte er sie ein paar Sitzreihen weiter in Richtung des kleinen Cafés. Sie kauerte auf allen vieren am Boden, ihre Haare waren vors Gesicht gefallen. Ihr gegenüber hockte, ebenfalls auf allen vieren, ein Kind – ein dickes Kleinkind in einer ausgebeulten Gummizughose, aus der die Windel hervorschaute.

»Guck mal! Ich hab … zehn Finger!«, erzählte sie gerade dem Kind. »Hast du auch zehn Finger?«

Das Kind streckte die Hände fast bis zu Bea aus. Sie zählte mit viel Getue seine Finger, dann sagte sie: »Hundert! Nein, zehn!« Der Junge lachte. Ein älteres Kind, ein Mädchen, stand scheu daneben und saugte an ihren Fingerknöcheln. Sie drehte sich immer wieder nach ihrer Mutter um, doch die hatte weder Augen für die Kinder noch für Beatrice; sie konzentrierte sich auf ein Gerät in ihrer Hand.

»Ach, hallo«, sagte Beatrice, als sie Peter kommen sah. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und schob sie sich hinter die Ohren. »Das sind Jason und Gemma. Sie fliegen nach Alicante.«

»Wir hoffen drauf«, sagte die Mutter müde. Das Gerät gab einen kurzen Piepton von sich, nachdem es den Zuckerspiegel der Frau bestimmt hatte.

»Die Leute sind schon seit zwei Uhr hier«, erklärte Beatrice leise. »Sie sind total gestresst.«

»Nie wieder«, murmelte die Frau, während sie in einer Umhängetasche nach ihren Insulinspritzen kramte. »Ich schwörs. Die kassieren ab, und man ist ihnen scheißegal.«

»Joanne, das ist mein Mann, Peter. Peter, das ist Joanne.«

Joanne nickte ihm zu, war aber zu sehr in ihr Unglück vertieft, um zu plaudern. »Im Prospekt sieht das alles superpreiswert aus«, schimpfte sie, »aber man leidet dafür.«

»Ach, Joanne, nicht doch«, sagte Beatrice. »Es wird bestimmt sehr schön. Eigentlich ist doch gar nichts Schlimmes passiert. Überlegen Sie mal: Wäre der geplante Abflug acht Stunden später gewesen, würden Sie dasselbe machen wie jetzt – warten, nur zu Hause.«

»Die beiden gehören ins Bett«, sagte die Frau, entblößte eine Bauchfalte und steckte die Nadel hinein.

Jason und Gemma, zu Recht beleidigt darüber, dass sie als müde statt als schlecht behandelt bezeichnet wurden, schienen dem nächsten Koller nahe zu sein. Beatrice ging wieder auf alle viere. »Ich glaub, ich hab meine Füße verloren«, sagte sie und tastete den Boden ab. »Wo sind die denn hin?« »Da!«, rief der kleine Jason, als sie sich von ihm wegdrehte. »Wo?«, fragte sie und drehte sich wieder andersherum.

»Gott sei Dank«, sagte Joanne. »Da kommt Freddie mit dem Essen.«

Ein gehetzt aussehender Mann mit fliehendem Kinn und einer haferbreifarbenen Windjacke stiefelte heran, in jeder Hand mehrere Papiertüten.

»Die größte Abzocke der Welt«, verkündete er. »Da kannst du dir mit deiner Essensmarke für zwei Pfund oder was die Beine in den Bauch stehen. Wie beim Arbeitsamt ist das. Ich sag euch, wenns hier in einer halben Stunde nicht endlich –«

»Freddie«, sagte Beatrice strahlend, »das ist Peter, mein Mann.«

Der Familienvater stellte seine Tüten ab und gab Peter die Hand.

»Ihre Frau ist ein richtiger Engel, Pete. Erbarmt sie sich immer der heimatlosen Kinder?«

»Wir … wir glauben beide ans Freundlichsein«, sagte Peter. »Es kostet nichts und macht das Leben interessanter.«

»Wann sehen wir das Meer?«, fragte Gemma und gähnte.

»Morgen früh, wenn du aufwachst«, sagte die Mutter.

»Ist die nette Frau dann auch da?«

»Nein, sie fliegt nach Amerika.«

Beatrice bedeutete dem Mädchen, sich zu ihr zu setzen und an ihre Hüfte zu lehnen.

Der dicke Knirps war schon eingeschlafen und lag ausgestreckt vor einem zum Bersten vollgepackten Segeltuchrucksack. »Kleines Missverständnis«, sagte Beatrice. »Mein Mann verreist, nicht ich.«

»Sie bleiben zu Hause bei den Kindern, hm?«

»Wir haben keine«, sagte Beatrice. »Noch nicht.«

»Tun Sie sich einen Gefallen«, seufzte der Mann. »Lassen Sie’s. Verzichten Sie drauf.«

»Ach, das meinen Sie nicht ernst«, sagte Beatrice, und Peter, der sah, dass der Mann eine flotte Erwiderung auf der Zunge hatte, sagte: »Zumindest nicht richtig

Und so ging die Unterhaltung weiter. Beatrice und Peter fanden ihren Rhythmus und zogen perfekt am selben Strang. Sie hatten das schon viele Hundert Mal gemacht. Unterhaltung, echte, zwanglose Unterhaltung, aber mit dem Potenzial, zu etwas viel Bedeutsamerem zu werden, falls man auf Jesus zu sprechen kommen konnte. Vielleicht ergab sich dieser Augenblick, vielleicht auch nicht. Vielleicht würden sie auch nur zum Abschied »Gott segne Sie« sagen, und damit hätte es sich. Nicht jede Begegnung konnte einschneidend sein. Manche Unterhaltungen waren schlicht ein Austausch von freundlichen Atemzügen.

Im Laufe dieses fast aufgezwungenen Austauschs entspannten sich die beiden Fremden unwillkürlich. Nach wenigen Minuten lachten sie sogar. Sie waren aus Merton, er litt an Depressionen, sie an Diabetes, beide arbeiteten in einem großen Geschäft für Haushaltswaren, für diesen Urlaub hatten sie ein Jahr lang gespart. Sie schienen nicht allzu intelligent und nicht sonderlich spannend. Die Frau hatte ein unschön prustendes Lachen, und das Aftershave des Manns stank fürchterlich nach Moschus. Sie waren Menschen und kostbar in den Augen Gottes.

»Ich muss langsam zum Boarding«, sagte Peter schließlich.

Beatrice kauerte noch am Boden, der Kopf des fremden Kindes ruhte auf ihrem Oberschenkel. Tränen standen ihr in den Augen.

»Wenn ich mit zur Sicherheitskontrolle komme«, sagte sie, »und wir uns da umarmen, ehe du durchgehst, Ehrenwort, dann pack ich das nicht. Ich raste aus und mache eine Szene. Bitte, wir sollten uns hier verabschieden.«

Peter zerriss es das Herz. Was im Gebetsraum als großes Abenteuer erschienen war, wurde jetzt zum schweren Opfer. Er klammerte sich an die Worte des Apostels: Verrichte dein Werk als Verkünder des Evangeliums, erfülle treu deinen Dienst! Denn ich werde schon geopfert und die Zeit meines Aufbruchs ist nahe.

Er bückte sich, und Beatrice umfasste mit einer Hand sein Genick und gab ihm einen kurzen, derben Kuss auf die Lippen. Benommen richtete er sich auf. Das ganze Drumherum mit den Fremden – jetzt wurde ihm klar, dass sie es eigens so eingerichtet hatte.

»Ich schreib dir«, versprach er.

Sie nickte – eine Bewegung, die ihr die Tränen auf die Wangen rollen ließ.

Mit schnellen Schritten ging er zum Abflug. Vierzig Minuten später war er in den Wolken.